- Kapitel 21-
Lügen und Intrigen
„…und deshalb möchte ich dich bitten, deinen Widerwillen und Stolz für heute hinten anzustellen und alles…"
„Okay."
„…zu tun was nötig ist, damit dies alles ein gutes Ende…hast du mir eben zugestimmt?"
„Ja, das habe ich."
Für einen Moment verschlug es Gloria die Sprache und sie starrte den Jungen an, der freundlich lächelnd vor ihr im Büro saß.
„Wiederhole das bitte, Tarsuinn", bat sie und musste an die fast verzweifelten Kämpfe denken, die sie bei seiner Zeugenvorbereitung mit ihm gefochten hatte. Im Grunde hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben herauszubekommen, warum er sie so offensichtlich ablehnte.
Vielleicht hatte ja geholfen, dass sie es geschafft hatte, das Geburtstagsgeschenk für dieses eine Mädchen nach Hogwarts bringen zu lassen?
„Ich meinte, ich werde auf Sie hören und den harm- und hilflosen Jungen geben", erklärte der Junge und war sein Gesicht so offen freundlich, wie Gloria es bisher nur gesehen hatte, wenn er mit Arthur Weasley gesprochen hatte. „Sie haben schließlich Recht. Wenn ich diesen Eindruck erwecke, muss ich nicht lügen."
„Du solltest auch so nicht lügen", sagte Gloria eindringlich. „Sollte der Verdacht aufkommen, dann könnte man eine Befragung unter Veritaserum verlangen."
„Natürlich werde ich nicht lügen", versicherte der Junge und obwohl er keinen Anlass dazu gab, glaubte sie ihm nicht. Er war sehr talentiert darin, nicht die gesamte Wahrheit zu sagen.
„Darf ich fragen, wo deine kleine Gefährtin ist?", erkundigte sich Gloria misstrauisch.
„Ich hab sie zurückgelassen, damit sie niemanden anfaucht oder angreift", erklärte er. „Sie hat manchmal eine ziemlich aggressive Ader."
„Ich finde es um ehrlich zu sein schade", log Gloria, die es eher besorgt machte nicht zu wissen, wo dieses viel zu intelligente Biest steckte. „Die meisten Menschen empfinden sie als niedlich."
„Dafür hab ich ja Teddy dabei", entgegnete Tarsuinn und hob überflüssigerweise das Plüschtier in seinen Händen hoch."
„Ich glaube, es ist nicht ratsam, den mit in die Verhandlung zu nehmen", fand sie. „Du weißt, man wird deinen Gesundheitszustand angreifen, da ist es nicht gut, wenn ein dreizehnjähriger…"
„Zwölf!"
„…fast dreizehnjähriger Junge ein Plüschtier in seinen Armen hält."
„Ich bin Ihnen entgegengekommen, jetzt müssen Sie auch eine bittere Pille schlucken."
Er ist verdammt frech für ein Kind, beschwerte sich Gloria in Gedanken.
„Na, wenigstens hast du deine gute Schuluniform angezogen und nicht diese Einhornsachen", sagte sie stattdessen laut. „Dass du in Ravenclaw und nicht in Slytherin oder Gryffindor bist, ist sehr hilfreich."
„Das mit Slytherin versteh ich ja…!"
„Es ist allgemein bekannt, dass Professor Dumbledore seine Favoriten in Gryffindor sucht, schließlich war er ja selbst eine ganze Weile Hauslehrer", beantwortete Gloria die unausgesprochene Frage.
„Der Direktor bevorzugt Gryffindor nicht", widersprach der Junge sanft.
„Es zählt nur, was die meisten Mitglieder im Zaubergamot denken", erklärte Gloria geduldig. „Und seit einiger Zeit gibt es heimliches Getuschel über die Vergabe der letzten beiden Hauspokale. Ich schätze, Lucius Malfoy ist daran nicht ganz unschuldig daran."
Ein kurzes Zucken um die Mundwinkel des Jungen, ließen Gloria aufmerken.
„Du kennst Mr Malfoy?", fragte sie interessiert.
„Ich bin ihm einmal kurz begegnet."
„Das war wann?"
„Warum wollen Sie das wissen?"
„Einer der einflussreichsten Befürworter eurer Deportation ist Lucius Malfoy. Es wäre gut zu wissen, wenn da etwas Wichtiges wäre."
Eine Weile dachte der Junge nach, dann erzählte er Gloria eine kurze Geschichte über seinen ersten Besuch in der Winkelgasse und die Begegnung mit Malfoy im Besenladen. Am Ende verstand Gloria endlich. Es sah Lucius Malfoy, ähnlich so etwas nicht zu vergessen. Zumindest war es eine passendere Erklärung als mögliche finanzielle Verluste, die, durch die mehr oder minder direkten Andeutungen der Inder, drohten.
„Kann ich Ihnen sonst noch etwas erzählen?", fragte der Junge am Ende, ohne dass es ihm unangenehm zu sein schien. Gloria fand das erstaunlich, wo sie ihm doch drei Wochen lang fast alles aus der Nase hatte ziehen müssen und er hatte sich dabei gewunden und war schwerer als ein Aal zu fassen gewesen.
„Nein. Ich denke, wir sind gut vorbereitet", erwiderte Gloria.
„Wann darf ich endlich Rica treffen?"
„Sobald Ihr Eure Aussagen gemacht habt. Tut mir leid."
„Wann wäre das?"
„Erst gegen Abend befürchte ich."
„Das stört mich nicht. Ich hab ein Buch mit. Kann ich jetzt gehen?"
„Ja, du darfst gehen."
Mit einem Wink öffnete Gloria die Tür für ihn und schaltete den Privatsphärekristall ab.
„Mr Weasley?", rief Gloria hinaus.
Ein reichlich schäbig gekleideter Zauberer erschien an der Tür, doch inzwischen verwechselte Gloria Armut nicht mehr mit Inkompetenz.
„Könnten Sie Tarsuinn bitte in seinen Aufenthaltsraum bringen und ihm da ein wenig Gesellschaft leisten? Ich fürchte, es wird spät werden."
„So gut es geht. Komm, Tarsuinn. Bill will vorbeikommen, wenn er etwas Zeit erübrigen kann. Auf Wiedersehen, Mrs Kondagion."
Der Junge hielt es nicht für nötig, sich zu verabschieden. Gloria wusste nicht, ob das eine bewusste Beleidigung von Tarsuinn war oder ob er es einfach nicht für nötig hielt, da sie sich ja heute noch wieder treffen würden. An der Hand von Mr Weasley verließ er das Büro.
Danach schaute sie noch einmal ihre Notizen für die Anhörung durch. Doch lange blieb ihr dafür keine Zeit, denn irgendwann fühlte sie sich beobachtet, schaute auf und erblickte einen alten, gebeugten und zahnlos lächelnden Mann im Stuhl vor ihrem Schreibtisch sitzen. Die Tür war geschlossen, der Privatsphärekristall leuchtete wieder, obwohl Gloria ihn ganz sicher nicht eingeschaltet hatte.
Sie runzelte die Stirn, zwang sich aber sofort damit aufzuhören. Das gab Falten und sie hatte keine Lust, schon jetzt mit diversen Cremes, Salben und Zaubern nachzuhelfen.
„Halten Sie es nicht für unklug ins Ministerium zu kommen?", fragte Gloria möglichst ruhig. „Dumbledore ist hier und auch einige der besten Auroren."
„Und was sollten Sie von mir wollen?", schmunzelte Glorias Meister. „Ich bin ein unbescholtener Bürger."
„Dumbledore könnte vielleicht Fragen stellen", gab Gloria zu bedenken. „Er weiß, was man Euch angetan hat und könnte eine Verbindung zu den McNamaras vermuten."
„Da hast du natürlich Recht", antwortete er. „Aber ich denke, was ich dir sagen will, ist zu wichtig, um es einer Eule anzuvertrauen. Vor allem, da dich im Moment irgendwer heimlich beobachten lässt."
„Ich weiß", lächelte Gloria. „Jemand im Ministerium hofft darauf, dass ich einen Fehler mache."
„Nun, darauf hofft nicht nur diese Person", erwiderte Banefactor. „Es gibt Komplikationen."
„Dies ist ein Wort, das ich überhaupt nicht mag."
„Tja – ich bin halt auch nicht allmächtig und die indische Zauberkaste ist ein sehr instabiles Gefüge."
„Wollen Sie mir damit sagen, dass die Abmachung damit hinfällig ist?"
„Mehr oder weniger."
„Können Sie ins Detail gehen?"
„Aber sicher", sagte Mr Banefactor und lehnte sich ein wenig zurück.
„Du hast ja schon herausgefunden, was Mr Ciffer bei dieser Sache antreibt?"
Gloria nickte. Lou Ciffer war ein arroganter Vertreter seiner Art, der nicht nur Muggel, sondern auch alle anderen Zauberer und Hexen für unterlegen hielt, solange sie nicht aus seiner Familie kamen. Er war nur aus purer Not eine Bindung zu Mr Banefactor eingegangen.
„Nun – Mr Ciffer glaubt, das Geheimnis des Rituals der Übertragung ergründet zu haben."
Eine eiskalte Hand ergriff Glorias Herz. Sie hatte einige unangenehme Gespräche mit diesem Herrn geführt, der bei der Anklage nun selbst sein Anliegen vortragen wollte. In seinen Händen wollte sie dieses Ritual ganz sicher nicht wissen.
„Er glaubt? Oder weiß er es?", fragte sie zur Sicherheit nach.
„Er behauptete es zumindest einigen unserer indischen Kunden gegenüber."
„Und was hat das mit dem Fall zu tun?"
„Nun ja. Anscheinend ist Mr Ciffer der Ansicht, Rica McNamara und die gelösten Siegel wären das letzte Puzzleteil, welches er noch braucht."
„Und das lassen Sie ihm durchgehen?", erkundigte sich Gloria erstaunt.
„Aber nicht doch", lachte ihr Meister. „Im Moment ist Mr Ciffer der Ansicht, ich wüsste nichts von seinem doppelten Spiel. Er will die Abmachung heute brechen, sich gleich nach der Verhandlung mit Miss McNamara absetzen, verstecken und das Geheimnis ergründen. Dann will er wahrscheinlich die Siegel von den Menschen brechen, von denen er weiß und sie an sich selbst binden."
„Und warum halten Sie ihn nicht auf?"
„Weil ich dich habe. Er weiß nichts von dir und deiner Rolle. Du wirst ihn heute besiegen oder zumindest dafür sorgen, dass er Rica McNamara nicht sofort in seine Hände bekommt. Er hat alles auf diese eine Karte gesetzt. Wird sein Verrat offensichtlich, muss er handeln. Und ich schätze, du ahnst, was seine einzige Alternative dann wäre?"
„Er braucht die Herzdame", schlussfolgerte Gloria.
„Genau", sagte Banefactor und applaudierte leise. „Ich möchte, dass du es dazu kommen lässt und er sich damit selbst den Strick knüpft und aufhängt."
„Warum lassen Sie nicht einfach Ihre Beziehungen in Indien die Sache aus der Welt schaffen? Warum das Risiko eingehen?"
„Weil diese Herren und Damen Opportunisten und Rassisten sind und erst einmal abwarten, wer das Kräftemessen gewinnt. Im Grunde würden sie lieber vor einem der ihren buckeln, als einer Missgeburt wie mir etwas zu schulden."
„Dafür sollten sie bezahlen!", murmelte Gloria ärgerlich.
„Keine Sorge, das werden sie", lächelte Banefactor zahnlos und in der perfekten Imitation eines alten, verschmitzten Mannes. „Es ist Tradition bei solchen Leuten, sich nach dem Krieg, in dem sie nicht gekämpft haben, die Gunst des Siegers zu erkaufen, damit dieser vergisst, wer ihm nicht geholfen hat. Und diesmal wird es sehr teuer."
„Aber Ciffer hat doch nicht wirklich eine Chance das Ritual…"
„Doch, die hat er. Was du nicht weißt: Die McNamaras hatten einen der Siegelrubine bei ihrer Flucht mitgenommen, aber auch der zweite, der von der Schwester, ist damals verschwunden. Der Dieb glaubte, ich würde nicht merken, dass der zweite Rubin erst später verschwand, aber dem war nicht so. Doch ich habe damals einfach nicht herausgefunden, wer ihn genommen hat, denn eigentlich hättest nur du davon profitiert. Bis vor ein paar Monaten, war mir das alles ein Rätsel. Wenn Ciffer also einen Rubin hat, herausbekommt, wie man ihn herstellt und durch Miss McNamara erfährt, wie Dumbledore, Flitwick und dieser Heiler das Siegel ohne den passenden Rubin brechen konnten, dann ist er eine große Gefahr."
„Ich vermute, Sie haben mich damals intensiv überprüft?", fragte Gloria unangenehm berührt bei dem Gedanken an die Möglichkeiten ihres Mentors.
„Natürlich!", gab er unumwunden zu. „Aber das sollte dich nicht ärgern. Schließlich bin ich so erst wirklich auf dich aufmerksam geworden. Ohne diesen Zwischenfall wärst du wahrscheinlich nur eine Kundin."
Gloria hätte am liebsten gefragt, was es gewesen war, das ihn auf sie aufmerksam gemacht hatte, doch sie stellte das hinten an. Es war nicht der Moment dafür.
„Sie haben bedacht, was passieren kann, wenn Ciffer sich an Dumbledore wendet, weil er sich zu sehr in die Ecke gedrängt fühlt?"
Mr Banefactors Augen begannen vor Belustigung zu leuchten.
„Ich würde gern sehen, wie der Professor reagiert, wenn er sich die Beschreibung seines eigenen Großvaters anhört. Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich hätte mich jemals irgendjemandem außer dir und einigen engen Vertrauten in meiner wahren Gestalt offenbart?"
„Nun, Sie haben zumindest mit der Inderin und dem Schotten…"
„Gloria! Was ich dich sehen lasse, ist nicht unbedingt das, was auch die anderen sehen."
„Ich verstehe", murmelte sie. „Ich fühle mich trotzdem nicht wohl bei der Sache. Was, wenn Ciffer trotz unserer Vorsicht die Flucht gelingt?"
„Dann wissen wir den besten aller Jäger hinter ihm – Dumbledore!"
Bei diesem Gedanken musste Gloria bedächtig nicken. Ihr Meister hatte in diesem Punkt absolut Recht. Dumbledore fühlte sich für die halbe Welt, die Unschuldigen und vor allem für jeden seiner Schüler verantwortlich. Es war undenkbar, dass er einen negativen Ausgang der Anhörung einfach so akzeptieren würde.
„Dumbledore war vor nicht allzu langer Zeit zu einem Kurzbesuch in Beauxbaton", ergänzte Banefactor ihre Gedanken.
„Doch nur wegen des Trimagischen Turniers nächstes Jahr und auf Einladung von Madame Maxime. Soweit ich weiß, ging die Initiative nicht von ihr aus."
„Man kann so etwas arrangieren und wenn es darum geht, Leute in die gewünschte Richtung zu schubsen, ist Dumbledore ein absoluter Meister. Direkt greift er nur selten ein – wahrscheinlich, weil er nicht alles allein machen will und kann. Ich schätze, er ist schon zu sehr Lehrer um anders handeln zu können."
„Dann werd ich wohl mein Bestes geben müssen und hoffe, Ihre Sicherheitsnetze halten, was sie versprechen."
„Mehr erwarte ich nicht. Ich habe vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten", entgegnete Banefactor freundlich. „Und ich werde mich am besten auf den Weg machen – es will dich jemand sprechen."
Es klopfte an der Tür.
Gloria schaltete die Privatsphäre aus.
„Ja?", rief sie fragend.
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet und der Kopf von Glorias Sekretärin schob sich vorsichtig hinein.
„Was ist, Heather?", erkundigte sich Gloria freundlich.
„Ich wollte nicht stören", versicherte die junge Frau verlegen. „Aber hier ist eine Bürokratin…"
„Hem, hem", erklang es ungeduldig und empört kurz hinter Heather, die sichtlich zusammenschrak. Es war sehr wahrscheinlich, dass die junge Frau die Besucherin gebeten hatte zu warten, während sie selbst den Besuch ankündigte. Gloria legte wie jeder Anwalt Wert auf Diskretion für ihre Mandanten und deshalb war es schon eine gewaltige Unverschämtheit, sich einfach mit zur Tür zu schleichen.
„Die erste Untersekretärin des Zaubereiministers wünscht Sie zu sprechen", korrigierte sich Heather und verzog genervt das Gesicht. „Haben Sie Zeit?"
„Einen Moment noch!", entgegnete Gloria, schaute kurz Mr Banefactor fragend an, stand dann auf und reichte dem alten Mann, den er darstellte, die Hand.
„Ich hoffe, ich konnte Ihnen fürs erste weiterhelfen, Mr Nemo", erklärte sie förmlich. „Sollten sich die Probleme mit ihrer Noch-Ehefrau weiter verschlimmern und sie weiterhin Flüche geschickt bekommen, so werde ich morgen deutlich mehr Zeit für Sie erübrigen können. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, aber ich verhandle in wenigen Stunden einen wichtigen Fall."
„Da gibt's nichts zu verzeihen", nuschelte Glorias Meister zahnlos. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich überhaupt um die unwichtigen Belange eines alten Mannes kümmern."
Mit quälender Langsamkeit – Gloria war versucht amüsiert zu grinsen – nahm Mr Banefactor seinen Krückstock und humpelte dann mit kaum ellenlangen Schritten zur Tür.
Gloria beeilte sich an seine Seite zu kommen und stützte ihn, bis sie ihn an Heather übergeben konnte.
„Geleite doch bitte Mr Nemo zu einem Reisekamin, damit er sicher aus dem Ministerium nach Hause gelangt, Heather", bat Gloria sanft und ließ dann ihre Stimme ein wenig gefrieren.
„Kommen Sie doch herein, Madame Umbridge."
Gloria ging wieder zurück hinter ihren Schreibtisch und drehte sich ihrem Gast zu, um der Frau einen Stuhl anzubieten – nur um festzustellen, dass die kleine, und geschmacklos gekleidete, Person sich schon hingesetzt hatte. Zum Glück war Gloria inzwischen nicht mehr so leicht reizbar und so erkannte sie die Unhöflichkeit als das, was sie war, den Versuch zu dominieren und zu provozieren. Doch damit konnte man sie nicht mehr manipulieren.
Bevor Gloria sich setzte, räumte sie erst einmal sämtliche Papiere die Anhörung betreffend vom Tisch, ohne dabei einen Zauber zu nutzen. Damit es länger dauerte. In der so gewonnenen Zeit bereitete sie ihre Augen und ihren Kopf darauf vor Umbridge anzusehen, ohne einen leichten Würgreiz zu spüren. Die Untersekretärin hatte sich wieder einmal in das modisch scheußlichste Ensemble seit Merlins Gedenken geworfen. Eine lila Häkelweste auf einem grünen Kleid, das zu allem Überfluss auch noch mit rosa Rüschen besetzt war. Dazu auch noch eine blassgrüne Seidenschleife im Haar, die beim Fliegenfischen sicher alle Forellen hätte erblinden lassen. Gloria konnte sich diesen schlechten Geschmack bei einer Frau einfach nicht erklären – es sei denn, sie tat Umbridge Unrecht und die Untersekretärin war farbenblind hoch zehn.
„Hem, hem", versuchte Umbridge auf sich aufmerksam zu machen.
„Einen Moment bitte", bat Gloria höflich und ein klein wenig unterwürfig. „Diskretion, Sie verstehen? Ich hatte nicht mit so hohem Besuch gerechnet."
„Und dieser Mr Nemo durfte all das sehen?", fragte Umbridge durchaus scharfsinnig.
„Er ist ein halbblinder, alter Mann", redete sich Gloria heraus. „Nicht umsonst habe ich Miss Delightyfull gebeten, ihn zu begleiten. Aber Sie sind sicher nicht hier, weil Sie sich für meine kleinen Nebenfälle interessieren, nicht wahr?"
„Sie wären erstaunt, wie tief das Interesse an Ihnen stellenweise geht", orakelte Umbridge und warf Gloria einen Blick zu, der vielleicht fürsorglich sein sollte, aber den versteckten Dolch nicht verbergen konnte.
„Täuschen Sie sich da nicht, Madame", entgegnete Gloria freundlich. „Mir wurde die letzten Wochen einiges an Aufmerksamkeit zuteil. Wenn ich mich nicht irre, auch aus dem Büro des Zaubereiministers."
„Ich hoffe, Sie haben das nicht falsch verstanden", sagte Umbridge jovial.
„Wie sollte ich es denn verstehen?", fragte Gloria, als wäre sie sich nicht ganz sicher, woraufhin Umbridge einen bedeutungsvollen Blick auf den Privatsphärekristall warf.
Gloria aktivierte den Kristall mit einer schwungvollen Geste und schaltete unter dem Tisch heimlich ein so genanntes Diktiergerät an. Das war eines dieser Muggeldinge, die sie immer mehr zu schätzen wusste, vor allem, da kaum ein Zauberer etwas damit anfangen konnte.
Umbridge nickte zufrieden.
„Sie wollten mich auf etwas Spezielles aufmerksam machen, Madame?", fragte Gloria. „Möchte der Zaubereiminister etwas von mir?"
Leider war Umbridge nicht dumm genug, um auf die letzte der beiden Fragen ehrlich zu antworten.
„Der Zaubereiminister möchte natürlich keinen Einfluss auf die Anhörung nehmen. Schon eher ist es die Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit, welche sich Sorgen über den Ausgang der Anhörung macht,…"
Gloria bemühte sich krampfhaft, ihr Gesicht neutral-interessiert zu halten. Alles Barty Crouch und seiner Abteilung in die Schuhe zu schieben, war schon ein netter kleiner Zug im Intrigenspiel. Anscheinend betrachtete das Büro des Zaubereiministers Crouch als einen Störfaktor oder als zu ambitioniert. Warum sonst sollte Umbridge ihr diese Abteilung als Sündenbock präsentieren.
„…da die diplomatischen und wirtschaftlichen Konsequenzen extrem sein könnten."
„Ich habe den Tagespropheten gelesen, Madame Umbridge", erklärte Gloria. „Man war da äußerst gründlich dabei, die abwegigsten Katastrophenfälle aufzubauschen."
„Es geht nicht nur darum, Gloria, meine Liebe…"
Diesmal zuckte Gloria doch ein wenig zusammen, so widerlich fand sie die vertrauliche Anrede.
„…Das Ansehen der englischen Zauberergemeinschaft steht hier auf den Spiel. Im Sommer sind die Quidditch-Weltmeisterschaften und ein Boykott und ein Vertragsbruch im Vorfeld, könnte sehr schädlich sein."
„Nun, Madame Umbridge", entgegnete Gloria ein wenig schärfer als beabsichtigt. „Ich persönlich glaube, dass eine Auslieferung der McNamaras unserem Ansehen deutlich mehr schaden würde."
„Das denke ich nicht!", urteilte Umbridge und auch ihr Ton war nicht mehr so übertrieben freundlich. „Sobald bekannt wird, dass dieser Junge ein Bedlam der übelsten Sorte ist, werden die wichtigsten Nationen unser Handeln gutheißen und verstehen. Niemand wird mehr die Zeiten eines gewissen Schwarzen Magiers zurück wollen. Sie doch sicher mit am allerwenigsten!"
„Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen dem Wilden Talent und dem von Ihnen angesprochenen Zauberer", erwiderte Gloria und meinte es ehrlich. „Und ich halte es für äußerst fragwürdig, ihn für die Verbrechen seiner Eltern oder eines nicht einmal verwandten Zauberers verantwortlich zu machen."
„Halbblütern steckt diese Veranlagung schon im Blut", meinte Umbridge scharf.
„Wie kommen Sie darauf, dass McNamara ein Halbblut ist?", fragte Gloria mit echtem Erstaunen. Sie hatte ja seit der kleinen Sommerepisode gewusst, dass Umbridge etwas gegen Zauberer wie Tarsuinn McNamara hatte, aber der geistige Sprung zu einem Halbblut blieb ihr unerklärlich.
„Das ist doch eindeutig. Sein abnormer Zugang zur Magie, die Falschheit seines Wesens und die negativen Veranlagungen seiner Eltern."
„Das mag zwar sein", erwiderte Gloria vorsichtig. „Aber dem Einfluss welcher Rasse ordnen Sie das zu?"
Für einen Moment glotzte Umbridge sie aus ihrem schwabbeligen Gesicht an, als wäre Gloria ein Werwolf oder Schlimmeres.
„Verstehen Sie mich nicht falsch", schleimte Gloria und tat unschuldig. „Ich habe mich aufgrund dieses Falles intensiv mit diesem Thema beschäftigt und niemand konnte mir erklären, woher das Phänomen des Wilden Talentes stammt. Es gab verschiedene Theorien, aber keine hat den Einfluss einer halbmenschlichen Rasse erwähnt. Deshalb überrascht mich das etwas. Wenn Sie mehr wissen als ich, sagen Sie es mir bitte!"
„Das ist leider geheim", fing sich Umbridge wieder und spielte die mächtige Dame. „Aber glauben Sie mir, man sollte eine solche Abartigkeit nicht dulden und ich denke, der Junge wäre woanders besser aufgehoben, ohne dass wir uns die Finger schmutzig machen müssen!"
Jetzt war es endlich heraus. Gloria drängte ein triumphierendes Lächeln zurück und murmelte nur ein: „Ah, verstehe."
Dann versank sie in Schweigen, als würde sie ernsthaft über diese – eigentlich gar nicht so neue – Entwicklung nachdenken.
„Es würde meiner Karriere sehr schaden, wenn ich verlieren würde", sagte Gloria nach angemessen scheinender Zeit leise.
„Das Zaubereiministerium würde sicher dafür sorgen, dass Ihnen keine Nachteile entstehen", erklärte Umbridge mit einem geradezu tantenhaften Lächeln. „Jeder weiß, Sie kämpfen einen fast aussichtslosen Kampf."
„Sie wären nicht hier, wenn Sie nicht befürchten würden, ich könnte gewinnen", entgegnete Gloria und verengte misstrauisch ihre Lider zu Schlitzen. Das wurde einfach erwartet.
„Nun – Mr Fairbanks und Mrs Bones halten Sie für sehr fähig. Ich bin nur hier, um Ihnen den freundschaftlichen Rat zu erteilen, nicht zu weit zu gehen und das Ministerium und sich selbst nicht in Misskredit zu bringen. Natürlich will ich damit nicht sagen, Sie sollen die Angelegenheiten Ihrer Mandanten nicht pflichtgemäß erfüllen. Es bereitet uns nur Sorgen, dass Sie Decan Rummager als Ihren Assistenten beschäftigen und ich bin mir sicher, Sie wissen, warum ihm die Lizenz als Anwalt entzogen wurde! Machen Sie nicht den gleichen Fehler."
„Das bezweifle ich ernsthaft!", entgegnete Gloria und war sich sicher, niemals Amelia Bones den blanken Hintern zu zeigen.
„Es freut mich, dass ich Sie richtig eingeschätzt habe", freute sich Umbridge. „Vertrauen Sie mir, ein unerwarteter Sieg ihrer Seite, würde Ihnen sicherlich keine große Freude bereiten. Schließlich hätten Sie dann den Falschen geholfen und unschuldigen Bürgern geschadet."
„Es ist gut, dass Sie mir die Augen geöffnet haben", versicherte Gloria doppeldeutig. „Ich werde Ihre Warnungen immer im Hinterkopf behalten. Kann ich Ihnen sonst irgendwie weiterhelfen? Oder können Sie mir helfen?"
„Nein. Ich denke, alles ist gesagt."
Umbridge stand auf und streckte ihre Hand nach Gloria aus, welche diese höflich ergriff.
„Ich bin mir sicher, eine große Zukunft wartet im Ministerium auf Sie, Mrs Kondagion", erklärte Umbridge ganz freundliche Tante. „Der kleine Ausrutscher im letzten Sommer wäre damit vergessen."
„Sehr nachsichtig von Ihnen", erwiderte Gloria und hätte für diesen Kommentar am liebsten einen Fluch auf Umbridge gehetzt. „Wenn Sie bitte entschuldigen, aber ich denke, ich muss meine Strategie für die Anhörung noch ein wenig überarbeiten."
„Tun Sie das", nickte Umbridge. „Ich werde Sie nicht mehr stören."
Gloria geleitete die kleine, dickliche Frau aus ihrem Büro und schloss die Tür. Dann wartete sie fünf Minuten und schaute sich vorsichtig einmal im Vorzimmer um.
„Decan! Kommst du bitte mal kurz?", fragte Gloria, ohne die Stimme zu heben.
„Aber klar, Chefin", maulte er, da er ein wenig sauer auf sie war.
Kaum war er im Büro, deutete Gloria erst mal auf ihre Lippen, ging zu ihrem Schreibtisch und schaltete das Diktiergerät ab.
„Decan!", sagte sie dann. „Die Unterlagen, die ich abgelehnt habe? Ich hoffe, du hast sie nicht vernichtet, wie ich von dir verlangt habe!"
Einen Moment lang schaute Decan sie verdutzt an, dann breitete sich ein fieses Grinsen auf seinen Lippen aus und die Augen glitzerten.
„Wann brauchen Sie die, Lady?"
„Jetzt sofort. Sortiert nach dem größten Schmutz."
„Bin schon unterwegs. Dauert keine fünf Minuten."
Er schaffte es zwar nur in sechs, aber Gloria machte es ihm nicht zum Vorwurf, schließlich waren die Akten nicht nur sortiert, sondern auch besonders gekennzeichnet.
Einige hektische Arbeitsstunden später, saß Gloria im großen oberen Verhandlungssaal und wartete. Sie war froh, dass nicht der untere Saal genutzt wurde. Hier waren magische Fenster, die dem Betrachter eine freundliche Dorflandschaft bei Tageslicht vorgaukelten, kein schwerer Vernehmungsstuhl mit Ketten und auch die Akustik war weniger einschüchternd.
Das war nicht nur für die McNamaras wichtig, sondern auch für die Mitglieder des Zaubergamots, die sich so nach und nach in dem Saal einfanden. Gloria hatte beobachtet, dass in einer dunklen Umgebung die Menschen misstrauischer und abwehrbereiter waren und sich immer unterschwellig bedroht fühlten, so als würde ihr Verstand des Nachts immer das Schlimmste erwarten. Ein Effekt, den Gloria heute vermeiden wollte.
Sie schaute sich ein wenig im Saal um, während sie ihre Unterlagen noch einmal zurechtlegte.
Neben ihr saß Heather und wirkte furchtbar jung und viel zu nervös. Gloria berührte sie leicht am Arm und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie musste zugeben, eigentlich war diese Reaktion ihrerseits nur der zweite Impuls in ihr. Ihr erster Gedanke war gewesen, die junge Frau entweder rauszuschicken oder ihr zuzuflüstern, sie solle sich gefälligst zusammenreißen. Aber höchstwahrscheinlich wäre das eher kontraproduktiv gewesen. Heather war noch immer etwas zu weich und unerfahren, um einen solchen Hinweis richtig zu verstehen.
Sie wandte ihren Blick nach rechts und erblickte so Amelia Bones, die Leiterin der Abteilung für Magische Strafverfolgung, die die Rolle der Schlichterin übernommen hatte. Eine glückliche Fügung, wie Gloria fand, auch wenn Mrs Bones leider nichts zu entscheiden hatte, sondern nur für die Einhaltung der Regeln zuständig war.
Was Gloria zu den Leuten hinter sich brachte. Die Mitglieder des Zaubergamots mit ihrem großen und kunstvoll gestickten Z auf den Umhängen. Keine zwei Reihen entfernt entdeckte sie Janos Fairbanks, ihren direkten Vorgesetzten. Gloria wertete es als gutes Zeichen, dass er hinter ihr saß. Sie hatte noch nie einen Fall vor dem Zaubergamot vertreten, aber sie wusste, dass sich die meisten Mitglieder des Gamots am Anfang meist auf die Seite setzten, der sie zu Beginn zugewandt waren. Es tat Gloria gut zu wissen, dass ihr Chef anscheinend zu ihr hielt, obwohl er offiziell bisher mit keinem einzigen Wort seine Meinung kundgetan hatte. Leider zeigte ihr forschender Blick ihr auch, dass es um die Sache nicht sonderlich gut bestellt war. Von den etwa dreißig bisher erschienenen Zauberern und Hexen, saßen gut zwei Drittel auf der Anklägerseite.
Und das zog ihren Blick automatisch zum Anklägertisch, an dem sich gerade Barty Crouch und Lou Ciffer angeregt unterhielten. Gloria konnte nicht sagen, ob der Chef für Internationale Magische Zusammenarbeit schon einfach im Vorfeld für ein gutes Klima sorgen wollte oder nicht – dazu war seine Haltung und seine Miene einfach zu steif und abweisend – aber sie hielt es für eine indirekte Parteinahme, da jeder sehen konnte, wie einer der mächtigsten Männer des Ministeriums sich angeregt mit der Anklägerseite unterhielt. Dies war für viele sicher ein Zeichen dafür, wie ernst Crouch die Angelegenheit nahm. Wenn man bedachte, dass dieser Mann einfach nur durch einen peinlichen Zufall nicht Zaubereiminister geworden war, dann konnte Gloria Umbridges Bestreben verstehen, ihn im Zweifelsfall ins offene Messer laufen zu lassen. Gloria fragte sich, ob es vielleicht ratsam war, Crouch eine kleine Warnung zukommen zu lassen. Es konnte sicher nichts schaden, wenn dieser ihr nachher ein wenig verpflichtet war oder zumindest Gloria nicht als Feind angesehen wurde. Gedanklich machte sie sich eine Notiz.
„Guten Tag, Mrs Kondagion", unterbrach eine dünne Stimme ihre Gedanken und Gloria drehte den Kopf zur anderen Seite.
„Professor Flitwick", lächelte sie ehrlich erfreut und schaute auf den kleinen Mann, dessen Umhang kein Z schmückte. Trotzdem hatte der Professor das Recht hier zu sein, denn schließlich war er der magische Vormund des Jungen. Sie reichte ihm die Hand. „Schön, dass Sie kommen konnten. Ich fürchtete schon, irgendwelche wichtigen Pflichten würden Sie zu spät kommen lassen."
„Da müsste schon die Schule in Gefahr sein, Gloria…ähem Verzeihung…Mrs Kondagion", lachte der kleine Mann freundlich. „Aber Professor McGonagall hat alles fest im Griff."
„Gloria ist schon recht, Professor", lachte Gloria. „Es ist ja nicht so, als wenn Sie uns in der Schule je anders angesprochen hätten."
„Macht der Gewohnheit, Gloria. Danke", kicherte Flitwick. „Und das hier ist doch wohl Heather. Na? Inzwischen die Aufrufezauber gemeistert?"
„Noch immer nicht, Professor", entgegnete Heather und wurde knallrot. „Ich habe immer noch Probleme mit der Betonung."
„Ich bin sicher, das bekommen Sie noch hin. Schließlich waren Sie schon immer eine fleißige Schülerin. Sie haben einen guten Fang gemacht, Gloria."
„Danke, Professor", erwiderte Gloria höflich und half Heather lieber aus dem Dilemma. „Ist Professor Dumbledore auch schon hier?"
„Ja, natürlich. Der Zaubereiminister bat ihn nur noch um ein kurzes Gespräch. Es kann sich nur noch um Stunden handeln."
Dabei zwinkerte der kleine Mann so heftig, dass man sich Sorgen um seine Augen machen musste.
Auch ohne diesen dezenten Hinweis hätte Gloria begriffen, dass hier versucht wurde, den Direktor Hogwarts von hier fern zu halten, denn dessen Meinung war sehr hoch angesehen. Eine Tatsache, auf die Gloria fest baute.
„Bitte setzen Sie sich, Professor", bat Gloria und deutete einladend auf einen hohen Stuhl neben Heather. Das war schon lange abgesprochen. Genau wie bei Dumbledore baute Gloria auf Flitwicks Beliebtheit. Viele der Mitglieder des Zaubergamots hatten mit oder bei dem kleinen Lehrer gelernt und Gloria kannte nur wenige, die den Mann nicht wenigstens heimlich gemocht hatten.
Vierzehn Uhr rückte immer näher und erst eine Minute bevor die Türen geschlossen wurden, erschien Professor Dumbledore an einer der Türen und wechselte noch einige Worte mit dem Zaubereiminister in seiner Begleitung. Dann betrat der große Mann den Saal, seine Aura schien den Raum für eine Sekunde auszufüllen, dann ging er die Stufen hinauf und setzte sich in die oberste Sitzreihe, ein wenig auf Glorias Seite. Er wurde von mehreren Leuten freundlich begrüßt. Viel bezeichnender fand sie jedoch, dass der Minister nicht den Saal betrat, obwohl er ein Mitglied des Zaubergamots war. Wahrscheinlich hielt er die Sache für geregelt und wollte nicht persönlich an der Deportation eines Kindes mitwirken. Schließlich war es durchaus denkbar, dass weite Teile der magischen Gemeinschaft, dies nicht sonderlich gutheißen würden und dann könnte er sehr einfach den Unschuldigen mimen.
Gloria sah Amelia Bones ihren Zauberstab schwenken und dann schlossen sich die Türen. Die Schlichterin erhob sich und alle Anwesenden taten es ihr nach.
„Hiermit eröffne ich die Anhörung um die Auslieferung von Tarsuinn McNamara und Rica McNamara an die indische Zaubereiregierung. Vertreten werden die McNamaras von Mrs Gloria Kondagion. Die Interessen der indischen Zaubereiregierung nimmt Mr Lou Ciffer wahr. Mr Ciffer – ich möchte Sie darauf hinweisen, dass diese Anhörung nach englischem Recht verhandelt wird. Ich empfehle Ihnen einen einheimischen Anwalt als Vertretung, denn ich werde keine Ausnahmen für Sie machen, sollten Sie sich nicht an die Regeln halten. Wollen Sie trotzdem die Befragung selbst führen?"
„Ja, das will ich, Schlichterin", erklärte Ciffer förmlich. „Ich habe mich intensiv vorbereitet und werde mich in den von Ihnen vorgegebenen Grenzen bewegen."
„Dann treten die beiden Vertreter bitte nach vorn", ordnete Mrs Bones an.
Während Gloria und Ciffer vortraten, setzten sich alle anderen wieder hin. Als sie sich dann dem gesammelten Zaubergamot gegenübersah, beschlich sie zum ersten Mal ein wenig von der Nervosität, die man Heather so genau ansah.
„Mr Ciffer!", sprach Mrs Bones, wie es Sitte war, den Kläger zuerst an. „Bevor wir beginnen. Haben Sie spezielle Anträge vorzubringen?"
„Das habe ich, Schlichterin", erwiderte Ciffer und klang beneidenswert selbstsicher. „Ich möchte Sie bitten, Mr Albus Dumbledore von der Anhörung auszuschließen. Mr Dumbledore hat mir mehrmals gegenüber sehr deutlich seine negative Einstellung klar gemacht, aktiv die Mitarbeit verweigert und sich negativ über die Sitten und Traditionen meiner Heimat geäußert. Als Vorsitzender des Zaubergamots könnte sein Einfluss als meinungs- und rechtsverzerrend wirken."
„Die Erwiderung der Verteidigung zu dem Antrag?"
„Der Antrag Mr Ciffers entbehrt nicht eines gewissen Humors", erklärte Gloria ernst und suchte festen Blickkontakt mit Mrs Bones. „Immerhin war er es doch, der gestern dem Tagespropheten ein ausführliches Interview gegeben hat. Wenn wir Professor Dumbledore ausschließen, weil er schon eine Meinung hat, dann müssten wir jeden, der in den letzten Wochen den Propheten gelesen hat, ausschließen. Ich bin mir nicht sicher, ob dann hier noch irgendjemand sitzen würde, um eine Entscheidung treffen zu können."
„Doch ich! Hier! Worum geht es hier überhaupt?", eine uralte Hexe hatte sich mühsam erhoben und der größte Teil der versammelten Zauberer im Raum musste lachen. „Hab diesen Schund seit Ewigkeiten nicht gelesen."
„In der Hexenwoche stand auch was davon, Netty", rief ein ebenso alter Zauberer.
„Oh! Dann schätze ich, wird der Saal hier doch leer sein."
Amelia Bones versuchte ein wenig die Würde ihres Amtes zu wahren, was ihr nicht sonderlich leicht fiel. Doch das Lachen legte sich bald.
„Ich lehne Ihren Antrag ab", urteilte Mrs Bones.
„Aber…", begann Ciffer.
„Dies steht nicht mehr zur Diskussion, Mr Ciffer", unterbrach die Schlichterin fest. „Mrs Kondagion hat durchaus Recht – auch wenn ich nicht noch einmal eine solche Formulierung hören möchte – Sie haben selbst versucht die Meinung der Allgemeinheit und des Zaubergamots zu beeinflussen und nun müssen Sie auch damit leben, wenn jemand sich eine gegenteilige Meinung bildet. Und was unkooperatives Verhalten angeht – niemand ist gezwungen Ihnen zu antworten, solange Sie die Person nicht in den Zeugenstand laden. Mrs Kondagion hatte genau dieselben Bedingungen bei ihren Vorbefragungen. Haben Sie einen weiteren Antrag vorzubringen?"
„Nein, Madame!"
„Mrs Kondagion, haben Sie einen Antrag?", wandte sich Amelia Bones an Gloria.
„Ja, Madame", erwiderte sie. „Um das Verfahren nicht unnötig in die Länge zu ziehen, möchte ich beantragen, dass nur Zeugen berufen werden können, die direkt von dem Fall betroffen sind. Ich bin bereit, die von Mr Ciffer gesammelten Aussagen zu akzeptieren, und plane nicht sie anzufechten, sondern sie nur mit Fakten zu widerlegen, wenn ich sie als falsch erkenne. Ich habe der Klägerseite schon alle Aussagen betreffend der McNamaras vorgelegt, die ich zu verwenden gedenke."
„Argumente gegen ein beschleunigtes Verfahren, Mr Ciffer?"
Gloria konnte sehen, wie ihr Antrag den Mann überrascht hatte.
„Gegenargumente?", murmelte Ciffer.
„Ja, Mr Ciffer. Haben Sie Argumente gegen den Antrag oder akzeptieren Sie?"
Es war beinahe erheiternd mit anzusehen, wie Ciffer versuchte die Haltung zu bewahren. Glorias Angebot schien ihm zum Vorteil zu gereichen, doch der Mann versuchte krampfhaft die Falle in dem Angebot zu erkennen. Er hatte schon in der ersten Runde seine Souveränität vor dem Zaubergamot verloren und jetzt fiel ihm anscheinend einfach kein Gegenargument ein. Wahrscheinlich dachte er an einige seiner Zeugen unter den Hogwartsschülern, deren Wahrheitsgehalt er sich selbst nicht ganz sicher war und die Gloria in einer direkten Befragung auseinander pflücken konnte. Gloria selbst hatte nur die McNamaras als Zeugen benannt, niemand anderen.
„Ich haben nichts gegen den Antrag einzuwenden", sagte Ciffer schließlich und Gloria hätte beinahe die gesamte Anspannung ausgeatmet, so erleichtert war sie.
„Gut", sagte Mrs Bones und fixierte Gloria ernst. „Kommen Sie bitte an meinen Tisch, Mrs Kondagion."
Gloria kam der Aufforderung nach.
„Mrs Kondagion. Was soll das?", flüsterte Mrs Bones ernst. „Sind Sie sich sicher, dass Sie das Richtige tun?"
„Ich bin mir sicher, Madame!", versicherte Gloria.
„Sollte ich das Gefühl haben, Sie würden Ihre Mandaten verkaufen oder sie nicht richtig vertreten, werde ich Maßnahmen ergreifen! Haben wir uns verstanden?"
„Glasklar, Madame. Ich werde mit meinen Mandaten untergehen, falls nötig!"
Mrs Bones starrte sie einen Moment lang an. Lag da Bewunderung im Blick der Frau oder waren es doch Zweifel? Egal, zumindest glaubte sie auch in Amelia Bones jemanden zu erkennen, der auf ihrer Seite stand. Egal, ob sie sich nun bemühte neutral zu bleiben oder nicht.
„Mr Ciffer, Sie haben das Recht, die Reihenfolge der Zeugen zu benennen und diese zuerst zu befragen. Danach wird Mrs Kondagion die Chance bekommen, ihre Mandanten zu entlasten. Als Letztes werden die Mitglieder des Zaubergamots Fragen stellen."
„Mir wäre es lieber, wenn die Verteidigung zuerst ihre Argumente vortragen muss. Im Fall von 1937 in der Sache…", begann Mr Ciffer.
„Mr Ciffer!", und jetzt wirkte Mrs Bones auch offen genervt. „Dies ist nur eine Anhörung. Sie tragen das Anliegen und die Beweise Ihrer Seite vor, die Verteidigung versucht die Vorwürfe zu entkräften und der Zaubergamot entscheidet."
„Das scheint mir nicht fair, Madame. Schließlich haben wir einen gültigen Vertrag und diese Anhörung sollte überhaupt nicht notwendig sein."
Erneut unterdrückte Gloria ein Lächeln. Ein dreiwöchiger Schnellkurs konnte wohl kaum ein langes Studium ersetzen und Ciffer war kurz davor eine kleine Nachhilfestunde zu bekommen.
„Mr Ciffer. Würden Sie bitte an meinen Tisch treten", bat Mrs Bones.
Gloria musste nicht hören, was Ciffer da zu hören bekam. Mrs Bones würde dem Mann klar machen, dass er sich hätte einen Anwalt nehmen sollen. Dass seine Forderung nach einer fairen Verhandlung nur möglich wäre, wenn der Auslieferungsvertrag vorher für nichtig erklärt würde. Dass daraufhin ein Musterprozess geführt werden müsste.
Und zum Schluss, würde sie ihm klar machen, dass er derjenige war, der im Moment einen gültigen Vertrag als argumentativen Rückhalt hätte und damit deutlich im Vorteil wäre. Gloria konnte die Worte fast lippensynchron mitsprechen, was sie sich natürlich verkniff. Stattdessen schaute sie sich die Mitglieder des Zaubergamots an. Die meisten Gesichter waren kaum lesbar, doch manche schauten recht unfreundlich auf Gloria und Mrs Bones – so als würden sie nur Zeit stehlen.
„Wir können fortfahren!", verkündete Mrs Bones. „Mr Ciffer – Sie dürfen nun Ihren Standpunkt dem Zaubergamot darlegen."
„Danke", sagte der Mann wieder vollkommen gefasst und trat den versammelten Zauberern und Hexen gegenüber. Gloria trat, wie es Tradition war, zur Seite und damit so weit es ging aus der Wahrnehmung des Gremiums.
„Seien Sie gegrüßt, werte Hexen und Zauberer des Zaubergamots", begann Ciffer und verbeugte sich. „Die meisten von Ihnen wissen sicher, warum Sie hier sein müssen, aber für die, welche nicht die Zeit hatten sich zu informieren…mein Name ist Lou Ciffer. Ich bin Botschafter der indischen Zaubereiregierung und vertrete hier nur das Recht. Ein Recht, das Sie vielleicht als sehr andersartig empfinden, doch vor über dreißig Jahren schlossen wir einen Vertrag mit England. Einen Vertrag, der einen Schlussstrich unter eine Vergangenheit zog, die – gelinde gesagt – sehr belastet war. Es ist ein Vertrag, der die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede unserer beiden Völker hervorhob und zum ersten Mal von gegenseitigem Verständnis geprägt war. Doch nun, da wir diesen Vertrag einfordern, wenn wir unser Recht zu Ihrer Pflicht machen wollen, sehen wir uns mit einem Widerstand konfrontiert, der unerwartet ist.
Wir verlangen die Auslieferung von Rica und Tarsuinn McNamara, denn sie sind schuldig. Ihre Eltern wurden rechtskräftig wegen Hochverrates vor einem ordentlichen Gericht verurteilt und da sie sich dem Urteil durch Selbstmord entzogen, ist es an ihren Kindern, nun die Schuld an den Geschädigten abzutragen.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies eine für Sie ungewöhnliche Form der Sühne ist, dass viele von Ihnen sie nicht verstehen, doch ich kann Ihnen versichern, in meinem Land ist es eine Form der Ehrenschuld, die meist freiwillig beglichen wird, und die Angehörigen werden ganz anders behandelt als ein verurteilter Gefangener.
Stellen Sie sich vor, ein englischer Zauberer hat andere betrogen, wird erwischt und dazu verurteilt seinen Schaden wieder gut zu machen. Welche Freiheit besitzt dann dieser Mann? Er muss Zeit seines Lebens jeden Knut abgeben und sollte er vorher sterben, geht die Schuld mit seinem Erbe an die Kinder über. Der einzige Unterschied zu unserer Methode besteht darin, dass wir den Schuldner festhalten, damit er sich seiner Pflicht nicht entziehen kann. Dies machen wir aber nur solange, bis die Schuld bezahlt oder die zweite Generation nach dem Verurteilten gestorben ist.
Die Verteidigung wird natürlich alles in einem viel düstereren Licht darstellen. Sie wird Ihnen von Sklaverei erzählen, von Unschuldigen hinter Gittern und von weiteren Strafen, die aufgrund der Flucht auf die McNamaras warten. Lassen Sie mich versichern – es wird keine Anklage wegen der Flucht geben. Diese Garantie gibt Ihnen die indische Regierung und ich gebe darauf mein Ehrenwort.
Im Gegenzug erwarten wir die Einhaltung eines bestehenden Vertrages und wir verlassen uns auf Sie, so wie Sie sich bisher immer auf uns verlassen konnten."
Wieder verbeugte sich Ciffer, was Gloria beim zweiten Mal etwas übertrieben fand. Es wirkte so kriecherisch, aber – und das fand sie erstaunlich – es schien einigen im Zaubergamot sehr zuzusagen.
„Mrs Kondagion", wurde nun Gloria aufgefordert.
„Danke, Madame", erwiderte sie und trat in die Mitte. Ciffer ging nur wenige Schritte beiseite.
„Was soll ich meinem Vorredner nur hinzufügen?", begann Gloria mit einer rhetorischen Phrase und machte eine theatralisch-ratlose Pause. „Im Grunde genommen wurde alles gesagt. Nun – vielleicht sollten wir ein paar Argumente ins rechte Licht rücken. Was Mr Ciffer hier mit Geldschulden vergleicht, ist nichts anderes als das Einsperren und Ausbeuten von Unschuldigen. Menschen, die nie jemandem etwas getan haben – Kinder – werden ihrer Freiheit, ihres Lebens beraubt. Das ist keine Übernahme einer Geldschuld durch eine Erbschaft, die man im Übrigen auch ablehnen kann.
Versetzen Sie sich doch nur einen Augenblick in die Lage der McNamaras. Sie haben nichts getan. Man hat ihnen sogar die Erinnerung an ihre Eltern gelöscht, so dass sie sich nicht einmal verteidigen oder schuldig fühlen können. Und jetzt stellen Sie sich vor, jemand würde ankommen, behaupten Ihr Vater hätte jemandem geschadet und Sie würden jetzt dafür eingesperrt! Würden Sie das einfach so akzeptieren? Es gäbe dann hier einige Lücken im Raum, oder?"
Ein abfälliges, leises Schnauben und ein angewiderter Blick von Crouch unterbrach ihren Vortrag. Gloria konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Mann versucht hatte, sie in Verbindung mit den Machenschaften ihrer Eltern zu bringen, doch dann war er an Glorias Taten und denen seines eigenen Sohnes gescheitert. Im Grunde jedoch war Crouch sich anscheinend heute noch sicher, dass Gloria nicht anders als ihre Erzeuger war. Für einen Moment zögerte sie, doch dann ließ sie ein wenig ihrer Verärgerung darüber freien Lauf. Es konnte kaum schaden, denn Crouch war schon aus Prinzip nicht auf ihrer Seite.
„Nun, Mr Crouch", sprach sie deshalb den Leiter der Abteilung für Internationale Zusammenarbeit direkt an. „Sie sollten über andere nicht so abfällig urteilen, denn, wenn ich recht informiert bin, hinterließ Ihr Sohn keinen Nachkommen, als er starb? Und dies würde in Indien bedeuten, dass Sie, da Sie ja der Vater sind, jetzt in Askaban einsitzen würden und…"
„Wie können Sie es wagen…!", keuchte Crouch mit schmerzerfüllten Augen. „Mein Sohn ist tot."
„Die Eltern der McNamaras sind auch tot!", hielt Gloria kühl gegen. „Und das scheint Sie kaum zu interessieren. Sie haben Ihre Meinung schon offen kundgetan. Wie Mr Ciffer beharren Sie auf der Einhaltung des Vertrages. Doch wenn Sie, Mr Crouch, und alle hier im Raum, es als Unrecht empfinden würden, wenn Sie für die Verbrechen Ihres Sohnes bestraft würden, wie können Sie dann dieses Unrecht Tarsuinn und Rica McNamara antun?"
Für einen Moment glaubte Gloria, sie hätte Crouch in einen Herzinfarkt getrieben. Der sonst so gefasste und unterkühlte Mann leuchtete rot vor Zorn und wenn Blicke töten könnten, dann wäre Gloria sicher eben in tausend Stücke zersprungen. Ähnlichen Zorn sah sie auch in einigen Gesichtern hinter der Anklageseite, aber auch einiges an Stirnrunzeln.
Sie nutzte den Moment von Crouchs Sprachlosigkeit und fuhr fort.
„Unrecht bleibt Unrecht, meine Damen und Herren", sagte sie sehr ruhig und gefasst, um einen großen Kontrast zu Crouch darzustellen. „Auch wenn es mit einer Unterschrift sanktioniert scheint. Vor dreißig Jahren hat das Ministerium mit diesem Auslieferungsvertrag einen Fehler gemacht und die Zukunft für die Gegenwart geopfert. Nun ist es an uns, diesen Fehler zu korrigieren und ich kann mir keinen besseren Zeitpunkt vorstellen, als den heutigen."
„Hört, hört!", krächzte die kauzige alte Hexe, die vorgegeben hatte, den Tagespropheten nicht zu lesen. Doch dies war die einzige laute Meinungsäußerung im Raum.
Man konnte dies entweder als gutes oder aber auch als schlechtes Zeichen deuten. Für Gloria zumindest war es ein guter Auftakt, denn sie konnte einige sehr nachdenkliche und auch betretene Gesichter im gegnerischen Lager entdecken. Dass die Professoren Dumbledore und auch Flitwick eher ein wenig stirnrunzelnd aussahen, spielte für sie keine Rolle. Die beiden würden definitiv für die McNamaras stimmen. Um ihre Stimme musste Gloria nicht kämpfen und wenn sie dabei deren moralische Ansprüche verletzte, so war ihr das egal. Eigentlich hatte sie eine sanftere Herangehensweise geplant, jedoch hatten die Umstände des Vormittags einiges geändert.
Um den Eindruck des Schweigens weiter nachwirken zu lassen, erklärte Gloria ihre Rede nicht für beendet, sondern ging mit leisen Schritten an ihren Platz und setzte sich.
„Fahren wir fort!", sagte Madame Bones und räusperte sich. „Mr Ciffer, benennen Sie Ihren ersten Zeugen."
„Ich rufe Rica McNamara", erwiderte Ciffer förmlich.
Gloria musste Heather nur einen kurzen Blick zuwerfen und schon stand sie auf und ging aus dem Saal, um die geforderte junge Frau zu holen.
Gloria war ein wenig überrascht, denn sie selbst hätte den Jungen zuerst gefordert, da er einfach zu klein gewesen war, als die McNamaras geflohen waren, und er deshalb viel weniger Negatives beizutragen hatte. Ihn zum Schluss zu bringen war entweder dumm oder da war etwas, was Gloria nicht wusste…
Es dauerte keine halbe Minute, dann kam Heather mit Rica McNamara zurück. Die junge Frau trat mit erhobenem Kopf in den Raum. Sie trug Muggelkleidung, die Gloria jedoch so ausgewählt hatte, dass diese dem Modeverständnis von Hexen recht nahe kam. Im Grunde war es ein helles, weich fallendes Kleid, das bis zu den Fußknöcheln reichte. Laut Miss McNamara wurde so etwas bei Muggeln eigentlich nur zu festlichen Anlässen getragen, aber dies würde sicher nur die wenigsten Mitglieder im Zaubergamot wissen. Gloria ging es nur darum, die Hexen zu beeindrucken und ihnen später etwas zu zeigen. Denn im Moment verbarg ein kunstvoll geschnürtes Tuch die Haare und die vernarbte Gesichtshälfte der jungen Frau.
Wie besprochen, sah Rica McNamara sich kurz um, bis in der Mitte der Bühne ein Stuhl materialisierte. Dann ging sie darauf zu und setzte sich wortlos.
„Bitte nennen Sie dem Zaubergamot Ihren Namen!", bat Mrs Bones geschäftsmäßig.
„McNamara, Rica", erklärte die junge Frau.
„Miss McNamara. Ist Ihnen bewusst, dass zu lügen ernsthafte Konsequenzen haben könnte und dass wir die Grenzen, was eine Lüge ist, fiel strenger auslegen und dies auch verifizieren können?"
„Ja, Madame!"
„Sie sind eine Nichthexe. Wissen Sie, dass Sie einen getrennten Prozess vor einem Muggelgericht fordern können, was Sie automatisch von der Auslieferung an die indische Zauberregierung befreien würde?"
„Ja, das weiß ich."
„Möchten Sie diese Möglichkeit wahrnehmen?"
„Auf keinen Fall!"
„Dann dürfen Sie jetzt mit der Befragung beginnen, Mr Ciffer."
Der Angesprochene trat hinzu und stellte sich so, dass er mit dem Publikum und Rica McNamara ein Dreieck bildete und sie die gesunde Gesichtshälfte dem Zaubergamot zuwendete, wenn sie ihn ansah. Die perfekte Position, wie Gloria sich eingestehen musste.
„Miss McNamara!", begann Ciffer gönnerhaft klingend. „Können Sie mir bitte sagen, wann und wo Sie geboren sind?"
„Das kann ich nicht", erklärte sie ohne Unbehagen. Schließlich war die Frage keine Überraschung.
„Wie kommt es dann aber, dass in Ihrem Pass der 15. Januar steht und als Geburtsort Glennfinnen?"
„Ich…"
„Könnte es nicht genauso gut sein, dass sie in Indien geboren wurden?"
„Ich bin mir…"
„Ja oder nein!"
„Ja."
„Sie könnten also auch Inderin sein?"
„Unwah…"
„Ja oder nein!"
„Ja."
„Aber Sie haben einen englischen Pass?"
„Ja."
„Wie haben Sie diesen erhalten?"
Rica McNamara sagte kein Wort.
„Können oder wollen Sie diese Frage nicht beantworten?", sagte Ciffer ätzend.
„Nein. Ich konnte die Frage nur nicht mit ja oder nein beantworten, Sir!", lächelte Rica McNamara freundlich.
„Dann sollten Sie erwachsen genug sein zu erkennen, wann eine ausführliche Antwort gewünscht ist."
„Ich werde mein Bestes geben, Ihre Wünsche zu erraten", versicherte die junge Frau, was Gloria ein kurzes Lächeln abrang.
„Also – wie haben Sie den Pass erhalten?"
„Ich habe dem Beamten der englischen Botschaft erzählt, was uns widerfahren ist, und er hat uns aus Mitleid den Pass gegeben. Und weil ich kein…"
„Danke,
Miss McNamara. Ist es nicht wahr, dass dabei eine große Menge
Geld an den Beamten übergeben wurde?"
„Ja."
„Also haben Sie sich die englische Staatsbürgerschaft mit Bestechung erschlichen!"
„Nein!"
Ciffer überging den Einwand durchaus routiniert.
„Kommen wir zu etwas anderem…"
Und so ging das eine ganze Weile. Ciffer zäumte das Pferd von hinten auf und grub sämtliche kleinen Vergehen der McNamaras aus und ging dabei die Zeit rückwärts. Erschleichen der Zulassung an einer staatlichen Schule, illegale Einreise in unterschiedlichste Länder, Taschendiebstähle, kleinere Betrügereien – nichts Weltbewegendes. Gloria hatte den Eindruck, dass Ciffer, jetzt da er nicht die ganzen Zeugen auch vernehmen musste, aus dem Vollen schöpfte, was ihm auch nur irgendwie an Verdächtigungen zu Ohren gekommen war. Doch nach einer guten Stunde ging er zum Frontalangriff über.
„Miss McNamara. Was wissen Sie von Ihren Eltern?"
„Nichts!"
„Das verwundert mich. Sie wissen doch, warum Sie hier sind, oder?"
„Ja, aber ich habe nur Ihr Wort."
Wieder musste Gloria kurz lächeln. Besser hätte auch sie nicht sagen können, dass sie Ciffer für einen Lügner hielt."
„Aber Sie haben doch Erinnerungen an Ihre Eltern."
„Ich bezweifle, dass sie echt waren."
„Nun – dann werde ich es erzählen. In ihrer ältesten Erinnerung kommen Ihre Eltern in Ihr Schlafzimmer, wecken Sie und sagen, Sie sollen sich anziehen. Müde und verschlafen kommen Sie dem nach, während Ihre Mutter Ihren Bruder anzieht. Es ist hektisch, Sie haben Angst, denn Ihr Vater fährt das Auto viel zu schnell und Sie weinen, weil Sie Ihre Puppe vergessen haben. Dann erhellt ein Feuer die Nacht und hüllt Sie ein. Schmerzen…"
„Aufhören!", rief Gloria aufgebracht dazwischen und versuchte die Faszination zu durchbrechen. Zu spät hatte sie begriffen, dass Ciffer mit einem Zauber Rica McNamara beeinflusst hatte. Erst als Gloria sah, wie sehr Rica McNamara von den Worten Ciffers mitgenommen wurde, war ihr das seltsam vorgekommen, denn ihr selbst gegenüber hatte die junge Frau die Geschichte viel gefasster erzählt.
„Der Einsatz beeinflussender Zauber ist nicht erlaubt, da dies den falschen Eindruck erwecken kann. Nur Wahrheitszauber sind erlaubt, wenn an dem Wahrheitsgehalt der Aussage Zweifel bestehen."
„Dieser Zauber war dazu da, Miss McNamaras wahre Gefühle zu zeigen. Ich glaube, das ist durch diese Regel abgedeckt und wurde schon in mehreren Fällen vor dem Zaubergamot angewandt."
„Aber nur, wenn der Zaubergamot dies zuvor gebilligt hat!", mischte sich Mrs Bones ein.
„Entschuldigung, dies wusste ich nicht", erklärte Ciffer und klang so, als würde er es ernst meinen. „Mir sind zwei Fälle bekannt, in denen nicht so verfahren wurde und dies ist nur etwas über ein dutzend Jahre her."
„Das mag sein. In der Zeit, von der Sie sprechen, wurde manchmal nicht gerade korrekt verfahren, doch diese Zeiten haben wir hinter uns gelassen. Bitte respektieren Sie das!"
„Wie schon gesagt – ich entschuldige mich", versicherte Ciffer. „Darf ich fortfahren?"
„Ja – aber halten Sie sich an die Regeln."
„Schlichterin", unterbrach Gloria schnell. „Ich beantrage eine Pause von fünf Minuten, damit Miss McNamara sich einen Moment erholen und ich den Zauber brechen kann."
„Gewährt!"
Gloria stand auf, ging zu Rica McNamara nach vorn und gab ihr ein sauberes Taschentuch. Die junge Frau hatte aufgrund der Erinnerungen und des Zaubers geweint. Sie stellte sich so, dass sie Rica McNamara vor den Augen des Zaubergamots verbarg.
„Geht es wieder?", fragte Gloria sanft und wandte den Blick nicht ab, als ihre Mandantin sich die vernarbte Gesichtshälfte trocknete.
„Danke, ich komme schon klar. Ich ahnte nur nicht…"
„Keine Sorge", versicherte Gloria und zog ihren Zauberstab. „Das passiert nicht noch einmal."
„Was haben Sie vor?"
Rica McNamara sah ein wenig ängstlich auf ihren Stab.
„Einen Schutzzauber. Damit das nicht noch einmal passiert. Sie müssen stark sein, ich denke, er wird jetzt schlimmsten Fluch – im übertragenen Sinne – auspacken."
Sie murmelte kurz den Zauber, mit dem sie oft selbst ihren Geist schützte. Es war einer der ersten Zauber gewesen, den Gloria von ihrem Meister gelernt hatte. Er schützte vor den meisten Beeinflussungen und auch vor Leuten mit dem Zweiten Gesicht.
„Ich hab auch dieses Gefühl. Aber ich weiß nicht, was das sein könnte."
„Egal was kommt, denken Sie immer daran, dass wir zusammen nachher alles ins rechte Licht rücken können. Antworten Sie immer ehrlich, kurz und nur so genau, wie er es fordert."
„Ich mache mir Sorgen um Tarsuinn. Sie sagten, ich würde zuletzt als Zeuge berufen, weil man mir am meisten Schuld anlasten könnte. Warum bin ich dann zuerst dran?"
„Ich weiß es nicht, aber lassen Sie sich davon nicht fertig machen. Nur auf das konzentrieren, was direkt vor uns liegt, alles Weitere findet sich."
„Kann es weiter gehen, Mrs Kondagion?", fragte Mrs Bones und Rica McNamara nickte Gloria leicht zu.
„Ja, Schlichterin."
Sofort war Ciffer wieder da und Gloria musste sich setzen.
„Miss McNamara", setzte der Inder erneut an. „Die Erinnerungen, die ich schilderte – sind das Erinnerungen die Sie Ihr Eigen nennen? Ob nun echt oder nicht."
„Ja."
„Wundern Sie sich nicht, woher ich das so genau weiß?"
„Nein."
„Weshalb wundert Sie das nicht?"
„Weil Sie es gewesen sein könnten, der mir diese Erinnerung eingepflanzt hat. Schließlich…"
„Denken Sie, jeder Zauberer würde mit Ihren Gedanken herumspielen? Ist das nicht sehr paranoid? Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie in Ihrer Vergangenheit anzweifeln, was Ihnen nicht gefällt?"
„Wenn dem so wäre, dann würde ich gewisse Fakten nicht anerkennen."
„Zählt darunter auch, dass Ihre Eltern schuldig sind?"
„Sie könnten es sein – ja. Doch ich kann…"
„Glauben Sie nicht, es könnte human sein, einem Kind solche Erinnerungen zu nehmen?"
„Nein!"
„Nun, wir in Indien denken, dass Kinder von Verbrechern durch den schlechten Einfluss Ihrer Eltern unweigerlich einen ähnlichen Lebensweg einschlagen. Die einzige Möglichkeit dies zu verhindern ist, ihnen ihr altes Leben zu nehmen und sie noch einmal neu beginnen zu lassen. Sagen Sie mir, ist dies nicht ein besserer Weg als sie umzuerziehen, wie es Muggel so erfolglos versuchen?"
„Ist es nicht."
„Aber Sie sind doch das beste Beispiel, Miss McNamara. Ihnen wurde das Gedächtnis nicht vollständig gelöscht und wie ich schon versucht habe zu zeigen, haben Sie sofort damit begonnen zu stehlen und zu betrügen. Aber das ist noch harmlos."
Ciffer machte eine effektvolle Pause.
„Miss McNamara. Können Sie mir sagen, wie oft Sie das Leben von Menschen in Gefahr gebracht haben? Oder präziser gefragt – haben Sie jemals etwas getan, das ein Menschenleben gekostet hat?"
„Nein!"
„Sind Sie sich sicher?", fragte Ciffer lauernd
„Wenn, dann ist es mir nicht bewusst", erwiderte Miss McNamara erfreulich vorsichtig.
„Sagt Ihnen der Name Yuma Deboo etwas?"
„Im Moment nicht."
„Nun, dann möchte ich Ihnen ein wenig aushelfen. Miss Boro", sagte Ciffer zynisch-mitfühlend.
Am Platz der Anklage stand die angesprochene Frau auf, gab zuerst Madame Bones ein Papier und verteilte dann weitere im Raum.
„Miss McNamara. Erinnern Sie sich vielleicht an den Pfleger, der sich um Ihre Verletzungen gekümmert hat, der Sie gesund pflegte und dafür gesorgt hat, dass Sie genug essen?"
„So jemanden gab es da nicht."
„Das mag Ihre Meinung sein. Aber sicher wissen Sie noch, wem Sie eine Spritze mit Beruhigungsmittel in den Hals gerammt haben."
„Vage. Er wollte…"
„Er wollte, dass Sie sich nicht in Gefahr bringen und im Sanatorium bleiben und dafür starb er."
Ciffer wandte sich von Rica McNamara ab und Gloria sah, wie die junge Frau für einen kurzen Augenblick entsetzt war.
„Vor Ihnen liegt der Totenschein von Yuma Deboo. Gestorben am Tag des Ausbruchs von Rica und Tarsuinn McNamara. Die Todesursache war, dass ihm jemand Luft und Beruhigungsmittel gespritzt hatte, wobei jede der beiden Möglichkeiten allein tödlich gewesen war. Was haben Sie dazu zu sagen, Miss McNamara."
„Luft kann es nicht gewesen sein, er ist ruhig eingeschlafen und eine Überdosis ist auch unmöglich, denn, da es meine eigene Dosis war, wäre ich selbst auch gestorben."
„Nun – Mr Deboo hatte aber eine Unverträglichkeit mit diesem Mittel."
Rica McNamara schluckte schwer, doch dann sagte sie fest und ruhig.
„Dann war es ein Unfall."
„Ach? Nur ein Unfall! Ein toter Mann, eine Familie ohne Vater – nur ein Unfall? Sie haben gestohlen, betrogen und einen Menschen getötet. Sie, Miss McNamara, gehören eingesperrt auch ohne dass Sie für die Sünden Ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden. Ich habe keine weiteren Fragen."
Mit siegessicherer Miene wandte sich Ciffer ab.
„Ach, ich sollte noch hinzufügen", ergänzte der Mann und blieb kurz auf dem Weg zu seinem Platz stehen. „Miss McNamara ist in Indien geboren, sie hat einen indischen Zauberer getötet und auch die meisten anderen ihrer Verbrechen in diesem Land begangen."
Inzwischen war Gloria aufgestanden. Mit ruhigem Schritt ging sie auf Rica McNamara zu. Dabei versuchte sie, die Stimmung im Saal hinter sich mit den Ohren zu erfassen. Gut klang das nicht. Trotzdem lächelte Gloria aufmunternd, zwinkerte der jungen Frau sogar amüsiert zu und formte mit den Lippen ein lautloses: Alles wird gut!
Dann wurde sie wieder ernst und drehte sich den versammelten Zauberern und Hexen zu.
„Ich werde Sie jetzt nicht mit rechtfertigenden Frage- und Antwortspielchen zu den kleinen Vorwürfen langweilen, sondern ich mache es kurz. Ein elfjähriges Muggelmädchen reist mit ihrem vierjährigen blinden Bruder durch gefährliche Länder. Ohne Hilfe, ohne Geld. Sie haben nichts zu essen und hungern. Und so stehlen sie oder besorgen sich Nahrung auf andere Weise, denn sie haben nichts und sind auf der Flucht. Was sollten sie sonst tun?"
Gloria ging noch einmal auf den Zaubergamot zu und schaute einige der wichtigsten Männer und Frauen direkt an.
„Soll das elfjährige Mädchen vielleicht ihren Körper verkaufen?"
Erneut nutzte Gloria damit einen Schockeffekt, auf den sie eigentlich liebend gern verzichtet hätte.
„Sie haben sicher schon gehört, wie es in einigen dieser Länder zugeht, und zumindest ich kann es niemandem verdenken, wenn er lieber stiehlt als sich so etwas anzutun."
Jetzt wandte sich Gloria der jungen Frau wieder zu und fing einen ziemlich geschockten Blick von dieser auf und auch eine Distanz, welche sie bisher nur bei Tarsuinn McNamara gesehen hatte. Das konnte sich langfristig als Problem erweisen.
„Miss McNamara. Sagen Sie uns bitte, wie alt sie damals waren."
„Ich war etwas über elf Jahre alt."
„Woher wussten Sie, wie Sie heißen!"
„Es stand auf meiner Anstaltskleidung."
„Warum wollten Sie damals aus diesem so genannten Sanatorium fliehen?"
„Hauptsächlich, weil sie Tarsuinn dort gequält haben. Sie haben ihn mit Elektroschocks behandelt, ihn mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt und damit alles noch schlimmer gemacht. Und jedes Mal, wenn ich versucht habe ihn zu beschützen, hat man mich genauso mit Medikamenten ruhig gestellt. Man hat uns da nicht gepflegt oder behandelt, sondern nur eingesperrt und unter Kontrolle gehalten. Da sie uns außerdem ständig belogen haben, sehe ich es auch noch heute als mein Recht an, da auszubrechen."
„Können Sie mir sagen, was Sie von Ihren Eltern wissen?"
„Nichts."
„Namen?"
„Nein."
„Geburtsort?"
„Nein."
„Was sie versprochen haben sollen?"
„Wurde nie konkret erwähnt."
„Haben Sie jemals mehr gestohlen, als Sie zum Überleben gebraucht haben?"
„Nein."
„Miss McNamara, wie verdienen Sie sich momentan Ihren Lebensunterhalt?"
„Ich arbeite für die Aurorenabteilung."
„Was machen Sie da?"
„Ich – ähem – bringe den Auroren bei, worauf man achten sollte, wenn es um nichtmagische Überwachungssysteme geht, wie man seinen Zauberstab nicht an einen Taschendieb verliert, was ein Computer ist und so weiter."
„Also helfen Sie, die Auroren auszubilden, damit sie Verbrecher besser fangen und sich sicherer unter Muggeln bewegen können?"
„Ja."
„Sie rauben nicht irgendwelche Banken aus, bestehlen arme Leute oder machen Ähnliches?"
„Nein."
„Danke, Miss McNamara. Miss Delightyfull, bitte!"
Wie zuvor Miss Boro, stand Heather auf und verteilte einige Blätter.
„Dies ist die Beurteilung des Leiters der Aurorenabteilung über Miss McNamara. Er bescheinigt ihr hohe moralische Werte, eine sehr rechtschaffene Gesinnung und hält sie für eine Bereicherung der Ausbildung. Ich frage nun Sie – klingt das nach einer typischen Verbrecherin, deren Weg ins Gefängnis schon durch ihre Eltern vorgezeichnet war? Ich persönlich frage mich inzwischen eher, hätte Miss McNamara jemals jemandem geschadet, wenn man sie und ihren Bruder nicht eingesperrt hätte?"
Gloria wusste, dass sich alle noch mehr erwarteten, doch sie beließ es dabei. Ciffer hatte jedes einzelne Detail so ausgewalzt, dass sich die meisten Anwesenden wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte hatten merken können. Indem sie selbst sich kurz fasste, sorgte sie dafür, dass sie die Aufmerksamkeitsspanne der Zauberer und Hexen nicht überstrapazierte, diese sich alles merkten und dann auch noch dankbar waren, dass sie nicht alles so in die Länge zog.
„Bitte nehmen Sie neben Professor Flitwick Platz, Miss McNamara", bat Gloria leise.
„War das alles?", fragte ihre Mandantin leise.
„Ich musste umstellen. Der letzte Zeuge wird alles entscheiden."
„Wer ist der letzte Zeuge?"
„Nicht Tarsuinn", ahnte Gloria die Sorge der Frau. „Es wird niemand sein, der Ihnen Leid tut."
Rica McNamara schenkte ihr noch einen langen, intensiven Blick, dann begab sie sich zu Professor Flitwick. Gloria folgte ihr, nachdem sie sich auch noch ein tadelndes Kopfschütteln von Madame Bones gefallen lassen musste.
„Wenn meine verehrte Kollegin fertig ist, dann rufe ich jetzt Tarsuinn McNamara."
„Heather?", bat Gloria. Mehr musste sie nicht sagen und schon war ihre Sekretärin unterwegs.
„Darf ich etwas fragen?", erkundigte sich Professor Flitwick sehr leise in der dadurch entstandenen Pause.
Gloria nickte.
„Was bezweckt Mr Ciffer? Er hat gar nicht versucht, groß auf den Auslieferungsvertrag einzugehen."
„Der Vertrag ist ihm sicher und darum geht es nicht, Professor", erklärte Gloria geduldig. „Hier geht es nur um Mitleid und Gefühl. Das ist Ciffer bewusst und deshalb geht es ihm nur darum, Miss McNamara, und voraussichtlich auch Tarsuinn, so schlecht wie möglich dastehen zu lassen – als eine Gefahr und Problem, das man lieber abschiebt, als selbst zu lösen."
„Haben Sie deshalb diese unschönen Beispiele verwendet?", fragte Rica McNamara flüsternd.
„Das ist nötig", verteidigte sich Gloria. „Die meisten Mitglieder des Zaubergamots scheinen so festgelegt in ihrer Meinung, dass uns wohl nichts anders übrig bleibt – als ein wenig drastisch zu werden."
„Barty Crouch wird sich davon kaum beeindrucken lassen", vermutete Professor Flitwick. „Im Gegenteil. Ihr Angriff wird ihn wohl noch in seiner Meinung bestätigt haben."
„Wir werden sehen, Professor", orakelte Gloria. „Vielleicht gibt es da einen schwachen Punkt…aber da kommt Tarsuinn."
Der Junge kam an Heathers Hand in den Saal. In der anderen hielt er einen weißen Stab, mit dem er seinen Weg ertastete. Gloria hatte das bei ihm noch nie gesehen und selbst sie wusste nicht, ob er den Stock jetzt brauchte, weil er sein Tier nicht dabei hatte, oder ob er wirklich versuchte hilflos zu erscheinen. Soweit sie wusste, brauchte er keine solche Hilfe, wenn er sich in Hogwarts allein bewegen musste. Aber die Schule war eh etwas Besonderes und kein Maßstab für das normale Leben.
Natürlich gab sich Ciffer Mühe, so schnell als möglich den Jungen in die Mangel zu nehmen.
„Für das Protokoll", begann er, kaum dass Tarsuinn sich gesetzt hatte. „Dein Name lautet Tarsuinn McNamara."
„Das hoffe ich", erwiderte der Junge freundlich.
„Wer hat dir gesagt wie du heißt?"
„Meine Schwester."
„Wie alt warst du da."
„Ungefähr vier."
„Hat dir das auch deine Schwester gesagt?"
„Ja."
„Und du glaubst ihr?"
„Ich weiß, dass sie nur schätzt."
„Kann es dann nicht auch sein, dass sie überhaupt nicht deine Schwester ist?"
„Möglich."
Der Junge wirkte vollkommen entspannt, als würde er übers Wetter plaudern. Für Gloria war es offensichtlich, dass Ciffer versuchte Tarsuinn zu verunsichern, schließlich hatte er zuvor bei Rica McNamara niemals einen Zweifel an dieser Tatsache geäußert.
„Immerhin bist du ein Zauberer und sie ist eine Muggel."
„Wirklich?", staunte Tarsuinn übertrieben ironisch. „Das überrascht mich jetzt aber."
„Sie könnte eine vollkommen Fremde sein."
„Und? Was würde das ändern?"
Ciffer sah ein, dass er so nicht weiterkam und änderte seine Taktik.
„Stimmt es, dass du ein Wildes Talent bist?", fragte er scheinheilig-interessiert.
„Anscheinend."
„Sicher ist es nicht einfach damit zu leben, oder?"
„Bis jetzt war es ein Segen."
„Nichts aus Versehen getan, was du heute bereust?"
Der Junge dachte einen Moment nach.
„Nein", erwiderte er dann und seine Lippen umspielte ein Lächeln, als würde er gerade an eine lustige Begebenheit denken.
„Kein Buch zerfetzt? Keinem Mitschüler das Haustier weggenommen oder bedroht?"
„Moment!", mischte sich die Stimme der Hexe Netty ein. „Hab ich was verpasst oder ist das in Hogwarts nicht mehr üblich?"
„Netty Sutilo!", ergriff daraufhin Madame Bones das Wort und musste die Stimme ein wenig heben, weil doch einige Leute recht laut lachten. „Bitte mäßige dich!"
„Das mache ich schon die ganze Zeit, Amelia", erwiderte die alte Frau. „Aber ich werde mich ab jetzt noch mehr zusammenreißen."
„Danke! Fahren Sie bitte fort, Mr Ciffer."
Der Mann war intelligent genug, um die zuvor gestellten Fragen als abgehakt zu betrachten. Gloria beglückwünschte sich, eine so talentierte Zwischenruferin angeheuert zu haben, die das Ganze auch noch aus eigener Überzeugung und zum Vergnügen durchzog. Das Einzige, was Gloria selbst getan hatte war, die alte Hexe mit ein wenig Munition zu versorgen und das war nicht mal illegal.
„Du hast aber Schwierigkeiten deine Zauber zu kontrollieren, nicht wahr?"
„Ab und an."
„Nun – im Protokoll deiner letztjährigen Prüfung steht, dass du keinen einzigen Zauber unter Kontrolle hattest."
„Wenn es da steht, muss es wohl so sein."
„Stimmt es genauso, dass du ein Fenster im Hogwarts-Express zerstört hast?"
„Ja. Weil ich so…"
„Wolltest du das Fenster zerstören oder passierte das nur unabsichtlich?"
„Ich wollte…"
„Absichtlich oder unabsichtlich?"
„Beides."
„Ist das auch in der Wohnung der Familie Darkcloud so gewesen? Du weißt schon, als Mr und Mrs Davian ihre Tochter abholen wollten. Die Vase."
„Hab keine gesehen", versicherte der Junge und langsam machte sich Gloria Sorgen. Er wirkte viel zu ruhig und selbstsicher. Vielleicht bekam er dafür einiges an Bewunderung, aber wohl kaum das notwendige Mitleid.
„Aber in deiner Nähe gehen oftmals Gegenstände kaputt?"
„Das liegt in der Natur der Sache. Ich werfe viele Dinge um, wenn ich durch die Gegend laufe."
Auf der anderen Seite musste Gloria gestehen, Tarsuinn wirkte unheimlich nett und harmlos.
„Ich meinte, zerstörst du oft mit deiner Zauberkraft unbeabsichtigt Dinge um dich herum."
„Definieren Sie bitte oft."
„Sag uns doch einfach, wie oft es in den letzten sechs Monaten passiert ist."
Der Junge schwieg und sein Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an.
„Und?", fragte Ciffer nach ungefähr dreißig stillen Sekunden.
„Moment, ich zähl noch", erwiderte Tarsuinn vollkommen ernst und nahm seine Finger zu Hilfe.
„Zwei!", verkündete er dann plötzlich strahlend und hielt zwei Finger hoch. Die allgemeine Heiterkeit unter den Hexen und Zauberern, die daraufhin ausbrach, schien Ciffer ziemlich wütend zu machen.
„So kommen wir nicht weiter, Schlichterin", wandte er sich an Madame Bones. „Die Aussagen dieses Jungen widersprechen allem, was ich erfahren habe und was die Verteidigung auch schon anerkannt hat. Ich habe nicht das Gefühl, dass sich das Verhalten des Jungen ändern wird und beantrage deshalb eine Befragung mit Veritaserum."
Diese Worte vertrieben die Heiterkeit aus dem Raum und Professor Dumbledore erhob sich.
„Die Befragung mit Veritaserum unterliegt der Zustimmung des Zaubergamots und ist nur für Kapitalverbrechen gedacht. Nicht für eine Anhörung."
„Nun – das trifft sich gut, denn dieser Junge hat fünf Menschen getötet!", erklärte Ciffer eiskalt und die Reaktion im Saal kam der von Gloria gleich. Absolutes Entsetzen – nur der Grund dafür war anders. Während alle Anwesenden von der Ankündigung Ciffers geschockt waren – denn niemand glaubte, dass jemand bei einer solchen Anschuldigung lügen würde – war Gloria aus einem anderen Grund fast völlig von der Rolle.
Sie hatte einfach keine Erklärung, warum Ciffer diese Information verwendete. Er musste doch wissen, dass dies eine Sackgasse war. Oder wusste er mehr als sie selbst? Tarsuinn McNamara schien die Ankündigung relativ gefasst aufzunehmen, er sah eher verwundert aus. Ganz im Gegenteil zu seiner Schwester, die gerade mit einem Ausdruck der Trauer auf ihren Bruder starrte.
Sie weiß es, wurde es Gloria plötzlich klar.
„Ja – er hat sie getötet und er weiß davon. Warum glauben Sie, haben wir ihm mit Tränken seine Zauberkraft genommen? Nur aus Selbstschutz und weil dieses Kind eine Gefahr für seine Umgebung ist. Wie soll ich den Familien der Getöteten erklären, dass zwei solche Menschen in einem anderen Land frei leben dürfen?"
„Und dafür haben wir nur Ihr Wort. Nicht wahr, Mr Ciffer?", erkundigte sich Dumbledore.
„Ich habe auch sämtliche Totenscheine, Untersuchungsberichte und die medizinischen Akten des Jungen hier. Ich werde jedem gleich…"
„Wir stimmen zu!", unterbrach Gloria fest. „Eine Befragung unter Veritaserum kann nur zu unserem Vorteil gereichen!"
Sie achtete nicht auf das entsetzte Aufkeuchen von Rica McNamara, sondern schaute nur warnend auf die junge Frau hinunter.
„Könnten Sie dies bitte wiederholen?", vergewisserte sich Madame Bones.
Gloria vermied es, hinauf zu Dumbledore zu schauen.
„Wir stimmen dem Antrag zu", wiederholte Gloria und trat nach vorn. „Gibt es einen besseren Beweis für die Unschuld Tarsuinn McNamaras?"
„Und Sie sind sich dessen Aussage so sicher?"
„Ja, Schlichterin. Gestatten Sie kurz mit Mr McNamara zu sprechen?"
„Nur zu. Ich werde nach dem Serum schicken lassen."
„Nicht nötig, Schlichterin", bot Ciffer an. „Ich habe welches hier."
„Sie mögen entschuldigen, Mr Ciffer", kam Madame Bones Glorias Ablehnung zuvor. „Aber ein solches Mittel sollte aus neutraler Quelle stammen. Nur um spätere Beschwerden zu vermeiden."
„Natürlich, Sie haben Recht", gestand Ciffer ein.
Gloria ging inzwischen zu Tarsuinn McNamara.
„Sagen Sie mal?", fragte der Jungen flüsternd, kaum dass sie sich zu ihm heruntergebeugt hatte. „Haben Sie den Verstand verloren? Als Anwältin hätten Sie doch merken müssen, dass ich Sie zeitweise angeflunkert habe!"
„Mach dir keine Sorgen. Lüg einfach, wenn es wichtig ist", redete Gloria auf ihn ein.
„Das ist Veritaserum. Da kann man nicht lügen."
Damit hatte er zwar Recht, aber Gloria konnte ihm nicht sagen, dass er dies schon einmal geschafft hatte. Stattdessen log sie.
„Das ist alles eine Frage der getroffenen Vorkehrungen. Du musst nur ein wenig geistesabwesend wirken, damit es nicht auffällt, okay?"
„Ich werd's versuchen", versprach er.
„Vertrau mir einfach."
„Auch das werde ich versuchen."
„Sei nicht so zynisch."
„Verzeihung, ich bin nur ehrlich."
Inzwischen fand Gloria, dass der Junge so klang, als hätte er das Veritaserum schon vorher genommen.
Wenig später erschien der Gerichtsdiener – ein junger Schlacks namens Daniel Hioble – mit einem Fläschchen des glasklaren Serums und ließ vor den Augen aller genau drei Tropfen in eine flache Schale tropfen.
„Ist es mir erlaubt, den Jungen und das Serum vorher zu überprüfen?", erkundigte sich Ciffer bei Madame Bones. „Es soll gerüchteweise ein Gegenmittel geben, das, vorher eingenommen, die Wirkung des Veritaserums aufhebt."
„Wenn Sie mir im Voraus sagen, welchen Zauber Sie zu nutzen gedenken?", erwiderte die Frau in der Rolle der Schlichterin.
„Ich gedachte den passiven Magia percibir zu nutzen."
„Einverstanden. Einwände, Mrs Kondagion?"
„Keine", entgegnete Gloria selbstsicher.
Ciffer ging zu Tarsuinn, wirkte seinen Wahrnehmzauber und schüttelte leicht den Kopf.
„Etwas Unnormales bemerkt?", fragte Madame Bones interessiert.
„Nein, Schlichterin", erwiderte Ciffer. „Nur, dass Mrs Kondagion anscheinend jeden Vorteil nutzt, den Sie bekommen kann."
„Können wir dann fortfahren?"
„Ja."
Gloria ging zu ihrem Platz zurück. Ein wenig war sie über Ciffers seltsamen Kommentar verwundert, aber dann schüttelte sie diesen Gedanken ab. Der Mann hatte wahrscheinlich nur für den Zaubergamot diese Bemerkung gemacht. Wenn er wirklich etwas gefunden hätte, dann hätte er es wahrscheinlich allen kundgetan. So aber half die Andeutung ihm viel mehr, vor allem da Gloria zu spät geschaltet und nicht protestiert hatte.
„Trink das!", befahl Ciffer dem Jungen und hielt ihm das Schälchen an die Lippen, die dieser jedoch nicht öffnete – er zuckte aber auch nicht zurück.
„Es ist okay", flüsterte Rica McNamara kaum hörbar neben Gloria und erst dann schluckte der Junge die Tropfen hinunter.
„Hab keine Angst", fügte die junge Frau danach hinzu. „Ich liebe dich und vertraue dir."
Der Junge im Zeugenstuhl schloss daraufhin die blicklosen Augen und nach wenigen Momenten nahm sein Gesicht einen leicht entrückten Ausdruck an.
„Wie heißt du?", fragte Ciffer leise, wie um den Jungen nicht zu wecken. Dies war die übliche Vorgehensweise bei einem Verhör unter Veritaserum. Das Opfer war in einer Art Trance oder Traum und man tat alles, um diesen nicht zu stören. Laut zu reden oder gar jemanden anzubrüllen, störte den Vorgang nur.
„Tarsuinn McNamara."
„Sag mir – hast du das Buch von Professor Snape zerstört?"
„Ja."
„Weil du wütend warst?"
„Ja."
„War es Absicht?"
„Nein."
„Du hattest keine Kontrolle?"
„Doch, ich hatte in dem Augenblick die Kontrolle."
„Was wäre passiert, wenn du sie nicht gehabt hättest?"
„Das weiß ich nicht."
„Was hättest du am liebsten getan?"
„Ich hätte gern Professor Snapes Zauberstab zerbrochen."
„Erzähl mir das Peinlichste, was dir jemals passiert ist?"
„Dagegen erhebe ich Einspruch!", unterbrach Gloria schnell. „Wir sollten nicht vergessen, dass dies noch ein Kind ist. Eventuell traumatische Geschehnisse hier offen auszubreiten, kann nicht Sinn und Zweck dieser Anhörung sein!"
„Stattgegeben", befand Madame Bones. „Mr Ciffer! Nehmen Sie Rücksicht auf das Alter des Zeugen. Es gibt andere Fragen, die Sie überzeugen können, dass Mr McNamara unter dem Einfluss des Serums steht."
„Natürlich!", erwiderte Ciffer und machte ein unzufriedenes Gesicht. „McNamara – hast du jemals einen Menschen ernsthaft verletzt?"
„Ja."
„In dem Krankenhaus in Irland?"
„Ja."
„Was hast du getan?"
„Ich vermute, ich habe ihnen die Sehnen im Unterschenkel durchgeschnitten."
„Hättest du sie getötet, wenn du hättest sehen können?"
„Ich hätte sie auch so töten können – wenn ich gewollt hätte."
„Es wäre einfach für dich, Menschen zu töten?"
„Es wäre ein Leichtes, aber nicht einfach."
„Du hast doch schon getötet. Sagt man nicht, es wird mit der Zeit immer einfacher?"
„Ich habe noch nie..."
„Erinnere dich, wie es war!"
„Woran erinnern?"
„Wie du Menschen getötet hast! "
Ciffer wirkte verwirrt und zornig. Aus irgendeinem Grund schien er fest zu glauben, der Junge müsste davon wissen.
„Nein."
„Hast du im Sanatorium die Schreie von sterbenden Menschen gehört?"
„Nein."
„Gab es irgendeine Situation in der du glaubtest, dass Menschen leiden?"
„Jeden Tag! Es gab da so viele Kinder, denen man Schlimmes antat."
„Du sollst mir sagen, ob du Menschen ermordet hast!", wurde Ciffer richtig laut.
„Das reicht langsam!", unterbrach Madame Bones. „Sie haben jetzt auf verschiedene Weise nach ein und derselben Sache gefragt und immer eine für Sie negative Antwort bekommen. Veritaserum jedoch braucht keine genaue Frage. Der Verhörte beantwortet immer ausführlich, wahrheitsgemäß und selbstständig. Wenn Mr McNamara schon die erste Frage verneinte, dann weiß er auch nichts über den Tod der fünf Menschen."
„Aber er hat getötet. Das ist eine Tatsache."
„Die Sie nicht durch seine Aussage beweisen können", mischte Gloria sich im goldrichtigen Moment ein. „Denn entweder hat er niemanden getötet oder aber ihm wurde das Gedächtnis ein wenig zu intensiv gelöscht. Was praktischerweise jedoch auch dazu führt, dass weder er noch seine Schwester sich mit ihren Aussagen wirklich verteidigen können. Ein nettes System der Versklavung haben Sie da."
„Bitte, Mrs Kondagion", sagte Mrs Bones fest. „Die Zeit für Ihr Plädoyer kommt noch. Möchten Sie fortfahren, Mr Ciffer?"
„Ja, Schlichterin. Doch nicht mit der Befragung, sondern, da Mr McNamara sich anscheinend nicht erinnern kann, mit einem harten Beweis. Miss Boro, bitte!"
Die angesprochene junge Frau erhob sich und ging gemessenen Schrittes nach draußen um etwas zu holen. Ciffer selbst holte einen kleinen blauen Kristall hervor, der wie eine zarte Rose geschliffen war.
„Dies hier ist ein Erinnerungskristall. Wie Sie alle wahrscheinlich wissen, sind diese fälschungssicher. Natürlich kann man einwenden, dass diese Aufzeichnungen immer sehr kurz sind und nur Bilder enthalten, aber in diesem speziellen Fall reicht diese kurze Spanne völlig aus um zu zeigen, wie gefährlich und unberechenbar dieser Junge ist und dass man es den Familien seiner Opfer schuldig ist, ihn sicher in Indien zu verwahren."
Miss Boro erschien wieder an der Saaltür und schob einen magischen Projektor in den Raum, während sich bei Gloria ein ungutes Gefühl im Magen aufstaute. Wenn ihre Vermutung zutraf und Ciffer den speziellen Kristall da in der Hand hielt…
„Dürfte ich um Verdunklung des Raumes bitten?", wandte sich Ciffer an Madame Bones, welche daraufhin kurz mit ihrem Zauberstab wedelte und so die Illusionen der Fenster abschaltete. Für einen Moment wurde es stockfinster, doch dann erhellte der Projektor den Saal und direkt über dem Jungen erschien die befürchtete Szene.
„Bitte nicht!", hauchte Rica McNamara mit Horror in den Augen und Gloria stellte entsetzt fest, dass Ciffer wohl nur die falsche Person zu diesem Thema befragt hatte.
Doch dann wurde ihr Blick wieder von dem projizierten Bild angezogen. Auch wenn sie es schon kannte, lag eine entsetzliche Faszination in dem, was da kam.
Da stand ein kleiner Junge mit panischem Gesichtsausdruck mit dem Rücken zu einer Wand in einem kalkweißen Raum. Auf einem kleinen Nachtschränkchen neben ihm stand – im Kontrast zu dem tristen Rest des Zimmers – eine Vase mit einem Strauß Blumen.
Man erkannte Tarsuinn McNamara auf den ersten Blick, auch wenn er da erst vier Jahre alt gewesen war.
Doch die irritierende Faszination ging nicht von dem Kind aus, sondern von den drei sehr großen und kräftig gebauten Pflegern und der einen Pflegerin aus, die ihn umringten. Vier erwachsene Menschen, die sich anscheinend noch mehr fürchteten, als das in die Enge getriebene Kind.
Ciffer ließ den Erinnerungskristall beginnen. Lautlos gingen die Pfleger auf Tarsuinn McNamara zu. Aus dem Augenwinkel sah Gloria, wie Rica McNamara die Hände vor die Augen nahm.
Zuerst zerplatzte die Vase neben dem Kind, schleuderte unzählige Splitter durch den Raum und verletzte die Frau und einen der Männer, die gerade noch die Arme hatten heben können, um ihre Augen zu schützen. Tarsuinn schien irgendetwas zu schreien. Von ihrem Meister wusste Gloria, dass er nach seiner Schwester rief – nicht nach seinen Eltern.
Dann hob die kleine Kommode vom Boden ab und wurde gegen einen der Männer geworfen. Man konnte es nur erahnen, aber ihm waren dabei einige Knochen zertrümmert worden. Doch damit zählte er zu den Glücklichen. Die Frau wollte nach vorn springen um sich den Jungen zu greifen, während die beiden restlichen Männer versuchten, den Jungen mit Zaubern zu fesseln. Beide Versuche schlugen fehl. Während die Männer zunächst noch Glück hatten und ihre Zauber nur an einem blitzenden Magiefeld zerstoben, erreichte die Frau ihr Ziel, schlang einen Arm um den Körper und die Arme des Jungen und hielt ihm mit der anderen Hand die Augen zu. Gloria hoffte, es fiel nicht zu vielen im Zaubergamot auf, dass der Junge zu diesem Zeitpunkt noch sehen konnte. Die Hoffnung war durchaus berechtigt, denn kaum dass die Frau ihn unter Kontrolle zu haben schien, fing der Ärmel ihrer Kleidung Feuer. Sofort ließ sie den Jungen los und versuchte den Brand auszuschlagen. Gloria schloss die Augen. Sie wusste, das Feuer würde nicht ausgehen, sondern bei jeder Berührung überspringen – auch die Löschversuche eines der Pfleger würde nicht helfen.
Vier Herzschläge später sah Gloria wieder hin. Dem Jungen gegenüber stand nur noch ein Pfleger mit gezücktem Zauberstab, während zwei weitere durch eine Tür in den Raum kamen.
Man konnte drei Schockzauber durch den Raum zucken sehen, von denen einer das Kind auch traf. Nur wurde Tarsuinn nicht ohnmächtig. Er ging zwar weinend auf die Knie und sein rechter Arm hing seltsam schlapp herunter, doch jetzt konnte man sehen, wie sich Angst in Wut wandelte. Was die Menschen hier im Raum nicht wussten: Draußen auf dem Flur war nun Rica McNamara zu hören, die nach ihrem kleinen Bruder rief, aber selbst festgehalten wurde.
Todesmutig, aber jetzt siegessicher, sprangen die drei Männer auf den Jungen zu, der sich gerade in Fötushaltung kniete und nur den Boden ansah. Die Pfleger prallten an einer unsichtbaren Barriere ab. Gloria wusste genug über das Wilde Talent um zu wissen, dass man mit Gewalt nichts erreichen konnte, solange man nicht selbst sehr stark war. Und je jünger ein solches Kind, desto gefährlicher war es. Erst zunehmendes Alter und Erfahrung ließen dieses instinktive Abwehrverhalten schwächer werden.
Das wussten auch die Pfleger, doch sie waren in einer Zwickmühle gefangen. Der Wirt für den Wahnsinn ihres Meisters hatte sich in der Nacht unbemerkt die Zunge abgebissen und so steckten sie fest zwischen einem Mann mit der Macht eines Großmeisters und dem mordlüsternden Wahnsinn eines Afrits (der Geist eines von Rache beseelten Gestorbenen) und einem Jungen der in Panik ein ganzes Haus abreißen konnte. Sie konnten nur verlieren.
Als die Pfleger versuchten sich ihren Weg durch die Barriere zu bahnen, wurden ihre Körper und der gesamte Raum in diverse Einzelteile zerrissen.
Wieder schloss Gloria für einen kurzen Moment die Augen.
Als sie wieder hinsah, war der vierjährige Tarsuinn wieder aufgestanden und schaute sich mit weit aufgerissenen Augen um.
Doch erst jetzt begann Glorias Innerstes wirklich zu zittern. Würde Ciffer alles zeigen, was auf dem Kristall war? Schließlich musste er wissen, wer als nächstes durch die Tür in dieses Krankenzimmer kommen würde. Die Sekunden dehnten sich – dann fror das Bild plötzlich ein.
Das Schlimme dabei war – und das wurde Gloria jetzt klar – dass der Junge die ganze Zeit unter dem Bild des Projektors gesessen hatte und überhaupt nicht wusste, was da gezeigt worden war. Niemand hatte ihm etwas gesagt oder gar das Gesehene beschrieben. Nur einige der geschockten Laute der Zuschauer mussten seine Ohren erreicht haben.
„Bitte Licht!", sagte Gloria laut, damit sich das Bild nicht noch länger in den Köpfen fest brannte und Sekunden später erschien wieder die bäuerliche Landschaft auf dem magischen Fensterersatz.
Sie getraute sich nicht, sich nach den Zauberern und Hexen des Zaubergamots umzusehen. Nur Madame Bones schaute sie aus dem Augenwinkel an und wenn das bleiche Gesicht irgendeinen Anhaltspunkt über die allgemeine Stimmung gab, dann keinen guten. Neben Gloria rannen Rica McNamara stille Tränen über die gesunde Gesichtshälfte.
„Ich denke, ich bin dann hier fertig", verkündete Ciffer unangebracht selbstsicher. „Die Bilder sprechen wohl für sich. Rica und Tarsuinn McNamara gehören in gesicherte Verwahrung und da sie in ihrer Heimat und nicht in England diese Schäden angerichtet haben, sollten sie auch ihre Sühne in Indien leisten. Meine Regierung und ich sind uns sicher, dass dies mit dem im gegenseitigen Einverständnis geschlossenen Vertrag übereinstimmt und dies auch in ihrem Interesse liegt. Einen Bruch der Vereinbarungen könnten wir angesichts der Tatsachen weder verstehen, noch tolerieren!"
Mit diesen Worten setzte Ciffer sich.
Langsam stand Gloria auf und ging zu Tarsuinn. Wieder bedauerte sie, dass Ciffer sich ab und an doch kurz fassen konnte. So kurz nach den Eindrücken der Bilder sprechen zu müssen, war nicht einfach.
„Ich bring dich zu deiner Schwester", sagte sie dem Jungen und berührte mit den Fingerspitzen dessen Handrücken. Sie wollte ihm damit sagen, dass er ihre Hand nicht zu nehmen brauchte, doch er ergriff sie sofort und stand auf. Gloria führte ihn zu seiner Schwester, die ihn sofort in ihre Arme nahm. Für einen Augenblick stand Gloria sinnend neben diesem Bild und schaute auf die beiden Geschwister. Genau wie Ciffer ging es ihr darum, dass sich bei den Zuschauern ein bestimmtes Bild einprägte – nur dass das ihre viel realer war.
Dann wandte sie sich ab und trat vor Madame Bones und den Zaubergamot. Still schaute sie sich in der Runde um.
„Sie verzichten auf eine Befragung Mr McNamaras?", erkundigte sich die Schlichterin erstaunt.
„Ja, Madame", erwiderte Gloria mit ruhiger Stimme. „Denn alles, was auf dem Kristall zu sehen war, ist vollkommen irrelevant. Mr Ciffer? Könnten Sie uns bitte sagen, wie alt Mr McNamara zu diesem Zeitpunkt war?"
„Etwa viereinhalb Jahre."
„Viereinhalb? Nicht zehn, elf oder zwölf?"
„Natürlich nicht, wie Sie sicher gesehen haben", sagte Ciffer genervt.
„Ich wollte mich nur versichern", erwiderte Gloria überaus ernst schauend. „Denn wie Sie wissen, kann laut Paragraph 23 der internationalen Zauberervereinbarung:
…ein Kind unter elf Jahren nicht für die Auswirkungen unbewusster Magie verantwortlich gemacht werden. Mögliche Schäden haben bei schuldhafter Aufsichtsverletzung die Eltern oder die Aufsichtspflichtigen zu regulieren.
Mr McNamara war zu diesem Zeitpunkt nach Ihrer eigenen Aussage nicht schuldfähig und da seine Eltern tot waren und auch seine Schwester minderjährig, muss wohl jemand anders die Aufsichtspflicht vernachlässigt haben. Wenn Sie also jemanden zur Verantwortung ziehen lassen wollen, dann suchen Sie diese Person!"
„Diese Regelung mag im internationalen Rahmen verwendet werden, aber nicht bei internen Angelegenheiten unseres Landes."
„Mag sein, dass Sie Kinder hängen,…" sagte Gloria ätzend, obwohl dies eine unfaire Übertreibung war, „…aber da es sich hier um ein internationales Problem handelt, spielt das keine Rolle. Haben Sie sonst noch irgendwelche Zeugen, Mr Ciffer?"
„Ich denke, es reicht völlig!", fand Ciffer, stand auf und wandte sich an den Zaubergamot. „Wie Sie mir sicher beipflichten?"
Von einigen erklang ein leises – Aye – und Mr Crouch nickte deutlich zustimmend.
„Nun – wenn Sie fertig sind, dann möchte ich noch einen weiteren Zeugen berufen", erklärte Gloria getragen und machte eine angemessene Kunstpause. „Ich rufe Mr Lou Ciffer zur Befragung."
Sie konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht ganz verkeifen, als sie die Irritation in den Augen der Anwesenden sah. Aber sie freute sich inzwischen darauf, Ciffer mit einem Haufen Dreck zu bewerfen. Allein, dass er den Erinnerungskristall benutzt hatte, war ein Verrat hoch zehn an ihrem Meister gewesen und er verdiente keine Schonung mehr. Wenigstens war er noch besonnen genug gewesen, Mr Banefactors Gesicht nicht zu zeigen. Hätte Ciffer das gemacht, so hätte Gloria ein extrem unschönes restliches Leben für den Mann vorhergesagt, ohne auch nur ein Zweites Gesicht besitzen zu müssen.
„Das ist absurd!", fauchte Ciffer unfreundlich.
„Mrs Kondagion", ermahnte Madame Bones sie. „Sie selbst haben gefordert, nur Personen zu befragen, die direkt mit dem Fall zu tun haben, und jetzt wollen Sie den Antragsteller nach vorn rufen?"
„Weil Mr Ciffer direkt an dem Fall beteiligt ist, Madame", erklärte Gloria. „Gestatten Sie mir drei Fragen und Sie werden sehen, dass mein Aufruf gerechtfertigt ist."
„Aber nur drei Fragen!", gab Madame Bones nach, doch verwandte die Frau einen solch entschiedenen Ton, dass klar war, ein weiteres Zugeständnis in dieser Richtung würde es nicht geben.
„Ich protestiere", erklärte Ciffer empört.
„Ich unterstütze das!", pflichtete Mr Crouch bei.
„Ich hingegen bin gespannt es zu hören!", gab Netty auch ihren Senf dazu.
„Und ich habe schon entschieden!", erklärte Madame Bones ein wenig ungnädig. „Mr Ciffer, würden Sie vorn bitte Platz nehmen!"
Grummelnd fügte sich der Mann.
„Mr Ciffer", ließ Gloria ihm keine Zeit sich zu sammeln. „Wissen Sie, warum ich Sie eines direkten Interesses an diesem Fall beschuldige?"
„Nein!"
„Also sagen Sie, Sie sind ein völlig neutraler Vertreter Ihrer Regierung und der Geschädigten?"
„Ja."
„Und wie kommt es, dass auf der Kaufurkunde für Rica McNamara Ihr Name bei dem des Käufers steht?"
Gloria ließ das angesprochene Dokument mit einem Taschenspielertrick erscheinen, wedelte damit vor Ciffers Nase herum und zog es zurück, als dieser danach greifen wollte. Decan Rummager hatte Recht, das machte Spaß.
„Dürfte ich diese Urkunde einmal sehen?", fragte Madame Bones und ihr überließ es Gloria ohne Zögern. „Bitte vorsichtig, Madame. Es handelt sich um das Original."
„Ich werde Sie nachher fragen, wie Sie in den Besitz geraten sind", murmelte Madame Bones ein wenig drohend.
„Beachten Sie bitte die Kaufsumme…", begann Gloria, wurde aber rüde unterbrochen.
„Das ist eine sagenhafte Unverschämtheit", beschwerte sich Ciffer aufgebracht. Dafür hatte er auch jeden Grund, vermutete er doch den Vertrag in seinem Haus in einem magischen Safe, von drei Höllenhunden bewacht. „Selbst wenn dies echt ist, so ist es gestohlen und damit unzulässig."
„Ich versichere, er wurde nicht gestohlen, sondern uns übergeben", erklärte Gloria. „Dies ist nicht Euer Vertrag…"
Obwohl – damit konnte Gloria auch dienen.
„…sondern das Dokument der anderen Vertragspartei. Die Personen, die nach indischem Recht den Anspruch gegen die McNamaras hatten. Sie haben ihn mir gegen eine kleine Zahlung überlassen."
Ciffer pumpte zornig Luft in seine Lungen.
„Mrs Kondagion", sagte Madame Bones. „Als Sie mich auf den Geldwert hinwiesen, wollten Sie sicher etwas Bestimmtes damit bezwecken. Von welchem Wert in Galeonen sprechen wir hier?"
„Umgerechnet würden die angegebenen Goldrupien in etwa 206.240 Galeonen ausmachen, Madame", erwiderte Gloria. „Und dieser Wert muss, laut indischem Recht, dem Restwert der Schuld entsprechen. Das Seltsame ist, es ist fast unmöglich, dass ein Muggelmädchen auch nur ansatzweise diese Investition aufbringen kann. Was mich zu der Frage bringt, Mr Ciffer, warum haben Sie das Recht an Rica McNamara erworben?"
„Das geht Sie nichts an!", fauchte Ciffer ungehalten und Gloria warf unwillkürlich einen kurzen Blick durch den Raum. Einige Stirnfalten hatten sich in der letzten Minuten stark vertieft, bemerkte sie mit Genugtuung.
„Dann setzen Sie sich und gestatten mir ein wenig zu spekulieren", erwiderte Gloria und wanderte lange über die Bühne. Sie fühlte sich in ihrem Element. „Als die indische Zaubereiregierung vor vier Jahren erfuhr, dass Rica und Tarsuinn McNamara in Hongkong leben, wurde eine Auslieferung nicht beantragt. Warum? Weil es einfach nicht lohnte. Tarsuinn McNamara wurde mit einem realen Lebenswert von etwa 20 Galeonen veranschlagt und seine damals schon todkranke Schwester mit maximal 5. Seitdem sie vor einem halben Jahr geheilt worden ist, mag ihr Wert als Sklavin ja durchaus gestiegen sein, doch so hoch? Und bevor Sie noch einmal erzählen, dies wäre keine Sklaverei, sondern nur Schuld und Sühne, bedenken Sie, Sie haben jemanden erworben, der Ihnen nichts schuldet. Das nenne ich Sklaverei und wahrscheinlich jeder andere im Saal hier auch!"
„Sie erzählen nur Unsinn…", begann Ciffer, aber Gloria war viel zu sehr in Fahrt. Nichts von dem, was sie erzählte, war wirklich wahr. In Wirklichkeit hatte ihr Meister Ciffer die Besitzurkunde gegeben, als er dem Mann noch vertraut hatte. All dies aber war auch nur eine Tarngeschichte für den wahren Zweck. Doch Gloria drehte jetzt dem Mann einen Strick aus der Tarnung, wobei sie selbst aufpassen musste, damit sie ihn nicht dazu trieb die Wahrheit zu sagen.
„Vielleicht versteht man Mr Ciffer besser, wenn man zwei Dinge weiß. Zum einen hat er real nur fünfzig Galeonen für Rica McNamara bezahlt, weil die Verkäufer finanziellen in einer prekären Situation steckten und noch immer stecken und zum anderen wird er wohl nur auf diese Weise eine Frau finden, die seinem geistig und körperlich behinderten Sohn ein gesundes Kind schenken kann. Ist es nicht genau das, was Euch die Heilerin im Delhi Magical Hospital auch geraten hat? Setzt auf Euren Enkel, nicht auf Euren Sohn, Mr Ciffer. Mir graust davor…"
„Ich würde meinen Sohn niemals mit einer kastenlosen Ausländerin verheiraten!", schrie Ciffer jetzt und seine Fäuste waren vor Wut geballt.
„Wer spricht denn hier von verheiraten", entgegnete Gloria ätzend. „Aber vielleicht machen wir es uns hier einfach zu schwer."
Sie stellte sich strategisch zwischen Ciffer und Miss Boro. Dann warf sie dem verdutzten Mann ein kleines Säckchen zu, das leise klimperte.
„Da sind 250 Galeonen drin", verkündete sie. „Das sollte auch Ihre Ausgaben hier abdecken und damit wäre die Sache erledigt."
Das Emotionsserum im Stoff des Beutels tat sofort seine Wirkung. Wutentbrannt warf er diesen nach ihr, doch sie wich aus und sah amüsiert, wie Miss Boro gerade noch auswich und ein Zauberer in der ersten Reihe auf Ciffers Seite schwer getroffen wurde.
Zumindest der würde sich jetzt sicher seine Entscheidung noch einmal überlegen.
Gloria trat hinzu, half dem Mann wieder auf die Beine und steckte ihr Säckchen mit dem Geld wieder ein.
„Nun, Mr Ciffer", sprach sie den vor Wut bebenden Mann an. „Können Sie mir eine alternative Erklärung für Ihr Interesse bieten? Warum wollen Sie unbedingt Rica McNamara? Warum haben Sie so großes Interesse an ihr und geben zehnmal mehr Geld aus, als sie wert ist? Prinzip und Schuld kann es ja wohl kaum sein, denn Ihre eigene Regierung hat sie damals als des Aufwands nicht Wert befunden!"
„Das geht Sie überhaupt nichts an!", sagte Ciffer, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte sich offensichtlich wieder zu beruhigen. „Sagen wir, ich war ein persönlicher und sehr enttäuschter Freund der Eltern."
„Gut, dann seien Sie bitte so nett und nennen mir die Vornamen der Eltern?", fragte Gloria und gab ihm nicht mal die Zeit zu antworten. „Oder die Geburtstage der Kinder? Das können Sie nicht, denn Sie waren weder ein Freund der Familie, noch kann das Ihre Regierung, denn die McNamaras tauchten einfach so mit ihren Kindern in Indien auf. Sie stellten niemals einen Antrag auf Einbürgerung. Ich habe das überprüfen lassen. In dem gesamten magischen Zentralarchiv kein einziger Antrag. Was mich soweit bringt zu sagen, man hätte die McNamaras niemals nach indischem, sondern nach internationalem Zauberrecht verurteilen müssen, was jedoch eine Schuld ihrer Kinder ausschließen würde!"
„Können Sie das beweisen, Mrs Kondagion?", fragte Madame Bones interessiert von ihrem Tisch aus.
„Leider nein, Madame", gestand Gloria ein. „Aber ich bin mir sicher, Mr Ciffer kann auch nicht das Gegenteil beweisen, was im Falle eines ordnungsgemäßen Gerichtes sicher möglich wäre, oder?"
„Das sollte man annehmen", erwiderte Madame Bones und schaute an ihr vorbei. „Können Sie Mrs Kondagions Hypothese widerlegen, Mr Ciffer?"
„Nicht im Moment", antwortete Ciffer. „Ich müsste zunächst einige Unterlagen besorgen."
„Sie meinen, Sie sind auf eine solche grundlegende Frage nicht vorbereitet?"
„Ja, Madame. Ich hielt das nicht für notwendig, da dies nichts mit der Auslieferung zu tun haben sollte. Aber ich werde die Papiere besorgen, wenn Sie mir Aufschub gewähren."
„Ich gedenke dies heute abzuschließen, Mr Ciffer. Wenn Sie die Hypothese nicht hier und jetzt entkräften können, müssen Sie wohl mit diesem Nachteil leben. Mrs Kondagion – haben Sie sonst noch etwas vorzubringen?"
„Nur eines", sie wandte sich an den Zaubergamot. „Wenn Sie jetzt entscheiden, so kann ich Sie nur bitten: Folgen Sie Ihrem Gewissen. Erinnern Sie sich, wer hier gelogen hat und lassen Sie sich nicht durch Repressalien beeindrucken. Urteilen Sie frei. Urteilen Sie mit ihrem Herzen. Danke!"
Gloria ging an ihren Platz zurück und ignorierte Ciffer, der noch immer völlig perplex auf dem Zeugenstuhl saß. Amüsiert stellte Gloria fest, dass er fast wie ein Angeklagter aussah, was sie ja auch aus ihm gemacht hatte. Der unvermeidliche Zwang zu lügen hatte Ciffer reingeritten, da er sich überhaupt keine Gedanken um seine eigene Person gemacht hatte. Soweit Gloria wusste, waren persönliche Angriffe auf die Glaubwürdigkeit einer Person – vor allem, wenn es um den Anwalt ging – in Indien sehr verpönt.
Sie musste sich unbedingt bei Decan für den Schmutz und bei Heather für die gesellschaftlichen Hintergrundinfos bedanken.
Gloria setzte sich hin und wartete. Inzwischen war Ciffer aufgestanden. Sichtlich um Haltung bemüht.
„Von Ihrer Entscheidung hängen aber auch die zukünftigen diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Gemeinschaften ab. Außerdem, wenn Sie falsch entscheiden, wird jede andere Regierung sich bei zukünftigen Verträgen mit Ihnen fragen, ob diese auch wirklich ernst gemeint sind oder nur eine momentan passende Laune, die man einfach ändern kann, wenn man sich nicht mehr an die Vereinbarungen halten will."
Ohne den vorwurfsvollen Ton und ein paar kleine Änderungen bei den Worten, wäre dies wahrscheinlich sogar die richtige Ansprache zum Schluss gewesen, so aber klang es wie eine Mischung aus Drohung und Abscheu. Trotzdem sah Gloria nicht unbedingt eine Mehrheit des Gewissens in den Gesichtern der Hexen und Zauberer.
Gloria verschränkte die Finger ineinander. Ihre Handinnenflächen waren unangenehm feucht und sie konnte jetzt nur noch warten.
Madame Bones erhob sich von ihrem Platz.
„Meine Damen und meine Herren. Sie haben die Parteien gehört und konnten sich ein Urteil bilden. Ich bitte um Ihr Handzeichen. Wer stimmt für die Übergabe von Rica und Tarsuinn McNamara in die Obhut der indischen Zaubereiregierung?"
Madame Bones drückte sich furchtbar diplomatisch aus. Gloria hätte sich ein wenig mehr Parteilichkeit für ihre Seite gewünscht. Sie wagte es einfach nicht, sich umzusehen und zu zählen. Inzwischen wollte sie gewinnen. Nein! Musste sie gewinnen. Sie hatte sich stellenweise ziemlich viel herausgenommen. Das konnte man teilweise nur mit Erfolg wieder geradebiegen.
„Und wer ist gegen den Auslieferungsantrag und stimmt somit für eine Neubetrachtung des Vertrages?"
Nun hielt es Gloria nicht mehr aus und drehte doch den Kopf herum. Sie sah die erhobene Hand Dumbledores und Nettys, aber noch einige andere. Es waren nicht sonderlich viele. Vielleicht nur ein Viertel.
Erstaunt schaute sie beiseite und auf einen Flitwick, der auf seinem Stuhl stand, mit den Fingern zählte und bis über beide Ohren lächelte.
„Ja, es reicht", jubilierte der kleine Professor und wirklich – er hüpfte vor Freude in die Luft. Sein Zauberstab wurde gezogen und ein ungefährlicher Feuerregen stob in die Luft.
Gloria starrte noch immer ungläubig drein.
„Der Antrag wird mit zwei Stimmen Unterschied abgelehnt", verkündete Madame Bones laut.
„Viele haben sich enthalten", erklärte Rica McNamara mit einem scheuen Lächeln. Sie konnte sich nicht erheben, denn noch immer klammerte sich Tarsuinn an ihr fest. Doch die Erleichterung war deutlich sichtbar, wenn auch mit einer gewissen Trauer umrahmt. „Wir danken Ihnen beide sehr."
„Ja, ähem", Gloria versuchte sich an einem ehrlichen Lächeln. „Es freut mich sehr für euch. Verzeiht, aber ich bin ein wenig perplex."
„Ich will für Sie kochen", sagte plötzlich Tarsuinn und löste sich von seiner Schwester.
Gloria hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, und sah schulterzuckend zu Rica McNamara.
„Er meint, er möchte Sie zum Dank zum Essen einladen", erklärte die junge Frau und strich über seinen Kopf. „Dem kann ich mich nur anschließen. Um ehrlich zu sein, ich hatte zwischendrin nicht das Gefühl, Sie könnten für uns gewinnen."
„Ich glaube, Professor Dumbledore könnte das Zünglein an der Waage gewesen sein", gab sich Gloria bescheiden. „Und ja, ich freue mich sehr über die Einladung."
„Sie dürfen auch Ihre Familie mitbringen, wenn Sie möchten", erklärte Miss McNamara und reichte ihr die Hand.
Es war nicht die letzte Hand, die Gloria noch schütteln musste. Professor Flitwick bedankte sich überschwänglich und auch einige der Mitglieder des Zaubergamots gratulierten zu ihrer Leistung. Einige freuten sich sehr offen darüber, dass jemand diesem Primitivling aus den Kolonien entgegen getreten war.
Da Gloria sich dem nicht unauffällig entziehen konnte, konnte sie Ciffer nicht im Auge behalten, weshalb sie Professor Flitwick bat, die McNamaras unauffällig nach Hause zu bringen. Sie selbst stellte sich Rita Kimmkorn und lenkte so die überaus nervige Starreporterin des Tagespropheten ab. Außerdem konnte sie so versuchen, sich ein wenig positive Schlagzeilen zu verschaffen. Die Kimmkorn stand auf Schmutz und Gloria hatte da noch einiges auf Lager.
(story by Tom Börner)www.storyteller-homepage.de
