- Kapitel 22-
Ein Versprechen wird eingelöst
Langeweile war toll. Tarsuinn liebte sie an manchen Tagen abgöttisch. Er hatte die Lider geschlossen, lag auf einem Schafsfell, streichelte Tikki und versuchte das üppige Weihnachtsmahl zu verdauen.
In der Küche hörte er Luna, Toireasa und Winona den Abwasch erledigen. Er selbst war davon freigestellt, da er ja mehr oder weniger das gesamte Essen der letzten beiden Tage zubereitet hatte. Es war auch recht angenehm nichts tun zu müssen, stellte er zum wiederholten Mal fest. Außerdem war es eine kleine Rache für die Kristallkugel, die ihm die Mädchen geschenkt hatten. Er konnte sich nicht erklären, wie sie darauf gekommen waren. Als ob er jemals Begeisterung für Wahrsagen geäußert hätte! Na wenigstens hatte Tikki sich über ihr neues Spielzeug gefreut.
Na ja, aber das gemeinsame Weihnachtsfest war viel bedeutungsvoller für ihn gewesen. Sogar den Besuch von Mrs Kondagion, ihrem Mann und ihrem Baby hatte er genossen, auch wenn Mr Kondagion ihm noch suspekter gewesen war als seine Frau. Der Mann war so voll Höflichkeit gegenüber Rica gewesen, dass es fast erzwungen wirkte. Es hatte genauso geklungen, wie bei irgendwelchen Leuten die krampfhaft versuchten Tarsuinns Einschränkung zu ignorieren. So übertrieben und unnatürlich.
Aber dafür hatte Tarsuinn zum ersten Mal in seinem Leben ein echtes Baby in den Armen gehalten. So zarte, weiche Haut und alles war unheimlich klein und zerbrechlich. Sogar der Geruch war liebenswert – solange die Windel nicht voll war.
Mrs Kondagion war wirklich nett gewesen. Ihr war es nicht nur gelungen, Rica und ihn vor Schlimmerem zu bewahren, sondern sie hatte es auch geschafft, die Stimmung im Tagespropheten zu drehen. Geholfen hatte wahrscheinlich auch, dass die Indische Zaubereiregierung zwar ein Handelsverbot verhängt hatte, es gab aber irgendwie trotzdem noch alle Dinge aus diesem Land zu kaufen, wobei die Preise nur um etwa zehn Prozent gestiegen waren. Soweit es Tarsuinn verstanden hatte, gab es eine India Trading Company, die zwar sehr bisher klein und unbedeutend gewesen war, aber einen besonderen Handelsvertrag besaß, der ihr gestattete, trotz des Handelsembargos zu importieren. Und so wusste Tarsuinn jetzt auch endlich das Interesse der Kobolde für den Fall einzuschätzen – ihnen gehörte sicherlich diese Firma, die plötzlich das Monopol auf diese Importe hielt. Gar nicht so dumm, wie Tarsuinn fand, wenn auch sicherlich ethisch nicht ganz astrein.
Was die Weasleys anging – Tarsuinn hatte sich bei ihnen bedankt und für seine gelegentliche Unfreundlichkeit entschuldigt, während Rica Bill ein paar fehlende Galeonen geliehen hatte, damit er und sein Bruder George, Mr und Mrs Weasley eine Reise nach Rumänien schenken konnten. Eigentlich hatten Rica und Tarsuinn das Geld einfach so geben wollen, aber das hatte Bill unter keinen Umständen gelten lassen wollen.
Ansonsten war alles wieder wie vorher, fast als hätte ihre Zukunft in England niemals auf der Kippe gestanden. Man hatte ihm erzählt, wie ausdauernd Toireasa und Winona versucht hatten, ihm zu schreiben und welche Risiken sie dabei eingegangen waren. Es hatte ihm ein angenehm warmes Gefühl geschenkt, auch wenn die beiden Mädchen behauptet hatten, Professor Flitwick würde maßlos übertreiben.
In der Küche beschwerte sich Toireasa eben leise, warum es hier eigentlich keine magischen Aufwaschhilfen gab, warum das Zauberverbot auch für die heimische Küche galt und weshalb keiner der Erwachsenen mal kurz seinen Zauberstab geschwungen hatte! Stattdessen waren alle – Winonas Eltern, Toireasas Großeltern, Professor Flitwick, Mr Lovegood und Rica – zu einem traditionellen Weihnachtsritual der Hexen und Zauberer gegangen. Dass Rica mit durfte war dabei eine Besonderheit, und ging, nur weil sie von jemandem eingeladen worden war. So genau hatte man ihm das nicht erklärt und in seiner momentanen Gefühlswelt des Glücks war er auch nicht sonderlich neugierig gewesen. Es reichte ihm, wenn Rica sich darüber freute.
Tikki erhob sich, machte einen Buckel und streckte sich dann.
„Oh Mann, Tikki. Denk an meinen überfüllten Bauch, bevor du darauf herumtrampelst", bat er und drehte sich auf die Seite, so dass sie von ihm herunterspringen musste.
„Keine Beschwerde, du bist selbst schuld", lachte er, woraufhin sie um ihn herumlief und fies mit ihrer Nase seinen Nacken kitzelte.
„Ich kann nicht Fangen mit dir spielen", verstand er die Aufforderung. „Ich hab hier mein Fell und das ist meine Art Laufstall. Außerhalb des Felles haben sie die gesamte Inneneinrichtung für die ganzen Besucher umgestellt. Wenn wir herumtollen, dann reißen wir alles um. Warte auf heute Abend."
„Ja – dann bekommst du halt deine Zuckerratte."
Langsam kroch er durch den Raum und fand in Tikkis Ecke – die Darkclouds hatten ihr einen Korb dort hingestellt – ihren Spielzeugbeutel. Er nahm die Zuckerratte heraus, zog sie am Schwanz um sie zu beleben und ließ sie dann los.
Sekunden später tobte Tikki durch das Zimmer, ohne auch nur irgendetwas herunterzuwerfen. Sie fing die Ratte viel zu schnell.
„Anscheinend lässt der Zauber nach", vermutete Tarsuinn auf ihr enttäuschtes Pfeifen hin.
„Ich kauf dir eine neue, keine Sorge", versprach er. „Ich hab noch Geld übrig. Du weißt schon, das was ich dir neben meinem Zauberstab und dem anderen Zeug gegeben habe. Rica wollte es nicht zurück."
„So ne Ratte kostet sicher nicht die Welt, da kann man auch mal ein kleines bisschen von der Reserve abzweigen – seit wann kümmerst du dich überhaupt um Geld?"
„Seit ich es nicht tue? Ha, ha – du bist ja sooo witzig."
„Das war eigentlich kein Kompliment."
„Natürlich wirst du trotzdem deine Ratte bekommen, frag ich halt Rica nach ein wenig Geld, wenn du nicht willst, dass ich an den geheimen Vorrat gehe. Zinseinkommen sagt dir wohl nix, oder? Da wird das Geld nicht weniger, wenn man aufpasst."
„Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst?"
„Ob ein gelbes Geldstück alles Falsche richtig machen kann? Ich hab keine Ahnung. Vielleicht. Woher hast du denn diese Weisheit?"
„Von einem alten Mann? Sag mal – wo hast du dich rumgetrieben, als wir bei der Anhörung waren?"
„In der Nähe des grünen Feuers? Wo viele verschwinden und ankommen? Ach – du meinst den Flohpulver-Bahnhof in der Winkelgasse. Wie bist du denn dahin gekommen?"
„Bei Mrs Weasley mitgereist also. Weißt du, Tikki, manchmal habe ich das Gefühl, du und Rica, ihr kommt mit der magischen Welt besser klar als ich."
„Ich meine…"
Er hörte, wie sich draußen jemand die Füße abtrat.
„Heh, ihr drei!", rief er laut. „Werdet fertig, sie sind zurück."
„Schon?", steckte Winona ihre Nase ins Wohnzimmer. „Halt sie bitte auf. Wir müssen noch schnell den Boden wischen."
„Warum das denn?", fragte er verwundert.
„Luna und Toireasa waren frech – und jetzt sind sie und die Küche nass. Was denkst du denn? Echt, diese Nicht-Muggelwelt-Kenner sind immer wieder verblüfft, wenn man ihnen demonstriert, was man mit Wasserdruck alles anstellen kann."
„Halt keine Volksreden und hilf uns lieber", lachte Toireasa im Hintergrund. „Immerhin hast du hier alles eingesaut."
„Nachdem ich euch zwei ungeschickten Trampeln fast den gesamten Abwasch aus den Händen genommen hab", entgegnete Winona, ging aber wieder in die Küche, um zu helfen.
Tarsuinn ging zur Tür und wartete auf das Klingeln.
Man hatte ihn mehrmals ermahnt, ja nicht einfach so nach draußen zu gehen und immer die Tür geschlossen zu halten. Niemand erklärte Tarsuinn zu dieser Vorsichtsmaßnahme etwas, aber er war klug genug, sich den Grund zu denken.
Die elektronische Klingel ertönte.
„Wer ist da?", fragte er durch die geschlossene Tür.
„Wir sind's", kam sofort die Antwort von Mrs Darkcloud.
„Und wer ist wir?"
„Ein ziemlich müder Haufen!"
„Hausierer und verarmte Schausteller sollten eine Tür weiter klingeln", entgegnete Tarsuinn amüsiert.
„Nun stell schon die Passwortfrage, Tarsuinn!", rief Rica.
„Okay, Rica", sagte er auf Japanisch. „Wie hieß der Junge, in den du in Hongkong so verschossen warst?"
„Das ist nicht die korrekte Frage", entgegnete sie entrüstet auf Englisch.
„Aber sie ist gut, oder?"
„Du kleiner, rundäugiger Teufel", entgegnete sie nun auch in Japanisch. „Er hieß Lau Tak."
„Treten Sie ein!", sagte Tarsuinn wieder in englischer Sprache und öffnete die Tür.
„Du kannst nicht einfach so die Passwörter variieren!", beschwerte sich jemand gespielt empört.
„Entschuldigen Sie, Mrs Darkcloud, ich dachte, so wäre es viel sicherer."
„Okay, das mag sein und nenn mich endlich Fenella! Das ist ja langsam nicht mehr wahr. Alle nennst du beim Vornamen, nur mich nicht."
„Du flößt mir einfach am meisten Respekt ein, Mrs Darkcloud", verbeugte sich Tarsuinn spöttisch.
„Was nicht im Geringsten wahr ist", murrte Winonas Mutter und knuffte ihn leicht, als sie in die Wohnung trat.
Das stimmte auch zum größten Teil. Tarsuinn mochte die Frau, aber sie war auch sehr bestimmend in ihrem Wesen und dagegen lehnte er sich immer ein wenig auf. Natürlich nur ganz vorsichtig und bei harmlosen Sachen – wie halt beim Namen.
„Wo sind die Mädchen?", fragte Mr Darkcloud, den Tarsuinn seit einigen Tagen Patrick nennen sollte.
„Immer noch in der Küche", erwiderte Tarsuinn. „Aber ich glaub, sie hoffen auf Hilfe."
„Na, da können sie lange warten", urteilte Fenella und Tarsuinn unterdrückte ein Grinsen.
„Also, ich werde mal nachschauen", mischte sich Großvater Samuel ein. „Du weißt ja, ich habe eine gewisse Affinität zu Wasser."
„Nur zu gut", lächelte Tarsuinn und gab sich Ricas Umarmung hin.
„Das wirst du bereuen", flüsterte sie ihm neckend ins Ohr.
„Hab dich nicht so", antwortete er. „Keiner konnte es verstehen."
„So was macht man einfach nicht."
„Na, dann hab ich mal wieder was gelernt."
„Ich würde mal sagen, in einigen Punkten habe ich bei deiner Erziehung gründlich versagt", lachte sie.
„Schieb es einfach auf Tikkis negativen Einfluss. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wären wir durchs Wohnzimmer getobt. In ihrer Vorstellungswelt können die Zauberer und Hexen hier ja doch alles reparieren."
„Ich glaub nicht, dass sie einen Videorekorder wieder zusammenbekommen", meinte Rica. „Zumindest nicht, wenn sie sich nicht mit dem grundlegenden Aufbau beschäftigt haben."
„Dies ist so nicht ganz korrekt, Miss McNamara", erklang eine unerwartete Stimme.
„Professor McGonagall!", entfuhr es Tarsuinn erschrocken. Ihm fiel plötzlich ein, dass er die Aufgaben in Verwandlung eher – nett ausgedrückt – suboptimal abgearbeitet hatte. Er mochte das Fach aufgrund des Frustfaktors schon so nicht sonderlich, aber die Theorie war zusätzlich noch extrem langweilig und aus nichts anderem hatten seine Hausaufgaben bestanden. Das blöde Zauberverbot für Minderjährige außerhalb von Hogwarts. Nicht mal üben durfte man.
„Kommen Sie doch herein", bat Tarsuinn und kramte damit einen laut Rica nicht vorhandenen Punkt seiner Erziehung hervor.
Doch die Lehrerin blieb an der Schwelle stehen.
„Es wird Zeit, dass Sie sich anziehen, Mr McNamara", erklärte die Frau.
„Warum?", fragte Tarsuinn ein wenig beunruhigt. Es konnte doch nicht schon wieder…
„Überraschung", ertönte ein vielstimmiger Chor hinter ihm und sein Zaubererumhang wurde um seine Schultern gelegt.
„Du glaubst doch nicht etwa, wir würden dich mit einer Kristallkugel abspeisen?", fügte Winona lachend und aufgeregt hinzu.
„Wir haben alle zusammengelegt", ergänzte Toireasa ein wenig ruhiger.
„Oh, ich hab mir schon immer ein Date mit Professor McGonagall gewünscht", murmelte Tarsuinn sarkastisch und kassierte dafür einen leichten Stupser am Hinterkopf.
„Reiß dich zusammen", flüsterte Rica.
„Seien Sie nicht albern, Mr McNamara!", sagte Professor McGonagall pikiert. „Und jetzt beeilen Sie sich!"
Rica rückte ihm seinen Umhang zurecht.
„Bitte denk vorher nach, bevor du nächstes Mal so etwas sagst", flüsterte sie leise in sein Ohr. „Das verschreckt manche Menschen. Vor allem, wenn sie dir gerade etwas sehr Nettes wollen."
„Ich entschuldige mich", versprach Tarsuinn.
„Das ist das Mindeste."
„Beeil dich!", drängelte Winona.
Ohne dass Tarsuinn fragen musste, sprang Tikki auf seine Schulter.
„Du fandest es doch witzig, oder?", fragte er sie ganz leise, sobald die Tür hinter ihm geschlossen war. Doch Tikki zwickte ihm vorwurfsvoll ins Ohr.
„Ein nein hätte auch gereicht", beschwerte er sich und streichelte sie um Vergebung bittend.
„Ich find wohl nicht immer die richtigen Worte."
„Diese Erkenntnis sollten Sie sich immer ins Gedächtnis rufen", empfing ihn Professor McGonagall.
„Verraten Sie mir, wohin wir gehen, Professor?", fragte Tarsuinn, der seine Entschuldigung damit als abgehakt betrachtete.
„Zu einem sehr exzentrischen Freund."
„Und er wohnt in dieser Straße?"
„Nein, wie kommen Sie darauf?"
„Weil wir nicht das Flohnetzwerk benutzen."
„Es gibt andere Möglichkeiten."
Sie gingen die Treppe zur U-Bahn hinunter. Tarsuinn verbiss sich einen Kommentar zur Magie dieser Reiseform.
Erstaunlicherweise kam McGonagall hervorragend mit dem Muggelgeld und dem Ticketautomaten klar. Zumindest mit dem Automaten hatte sie Tarsuinn damit etwas voraus. Sie fuhren schweigsam zum Hafen, wobei er sich furchtbar deplatziert vorkam. Zunächst einmal, weil ihm einfach nicht einfiel, wie man mit McGonagall ein privates Gespräch führte und worüber, zum anderen, weil sein Zaubererumhang und die Kleidung der Professorin einige amüsierte und teilweise abwertende Kommentare bei anderen Passagieren auslöste.
Sie stiegen am Hafen aus und gingen einige hundert Meter einen Kai entlang. Tarsuinn hörte das Platschen von Wasser an der Betonmauer, roch den Gestank von öligem Wasser und fühlte die kalte Brise. Es schien eine fast verlassene Hafengegend zu sein, ein Ort, an dem man sich normalerweise nicht des Nachts herumtrieb, aber als Zauberer war das zum Glück nicht so schlimm.
„Mama, hab Angst", hörte er die Stimme eines kleinen Jungen, einige Meter vor sich. „Will nicht ins Wasser fallen."
„Nun stell dich nicht so an, Pupert", erwiderte eine genervte Frauenstimme. „Wednesday, Puxley – geht doch bitte voran, damit euer kleiner Bruder sieht, dass es ungefährlich ist. Siehst du?"
„Wed und Pux verschwunden!", sagte der kleine Junge namens Pupert (das arme Kind) und statt die Panik zu senken, schien es diese eher noch zu steigern.
„Ja, aber sie sind nicht ins Wasser gefallen, oder?"
„Mama hat Bro und Sis weggeschickt!", jetzt schien sich Freude in die Stimme des Jungen zu schleichen. „Pupert glücklich!"
Tarsuinn hörte etwas, das verdächtig nach einer Umarmung klang.
„Guten Abend, Morticia!", grüßte Professor McGonagall die Frau am Kai distanziert.
„Minerva?", entgegnete die Frau in ähnlichem Ton. „Ich hatte gehofft, Großmutters Fluch hätte dir den Garaus gemacht. Wie ich sehe, hat sich dein Geschmack in Sachen Kleidung nicht zum Besseren geändert, nur dein Umgang scheint sich verbessert zu haben."
„Nun, mir ist zumindest mehr als nur Schwarz als Farbe geläufig. Wie macht sich der Heimunterricht der Kinder?"
„Sie lernen, was wirklich wichtig ist, haben die richtigen Haustiere, abwechslungsreiches Essen und der Friedhof zum Spielen ist gleich hinter der Tür."
„Also immer noch die alte Idylle auf dem Addams Grundstück", erwiderte Professor McGonagall trocken.
„Es wird von Tag zu Tag trostloser und deprimierender", sagte die Frau namens Morticia. „Und wer ist das. Eine weitere traurige Fortsetzung der McGonagall-Familienlinie?"
„Mr McNamara ist ein Schüler."
„Ach, wie aller liebst. Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler. Mir kommen die Tränen. Warte wenigstens, bis er siebzehn ist, Minerva."
Ehe Tarsuinn die Andeutung auch nur ansatzweise verarbeitet hatte, hörte er ein kurzes Schieben und einen angsterfüllten Schrei des kleinen Jungen, der aber mitten im Ton abbrach.
„Diese…", murmelte McGonagall, aber egal wie sehr Tarsuinn die Ohren spitzte, mehr war nicht von der Lehrerin zu hören.
„Kommen Sie, McNamara. Sonst fallen wir ins Wasser. Das ist hier nicht anders als beim Gleis 9 ¾."
Dann machte die Professorin einen Schritt und verschwand aus seiner Wahrnehmung.
Eigentlich war es traurig, wie schnell man sich an das Ungewöhnliche gewöhnen konnte. Tarsuinn folgte McGonagall und bereute nur, sich nicht die Ohren zugehalten zu haben. Auf dem Bahnhof war es einfach, da wechselte man von sehr laut auf immer noch laut. Hier jedoch war es ein unvorbereiteter Wechsel von sehr still – relativ zum restlichen London – auf extrem laut.
Tikki übernahm sofort das Kommando, als sie merkte, dass der Trubel ihn im Moment überforderte.
Zumindest waren sie aber noch immer im Hafen und er lief über Holzplanken. Der Boden schwankte ganz leicht und schwere Taue knarrten.
„Nicht drängeln", dröhnte ein Bass, der auch Hagrid zu allen Ehren gereicht hätte, durch die Nacht. „Wir legen sicher nicht ab, solange noch jemand auf dem Deck steht."
Tikki pfiff und Tarsuinn blieb stehen.
„Professor McGonagall?", fragte er neugierig. „Was ist das hier? Ein Boot?"
„Dies ist ein Schnell-Dampf-Rückstoß-Mahagoni-Unterwasser-Schiff."
„Ein U-Boot also?"
„Das wäre die Kurzform. Hat aber nichts mit diesen zigarrenförmigen Dingern gemein, die Sie damit verbinden."
„Na ja – ich denke, normale Menschen sind schon seit einer Weile von der Verwendung von Holz bei U-Booten abgekommen."
Es ging in langsamen Schritten vorwärts, aber das Warten dauerte nur wenige Minuten. Dann zeigte Professor McGonagall ihre Bordkarte und es ging eine Treppe nach unten. Dort musste er sich in einen extrem weichen Sessel setzen.
„Interessiert es Sie nicht, wohin wir fahren?", fragte die Professorin und klang ein wenig enttäuscht.
„Sie wollten es mir doch vorhin nicht sagen", antwortete Tarsuinn. „Da wollte ich Sie nicht nerven. Wo es doch eine Überraschung sein soll."
Professor McGonagall wollte etwas sagen, doch dann ertönte schon wieder die tiefe Stimme.
„Alle Passagiere nach Atlantis sofort Platz nehmen", wurde befohlen. „Wir tauchen gleich ab."
„Atlantis!", entfuhr es Tarsuinn begeistert. „Wirklich!"
„Es wird nur eine Zwischenstation sein", enttäuschte McGonagall ihn jedoch. Aber irgendwie fand er das nicht so schlimm.
„Ohne Rica wäre das eh nicht so schön", tröstete er sich und biss vor Schreck auf seine Lippen. „Nicht, dass Ihre Begleitung nicht auch nett wäre."
„Dass Sie eine solche Erfahrung mit Ihrer Schwester teilen wollen kann ich gut nachvollziehen. Sie müssen sich nicht dafür entschuldigen."
Tarsuinn war ein wenig überrascht über ihr Verständnis. Sogar ein wenig Mitgefühl lag in der Stimme der sonst so reservierten Frau.
„Setz dein Tier in die dafür vorgesehene Ablage", erklang neben Tarsuinn die tiefe Stimme, diesmal etwas leiser.
„Ich versteh nicht?", entgegnete er, denn er hatte nicht das Gefühl, dass neben ihm noch Platz war. Tikki saß auf seinen Beinen und da war sie doch eigentlich gut aufgehoben?
„Über Ihrem Kopf ist eine kleine Nische, die normalerweise für Katzen gedacht ist", erklärte McGonagall. „Es ist für Ihr Tier gesünder, sich beim Start da aufzuhalten."
Es war ein Zeichen für Vertrauen – nicht seines – dass Tikki sofort nach oben sprang.
„Dann kann es ja losgehen", brummte die Bassstimme und nahm in der Reihe direkt vor ihnen Platz.
Es begann zu rumpeln, zu pfeifen und das Holz des U-Bootes begann Besorgnis erregend zu knarren.
„Entspannen Sie sich", riet die Professorin leider etwas zu spät.
Mit einem furchtbar lauten Knall wurde Tarsuinn in seinen Sitz gepresst. Tikki stieß einen ängstlichen Laut aus.
Die weiche Polsterung gab unter Tarsuinn nach und er versank im Sitz. Der Stoff klappte seine Ohrmuscheln nach vorn, schob sich über seine Wangen und war kurz davor seinen Mund zu erreichen, als der Druck wieder nachließ. Ihm war recht flau im Magen, aber alles andere war gar nicht so unangenehm, wie es geklungen hatte. Im Grunde war es fast ein Gefühl wie auf einer Achterbahn – nur deutlich kürzer und mit samtig-weichen Sitzen. Durch die Bordwand hörte er jetzt ein beruhigendes Blubbern und Rauschen.
„Sind wir weit unter Wasser?", fragte Tarsuinn interessiert.
„Das weiß ich nicht", entgegnete Professor McGonagall und atmete tief durch. „Die Condwa halten dies geheim."
„Condwa?"
„So nennen sie sich selbst. Es ist die Kurzform von Construction Dwarfs – die Konstruktionszwerge. Ihre Erfindungen sind durchaus ein Segen. Der Hogwarts-Express stammt auch zum großen Teil von ihnen."
„Und wie funktioniert dieses Boot?"
„Professor Dumbledore hat mir gesagt, ähnlich dem Express. Im Grunde fließt vorn das Wasser ins Boot, wird in einem Kessel über elementarem Feuer erhitzt und strömt als Dampf hinten aus. Das soll das Boot antreiben."
„Und wie schnell?"
„Man kann damit in etwa neun Stunden den Atlantik durchqueren."
Tarsuinn versuchte das im Kopf durchzurechnen – und gab sich dann auf die Schnelle mit einer Schätzung zufrieden.
„Wow. Wie geht das denn so schnell?"
„Das weiß ich nicht."
„Durch einen Fehler", mischte sich die Bassstimme ein und mit einem mechanischen Geräusch kam die Stimme irgendwie näher. „Früher haben wir mehrere Tage gebraucht, aber einmal wurde zu viel Druck aufgebaut und durch das Notsystem wurde der überschüssige Dampf rings um das Boot abgeblasen. Seltsamerweise wurden wir damit viel schneller als zuvor und seitdem betreiben wir alle unsere Boote mit Überdruck."
„Sind Sie ein Condwa?", fragte Tarsuinn, doch darauf erhielt er keine Antwort. Stattdessen ertönte wieder dieses mechanische Geräusch.
„Hab ich was Falsches gesagt?", fragte er verwundert Professor McGonagall.
„Nein. Trotzdem sollten Sie Fragen lieber an mich stellen", flüsterte sie zurück. „Dies war eben der Kapitän und ich denke, er sollte lieber nach vorn schauen und das Boot steuern, statt mit uns zu sprechen."
„Gut", pflichtete er bei. „Beschreiben Sie mir dann, wie es hier drin aussieht? Ich schätze, es wäre sicher nicht erwünscht, wenn ich herumgehe und alles anfasse, oder?"
„Wahrscheinlich nicht, auch wenn Sie sich jetzt frei bewegen dürfen."
Dann beschrieb die Lehrerin ihm die Inneneinrichtung des U-Bootes. Sie erzählte von kristallenen Kronleuchtern, von goldbeschlagenen Verzierungen und Bilderrahmen. Laut McGonagall waren sie auf dem obersten Deck, direkt hinter dem Sitz und dem Fenster des Kapitäns und Steuermanns und konnten nach draußen sehen. Im Grunde war das der beste Platz im Schiff, denn, so bedauerte es die Lehrerin, alle anderen Fenster enthüllten dank der vielen Luftbläschen nichts mehr. Dies wäre alles anders gewesen, als die Reise noch Tage gedauert hatte. Da hätte es auch noch Schlafkabinen gegeben. An deren Stelle waren jetzt aber kleine Geschäfte getreten, in denen man – frei von lästigen nationalen Gesetzen – Waren einkaufen konnte. Leider war die Professorin strikt dagegen, dass er sich da allein umsah. Dafür besuchten sie nachher noch das Restaurant, in dem sie ein umfangreiches Essen zu sich nahmen, wobei Tarsuinn eher auf seine Kosten kam, als McGonagall. Schließlich war er an Nahrung, die primär aus dem Meer stammt, gewöhnt. So war japanische Küche halt und um ehrlich zu sein – er hatte die verschiedenen Gerichte aus Algen, Krebsen und Muscheln schon vermisst. In England war es immer sehr schwierig die richtigen Zutaten zu besorgen.
So vergingen die sechs Stunden bis Atlantis wie im Fluge oder – besser gesagt – in rasend schneller Tauchfahrt und je länger er mit Professor McGonagall zusammen war, desto deutlicher merkte er, dass unter der kühlen Schale der Frau doch eine fühlende Person steckte. Aber auch eine sehr vorsichtige. Als er einmal herzhaft gähnte, es war schließlich weit nach Mitternacht, musste er einen übel schmeckenden Trank zu sich nehmen, der ihn wach halten sollte. Na, wenn sie sich dadurch besser fühlte…
Das Abbremsen des Bootes geschah deutlich sanfter als das Losfahren. Zwar ruckelte es noch deutlich, aber wenn man saß, war das überhaupt kein Problem. Tarsuinn konnte hören wie alle zu den Fenstern rannten, um sich die Ankunft in Atlantis anzusehen.
„Professor McGonagall?", fragte er vorsichtig und unterdrückte ein hinterhältiges Grinsen.
„Ja?", sagte sie ahnungslos.
„Ist eine Fahrt hierher sehr teuer?"
„Sie ist zumindest nicht billig", gab sie zu.
„Kosten Tiere genauso viel?"
„Nur, wenn sie genauso groß wie Menschen sind."
„Tikki war also nicht sonderlich teuer."
„Relativ gesehen – nein."
Jetzt konnte Tarsuinn ein Lächeln nicht mehr unterdrücken.
„Haben Sie schon mal Kosten bei einer solchen Reise gespart?"
„Was…?"
Tarsuinn hatte Professor McGonagall kalt erwischt und lächelte möglichst unschuldig. Er erwartete ein empörtes Abstreiten – doch stattdessen bekam er ein herzhaftes Lachen.
„Das geht Sie wohl kaum etwas an", meinte die Lehrerin. „Und wehe, Sie erzählen Ihre Verdächtigungen herum."
„Das brauche ich gar nicht", versicherte er. „Es gab schon einige Spekulationen, was man alles machen könnte, wenn man sich wie Sie in eine Katze verwandeln könnte."
„Ach – und was könnte man so alles tun?", erkundigte sie sich interessiert.
„Na ja, man könnte sich sicherlich viel freier bewegen. In der Schule. Zu Hause, wenn man eigentlich Hausarrest hat. Man könnte Leute belauschen. Sich kostenlos in die besten Konzerte schleichen…"
„Man muss immer auf der Hut vor Kindern und Hunden sein. Kann nicht sprechen, bekommt Flöhe, muss sich gegen Kater wehren und es gibt Muggel, die auf einen schießen, wenn man einen kleinen Waldspaziergang macht."
Jetzt musste Tarsuinn laut lachen, denn auch wenn Professor McGonagall seine Ausführungen recht amüsiert ergänzt hatte, so war da sicher auch ein ernster Gedanke dabei.
„Aber es war doch sicher auch nützlich im Kampf gegen Vo…Sie wissen schon wen."
„Wie kommst du darauf, ich hätte gegen ihn gekämpft?"
„Sie sind niemand, der daneben steht und zuschaut – glaube ich."
„Und dessen sind Sie sich sicher?"
„Sie scheinen eng mit dem Direktor befreundet."
„Das muss nichts bedeuten."
„Freundschaft hat immer eine Bedeutung."
„Das sollten Sie niemals vergessen."
„Ja, Professor", stimmte er zu und versank in Nachdenklichkeit. Zu spät fiel ihm ein, dass McGonagall seiner Frage vollkommen ausgewichen war. Doch es war schon zu spät, um das Thema Voldemort wieder aufzunehmen, da man inzwischen angelegt hatte.
Und so musste er sich darauf konzentrieren anderen nicht zu sehr auf die Füße zu treten. Außerhalb des U-Boots tobte das Leben. Tarsuinn konnte es in seinem Bauch als wärmenden Fleck spüren. Unzählige Händler boten ihre Waren oder Dienstleistungen an. Besonders die Reise mit einer Delphinkutsche klang für Tarsuinn verführerisch, doch dafür blieb keine Zeit. Die Professorin hatte zwar gesagt, sie wären nur auf der Durchreise, hatte aber vergessen zu erwähnen, dass sie auch noch in Zeitnot waren. Zumindest gingen sie so schnell durch den Trubel, dass Tikki Schwerstarbeit leisten musste, um ihn da unbeschadet durchzulotsen. Trotzdem gab Professor McGonagall sich Mühe, ihn ein wenig zu entschädigen.
„Atlantis war einmal eine Insel inmitten des Atlantiks. Weit weg von neugierigen Muggelblicken. Hier konnte man sich ohne Vorsichtsmaßnahmen treffen, zaubern und Verträge schließen. Eine Art Freistatt der Magie. Ein neutraler Ort, ein letzter Zufluchtsort für viele. Als dann jedoch die Muggel begannen mit ihren Segelschiffen über das Meer zu reisen, war auch dieser Ort nicht mehr sicher und so erschuf man die magische Kuppel…"
„Oh, wow!", entfuhr es Tarsuinn, missachtete Tikki, trat zur Seite und stieß gegen eine Glasscheibe. Sie mussten sich auf einer Art Balustrade befinden, von der man über die Stadt blicken konnte. Zumindest vermutete er das, denn die Stadt sah er nicht. Dafür jedoch prasselte die Magie der Kuppel in allen Regenbogenfarben auf seine Augen ein. Noch nie hatte er derart mächtige Magie gesehen! Dagegen verblassten sogar die Graue Lady an Halloween, die Decke des Großen Saales in Hogwarts und Marie-Anns Vermächtnis. Nur seine Begegnung mit dem Großen Einhorn toppte das noch.
Mit offenem Mund staunte er die Farbströmungen an und seine Hände pressten sich gegen die Scheibe, als wolle er sie aus dem Rahmen drücken.
„Es ist so schön."
Professor McGonagalls Hand legte sich sanft auf seine Schulter.
„Wir haben auf dem Rückweg vielleicht etwas mehr Zeit", versicherte sie leise. „Doch jetzt müssen wir uns beeilen."
Sehr widerwillig löste er sich von dem Anblick. Es war schon seltsam, wenn man ihn irgendwie ablenken wollte, dann musste man nur dafür sorgen, dass seine Augen etwas zu tun hatten. Er konnte sich dem einfach nicht entziehen.
Einige eilige Kilometer durch ruhige Gänge später, erreichten sie einen kühlen und leicht modrig riechenden Ort.
„Wir sind da", rief Professor McGonagall leicht außer Atem. „Noch nicht losschwimmen."
„Ah, Minerva", entgegnete eine von Whiskey zerfressene Stimme und eine passende Fahne wehte um seine Nase. „Hab den Fröschen hier gesagt, du würdest noch kommen."
„Dafür bin ich dankbar, aber du solltest dir langsam angewöhnen, höflicher über deine Partner zu reden", sagte die Professorin tadelnd.
„Ach, die wissen, wo sie das einordnen müssen und außerdem sehen die das gar nicht als Beleidigung. Sie Wassermenschen zu nennen, hat schon viel schlimmere Reaktionen provoziert."
„Nenn mir einen Fall, Johnny!"
„Kann mich im Moment nicht konkret erinnern, aber ihr müsst eh los. Sie warten nicht ewig."
Tarsuinn wurde ungeschickt von einer fleischigen Pranke nach vorn geschubst und fiel in eine Art Gelee, das nicht klebte, aber ziemlich kalt war.
„Das ist eine Transportblase", sagte McGonagall und ihre Stimme wurde nach und nach immer dumpfer. So als würde jemand beim Sprechen die Autoscheibe hochkurbeln. „Haben Sie keine Angst."
Tarsuinn rappelte sich wieder auf. Er hatte keine Angst, denn er kannte Transportbälle, auch wenn er nicht gewusst hatte, dass sie hohem Wasserdruck standhalten konnten.
„Ich würde lieber schwimmen", murmelte Tarsuinn bei sich.
„Die Last des Wassers würde dich töten", sang eine von Wasser modulierte, mädchenhafte Stimme.
Der Transportball setzte sich langsam in Bewegung und es wurde fast still. Nur leise Wassergeräusche drangen an sein Ohr. Ein seltsamer leiser Singsang, ruhige Schwimmbewegungen, Luft, die zur Oberfläche perlte – er entspannte sich unwillkürlich.
„Dauert es lange?", fragte er.
„Nicht länger als der Weg nach Hause", entgegnete das Mädchen, welches wahrscheinlich eine Nymphe war. Eine Antwort, die ihm nicht wirklich weiter half. Ob hier unten keine Uhren funktionierten?
„Wie tief sind wir denn?"
„So tief, wie Robben gerade noch tauchen können."
„Und das wäre wie tief?"
„Wie hoch ist dein Heimathaus?"
„Keine Ahnung."
„Siehst du, ich auch nicht."
„Kannst du mir sagen, wohin es geht?"
„Das solltest du wissen."
„Mir hat niemand etwas gesagt."
„Das ist bei Kindern oft so."
„Gib nicht so an."
Sie kicherte.
„Du bist der Junge, nicht wahr?", fragte sie neugierig.
„Ja, ich bin ein Junge", entgegnete Tarsuinn und fragte sich unwillkürlich, wie man eine männliche Nixe nannte.
„Gefällt dir Atlantis?"
„Sehr."
„Wir haben es erbaut."
„Professor McGonagall sagt, Atlantis wurde an der Oberfläche gebaut und dann abgesenkt. Baut ihr auch an der Oberfläche?"
„Früher haben wir einmal. Hat dir das denn niemand beigebracht?"
„War noch nicht in der Schule dran."
„So was solltest du nicht erst in der Schule erfahren."
„Ich hab bisher nur von eurer tollen Bibliothek gehört."
„Es ist seltsam. Du solltest wenigstens wissen, dass wir die Stadt zwar gebaut, aber sie euch Zehenfüßern geschenkt haben, damit wir einen Ort des Handels und der Sicherheit haben. Wir selbst leben in schöneren Behausungen."
„Sind wir gerade dahin unterwegs?"
„Nein, aber es ist ein weniger hässliches Heim."
„Wem gehört es?"
„Einem seltsamen Mann, der am liebsten allein ist."
„Warum?"
„Ihr, die nicht schwimmt, ihr seid verrückt. Wir fragen nicht, wir meiden euch. Frag ihn selbst, wenn wir da sind."
„Ich kann schwimmen!"
„Wir wissen das und doch schwimmst du nicht mehr. Dein Blick ist nicht im Hier. Die Strömungen werfen dich umher. Ihr Spielball bist du."
„Wohl eher bin ich im Moment der deine!", entgegnete Tarsuinn lachend, der Gefallen an dem Gespräch fand.
„Ich leite dich nur ein kurzes Stück auf deinem Weg."
„Weißt du, wohin der mich führt?"
„Immer weiter und doch immer wieder zurück. Wie ein Wassertropfen."
„Willst du sagen, ich lauf im Kreis?"
„Nein – nur dass die Strömungen deinen Ort bestimmen."
„Und ich kann nichts dagegen tun?"
„Du musst einfach nur den Strom wählen, der dich zu deinem Ort bringt."
„Wie soll ich wissen, welches der richtige Strom ist, wo ich doch nur ein Tropfen bin?"
„Hast du denn nicht gelernt denen zu vertrauen, die Vertrauen verdienen?"
„Das ist meist nie so ganz klar."
„Haben denn die Leute der Oberfläche kein Herz mehr?"
„Das haben sie alle, doch bei manchen ist es aus Stein."
„Nur hohler Stein schwimmt und was bringt ein leeres Herz?"
„Nur Kälte und Einsamkeit."
„Den Tod in der Tiefe."
Das Gespräch machte inzwischen nicht mehr so viel Spaß wie zuvor und deshalb widmete er sich lieber wieder den Geräuschen des Meeres. Vielleicht war es unhöflich und feige einfach so auszusteigen, jedoch fühlte er sich im Moment viel zu gut, um an den Tod zu denken.
So verbrachte er den Rest der Reise – immerhin eine volle Stunde – schweigend.
„Wir sind da", sagte die Nixe einfach. „Gebraucht nur zwei Stunden eurer Zeit oder ihr verbringt hier ein Jahr."
Die Transportblase platzte, doch Tarsuinn blieb trotzdem trocken.
„Wir sind am Ziel", erklärte Professor McGonagall überflüssigerweise.
„Wofür haben wir zwei Stunden?", fragte Tarsuinn.
„Das werden…"
Eine Tür knarrte.
„Was zur Hölle…", fluchte ein Mann kräftig. „Minerva! Du weißt genau, ich kann Besuch und Kinder nicht ausstehen!"
„Auch dir einen schönen guten Tag, Tooly", erwiderte die Professorin freundlich und ging an dem Mann vorbei, dorthin, wo die Tür geknarrt hatte. Tarsuinn folgte ihr einfach und vergaß auch einen freundlichen Gruß nicht.
„Tragt wenigstens etwas mit hinein!", rief der Mann, doch Tarsuinn hatte keine Ahnung, von was er sprach und da McGonagall ihm keine Anweisungen gab, war es sicher kein Fehler einfach weiterzugehen.
Drinnen bugsierte ihn die sanfte, aber entschiedene Hand der Lehrerin auf einen Stuhl und ein Zeigefinger legte sich für einen Augenblick auf seine Lippen.
Von draußen erklang ein entschiedenes: „Locomotor Supply!"
„Ich hab schon tausendmal gesagt, bleibt mir vom Leib", meckerte der Mann weiter und kam auch hinein. Die Tür knarrte und fiel ins Schloss. „Das hab ich doch gesagt oder, Minerva?"
„Ja, das hast du mal erwähnt", sagte McGonagall trocken.
„Und warum hört niemand auf mich? Da bekommt man einmal im Jahr Vorräte geliefert, zu einer Zeit, in der die Menschen meist mit sich selbst beschäftigt sind, und prompt tauchen zwei unerwünschte Besucher auf. Die einzelnen Hinweise draußen zu bleiben, waren wohl zu dezent?"
„Für manche schon."
„Aber du hattest meine Entscheidung respektiert, dachte ich zumindest."
„Ich habe sie akzeptiert. Eine dumme Entscheidung kann ich nicht respektieren."
„Das Genie zum Wohle der Allgemeinheit. Das ist gequirlter Drachendung."
„So würde ich dich nie bezeichnen, Tooly. Begnadet vielleicht, aber doch dumm genug, um sich vor sich selbst zu verkriechen."
„Junge!", blaffte der Mann unfreundlich Tarsuinn an. „Geh! Schau dich um, aber fass ja nichts an!"
Tarsuinn schüttelte einfach den Kopf. Laut Tikki befand er sich in einem unübersichtlichen Dingedschungel, was in der Sprache seiner Freundin in etwa unübersichtliches Chaos bedeutete.
„Wenn du aufgeräumt hättest, könnte er deiner Bitte nachkommen, Tooly", meinte McGonagall vorwurfsvoll.
„Er ist nen Junge, er kommt mit so ein wenig Unordnung klar."
„Da wäre ich mir nicht so sicher", sagte McGonagall ohne irgendeine verräterische Betonung.
„Ach – einer deiner gut erzogenen Lieblingsenkel? Oder schon bei Urenkeln angelangt? Lieb, aber total langweilig."
„Ich kann sicher ein noch schlimmeres Chaos erzeugen", stellte Tarsuinn ironisch klar. „Aber ich sehe keinen Grund Ihr eigenes noch zu vergrößern."
„Der ist ja noch widerlicher als die üblichen anderen deiner Drecksplagen aus Hogwarts, Minerva."
„Dann solltest du dir sehr gut überlegen, was du mir sagst, Tooly", entgegnete die Lehrerin und klang diesmal ein wenig böse. „In nicht mal zwei Stunden treten die Wassermenschen den Rückweg an."
„Wieso, ich muss nur die zwei Stunden überstehen, dann hab ich es hinter mir."
„Falsch. Wir werden erst gehen, wenn du eine gute Tat getan und dem Jungen geholfen hast."
Tarsuinn spitzte die Ohren. Jetzt kamen sie zum Kern der Sache. Trotzdem hatte er noch immer keine Ahnung, um was es hier eigentlich ging.
„Dem Jungen helf…ich hätte es wissen müssen. Nein!", spuckte der Mann die Worte fast aus. „Ich tune keine Rennbesen mehr. Du weißt das genau! Niemals wieder. Niemand gab mir mehr Ruhe. Alle wollten bessere Besen. Verloren sie dann, war ich schuld. So genannte Fans haben mir Fluchbriefe geschickt und Spieler haben sich halb tot geflogen, weil sie sich für die Größten hielten. Lies es von meinen Lippen ab. Ich tune nicht mehr! Nicht einmal für dich Minerva."
„Das weiß ich und das kann ich sogar respektieren", erwiderte McGonagall. „Ich möchte, dass du ihm einen deiner bestimmten Besen verkaufst. Einen deiner gesammelten, einer deiner getunten oder einen von dir erfundenen."
„Ich verkaufe auch nicht mehr."
„Dann verschenk einen zu Weihnachten."
„Ich bin nicht die Wohlfahrt."
„Dir bleibt keine Wahl. Wir verbringen hier mehr als die zwei Stunden, wenn du uns nicht ein klein wenig entgegen kommst. Niemand wird es von uns erfahren, wenn du mal ein wenig Herz zeigst."
„Das ist ein Kind. Kinder können nie die Klappe halten und er wird jedem herumerzählen, dass er etwas von Tooly O'Toole besitzt."
„Mr McNamara ist da anders. Außerdem weiß er nicht einmal, wer du bist."
„Er wird es herausfinden."
„Und es wird ihn nicht eine Minute lang interessieren, solange er dir dankbar ist."
Eine Weile herrschte Ruhe.
„Du willst also einen Rennbesen, Minerva?"
„Nicht unbedingt einen Rennbesen, nur etwas sehr Spezielles."
„Wenn du keinen Rennbesen willst, was für einen dann, Minerva?"
„Oh, wir wollen schon einen Besen…"
Tarsuinns Herz machte einen freudigen Sprung, während der Mann einen abfälligen Laut von sich gab.
„…nur keinen getunten oder normalen."
„Welchen dann?"
„Es gibt Gerüchte, dass jemand in der Vergangenheit einen Besen geschaffen hat, der seinen Besitzer selbst im dichtesten Nebel und in finsterster Nacht ans Ziel führte. Ich hoffte, du wärst derjenige, der ihn gebaut oder gekauft hat. Besen waren immer deine große Leidenschaft und ein solches Stück wäre einzigartig in jeder Sammlung."
„Vielleicht habe ich so etwas. Nur…"
„Ja?"
„Er ist noch nicht ganz perfekt, was angesichts der komplizierten Anforderungen und der Unvollkommenheit der Menschen nicht verwunderlich ist."
„Und das bedeutet?"
„Nun, der Besen ist perfekt und die Zauber erfüllen ihren Zweck, aber der Standardmensch an sich ist nicht in der Lage ihn zu meistern."
„Aber du kannst ihn fliegen?"
„Ja, aber nur begrenzte Zeit."
„Kann man wirklich bei Nullsicht mit ihm fliegen?"
„Ja."
„Brauchst du ihn noch?"
„Ja!"
„Hier unten fliegst du mit Besen umher?"
„Nein! Ich brauche ihn, falls ich mal nach oben gehe."
„Und das war wie oft in den letzten zwanzig Jahren?"
„Wenn, dann war es immer des Nachts!"
„Aber wie oft hattest du denn diesen speziellen Besen dabei, bei deiner riesigen Auswahl."
„Ich könnte ihn einmal gebrauchen."
„Bis dahin könntest du dir einen neuen bauen."
„Aber ich verstehe nicht, warum dieses Balg unbedingt diesen Besen braucht. Soll er doch einen Nimbus nehmen, der ist viel neuer und schneller."
„Ihm kann nur dieser eine wirklich nutzen."
„Falls er überhaupt die Geduld hat, die schmerzlichen Lektionen zu erdulden, die ihm dieser Besen bereiten würde."
„Wir tauschen einen Sauberwisch 6 gegen deinen Besen und lassen es darauf ankommen. Deal?"
Tarsuinn hielt die Luft an. Er hatte nicht mehr daran gedacht, um was er McGonagall gebeten hatte und jetzt war er so voller Hoffnung und Phantasien vom Fliegen, dass er die Klappe hielt, nur um McGonagall ja nicht in ihrer Überzeugungsarbeit zu stören. Aber er verfolgte jedes einzelne Wort und jede einzelne Veränderung der Tonlage.
„Warum willst du unbedingt diesen einen Besen für ihn, Minerva?", fragte der Mann namens Tooly, zum ersten Mal mehr interessiert als ablehnend. „Ist er…?"
Schritte kamen auf Tarsuinn zu. Er hob leicht den Kopf und lächelte möglichst gewinnend.
„Blind?", stellte der Mann halb fragend fest.
Tarsuinn nickte.
„Das Vergnügen einen Besen zu fliegen, wird deutlich überschätzt", sagte Tooly. „Ich bezweifle, dass du die Fähigkeit besitzt."
„Im Gegenteil", antwortete McGonagall an seiner statt. „Er hat durchaus Talent."
„Ach, und wie hat er dir das gezeigt?"
„Ich habe ihn fliegen sehen."
„Wie soll er fliegen können, ohne zu sehen?"
„Er bekam ein besonderes Geschenk an Halloween", erklärte McGonagall und Tarsuinn lachte bei der Erinnerung daran. Er hatte es geahnt, doch jetzt endlich den Beweis erhalten. Auch Professor McGonagall hatte sich an Halloween ins Stadion zum Geisterquidditch geschmuggelt. Und – sie hatte niemandem davon berichtet. Ein Zug, den Tarsuinn bei der strengen Lehrerin nicht unbedingt erwartete hätte.
„Du wirst niemals an einem regulären Quidditchspiel teilnehmen dürfen."
„Warum?", stellte Tarsuinn seine erste und einzige Frage.
„Weil, wenn du den Besen beherrschen lernst – und es ist nicht sonderlich sicher, dass du es schaffst – sich kein Schnatz vor dir in der Luft verbergen kann. Es würde dir einen unfairen Vorteil verschaffen."
„Ich könnte Jäger werden", warf er ein, ohne sich wirklich um Quidditch zu sorgen. Zu fliegen war ihm viel wichtiger.
„Und du könntest deinem Sucher sagen, wo sich der Schnatz befindet", argumentierte Tooly dagegen.
„Das stimmt", gab Tarsuinn zu. „Spiele ich halt nur mit Leuten, die mir vertrauen."
„Und wenn dich jemand fragt, woher du diesen Besen hast…?", fragte der Mann und Tarsuinn bekam Holz in die Hand gedrückt.
„Dann sage ich, Professor McGonagall hätte ihn völlig verstaubt in Italien auf einem Flohmarkt gefunden."
„Ich werde ihn dir nicht schenken oder verkaufen", sagte der Mann entschieden und Tarsuinn fühlte Trauer in sich aufsteigen, doch dann fuhr Tooly O'Toole fort. „Ich werde ihn dir nur leihen. Du wirst mir versprechen, dass der Besen wieder mir gehört, solltest du sterben oder dein Augenlicht wiederbekommen!"
„Ich verspreche es."
„Gut! Dann lasst mich endlich in Ruhe und haut ab!", fauchte der Mann, von einem Augenblick auf den anderen wieder zornig. „Und wehe, ihr taucht hier noch mal ungefragt auf, verstanden?"
Ohne auf die letzte Frage einzugehen, verabschiedete sich Professor McGonagall und daraufhin auch Tarsuinn und gemeinsam traten sie die langwierige Rückreise an.
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