- Kapitel 23 -
Ein Leben auf dem Drahtseil
Tarsuinn war keine fünf Minuten aus dem Haus der Darkclouds verschwunden, als es erneut an der Tür klingelte.
Neugierig rannte Winona zur Tür, schaute durch den Türspion und öffnete dann die Tür.
„Guten Abend, Professor Dumbledore", sagte das Mädchen höflich.
Toireasa sah, wie auch alle anderen Anwesenden, erstaunt auf und betrachtete den beeindruckenden Mann, wie er lächelnd eintrat und seine Schuhe in flauschige Pantoffeln verwandelte.
„Guten Abend!", grüßte der Professor. „Ich hoffe, ich störe nicht."
„Keineswegs, Albus", erwiderte Großmutter Caitlin und erhob sich. „Du solltest wissen, dass du immer willkommen bist. Auch wenn das letzte Wort natürlich bei Fenella und Patrick liegt."
„Natürlich freuen wir uns auch", sagte Winonas Mutter sofort. „Setzen Sie sich doch, Professor. Was führt Sie zu uns?"
„Ein Brief, der mich heute erreichte", erwiderte Dumbledore recht ernst. „Ich würde gern mit Miss McNamara darüber sprechen."
Rica wirkte nicht sonderlich begeistert darüber und das bekamen die Mädchen sofort zu spüren.
„Toireasa, Luna, Winona", sagte die junge Frau mit schmerzerfülltem Blick. „Bitte geht ins Bett."
Toireasa schaute erstaunt in die Augen der anderen Mädchen und sah dasselbe Unverständnis, das auch sie erfüllte. Es war noch nie vorgekommen, dass Rica irgendjemanden ins Bett schickte, vor allem wo es doch Weihnachten war und damit eh andere Schlafenszeiten galten.
„Geh", sagten Toireasas Großmütter fast synchron zu Toireasa, obwohl sie genauso verwirrt und besorgt dreinschauten.
Auch Winona und Luna bekamen eine ähnliche Anweisung und fanden sich wenig später verwirrt und gewaschen im Mädchenzimmer wieder. Während Winona und Toireasa sofort ihre Ohren an die Tür legten, ging Luna ohne Umschweife zu ihrer Luftmatratze und legte sich hin.
„Glaubt ihr wirklich, sie lassen uns lauschen?", fragte Luna ein wenig herablassend.
Toireasa wollte ihr einen unfreundlichen Blick schenken, als eine kleine Rauchwolke durch das Schlüsselloch kroch, die Tür einhüllte und Toireasa und Winona unter heftigem Niesen von ihrer Lauschposition weg zwang.
Netterweise sagte Luna dazu nichts, doch in ihrem Blick konnte man das: „Hab ich's nicht gesagt?", sehen.
„Was machen wir jetzt?", fragte Toireasa, nachdem sie den Niesanfall überstanden hatte.
„Nichts!", entgegnete Winona gekonnt frustriert klingend und legte dabei verschwörerisch den Zeigefinger auf ihre Lippen. Auf den Zehenspitzen ging das Mädchen zu einer Bettkiste unter dem Fenster und öffnete diese. „Wir dürfen ja nicht zaubern."
Neugierig schlichen Luna und Toireasa zu ihr und sahen nun, wie Winona eine Strickleiter hervorholte.
„In Manchester wohnten wir im dritten Stock und ich hatte keine Feuerleiter an meinem Fenster", erklärte Winona heimlich. „Und da ich immer Angst vor Feuer hatte, haben meine Eltern mir die gekauft. Zur Beruhigung. Ich bezweifle, dass sie daran denken."
Toireasa und Winona zogen sich schnell Muggeltrainingsanzüge an.
„Kommst du nicht mit, Luna?", fragte Toireasa leise.
„Nein", schüttelte die Angesprochene den Kopf. „Irgendjemand sollte antworten können, wenn jemand nach uns ruft."
„Kein schlechter Gedanke", fand Toireasa. „Erzähl einfach, wir würden schon schlafen."
„Das glaubt mir keiner", widersprach Luna der Idee. „Besser ich sage, ihr wärt zu eingeschnappt und wollt nicht reden."
„Oh danke, Luna", beschwerte sich Winona. „Wenn wir mal zurückbleiben und du dich verdrückst, werden wir sagen, du würdest auf irgendeiner Wolke schweben."
„Wenn ich einen Dumdragboon finde, kann das sogar stimmen", sagte Luna ernst und lächelte versonnen.
„Was zur Hölle ist ein Dumdragboon?", fragte Toireasa verblüfft und hob dann aber abwehrend die Hände. „Nachher."
Sorgsam hakten sie die Leiter an dem stabil aussehenden Fensterbrett an und dann kletterten zuerst Winona und dann Toireasa nach unten. Was aus der ersten Etage keine große Leistung war. Im Notfall konnte man von hier auch springen, ohne sich gleich zu Tode zu stürzen.
Dann liefen sie zur Eingangstür und Winona schob den Hausschlüssel ganz langsam und Raste für Raste ins Schloss. Genauso vorsichtig öffnete das Mädchen dann und sie konnten in den Flur schleichen.
Die Tür zur Wohnstube war verschlossen, jedoch nicht von einer Nieswolke eingehüllt. Die Stimmen der Erwachsenen waren gut zu hören.
„Bitte überdenke das noch mal, Rica", sagte gerade Winonas Mutter.
„Ich habe schon lange darüber nachgedacht. Es ist die sicherste Lösung", erwiderte die junge Frau entschieden.
„Ja, aber ist es auch die beste?", fragte Dumbledores Stimme ernst. „Man kann nicht jedes mögliche Risiko ausschließen wollen."
„Es ist keine hypothetische Gefahr, von der wir sprechen", entgegnete Rica aufgebracht und ihre sonst eher ruhige Stimme, klang ein wenig stur. „Sie haben es selbst gesehen! Wie kann ich ihm dieses Wissen antun, solange er noch nicht alt genug dafür ist! Sie selbst haben doch offensichtlich dafür gesorgt, dass wir hier ohne die Gefahr seiner Ohren miteinander sprechen können."
„Dies geschah nur, weil ich der Ansicht bin, dass er es von dir erfahren sollte, Rica", erwiderte Dumbledore sanft. „Er wird eine Erklärung wollen und was wird passieren, wenn du ihm keine geben kannst?"
„Er vertraut mir."
„Nur, wird er es einsehen?", fragte Dumbledore auf seine eindringliche Art. „Rica! Es gibt nicht viele Schüler wie ihn, die auf Regeln pfeifen und solch einen unbändigen Freiheitsdrang besitzen."
„Er hört auf mich."
„Aber es ist falsch ihn einzusperren", meinte Großvater Holt ernsthaft.
„Ich habe nicht vor ihn einzusperren!", widersprach Rica heftig. „Warum könnt ihr nicht verstehen, dass es das Beste für ihn ist? In Hogwarts ist es gefährlich für ihn und wie Sie schon sagten, Professor, einige der Eltern haben ihre große Besorgnis sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich besorg ihm einen Privatlehrer…"
Neben Toireasa atmete Winona laut und entsetzt tief ein. Sie selbst war noch nicht so weit, da sie anscheinend die Luft länger anhalten konnte, aber auch in ihr herrschte ein völliges Gefühlschaos.
Niemand, außer Tarsuinn, hatte den Mädchen irgendetwas Genaueres über die Anhörung erzählt. Die Erwachsenen hatten einfach nur gesagt, dass alles gut gelaufen war, und damit war es abgehakt gewesen. Dass da noch etwas war, was Tarsuinn nicht wusste und das Rica ihn deshalb von der Schule zu nehmen gedachte, war niemals auch nur angedeutet worden.
Die Gedanken schwirrten so wirr und laut in Toireasas Kopf herum, dass sie die unmittelbare Situation völlig außer acht ließ, bis die Tür sich von ihrem Ohr wegbewegte.
Quälend langsam sah sie hoch und richtete sich aus ihrer halb gebückten Haltung auf. Fenella stand vor ihr, die Hände in die Hüften gestemmt, und schaute auf die Mädchen herab. In ihren Augen konnte man die Worte Strafarbeit und Hausarrest deutlich ablesen. Da auch alle vier Großeltern nicht anders herüberblickten, sank Toireasa das Herz ein wenig in die Hose. Winona schien gegen den Blick ihrer Mutter jedoch deutlich abgehärteter. Trotzdem schluckte sie schwer, bevor sie aussprach, was Toireasa die ganze Zeit nur denken konnte.
„Tarsuinn gehört mit uns nach Hogwarts", sagte das Mädchen fest, trat an seiner Mutter vorbei und schaute Rica an. „Wir passen alle auf ihn auf!"
Da Fenella ein wenig zur Seite gewichen war, konnte jetzt auch Toireasa Tarsuinns Schwester sehen. Sie schien zu weinen und ihr Blick sah furchtbar gequält aus.
„Und wie soll ich ihm sagen, dass er wirklich mehrere Menschen getötet hat?", sagte sie fast tränenerstickt. „Soll ich ihm beschreiben, wir er jemanden verbrannt und einen anderen zum Platzen gebracht hat? Glaubt ihr, dies wäre gut für ihn? Denkt ihr, die anderen Kinder in der Schule wären genauso nett zu ihm wie ihr? Sie hatten doch schon Angst, ohne dass er den Beweis seiner Gefährlichkeit geliefert hätte!"
„Wenn wir genau wüssten, worum…", begann Toireasa, wurde aber von Luna unterbrochen, die gerade die Treppe vom Mädchenzimmer herunterkam, zweimal herzhaft nieste und sich dann mit dem desinteressiertesten Gesicht der Welt auf die untersten zwei Stufen setzte.
Alle hatten kurz auf das seltsame Mädchen geschaut, doch jetzt wandten sich alle Augen wieder auf Rica. Es war offensichtlich, dass keiner der Erwachsenen etwas sagen würde, solange Rica sich nicht entschieden hatte.
Es dauerte eine volle Minute, ehe eine Reaktion von ihr kam.
„Ihr drei werdet es eh in der Schule hören", sagte Rica dann leise und begann mit brüchiger Stimme zu erzählen, was Tarsuinn während der Anhörung nicht hatte hören können und vor allem, was er nicht hatte sehen können. Für Toireasa war damit das Weihnachtsfest gründlich verdorben.
„Ich finde, die haben bekommen, was sie verdienen", sagte Winona kalt. „Kein Grund für Tarsuinn sich schuldig zu fühlen."
„Aber verstehst du nicht?", wandte Rica ein. „Er hat das doch gar nicht gewollt. Es könnte ihm wieder passieren."
„Wird es nicht!", widersprach Winona energisch. „Du weißt gar nicht, wie sehr man ihn gepiesackt hat, was ihm alles schon passiert ist. Er hat nie seine Wut an jemandem ausgelassen!"
Toireasa sah aus dem Augenwinkel, wie Professor Dumbledore leicht und warnend den Kopf schüttelte. Auch ihr war klar gewesen, dass Winona im Moment einen Fakt verdrängte oder absichtlich log. Natürlich wusste Rica von Tarsuinn, dass der Junge einmal versucht hatte, Professor Snape zu töten, doch darauf musste man sie ja im Moment nicht hinweisen.
„Er hätte einfach nur untätig bleiben müssen, als das Einhorn mich aufspießen wollte", sagte Toireasa leise. „Ich hätte es umgekehrt an seiner Stelle vielleicht getan. Aber er hat keine Sekunde an so etwas gedacht."
Rica stützte verzweifelt den Kopf in ihre Hände.
„Ich hatte immer gehofft, es wäre alles nur ein Traum, selbst als Luna ihr Märchen erzählt hatte", weinte sie.
Es war Großmutter Katrin, die das Richtige tat. Die alte Frau setzte sich neben die junge Frau, zog Rica die Hände von den Augen und dann den Kopf an ihre Schulter. Ein wenig betreten schaute Toireasa auf Tarsuinns Schwester. Man vergaß doch immer wieder, dass Rica gerade mal sieben Jahre älter als sie selbst war.
Toireasa wollte nur noch weg und ins Mädchenzimmer zurück, doch sie wagte es nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es reichte schon, dass Großmutter Caitlin sie wie eine Schlange fixierte.
Schau dir das genau an, schienen ihre Augen zu sagen, das habt ihr angerichtet!
Nach einer Weile löste sich Rica von Großmutter Katrin und wischte sich mit einer widerspenstigen Geste die Tränen aus den Augen. Das Tuch, das ihre verbrannte Gesichtshälfte verbarg, war verrutscht, doch das beachtete sie diesmal offensichtlich nicht.
„Entschuldigung", murmelte Rica.
„Nicht doch, Kindchen", entgegnete Toireasas Oma sanft (bei ihrem Alter durfte sie das sicher sagen) und rückte mit sanften, alten Händen das Tuch wieder zurecht. Ein zufälliger Zuschauer hätte diese Geste vielleicht verletzend gefunden, da es sicher so aussah, als wolle sie sich einen unangenehmen Anblick ersparen, doch dem war nicht so. Dieses Tuch war ein Schutz für Rica. Eine Art Mauer, hinter der sie sich schön fühlen konnte. Denn ohne diesen Makel wäre Rica eine wunderschöne Frau gewesen. Jetzt, wo sie nicht mehr halb verhungert und von der überwundenen Krankheit geschwächt war, waren ihre Gesichtszüge deutlich weicher und auch einige Rundungen deutlich weiblich geworden.
„Bitte nimm dir noch etwas Zeit mit der Entscheidung", bat Großmutter Katrin sanft. „Es sind noch ein paar Tage Zeit und wir müssen doch nichts übers Knie brechen. Und wie du dich auch entscheidest – ich bin mir sicher, wir alle werden deine Entscheidung unterstützen und dir helfen. Eran und ich, wir sind alt und haben keine großartigen Verpflichtungen mehr. Wir werden dir helfen Tarsuinn auszubilden, wenn du ihn wirklich von Hogwarts nehmen willst. Einverstanden?"
Rica nickte und da die Frage auch an alle anderen gestellt war, stimmte Toireasa genauso wortlos zu.
„Ich habe hier etwas, was du vielleicht lesen solltest", sagte Professor Dumbledore freundlich und reichte Rica ein alt aussehendes Buch über den Tisch. „Eigentlich wollte ich es nach den Ferien Tarsuinn geben, denn im Grunde gehört es ihm, aber ich schätze, dir wird es im Moment mehr helfen."
„Von wem handelt es?"
„Es ist das Tagebuch eines kleinen Mädchens, welches genau wie Tarsuinn war. Es endet leider tragisch."
„Tarsuinn hat mir von einem Geistermädchen geschrieben", murmelte Rica und nahm das Buch vorsichtig entgegen. „Marie-Ann Holt. Sie hat sich erhängt in Hogwarts."
Toireasa fing den fragenden Blick von ihren Großeltern auf.
„Genau jenes", erklärte der Professor. „Ich habe es gelesen und auf schädliche Magie untersucht, aber es ist harmlos."
„Wenn Sie es gelesen haben, warum glauben Sie, hat sich dieses Mädchen selbst getötet?", fragte Rica traurig.
„Die Frage würde ich gern erst beantworten, wenn du es selbst gelesen hast", erwiderte Professor Dumbledore vorsichtig. „Bilde dir erst eine eigene Meinung, dann reden wir darüber, wenn du möchtest. Vielleicht schon morgen früh, bevor Tarsuinn nach Hause kommt?"
„Ich werde gleich damit anfangen", erwiderte Rica.
„Und wir schaffen die nötige Ruhe dafür", erklärte Großmutter Caitlin entschieden. „Albus, Filius, wenn ihr möchtet, könnt ihr mit zu uns nach Hause apparieren. Es ist leider nicht genug Platz für uns alle hier in der Wohnung. Ich bin sicher, Fenella und Patrick haben alles gut im Griff und von mir aus auch freie Hand."
„Danke", erwiderte Winonas Mutter und schien sofort zu wissen, was Großmutters letzter Halbsatz zu bedeuten hatte. „Mädchen, ab ins Bett und macht euch schon mal auf frühes Aufstehen gefasst. Ihr dürft Schnee schippen und der Keller muss dringend mal aus- und aufgeräumt werden!"
„Aber es liegt doch gar kein Schnee!", murmelte Winona trotzig.
„Das werden wir ja morgen früh sehen!", drohte Fenella.
Winona sah aus, als wolle sie auch das noch kommentieren, aber Toireasa gab ihr einen kleinen Stoß in die Seite und schüttelte leicht den Kopf.
Oben im Mädchenzimmer legten sie sich sofort hin. Doch der Schlaf wollte sich nicht so schnell einstellen.
Toireasa lag wach und starrte an die Decke. Auch zu Luna und Winona schien der Schlaf nicht sonderlich schnell zu kommen, denn alle paar Minuten drehten sie sich von der einen zur anderen Seite.
„Schlaft ihr schon?", fragte Winona nach einer Weile leise.
„Nein!", entgegneten Toireasa und Luna fast gleichzeitig.
„Sie kann doch Tarsuinn nicht von Hogwarts nehmen!", fuhr Winona fort.
„Ich weiß nicht", gestand Toireasa. „Solange die Dementoren da sind, wäre es vielleicht wirklich besser."
„Quatsch, er kommt damit klar. Besser als wir. Wenn sie ihn hier einsperrt, flippt er erst recht aus."
„Er wäre wohl kaum hier eingesperrt", widersprach Toireasa.
„Unsere Lügen würden ihn einsperren", murmelte Luna verschlafen.
„Sag ich doch, verdammt – glaub ich zumindest", fluchte Winona. „Außerdem würde er es herausbekommen – früher oder später."
„Da hast du Recht", meinte Toireasa vorsichtig. Sie wollte nicht, dass Winona sich weiter hineinsteigerte. Das Mädchen wirkte furchtbar aufgebracht.
„Warum unternimmt dann Dumbledore nichts dagegen? Soll er doch einfach alle, die Tarsuinn in der Schule schräg anmachen, nach einer Warnung rausschmeißen. Die haben es dann eh nicht anders verdient."
„Dann wäre er die längste Zeit Direktor gewesen", merkte Toireasa nun doch vorsichtig an. „Hier geht es um Politik. Tarsuinn ist nur ein kleines Licht für die und wäre ein willkommener Anlass um Dumbledore rauszukanten. Rica schützt nicht nur Tarsuinn, wenn sie ihn von Hogwarts fern hält."
„Man kann nicht vor jedem Problem kuschen", beharrte Winona. „Das machen sie ständig. Kompromiss hier, Nachgeben da. Und bitte erzählt niemandem davon! Ich könnte so was von kotzen."
„Reg dich wieder ab, Winona", bat Toireasa. „Wir können nichts ändern."
„Ach!", entgegnete das Mädchen und Toireasa hörte, wie es sich im Bett herumwarf und die Decke über den Kopf zog. Obwohl es kein echtes Wort war, lag alle Frustration der Welt darin.
Toireasa selbst empfand nicht so. Sie verstand die Zwänge des normalen Lebens besser als Winona, schließlich war sie in einer komplizierten Familie aufgewachsen und politische Diskussionen – vor allem über die Unfähigkeit von Fudge und des Ministeriums – gehörten damals zum normalen Tischgespräch. Außerdem war sie inzwischen slytheringestählt und hatte durchaus gelernt, sich ein wenig um die Tretminen herumzubewegen, die das tägliche Gemeinschaftsleben bot. In ihren Augen ging Dumbledore ein großes Risiko ein, wenn er Tarsuinn in Hogwarts duldete, und wie er da den Deckel draufhalten wollte, konnte Toireasa auch nicht sehen. Ob er vielleicht irgendwas magisch drehte? Über diese Möglichkeit grübelnd, schlief sie dann endlich doch ein.
In ihren Träumen hörte sie Schreie und roch verbranntes Fleisch. So war sie am Morgen froh, als sie in aller Frühe zum Schneeräumen geweckt wurde. Sie hatte keine Ahnung, wo der herkam. Der Wintereinbruch kam für London absolut überraschend. Viele Muggel beschwerten sich im Vorbeigehen über die schlechte Wettervorhersage.
Den folgenden Tag verbrachten Toireasa und die beiden anderen Mädchen fast durchgängig mit fiesen, schmutzigen und anstrengenden Arbeiten im Haus. Winonas Mutter war wirklich sauer und gönnte ihnen keine Trödeleien. Eigentlich hätte Luna nicht mitmachen müssen, aber das stille Mädchen machte einfach mit und niemand versuchte es ihr auszureden.
Nach dem Abendessen war jedoch dann plötzlich alles vorbei. Es gab Erdbeeren mit Schlagsahne als Nachtisch und die Gesichter von Winonas Eltern waren wieder freundlich, so als wäre nichts geschehen.
Trotzdem war Toireasa angespannt. Ständig schaute sie zu Rica, die ziemlich abwesend wirkte. Niemand hatte den Mädchen gesagt, wie das Gespräch mit Dumbledore gelaufen war. Der Professor war beim morgendlichen Schneeschippen an ihnen vorbeigegangen und hatte sie mit einem wissenden Lächeln begrüßt, aber ansonsten wussten sie nichts.
Es war eine unangenehme Stimmung. Niemand schien Lust zum Reden zu haben und so hingen alle in der Wohnstube herum und warteten.
Jedem war klar auf wen.
Als es dann an der Tür klingelte, zuckten trotzdem alle zusammen und man schaute sich an, wer nun die Tür öffnen ging. Am Ende war Winona am ungeduldigsten. Tarsuinn war mit Tikki allein an der Tür. Sein vor Freude strahlendes Gesicht war ein geradezu schmerzhafter Kontrast zu den ernsten Menschen ringsherum. Etwas, das Tarsuinn zunächst überhaupt nicht bemerkte. Im Überschwang stellte er einen Rennbesen an den Besenhalter an der Wand und umarmte dann eine völlig überraschte Winona.
„Danke", sagte er dabei, ließ das Mädchen los und ging auf Fenella zu, die ihm am nächsten stand. Auch die Frau umarmte er und genau wie ihre Tochter wusste diese offensichtlich nicht, wie sie reagieren sollte.
„Komm her, Tarsuinn", rief Rica ihn zu sich und streckte die Hände aus. Sie zog ihn an sich und Toireasa musste einfach wegsehen.
„Was ist los, Rica?", fragte der Junge plötzlich alarmiert. Tikki sprang auf den Tisch und schaute sich misstrauisch um.
„Rica!", drängte Tarsuinn und seine Stirn runzelte sich. Es war, als würde er sich umschauen – nur irgendwie anders. Die Freude schwand von seinem Gesicht, auch wenn es nicht den harten Ausdruck annahm, den sie sonst so oft bei ihm sah. „Ich kann dich fühlen."
Er deutete auf seinen Bauch.
„Und meine Stimme war nicht der Grund?", fragte Rica mit wehmütigem Lächeln.
„Ich bin deine richtige noch nicht so gewöhnt", versuchte Tarsuinn zu scherzen.
„Na, dann wirst du jetzt ein paar unbekannte Nuancen kennen lernen", versprach Rica.
„Irgendwie habe ich das Gefühl, es wird mir nicht gefallen", murmelte Tarsuinn.
„Da bin ich mir leider sicher", erklärte Rica.
Toireasa nutzte den Moment, um so schnell als möglich in der Küche als Tellerwäscherin anzuheuern. Das war zwar eine gute Idee, aber die der Darkclouds und Lovegoods war besser – die gingen spazieren.
Als sie eine halbe Stunde später wieder die Wohnstube betrat, war Rica allein. Aber wenigstens schien sie nicht geweint zu haben und laut waren sie zwischenzeitlich auch nicht geworden.
„Tarsuinn ist in seinem Zimmer", beantwortete Rica die unausgesprochene Frage und deutete auf den Platz neben sich. Toireasa kam der Aufforderung nach.
„Er hat es ruhiger aufgenommen, als ich erwartet hätte", fuhr Rica fort und schien mit ihren Gedanken weit entfernt. „Er ist viel erwachsener, als ich ihn in Erinnerung hatte. Als hätte ich die letzten anderthalb Jahre seines Lebens verpasst. Den neuen Tarsuinn kennst du sicher besser als ich."
Toireasa wagte nicht aufzusehen.
„Was denkst du? Glaubst du, er sollte weiter nach Hogwarts gehen? Wo er Freunde hat und die beste Ausbildung."
„Wo aber auch die Dementoren auf ihn warten", murmelte Toireasa und fragte sich, warum gerade sie die Gegenseite vertreten musste.
„Denkst du wie Professor Dumbledore, dass die Dementoren und dieser Geist etwas von ihm wollen?"
„Ja."
„Glaubst du, ich könnte ihn hier beschützen?"
„Keine Chance. Sorry."
„Schau mich an, Toireasa."
Toireasa hob den Blick zu den Augen der jungen Frau.
„Was hast du?", fragte Rica eindringlich.
„Ich träume von Tarsuinn", gestand Toireasa nach einigem Zögern leise ein.
„Na, das freut mich zu hören", lächelte Rica kurz.
„Nicht so", schüttelte Toireasa den Kopf. „Es ist…es sind…Alpträume. Und er ist nicht nett zu mir."
„Du hast Angst vor ihm."
„Ich hab Angst vor meinen Träumen. Sie sind wie eine böse Stimme in meinem Kopf, die mir einreden will, Tarsuinn wäre mein Untergang."
„Denkst du, ich sollte ihn hier behalten?"
Toireasa dachte keine Sekunde lang darüber nach.
„Nein", entgegnete sie. „Egal, wie du dich entscheidest, es kann genau das Falsche sein."
Nachdenklich schaute Rica sie an. Ihre Augen schienen über jede Einzelheit ihres Gesichtes zu sehen. Toireasa traute sich nicht wegzusehen.
„Weißt du, dass ich Tarsuinn verboten habe einen harten Kampfsport zu erlernen?", brach Rica dann endlich die Stille und entließ Toireasa aus ihrem Blick. „Obwohl er es sich so sehr gewünscht hat. Stattdessen habe ich ihm Thai-Chi-Chuan – er nannte es damals Mädchen-Wushu – aufgezwungen."
Toireasa schüttelte den Kopf. Sie wagte nicht etwas zu sagen, denn ein wenig war sie von der Unsicherheit in der Stimme Ricas erschüttert. Bisher war die junge Frau immer so selbstsicher gewesen, wie ein Fels in der Brandung. Das hatte Toireasa immer bewundert. Nicht diesen Wesenszug an sich – ihre Großeltern waren nicht viel anders – sondern weil Rica noch so jung war.
„Marie-Ann ist in den Tod gegangen, weil sie einsam war", fuhr Rica fort. „Weil die Angst der anderen vor ihr sie dazu gebracht hatte, sich vor sich selbst zu fürchten."
Bevor Toireasa darauf antworten konnte, hörte sie, wie sich die schwere Tür von Tarsuinns Kammer öffnete. Für einen Moment fragte sie sich, ob er vielleicht gelauscht hatte, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Winonas Eltern und Rica hatten sehr viel Aufwand betrieben, um das Zimmer schalldicht zu bekommen. Es war sogar so abgeschirmt, dass man nachts Tarsuinns Schlaflärm nicht hören konnte, selbst wenn man das Ohr an die Tür legte.
„Na, redet ihr über mich?", fragte er erstaunlich gefasst. Tikki saß auf seiner Schulter und wirkte recht angespannt. Seit langem wieder einmal hatte sich ihr Schwanz sehr fest um Tarsuinns Hals gewickelt.
„Natürlich, wir sind Mädchen und müssen tratschen", erwiderte Rica ein wenig bemüht klingend.
„Wenn ihr damit aufhört, setz ich mich zu euch", meinte Tarsuinn augenzwinkernd. Inzwischen hatte er es zumindest drauf, das eine Auge vor dem anderen zusammenzukneifen. Lustig sah es aber doch aus.
„Komm schon her!", forderte Rica ihn auf und wirkte jetzt etwas munterer.
Sofort kam der Junge herüber, setzte sich, nahm Tikki von der Schulter und lehnte sich dann an seine Schwester. Er wirkte in diesem Moment verletzlich und gerade das hatte Toireasa nicht erwartet.
„Weißt du, dass es viel angenehmer ist, sich bei dir anzulehnen, seit du etwas weicher geworden bist?", lächelte der Junge. „Früher hab ich mir manchmal die Haut an deinen Knochen aufgeschrammt."
„Gar nicht wahr!", hielt Rica gegen und zog ihn in eine Umarmung.
„Und ich habe doch Recht", kicherte Tarsuinn. „Solltest du mich nicht mehr nach Hogwarts lassen, dann werde ich es wenigstens weich haben!"
„Du kleiner Frechdachs!", lachte Rica und kitzelte ihn. „Und nein – ich werde dich nicht hier behalten. Du darfst nach Hogwarts, solange es dir dort gefällt. Und wenn es mal nicht so sein sollte – du weißt, wo du ein zu Hause hast."
„Immer wo du bist, egal wo", sagte Tarsuinn ernst und dann grinste er. „Die anderen sind noch weg?"
„Ja", brachte Toireasa sich in Erinnerung.
„Ich habe Lust Desserts zu machen", sagte Tarsuinn. „So süß und sahnig es nur geht, ohne widerlich zu sein. Mit Schoko, Honig, Kakao, Puderzucker, Smarties, flambierte Bananen, Erdbeeren, Eis aller Sorten, Nougat, weiße Schokolade, Gelee, Götterspeise, Vanille, Rum, Mousse au Chocolat, Flammeries, Eischaum, Früchtecremes, Zuppa Romana, Zimtparfaits…"
„Plumpudding", unterbrach Toireasa lachend den Redeschwall. Sie erreichte ihr Ziel. Tarsuinn schauspielerte ein Erbrechen.
„Wie kannst du nur das Schwelgen in Köstlichkeiten auf diese brutale Art unterbrechen?", sagte er vorwurfsvoll. „Das war geradezu kriminell."
„Wenn es ihr schmeckt…", warf Rica ein.
„…soll sie das Zeug selber zubereiten", vollendete Tarsuinn lachend. „Was sie aber zum Glück nicht kann!"
„Und wer soll das Ganze dann essen?"
„Wir natürlich."
„Davon wird uns dann aber schlecht."
„Ist das nicht Zweck der Übung?", entgegnete Tarsuinn. Er stand auf und ging zur Küche. An der Tür blieb er stehen und es sah so aus, als würde er zur Tür sprechen.
„Wollt ihr mir helfen oder euch nur bedienen lassen?", fragte er.
„Können wir Amateure dir denn überhaupt eine Hilfe sein?", fragte Toireasa sarkastisch.
„Die Köche bestimmen, was es gibt. Die anderen müssen essen, was den Tisch erreicht – also die Reste."
„Na, wenn das so ist", erhob sich Toireasa und auch Rica kam mit.
Was dann kam, war eine seltsame Erfahrung. Jeder wusste, dass Tarsuinn kochen konnte und dass er ein Talent in Zaubertränke war, doch das alles war nichts gegen die folgenden zwei Stunden in der Küche. Zuerst sammelten sie auf dem Küchentisch sämtliche Zutaten, derer sie habhaft werden konnten – dazu wurden auch hemmungslos einige Weihnachtsteller geplündert – und dann begannen sie einfach aus der Laune heraus zu improvisieren. Es war ganz anders als Zaubertränke – einfach viel interessanter und obwohl Toireasa es nicht mit der Raffinesse Tarsuinns aufnehmen konnte, so konnte sie es zumindest viel besser fürs Auge anrichten.
Am Ende standen Unmengen an gefüllten kleinen Schüsseln und Minikuchen bereit, um verspeist zu werden. Keine einzige Speise glich der anderen, als sich wenig später sämtliche Darkclouds, Lovegoods und Toireasas Großeltern einfanden. Toireasa hatte bei der Zubereitung schon viel zu viel genascht, um noch irgendetwas essen zu können, aber sie genoss die Schmeicheleien für die Köche sehr und ab und an passte doch noch ein kleiner Löffel mit Süßem in ihren Bauch.
Die Weihnachtsferien und auch der Winter vergingen wie im Fluge und keine von Toireasas dunklen Befürchtungen war wahr geworden. Das konnte zum Teil daran liegen, dass Professor Dumbledore anscheinend ein wenig mit Magie getrickst hatte. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum niemand über die Anhörung sprach oder sprechen wollte. Dazu passte Onkel Filius' Ermahnung, nur untereinander über dieses Thema zu sprechen.
Trotzdem konnte Toireasa oftmals erkennen, wie andere Schüler Abstand hielten oder den Raum mit furchtsamem Blick verließen. Ian zum Beispiel war so jemand, während Cassandra und Alec keinen Schimmer zu haben schienen.
Bei den Slytherins war der Anteil der Wissenden deutlich größer, aber hier hatte die Sache eine vollkommen unerwartete Wendung genommen. Zum einen schien sich niemand mehr an Tarsuinn heranzuwagen und zum anderen schien ein Junge, der jemanden getötet hatte, eine perverse Faszination auszuüben.
Als Toireasa das zum ersten Mal bemerkt hatte, hatte sie das sehr verwirrt und doch entbehrte es nicht einer gewissen Logik. Es hatte sich herausgestellt, dass die Eltern Tarsuinns Zauberer gewesen waren. Für viele in Slytherin machte das plötzlich einen riesigen Unterschied und Irine McClary erwähnte einmal relativ unerwartet, dass McNamara ein sehr schottischer Name wäre. Noch vor Weihnachten hätte sie wohl eher nicht darauf hingewiesen.
Doch Toireasa verkniff sich irgendeinen Kommentar in diese Richtung. Ihr war nur wichtig, dass alles schön ruhig blieb und die befürchteten Anfeindungen ausblieben. Sogar der Tagesprophet hatte nur ein kurzes Statement zum Ausgang der Anhörung verfasst:
Nach einer recht emotional geführten Anhörung, stimmten mehr Mitglieder des Zaubergamots gegen eine Auslieferung als dafür.
Sie hatte keine Ahnung, warum man jetzt plötzlich den Deckel auf die Sache legte, wo zuvor doch alle so viel Krach gemacht hatten. Tarsuinn vermutete, dies hätte mit dem Ministerium zu tun, doch eine Begründung für diese Annahme konnte er nicht liefern. Im Grunde kümmerte sich der Junge auch nicht sonderlich darum. Stattdessen schien er einfach nur noch Spaß haben zu wollen. Dem Unterricht folgte er nur insoweit, wie es brauchte, um keinen Ärger zu bekommen und Hausaufgaben wurden in möglichst kurzer Zeit erledigt. Der Rest des Tages hingegen wurde aufgeteilt zwischen Unsinn machen (Merton brauchte schon lange keine Stinkbomben mehr zu kaufen, da er sie mit Tarsuinns Hilfe herstellte) und Besen fliegen.
Toireasa schaute von ihren Hausaufgaben auf, die sie und Winona mit klammen Fingern unter freiem Himmel erledigten. Hoch über ihnen flog Tarsuinn mit Merton Runden im Quidditch-Stadion.
„Er ist schon besser geworden, oder?", fragte Winona müde.
„An Halloween war er besser", meinte Toireasa kopfschüttelnd.
„Ich hoffe, er übertreibt nicht wieder."
„Er ist nicht so dumm", erwiderte Toireasa und deutete auf die beiden Jungen, die eben auf einer der oberen Tribünen landeten.
„Wie lange diesmal?", fragte Winona neugierig und gähnte herzhaft.
„Sechseinhalb Minuten", antwortete Toireasa nach einem kurzen Blick auf die Uhr.
„Wenn man bedenkt, dass er beim ersten Mal noch nicht mal abgehoben hatte, als ihm schlecht wurde und er sich nicht mehr aufrecht halten konnte, ist das ein riesiger Fortschritt."
„Aber für die – eigentlich hypothetische – Sommerreise, die er sich in den Kopf gesetzt hat, reicht das nie und niemals."
„Ich überred ihn zu einer Höhlentour, da hängt er uns sicher ab", brummte Winona und schloss für einen Moment die Augen.
„Schlecht geschlafen?", fragte Toireasa. „Ich meine, bei Binns zu schlafen ist ja normal, aber bei McGonagall?"
„Im Gegenteil, ich hab sehr gut gepennt", verdrehte Winona die Augen. „Aber viel zu wenig."
„Hausaufgaben oder…"
„Tarsuinn natürlich. Ich hab ihn gestern erwischt, wie er sich davonschleichen wollte, um zu fliegen."
„Er wollte raus?"
„Nö, drin. Er hatte den Geistesblitz, dass die unendliche Weite des Himmels seine Wahrnehmung einfach überfordert. Na ja – wir haben es getestet. In der Großen Halle von Mitternacht bis fünf."
Ein wenig mitleidig schaute Toireasa auf das Ravenclaw-Mädchen.
„Und?", fragte sie trotzdem. „Hatte er Recht?"
„Yep. Anscheinend stimmt es wirklich. Er war da deutlich besser. Als Filch misstrauisch vorbeikam – wir haben ein wenig Krach gemacht – haben wir uns fünfzehn Minuten lang an der Decke versteckt, ohne dass Tarsuinn Probleme hatte. Gegen den Himmel konnte Filch uns nicht sehen, da wir die dunklen Umhänge von Halloween drüber hatten."
„Aber er konnte gut fliegen?"
„Ja. Es hat sicher eine halbe Stunde gedauert, ehe ihm schlecht geworden ist. Und so geschwankt hat er auch nicht."
Winona deutete nach oben, wo Tarsuinn recht unsicher auf seinem Besen saß.
„Ja, sein Gleichgewichtssinn geht auf diesem Ding zum Teufel. Ich versteh eh nicht, wie er mit dem Ding auch nur halbwegs klarkommt."
„Der Mensch ist halt einfach nicht geschaffen, um in alle möglichen Richtungen zu sehen, auch wenn es bloß weiße Flächen sind. Ich hatte das Gefühl, mir platzt gleich der Schädel."
„Bei mir ging's eigentlich, aber ich hab nach nen paar Metern völlig die Orientierung verloren."
„Ich erinnere mich deutlich", kicherte Winona. „Ein Glück, dass da noch ne Menge Schnee lag."
„Ja, ihr hattet euren Spaß", grinste auch Toireasa.
Erneut musste Winona gähnen.
„Genau wie Tarsuinn gestern", brummte das Mädchen. „Ich wette, er will heute Nacht wieder runter."
„Soll ich?", ahnte Toireasa die Frage.
„Wenn du so nett wärst!", sagte Winona dankbar. „Merton können wir nicht drum bitten, der stiftet Tarsuinn zu noch mehr Stuss an und noch ne Nacht steh ich nicht durch."
„Ich mach's."
„Irgendwann erwischen sie uns aber", sagte Winona ernst. „Ich glaub nämlich, dass Tarsuinn das schon länger macht und uns nur nix gesagt hat. Ist einfach eine Sache der Wahrscheinlichkeit."
„Und wenn schon", meinte Toireasa abfällig. Zumindest die Slytherinpunkte taten ihr nicht sonderlich weh. Sie hatte zwar schon einiges an Punkten verloren, aber auch viele gewonnen. Diese Tatsache stopfte den meisten ihrer Mitschülern die Klappe, wenn mal was schief ging.
„Mal was anderes", wechselte Winona das Thema. „Hast du ihm von dem Brief erzählt?"
„Nein, noch nicht", flüsterte Toireasa und schaute misstrauisch nach oben. Sie kannte Tarsuinns Ohren inzwischen recht gut – im Moment war er weit genug weg und abgelenkt. Auch Tikki war nicht in Hörweite.
„Waren wir nicht übereingekommen uns alles zu erzählen?", fragte Winona.
„Ja", gab Toireasa widerwillig zu. „Aber du kennst ihn doch, er hätte es drauf in Gringotts einzubrechen."
„Sicher nicht. Er hat uns doch erzählt, wie es dort ist und wie gut die Sicherungen da sind."
„Und hast du seine Begeisterung dabei gespürt? Ich glaube, selten hat ihm etwas so viel Spaß gemacht, wie da die Fallen zu überwinden."
„Er ist trotzdem nicht dumm und wir sind es auch nicht."
„Mag ja sein", gab Toireasa zögerlich nach. „Ich erzähl es ihm heute Nacht, wenn er wirklich fliegen geht."
„Das ist gut", schloss Winona, rieb sich die Augen und wollte sich dann wieder ihrer Hausaufgabe widmen.
„Geh schlafen", sagte Toireasa. „Ich mach deine Strafarbeit und du schreibst sie dir morgen früh in deine Handschrift um."
Erneut gähnte Winona herzhaft.
„Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich ablehnen, aber heute riskier ich es mal. Hoffentlich kommt McGonagall nicht dahinter."
„Wird sie schon nicht, ich schreib in einfachen Worten und kurzen Sätzen", neckte Toireasa und nahm die angefangene Arbeit aus den Händen des anderen Mädchens. „Ab ins Bett."
„Ja, Mama!", versuchte Winona es ihr heimzuzahlen, aber sie sah dankbar aus, schnappte sich ihr Zeug und schlurfte leicht taumelnd zum Schloss. Ob sie mehr als eine oder zwei Stunden geschlafen hatte?
Toireasa machte sich wieder an die Hausaufgabe und verließ sich darauf, dass Merton doch ein wenig mehr Verantwortungsbewusstsein besaß, als sie ihm in dem Gespräch vorher zugestanden hatten, und auf Tarsuinn aufpasste.
Für dieses Mal schien das Vertrauen sogar gerechtfertigt. Eine Stunde später landeten die beiden Jungs wieder einmal und zwar diesmal neben Toireasa.
„Na?", fragte Toireasa. „Die Nase voll?"
„Ich noch lange nicht", meinte Merton fröhlich. „Aber unser großer Flieger hier macht einen recht mitgenommenen Eindruck."
Und damit hatte er ziemlich Recht. Tarsuinn setzte sich neben Toireasa, wandte sich zur Seite und hustete würgend. Er sah bleich aus, aber er übergab sich nicht.
„Es ist nicht so schlimm, solange ich nicht lache", keuchte er, nachdem der Würghusten überstanden war.
„Du hast sieben Minuten zwanzig geschafft", sagte Merton aufmunternd. „Neuer Rekord."
„Die fünfzehn Sekunden mehr als gestern können auch Zufall sein", meinte Tarsuinn. „Oder ich hab einfach weniger gegessen. Das mit dem Sommerausflug wird so nix werden."
„Steigere dich da nicht rein", versuchte Toireasa ihn wieder einmal einzubremsen. „Es muss ja nicht dieses Jahr sein."
„Ich schaff das schon", versicherte er. „Ich frage mich, warum es so was nicht als Blindenstock oder Ähnliches gibt. Bin ich denn der einzige blinde Zauberer auf der Welt?"
„Ich hab noch nie einen außer dir gesehen", gestand Toireasa. „Aber ich bin auch nie viel rumgekommen."
„Es liegt wahrscheinlich eher an den Nebenwirkungen", vermutete Merton. „Ich hab mal im Fernsehen eine Doku über Menschen gesehen, die einfach zu viel wahrnehmen. Da ging es zwar ums Hören, aber es war irgendwie so, dass die einfach nicht weghören konnten. Mir ging es genauso mit dem Sehen, als ich deinen Besen getestet habe. Ich konnte einfach nicht wegschauen und wusste auch nicht, wohin ich meine Aufmerksamkeit zuerst wenden sollte. Am Ende wollte ich in alle Richtungen gleichzeitig schauen und da wirbelte es durcheinander."
„Ja, du bist umgefallen, bevor du auf den Besen steigen konntest", stichelte Toireasa lachend.
„Was deutlich sicherer war, als aus drei Metern herunterzufallen", ging Merton darauf ein. „Ich bin nur schmutzig geworden, aber du musstest zu Madame Pomfrey, weil dein Handgelenk verstaucht war."
„Merton, meinst du damit, ich bekomm das nie vollständig in den Griff?", fragte Tarsuinn.
„Du solltest das nicht ausschließen", antwortete Merton erstaunlich vernünftig. „Auch wenn die Welt damit nicht schön aussieht, es ist immerhin mehr, als du dir realistischerweise erträumen konntest."
„Du meinst, ich soll zufrieden sein mit dem, was ich habe?"
„Nee", lachte Merton. „Du sollst nehmen, was du kriegen kannst. Ich weiß nur nicht, ob du dich nicht zu sehr darin verbeißt."
Toireasa war immer mehr erstaunt. Merton sprach genau das aus, was sie dachte.
„Wie meinst du das?", fragte Tarsuinn ein wenig verwundert.
„Ganz einfach. Aufwand und Nutzen", meinte Merton. „Beharrlichkeit ist zwar beeindruckend, aber du quälst dich und investierst extrem viel Zeit für eine Sache, die ein Hobby ist und immer bleiben wird. Außerdem machst du immer nur in der ersten Stunde Fortschritte. Hör doch einfach auf, wenn deine Konzentration nachlässt und nutze die freiwerdende Zeit für andere Dinge."
„Wie Stinkbomben basteln?", fragte Tarsuinn und obwohl Toireasa eigentlich erwartet hatte, dass er ein klein wenig unfreundlich auf den Vortrag reagierte, wirkte er eher amüsiert.
„Also, ich bin mit der mir zuteil gewordenen Aufmerksamkeit hoch zufrieden", meinte Merton. „Aber du stiehlst dir die Zeit für den Rest des Lebens."
„Doch nur – bis ich dieses Ding hier unter Kontrolle hab", verteidigte sich Tarsuinn und deutete auf den Besen neben sich.
„Und wenn das nie passiert?"
Das schien Tarsuinn dann doch etwas zu denken zu geben. Zumindest wirkte er jetzt ein wenig betreten und nachdenklich. Seine Stirn zog sich immer weiter zusammen.
„Wie konnte ich das nur vergessen?", murmelte er kaum hörbar.
„Was?", fragte Toireasa besorgt, doch er antwortete ihr nicht. Seine Augen zuckten hin und her, als versuche er irgendetwas zu fassen.
„Besuchen wir Hagrid, Toireasa?", sagte er dann endlich. „Was ist mit Seidenschnabel?"
Das war eine Idee, die Toireasa nicht gerade gut fand. Sie wollte zwar, dass Tarsuinn auch wieder ein wenig am ernsthaften Leben teilnahm, aber sie wusste, was Seidenschnabel mit der Anhörung drohte.
„Warum nicht", entschloss sie sich dann. „Hagrid wird sich freuen, dich mal wieder zu sehen."
„Ich komm nicht mit", sagte Merton. „Auch auf mich – und ich glaub nicht, dass ich das offen zugebe – wartet noch ein wenig ernsthafte Arbeit."
„Du bist entschuldigt", konnte Tarsuinn wieder lächeln. „Und ich erzähl es niemandem weiter."
„Das beruhigt mich ungemein", verabschiedete sich Merton. „Nach dem knappen Desaster gegen Slytherin müssen wir wohl oder übel doch den Gewinn des Hauspokals ins Auge fassen."
Dann ging der Junge.
Toireasa stand auf, schulterte ihre Tasche und nahm Tarsuinn bei der Hand.
„Wirft man dir noch immer vor, dass diese Chang nicht spielen konnte?", fragte sie so nebenbei wie möglich.
„Nicht direkt", entgegnete er. „Aber ich hab genug Kommentare gehört, dass wir mit einem besseren Sucher gewonnen hätten."
„Stimmt leider auch. Ravenclaw war das bessere Team, aber Malfoys Fang hat's gerad' noch rausgerissen. Leider."
„Was ist passiert?"
„Euer Sucher wollte unbedingt den Fang machen, statt Malfoy so lange zu blocken, bis ihr hundertfünfzig Punkte mehr hattet. Warum warst du eigentlich nicht dabei?"
„Ich wollte den Dementoren nicht noch mal über den Weg laufen."
„Dumbledore hat auf die diesmal sicher besonders aufgepasst."
„Mag sein, aber im Grunde gehe ich normalerweise eh nur wegen euch hin – und wegen der allgemeinen Begeisterung."
„Nicht mal wegen deiner Hausmannschaft?"
„Weißt du wie viel Spaß es macht, von jedem Tor überrascht zu werden?", lächelte er ironisch.
„Ich dachte, mit den Ohrenschützern kannst du die Position der Spieler hören?"
„Das schon, aber ich weiß meist nie, wo sich der Quaffel befindet. Die Klatscher, ja. Aber der Quaffel ist einfach zu leise bei dem ganzen Lärm und gerade der würde mich am meisten interessieren."
„Du wärst gern ein Jäger?", schlussfolgerte Toireasa.
„Ich denke schon. Euch an Halloween spielen zu sehen, war einfach…ich hab mir gewünscht mitspielen zu können und nicht nur das Tor zu hüten."
„Gerade das ist doch das Beste", widersprach Toireasa.
„Da fehlt mir die Bewegung. Die Anspannung", erklärte er. „Ich meine ja nicht, dass ein Torwart die nicht hat. Man fiebert ja mit und wenn der Gegner auf dich zukommt, dann rast der Puls, aber wenn die Situation vorbei ist, ist wieder Ruhe. Als Jäger ist man aber ständig dabei, kann sich keine Sekunde ausruhen oder nachlassen und ständig verändert sich alles. Weißt du, Cho hat mir vom Spiel ein wenig mehr erzählt und ich glaube, ich würde viel von dem blinden Verständnis mitbringen, welches Jäger brauchen."
Während Toireasa ihn misstrauisch beäugte, kicherte Tarsuinn über seinen eigenen Witz. Solche Sachen sagte er in letzter Zeit öfter. Genau genommen, seit er mal gegen einen Hufflepuff gelaufen war und dieser ihn überrascht mit einem: He, bist du blind?, angeraunzt hatte.
Das: Ja, ist er. Und was ist deine Ausrede?, von Winona hatte Tarsuinn so amüsiert, dass er seitdem jede Gelegenheit nutzte, um Wortspiele zu spielen. Toireasa konnte irgendwie nie darüber lachen.
„Bei Hagrid im Haus weint ein Mädchen", sagte Tarsuinn, als sie sich der Hütte näherten.
„Umkehren?", fragte Toireasa.
„Warum sollten wir?", fragte er und sie gingen die letzten Meter. Sie brauchten nicht zu klopfen, denn die Tür öffnete sich vor ihnen von allein und Hagrid empfing sie. Der Wildhüter war sicherlich nicht gerade froher Stimmung und trotzdem konnte man ihm die Freude über ihren Besuch deutlich ansehen.
„Schön, dass ihr mich ma wieder besucht", begrüßte sie Hagrid. „Geh'n wir ein wenig spazieren."
Er hatte schon seinen Mantel in der Hand, doch Tarsuinn zwängte sich einfach an ihm vorbei ins Innere der Hütte und zog Toireasa einfach mit.
„Tut mir Leid, dass ich so lange nicht da war, Hagrid", sagte er dabei freundlich.
„Spazieren?", fragte Hagrid ein wenig verzweifelt.
Toireasa machte ein mitleidiges Gesicht in Richtung Hagrid.
„Können wir bitte hier bleiben", sagte Tarsuinn freundlich. „Mir ist ein wenig kalt."
„Dann Tee?", gab Hagrid seinen verzweifelten Versuch auf.
„Das wäre sehr nett", erklärte Tarsuinn so unschuldig wie ein Engel.
„Hallo, Hagrid", fand Toireasa jetzt auch ihre Stimme und formte ein lautloses: Sorry.
Ihr selbst war die Situation auch recht unangenehm, denn in Hagrids Hütte war noch ein anderes, absolut verheult aussehendes Mädchen, dass vor einem Tisch voller Bücher saß und gerade versuchte, sich die Tränenspuren aus dem Gesicht zu wischen. Toireasa hatte selbst oft genug Hagrids Hütte als Zuflucht genutzt, als dass sie darüber die Nase hätte rümpfen können.
Mit der naiven Offenheit eines Sechsjährigen ging Tarsuinn auf das Mädchen zu und streckte ihm die Hand entgegen.
„Hallo, ich bin Tarsuinn. Schön dich kennen zu lernen."
Wie schon zuvor Hagrid, war auch das Mädchen völlig überrumpelt.
„Hermine", stammelte und schniefte diese. Dann schüttelte sie kurz die Hand des Jungen.
„Oh", machte Tarsuinn einen bewundernden Gesichtsausdruck. „Ich glaub, ich hab viel über dich gehört. Das hier ist Toireasa."
Tarsuinn zog sie ein wenig unsanft nach vorn.
Einen unangenehmen Augenblick lang hefteten sich die Augen von Hermine an Toireasas Hausabzeichen. Was kein Wunder war, wenn man Draco Malfoy reden hörte.
„Wir wollten nicht stören", versicherte Toireasa und meinte damit eigentlich nur sich selbst. Sie lächelte versuchsweise und streckte dem Gryffindor-Mädchen die Hand entgegen. „Kennst du Ginny? Wir spielen ab und an miteinander Quidditch, wenn das Feld frei ist."
Nur zögerlich wurde Toireasas Hand kurz geschüttelt, so als würde die Berührung etliches an Überwindung kosten.
„Und du musst Seidenschnabel sein", sagte Tarsuinn und Toireasa musste ihn mit Macht davor zurückhalten, dass Tier einfach so zu streicheln. Hagrid war noch viel zu überrascht, um schnell genug zu reagieren.
„Du kannst nicht einfach zu ihm gehen", hielt Toireasa ihn zurück.
„Nicht? Du sagst doch immer, er ist sehr lieb."
„Trotzdem musst du die Regeln beachten", brummte Hagrid. „Und ich fürchte, du kannst sie nich erfüll'n. Halt lieber Abstand."
„Warum?", fragte der Junge.
„Weil du ihm ohne zu blinzeln in die Augen schauen musst", erklärte Toireasa.
„Das mit dem nicht Blinzeln bekomm ich hin", lächelte er. „Aber der Rest ist wirklich ein ziemliches Problem."
Überraschend fuhr der Junge zu Hagrid herum.
„Die Slytherins behaupten, die vom Ministerium würden Seidenschnabel töten, weil er Malfoy verletzt hat", sagte er. „Ich kann aber bezeugen, dass der nur simuliert hat. Ich hab es von ihm selbst gehört!"
„Wirklich?", fragte Hermine und sie klang plötzlich hoffnungsvoll.
„Ja", erklärte Tarsuinn fest. „Ich war im Krankenflügel, als Madame Pomfrey ihn verarztet hat."
„Das könnten wir bei der Anhörung verwenden, Hagrid", sagte das Gryffindor-Mädchen begeistert. „Ein Zeu…"
„Könn' wir nich", unterbrach Hagrid sie traurig. „Niemand wird Tarsuinn glauben wollen und er darf nich schon wieder im Ministerium für Ärger sorgen."
„Was denn für Ärger?", fragte Hermine neugierig und strich sich einige verirrte Strähnen ihrer Haarmähne aus dem Gesicht.
„Vergiss das bitte, Hermine", wurde Hagrid rot. „Ich hab davon nix gesagt. Das mit Tarsuinn geht einfach nich. Die mögen ihn da nich und man würde das an Schnäbelchen auslass'n."
„Aber ich hab es doch gehört", beharrte Tarsuinn. „Die können doch einfach Veritaserum einsetzen und dann wüssten sie, dass ich die Wahrheit sage."
„Und deshalb werd'n sie es nich einsetzen und lieber behaupten du lügst", erklärte Hagrid fest. „Ne, ne. Außerdem hilft mir schon Hermine sehr. Schaut mal."
Der Wildhüter nahm eines der Bücher, schlug es an einem Lesezeichen auf und hielt es Toireasa hin.
„Ein Höllenhund, der freigesprochen wurde, weil er jemandem ans Bein gepinkelt hat, ist sicherlich nicht vergleichbar", bemerkte Tarsuinn, noch bevor Toireasa zu Ende gelesen hatte.
„Nur, weil du nich weißt, wie weh das tun kann", versicherte Hagrid. „Is ne ziemlich ätzende Flüssigkeit bei Höllenhunden."
„Außerdem wurde der Hund freigesprochen, weil das Verhalten in seiner Natur lag und nicht als Angriff gemeint war", ergänzte Hermine.
„Ich bin mir leider sicher, Seidenschnabel hat absichtlich angegriffen", bemerkte Toireasa ungern. „Auch wenn ich weiß, dass der Idiot Malfoy es provoziert hat!"
Der Ausdruck auf Hermines Gesicht war irgendwie bemerkenswert. Am Anfang von Toireasas Satz war sie offensichtlich kurz davor gewesen zu explodieren, und doch dann war daraus eine Mischung aus erfreuter Zustimmung und Erstaunen geworden.
„Aber kann man dir nicht irgendwie anders helfen?", fragte Tarsuinn. „Nimm es mir nicht übel, Hagrid, aber nach dem, was ich aufgeschnappt habe, scheint die Anhörung eine abgekartete Sache zu sein."
Frustriert verdrehte Toireasa die Augen. Warum musste er unbedingt mit dem Holzhammer der Wahrheit um sich schlagen?
„Vielleicht kann ich se ja zum Umdenken bewegen", entgegnete Hagrid wenig überzeugt.
„Dann solltest du dir besser professionelle Hilfe nehmen. Ich kenn da eine sehr gute Anwältin", meinte Tarsuinn und jetzt drang ein frustrierter Laut aus Toireasas Kehle.
„Bei so einer kleinen Sache lassen sie so was nicht zu", erklärte sie geduldig.
„Gut, dann müssen wir halt zu den guten alten Mitteln der Bestechung, Erpressung und Nötigung greifen", sagte Tarsuinn gelassen.
Drei Augenpaare richteten sich entsetzt auf den Jungen. In seiner Stimme hatte kein böser Scherz oder dergleichen mitgeklungen.
„Entschuldigt uns", unterbrach Hagrid die geschockte Stille und hob Tarsuinn am Kragen hoch. „Ich muss mal ein ernstes Wort mit ihm wechseln!"
Dann trug er den Jungen nach draußen. Wäre der Moment nicht so ernst gewesen, es hätte lustig ausgesehen.
„Tarsuinn meint das nicht so", log Toireasa Hermine an.
„Wenn du es sagst", erwiderte das Mädchen und ihre Miene verschloss sich wieder etwas.
„Ich find es gut, dass du Hagrid hilfst", lobte Toireasa bemüht.
„Tut ja sonst niemand!", erwiderte Hermine feindselig, wobei ihr Blick aus dem Fenster hinaus Richtung Schloss ging. Ob sie damit Professor Dumbledore meinte? Toireasa verstand auch nicht, warum dieser das nicht einfach regelte.
„Kann ich dir helfen?", versuchte es Toireasa weiter.
„Ich hab schon alle Bücher durch, die in der Bibliothek dazu verfügbar sind", entgegnete Hermine distanziert. „Außerdem ist es schon spät."
Sie begann ihre Bücher einzusammeln und eine Minute später war sie aus Hagrids Hütte verschwunden. Diese Flucht verletzte Toireasa ein wenig und missmutig schaute sie auf ihr Hausabzeichen.
„Herzlichen Dank!", murmelte sie dabei.
Dann ging sie zu Seidenschnabel, schaute ihm in die Augen, verbeugte sich tief und durfte sich ihm schon nach wenigen Augenblicken nähern.
„Kennst mich also noch", flüsterte sie und strich ihm sanft über das Federkleid. „Brauchst keine Angst haben. Obwohl du wahrscheinlich gar nicht begreifst, was hier mit dir geschieht und warum du nicht fliegen darfst."
Seidenschnabel schienen ihre Worte nicht im Geringsten zu berühren. Stattdessen versuchte er, seinen viel zu großen Schnabel in ihre Umhangstaschen zu zwängen.
„Ich bin nicht Hagrid", versuchte sie ihn zurückzuschieben. „Ich hab weder Ratten, noch Hamster oder Frettchen in der Tasche. Außerdem hab ich den Eindruck, Hagrid verwöhnt dich eh schon zu sehr."
Sie fühlte nach dem Bauchfell des Hippogreifs.
„Noch mehr und du kannst nicht mehr fliegen, wenn es nötig werden sollte", wies sie ihn zurecht. Dies hatte nur weitere Betteleien zur Folge. Toireasa versuchte mit Streicheleinheiten Seidenschnabels Drängen nach Fressbarem zu unterdrücken.
Es verging eine gute halbe Stunde ehe Tarsuinn und Hagrid zurückkamen. Der Unterschied zwischen den Mienen der beiden hätte nicht gegensätzlicher sein können. Hagrid wirkte frustriert und besorgt, während Tarsuinn überlegen und mit sich selbst zufrieden schien. Es war überdeutlich, wer sich als Sieger fühlte.
„Hermine schon weg?", fragte der Wildhüter enttäuscht.
„Ja", erwiderte Toireasa und konnte sich dann doch einen Kommentar nicht verkneifen. „Ich schätze, es war ihr unangenehm mit einer Slytherin allein zu sein."
„Das musst du verstehen, sie hat im Moment viel um die Ohren und kennt nur Malfoy und seine Freunde, wenn es um Slytherins geht. Ich mach euch jetzt den versprochenen Tee, okay?"
Die restliche Zeit bei Hagrid verging sehr beschaulich. Hagrid fragte sie nach der Schule aus und äußerte seine Hoffnung, sie im nächsten Jahr in Pflege magischer Geschöpfe anzutreffen, während Toireasa ihn ermahnte Seidenschnabel nicht zu überfüttern und begann, ihn über dem Unterricht in der dritten Klasse auszuquetschen. Flubberwürmer war dabei eine sehr unbefriedigende Antwort, auch wenn Hagrid versuchte ihre Ungefährlichkeit anzupreisen. Am Ende drohte Toireasa scherzhaft damit Wahrsagen zu wählen und lieber nach der Schule zu Hagrid zu gehen, wenn er seinen Unterricht nicht etwas aufpeppte.
Wenigstens amüsierte die Drohung Hagrid, denn offensichtlich glaubte er, jeden Vergleich mit Wahrsagen gewinnen zu können – selbst mit Flubberwürmern. Tarsuinn teilte diese Überzeugung und bedauerte, dass er wahrscheinlich Wahrsagen nicht abwählen durfte.
Hagrid versprach daraufhin mit Professor Dumbledore darüber zu sprechen und merkte gar nicht, dass der Junge ihn damit manipulierte. Tarsuinn mochte zwar unglaublich gut mit Tikki umgehen und eine seltsame Verbindung mit den Einhörnern teilen, aber ansonsten interessierte er sich nicht wirklich intensiv für magische Tiere. Ihm kam der Unterricht bei Hagrid sicher als das kleinere Übel vor. Aber vielleicht war Toireasa auch ein wenig voreingenommen. Die Begeisterung, die ihr Freund für Zaubertränke an den Tag legte, war ihr ja auch völlig unverständlich.
Es war schon lange dunkel, als sie sich von Hagrid aufmachten. Das Abendessen brachten sie in Rekordzeit hinter sich und trafen sich dann mit Luna und Merton in der Bibliothek, um doch noch ein paar Hausaufgaben zu machen. Viel gemeinsame Zeit blieb da nicht, denn auch Zweitklässler hatten sich recht früh in den Gemeinschaftsräumen einzufinden.
Kurz bevor sie sich trennten, zog Toireasa Tarsuinn beiseite.
„Wann gehst du heute Nacht runter in die Große Halle?", fragte sie flüsternd.
Er brauchte nur einen Moment, um sich zu fangen.
„Wenn unser Gemeinschaftsraum leer ist, irgendwann nach Mitternacht."
„Ich werde da sein."
„Musst du nicht."
„Doch! Denn Winona bricht sonst zusammen und außerdem muss ich dir noch was erzählen."
„Dann schicke ich dir am besten Tikki runter, damit du nicht in die Wachen läufst", meinte er vernünftig. „Keine Ahnung wieso, aber sie glaubt, ich soll auf dich aufpassen, damit du nicht in Schwierigkeiten kommst."
Damit ließ er eine verblüffte und empörte Toireasa einfach stehen.
Als sie nach Mitternacht heimlich mit ihrem Sauberwisch den Slytherin-Kerker verließ, wartete wirklich schon Tikki hinter einer Ecke in der Nähe. Toireasa folgte ihr zauberhaft leise durch die Gänge. Den Weg, den sie nahmen, konnte man nicht gerade als direkt bezeichnen, aber er endete wenigstens in der Großen Halle.
Von oben hörte sie einen leisen Pfiff. Sie schaute nach oben, sah aber niemanden.
„Komm rauf", rief Tarsuinns Stimme ihr zu und so schwang sie sich auf ihren Besen und strebte der verzauberten Decke entgegen. Erst kurz bevor sie glaubte gegen die Wand zu stoßen, tauchte Tarsuinn auf, der entspannt auf einem seitlichen Sims saß.
„Ich glaub, man wird durchsichtig wie die Decke, wenn man hier oben ist", erklärte er, nachdem Toireasa sich neben ihn gesetzt hatte.
„Ist ein tolles Versteck", gab sie zu und schaute mit einem leichten Schauder nach unten. Draußen im Stadion konnte man hoffen, dass die Sicherheitszauber einen Sturz bremsten, hier erwarteten einen nur harte Steine und scharfe Tischkanten.
„Erst fliegen oder doch mein Geheimnis?", fragte Toireasa.
„Geheimnis!", entschied er und grinste. „Obwohl ich es schon weiß."
„Was weißt du?", fragte Toireasa verblüfft.
„Du schleppst ein altes, magisch geschriebenes Dokument in deiner linken Innentasche mit dir herum. Was glaubst du, was ich mir tagtäglich anhören muss?"
„Und warum hast du nix dazu gesagt?"
„Ich dachte mir, es geht mich nichts an, solange du es mir nicht sagen willst. Woher hast du es?"
„Meine Mutter hat es mir zum Geburtstag geschickt", sagte Toireasa.
„Bist du dir jetzt sicher, dass es deine Mutter ist, die dir schreibt?", fragte er und schloss die Augen.
Darauf wollte Toireasa eigentlich nicht antworten. Sie wollte so sehr, dass ihre Mutter noch lebte, dass ihre Objektivität langsam flöten ging. Doch langsam fasste sie Vertrauen.
„Ich glaub es", gab sie zu. „Sie weiß so viel Wahres. Sie hat mir geschrieben, wie ich zur Welt kam. Ich hab an Weihnachten meine Großeltern gefragt und die Beschreibungen stimmen vollkommen überein. Sie wusste sogar, dass mein Dad nur blaue Babyanzüge mitgehabt hatte, weil eine Wahrsagerin ihm gesagt hatte, ich würde ein Junge werden."
„Aber findest du es nicht irgendwie pervers, dass sie dir ein altes Testament mitschickt?"
„Sie glaubt sich wirklich in Gefahr und ich denke, sie könnte damit Recht haben."
„Und warum dann kein neues? Ich meine, hat sie jetzt nicht auch Dinge, die an dich gehen sollten?"
„Ist doch logisch, offiziell ist sie tot. Niemand würde einem Testament glauben, das nach ihrem Tod geschrieben wurde."
„Okay, macht Sinn", gab er zu.
„Außerdem ist da noch etwas, was du nicht weißt", entschloss sich Toireasa zu mehr Offenheit. „Du erinnerst dich doch an den Kristallschlüssel, oder? Nun – ich weiß jetzt, wozu er da ist und durch das Testament glaub ich auch zu wissen, wo er passt."
„Das Verlies 1138 in Gringotts", murmelte er. „Für nen Testament ist es ziemlich mitteilsam."
„Das Problem ist, ich komm da nicht ran. Ich hab zwar den Kristallschlüssel, aber den Schlüssel fürs Verlies hab ich nicht."
„Den brauchst du auch nicht", sagte er und öffnete die Augen wieder. Seine grauen Augen wirkten in dieser Dunkelheit fast silbern. „Du hast alles, was du brauchst."
„Ich versteh nicht", entgegnete Toireasa verwundert. „Ohne Schlüssel komme ich doch nicht da rein."
„Doch, denn deine Mutter ist tot – zumindest offiziell – und du hast ein Testament und bist die Erbin. Wenn das Ding echt ist, dann müssen dich die Kobolde reinlassen, auch ohne Schlüssel. Schließlich können die sich ja nicht alles greifen, nur weil mal ein Schlüssel verloren geht. Du musst nur zweifelsfrei nachweisen, dass du du bist und das Testament echt. Hat mir Bill, Ginnys großer Bruder, in Gringotts erzählt, als ich da war."
„Warum hast du mir das nicht gleich erzählt?"
„Weil das nur eine Nebensache war, die ich als nicht so wichtig empfunden habe, schließlich wusste ich nichts von dem Brief. Was stand noch drin?"
„Na ja, alles Gute zum Geburtstag, sie hofft mir geht es gut und im Verlies würde mein Geburtstag, Weihnachten, Ostern und alles andere warten. Sie vermacht mir alles, nur für den Fall, dass ihr was passiert."
„Sie scheint eine sehr positiv eingestellte Frau zu sein."
„Oder nur vorausschauend. Rica hat mit dir dasselbe gemacht, oder?"
„Das ist nicht vergleichbar. Wir waren damals sicher, sie würde sterben."
„Und wenn es meine Mutter auch ist?"
Seine Augen blinzelten mehrmals hintereinander.
„Lass uns fliegen", sagte er – unerwartet lächelnd.
Toireasa war ein wenig erschrocken, als er sich ruckartig auf seinen Besen schwang und dieser, von der plötzlichen Last überfordert, fast bis zu einem Tisch durchsackte.
„Mach nicht so einen Mist!", rief sie ihm ohne großes Nachdenken nach, dann folgte sie deutlich vorsichtiger.
In der Großen Halle zu fliegen machte ihr nicht sonderlich viel Spaß. Man konnte kaum beschleunigen, spürte keinen Wind und musste immer irgendwelche Zusammenstöße vermeiden.
Tarsuinn schien es da völlig anders zu gehen. Er flog ein Stück – manchmal wirklich schnell – bremste vor einer Wand oder über einem Kerzenständer und streckte dann erwartungsvoll die Hand aus. Wenn seine Finger fanden, was er erwartete, freute er sich königlich – und ein wenig zu laut für Toireasas Geschmack. So war sie froh, als sie sich keine Stunde später wieder auf dem Sims einfanden. Leider machte es die Sache nicht leiser, denn der Junge holte sofort nach der Landung eine Tüte hervor und übergab sich geräuschvoll. Das Lächeln auf seinen Lippen wirkte dadurch unheimlich grotesk.
Kaum war er fertig, holte er seinen Zauberstab hervor, deutete in die Tüte und sagte leise: „Scourgify!"
Dann schnüffelte er kurz.
„Wow – Übung, Gestank und Ginny machen den Meister!", sagte er ironisch und zufrieden.
„Drei großartige Antriebe", stimmte Toireasa zu. „Aber wenn ich dich morgen nicht ordentlich essen sehe, dann lernst du Nummer vier kennen."
„Keine Sorge", versicherte er. „Wenn ich bei den Hauselfen willkommen wäre, würde ich nachher gleich in die Küche runtergehen. Das mache ich nicht freiwillig."
„Du solltest eher aufhören."
„Ja – das sag ich mir auch jedes Mal, wenn es zu spät ist", zwinkerte er mit den Augen. „Na, wenigstens hab ich so einen praktischen Zauber gelernt."
„Und du kannst endlich fliegen", freute sie sich für ihn und berührte ganz kurz seine Hand.
„Das verdanke ich euch", entgegnete er ernsthaft.
„Nicht wirklich. Eigentlich eher Professor McGonagall. Sie hat die Informationen besorgt und Rica überzeugt."
„Professor Eisenhart? Wirklich?"
„Heh – du hast sie gefragt und wenn es nach Professor McGonagall geht, hat jeder Zauberer und jede Hexe das gottverdammte Recht auf einem Besen zu reiten und Quidditch zu spielen. Da darf so ein kleines Problem, wie das deine, keinen Hinderungsgrund darstellen. Das sollte eigentlich gerade dir klar sein!"
„Ja, sie ist okay", stimmte er zu. „Ich musste ihr versprechen, sie zu meinem ersten echten Quidditchspiel einzuladen. Falls es je dazu kommt."
„Das bekommen wir organisiert", versprach Toireasa.
Er nickte dankbar und wirkte plötzlich nicht mehr froh. Seine Lippen bewegten sich, als würde er nach Worten suchen.
„Ich muss dir etwas sagen…", erklärte er und wurde rot. „Ich…ich…"
Unter ihnen wurde laut und mit kräftigem Schwung die Tür geöffnet, sodass sie gegen die Wand schlug.
„Hab ich euch ihr kleinen…!", rief Filch begeistert und starrte dann perplex in die leere Halle vor ihm. Toireasa war genug Schrecksekunden gewöhnt, um einen überraschten Schrei zu unterdrücken.
„Ich weiß, dass ihr hier seid!", murmelte der Hausmeister feindselig und ging auf die Knie, um unter die Tische zu sehen. „Wo sind sie, Mrs Norris?"
Im Gegensatz zu Filch wusste die Katze ganz genau, wo Tarsuinn und Toireasa waren. Unverwandt starrte das Tier mit seinen bösen gelben Augen zu ihnen hinauf und fauchte.
„Was ist?", sagte Filch sanft zu seiner Katze und folgte dem Blick seiner Vertrauten. Toireasa sah in die angestrengt zusammengekniffenen Augen des Mannes.
„Kommt herunter!", befahl Filch. „Ich seh euch."
Tarsuinn zuckte, doch Toireasa legte ihm schnell die Hand auf den Arm. Sie wagte in der guten Akustik der Halle nicht einmal zu flüstern.
Filch log. Das konnte sie sehen. Sein Blick war zwar genau auf einen Punkt gerichtet, aber nicht genau dahin, wo seine Katze hinschaute.
Also hielten sie still und es schien zu helfen. Toireasa fragte sich, wo Tikki sich versteckte, bis sie sah, wie sich das kleine Wesen gerade hinter Filch aus der Tür schlich. Sekunden später schepperte es metallisch ungefähr in der Gegend, in der Tikki verschwunden war.
Filch ließ sich ablenken und rannte los.
„Jetzt oder nie", flüsterte Toireasa. Die Große Halle hatte nicht gerade viele Ausgänge und der hinter dem Lehrertisch war sicher verschlossen. „Wir könne nur durch den Haupteingang raus."
Auf ihren Besen schwebten sie schnell herunter und Toireasa verzauberte ihre Schuhe damit die keinen Krach machten beim Laufen.
Sie kamen nicht weit. Als Toireasa durch die Tür lief, schoss ein Fuß hervor und stellte ihr die Beine. Sie schlug lang und schmerzhaft auf den Boden.
„Hab euch!", triumphierte Filch.
„Fassen Sie mich nicht an!", fauchte Tarsuinn und als Toireasa herumfuhr, sah sie, wie der Junge die Hand des Hausmeisters weg schlug. „Gut, Sie haben uns erwischt, aber fassen Sie mich nicht an!"
Sie wusste nicht, ob es seine Stimme war oder sein mieser Ruf, doch der Hausmeister wich tatsächlich ein wenig zurück. Bewundernd stellte sie jedoch auch fest, dass nirgends ein Fenster zersprang oder eine der vielen leeren Rüstungen umfiel. Seit die Anhörung vorbei war, schien Tarsuinn viel über seine Zauberkraft gelernt zu haben.
„Ihr kommt mit!", befahl Filch.
„Ohne Widerstand", versprach Tarsuinn und kam zu Toireasa. Er half ihr aufzustehen.
„Alles okay?", fragte er fürsorglich.
„Ich denke es geht", murmelte sie und schaute mit zusammengebissenen Zähnen ihre aufgeschabten Hände und Ellenbogen an. Auch ihr rechtes Knie brannte unangenehm, ließ sich aber bewegen. Sie hob ihren Besen auf, den sie beim Hinfallen verloren hatte.
„Mitkommen!", fauchte Filch mitleidlos. Sie folgten dem Hausmeister. Jetzt hatte es keinen Sinn wegzulaufen. Man war erwischt, wenn man identifiziert worden war. So lief das Spiel nun mal.
„Dachtet, ihr könntet mich reinlegen, was?", murmelte Filch. „Haltet euch wohl für schlau, aber diesmal bekommt ihr euer Fett weg, dafür sorge ich. Ihr werdet nicht mehr so schnell lachen. Ach, wenn ich doch nur die alten Strafen…die haben noch Wirkung gezeigt. Aber vielleicht macht…"
„Mr Filch?", erklang die Stimme von Professor Lupin und dann trat der Lehrer aus dem Dunkel eines Seitenganges. „Wen haben Sie denn da aufgegriffen?"
„Zwei Rumtreiber der übelsten Sorte."
„Danke, Mr Filch", erklärte Lupin ernst. „Ich werde mich um die Kinder und ihre Bestrafung kümmern."
„Eigentlich wollte ich sie zu Professor Snape bringen", widersprach Filch und klang nicht sonderlich respektvoll.
„Der Professor ist erst vor einer Stunde ins Bett, Mr Filch", erwiderte Professor Lupin freundlich, als würde er diesen Ton nicht hören. „Wir sollten ihn wegen zweier Rumtreiber nicht wecken, wo wir doch alle nur wenig Schlaf bekommen, nicht wahr?"
„Aber Professor Snape hat mich gebeten ihm Bescheid zu geben, sollte ich einen der beiden hier erwischen!", gab Filch noch immer nicht nach.
„Das können Sie auch morgen früh, Mr Filch", erklärte Lupin freundlich, jedoch sehr entschieden. „Aber auch dies ist nicht unbedingt nötig, da ich ihn als Hauslehrer eh informieren werde. Ich werde natürlich erwähnen, welch gute Arbeit Sie geleistet haben."
„Ich hoffe, Sie bestrafen die auch richtig und wie sie es für ihre Unverschämtheit verdienen!"
„Keine Sorge, Mr Filch. Ich habe nicht vor unsere beiden Nachteulen hier für ihre Dummheit zu belohnen", versicherte Lupin und schenkte Toireasa einen Blick, der zumindest sie von der Ernsthaftigkeit dieses Versprechens überzeugte.
„Ich werde sie gern beaufsichtigen", bot Filch an und seine Augen funkelten bösartig Toireasa und Tarsuinn an.
„Das lässt sich sicher einrichten", sagte Professor Lupin und überraschte damit Filch offensichtlich angenehm. Toireasa gefiel diese Idee hingegen gar nicht. Nachher sollte sie wenigstens den Professor überzeugen, dass Filch nicht auf Tarsuinn achten durfte.
„Dann mach ich mich mal weiter auf meine Runde", brummte Filch. „Heute ist eine gute Nacht und vielleicht lässt sich die rote Gefahr blicken. Komm, Mr Norris!"
Der Hausmeister schlich davon. Seine Laterne leuchtete noch eine Weile durch die Gänge, dann war er verschwunden.
„Und jetzt zu euch!", fuhr Lupin sie hart an und Toireasa drängte sich vor Schreck ein wenig näher an Tarsuinn. „Wie kommt ihr dazu nachts durch das Schloss zu schleichen und dann auch noch mit euren Besen. Reichen euch eure Begegnungen mit den Dementoren immer noch nicht? Wollt ihr unbedingt sterben?"
„Wir haben das Schloss nicht verlassen und hatten es auch nicht vor", verteidigte sich Toireasa ein wenig eingeschüchtert. „Wir waren in der Großen Halle fliegen!"
Sie erntete einen verständnislosen Blick von Professor Lupin.
„Ich kann in Räumen viel besser fliegen und länger", ergänzte Tarsuinn. „Mein Besen…"
„Ich weiß von dem Besen!", unterbrach Lupin. „Aber das erklärt trotzdem nicht, warum ihr das unbedingt des Nachts machen müsst!"
„Weil uns das sicher verboten werden würde", sagte Toireasa.
„Habt ihr denn jemals jemanden gefragt und es ihm erklärt?", fragte Lupin und schaute sie eindringlich an.
Toireasa spürte, wie sie vor Scham rot wurde. An diese einfache Möglichkeit hatte sie nicht gedacht.
„Das ist mein Fehler, Professor", sagte Tarsuinn und er schien trotz allem noch guter Stimmung. „Ich hatte die letzten Nächte so viel Spaß dabei, dass ich daran einfach nicht gedacht habe, und Toireasa war heute nur mit, weil sie es gestern herausgefunden hat und mich nicht davon abbringen konnte. Sie will immer auf mich Acht geben."
Im Gesicht von Professor Lupin konnte Toireasa erkennen, wie dumm es war zuzugeben, dass dies heute nicht die erste Verfehlung gewesen war.
„Machst du dir denn keine Gedanken darüber, dass du Sirius begegnen könntest?"
„Doch, aber das ist nicht gefährlich für mich", erklärte Tarsuinn unbesorgt.
„Wie kommst du denn auf solch einen gefährlichen Gedanken?", fragte Lupin entsetzt. „Du kannst…"
„Es ist ganz einfach", unterbrach Tarsuinn und wirkte sehr begeistert. „Black ist nun seit über einem halben Jahr frei. Aber er ist nicht auf der Flucht. Jeder weiß, er ist hier, die Dementoren nutzen nichts und er hat Zugang zum Schloss. Seit Halloween ist nichts mehr passiert. Er beobachtet und wartet darauf, dass die Aufmerksamkeit nachlässt. Wer sich so lange einer Verhaftung entziehen kann, obwohl alle ungefähr wissen, wo er ist, ist nicht dumm. An Halloween war er noch durch die Dementoren beeinflusst und hat Mist gebaut. Doch wenn er das nächste Mal hier hereinkommt, dann wird er einen Plan haben. Er wird Zeit und Ort wählen. Inzwischen einen anderen Schüler zu töten, würde ihm überhaupt nichts bringen, sondern ihn im Gegenteil in die Enge treiben. Im Moment sagen sie überall – auch im Tagespropheten – dass nur die Dementoren ihn fangen können. Das scheint so verbreitet, dass irgendwie niemand – außer den Lehrern hier – es für nötig hält, ihn persönlich zu jagen. Würde jedoch einem Schüler etwas passieren, dann würde das vieles verändern und es wäre nur eine Frage der Zeit, dass er seine Pläne aufgeben und fliehen müsste. Ich persönlich glaube ja, deshalb ist Harry Potter immer noch hier. Dumbledore hat Angst, Black könnte für ein oder zwei Jahre untertauchen und dann zuschlagen, wenn Ferien sind und alle ihn vergessen haben. Wenn Black bis jetzt warten konnte, dann kann er es auch noch länger und je länger er Zeit hat, desto mehr erfährt und lernt er. Er kann sich Hilfsmittel besorgen, einen Zauberstab, wenn er den nicht schon hat, alte Kameraden sammeln oder mit seinem Wissen erpressen. Die Zeit arbeitet gegen Harry würde ich meinen, was mir sehr Leid für ihn tut. Woher kennen Sie überhaupt Black?"
Der Redeschwall des Jungen war unglaublich beeindruckend und wirkte nicht nur auf Toireasa hypnotisierend.
„Wie kommst du darauf, ich würde Black kennen?", fragte Professor Lupin nach drei, vier Sekunden.
„Sie sagten eben Sirius, nicht Sirius Black oder nur Black, wie alle anderen."
„Ich könnte mich versprochen haben."
„Haben Sie nicht. Sie haben einen vertrauten Namen ausgesprochen. Wenn Professor Snape mit seiner ganz persönlichen Dosis Hass Black sagt, dann weiß ich auch, dass er ihn kennt."
Langsam holte Toireasa die Gedanken des Jungen ein. Eine andere Idee sprang langsam durch ihren Kopf. Etwas, das Tarsuinn nicht sehen konnte.
„Professor?", entfuhr es ihr fast ungewollt. „Sie sind etwa so alt wie Professor Snape, oder? Wie alt ist eigentlich Sirius Black?"
„Mein Alter", flüsterte Professor Lupin ein klein wenig überrannt wirkend. „Wir sollten so etwas nicht in einem Gang besprechen."
„Es war Ihre Idee", murmelte Tarsuinn amüsiert.
Professor Lupin drehte sich um und ging in die Richtung seines Büros. Durch Toireasas Kopf schoss der unangenehme Gedanke, dass sie damit in eine Falle gingen, aber dann verwarf sie diesen abstrusen Gedanken als paranoid.
„Tja – so ganz vertraulich wird unser Gespräch wohl doch nicht werden", sagte Tarsuinn kurz bevor sie Lupins Bürotür erreichten und als sie um die letzte Ecke bogen, sah Toireasa auch, was er gemeint hatte. Mitten im Gang stand – mit in den Ärmeln seines Umhanges verschränkten Armen – ihr Hauslehrer und starrte ihnen düster entgegen. Ein paar Druckstellen auf seiner Wange zeigten recht deutlich, dass er noch vor kurzer Zeit geschlafen haben musste. Jetzt konnte Toireasa mit Fug und Recht behaupten, dass auch sie Filch hasste.
„Oh – guten Abend, Professor Snape", grüßte Professor Lupin freundlich. „Noch auf?"
„Es war mir unmöglich ruhig zu schlafen, Lupin", erwiderte Snape mit leiser und gefährlicher Stimme. Seine dunklen Augen fixierten Toireasa für einen Augenblick.
„Das trifft sich gut", sagte der Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. „Dann können Sie Miss Keary nachher hinuntergeleiten."
Lupin ging an Snape vorbei, schloss die Tür auf und schob die Kinder hinein.
„Möchten Sie mit hereinkommen, Professor?", fragte er dabei höflich.
„Es wird sich wohl nicht vermeiden lassen", zischte Snape. „Gehen Sie vor, Lupin."
Ein wenig zitterte Toireasa die Hand. Sie hielt ihren Besen krampfhaft fest und mit der anderen Hand tastete sie, bis sich diese um Tarsuinns Finger legten. Im Gegensatz zu dem Jungen schien sie die feindselige Stimmung der beiden Erwachsenen zu spüren.
„Setzt euch", bat Professor Lupin relativ freundlich. „Professor Snape, der Sessel dort drüben ist sicherlich sehr bequem."
„Ich stehe lieber", erwiderte der zuletzt Angesprochene und baute sich drohend über Toireasa und Tarsuinn auf.
Professor Lupin nahm ihnen gegenüber Platz und schaute sie an.
„Habt ihr irgendetwas zu eurer Verteidigung vorzubringen?", fragte er ernst.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den gesenkten Kopf zu schütteln. Jetzt, mit Professor Snape im Rücken, konnte sie einfach nicht mehr offen sprechen.
Die Reaktion Tarsuinns war da schon ein wenig anders, wenn auch nicht so wie erwartet. Er schnüffelte, sprang dann von seinem Stuhl wieder auf und ließ seinen Besen fallen, der knapp Snapes Füße verfehlte. Ohne zu fragen nahm er sich einen massiv wirkenden Becher vom Schreibtisch und roch direkt daran.
Was sich danach in seinem Gesicht abspielte, war ein Regenbogen der Gefühle. Zuerst war da geschockte Überraschung, dann ein wenig Angst, gefolgt von einer Dosis Verlegenheit. Doch zum Schluss gewann etwas anderes, das langsam in ihm aufzusteigen schien. Ein Lächeln, ein Kichern und zum Schluss lachte der Junge ausgiebig. Obwohl das wohl die falsche Beschreibung war. Er lachte nicht nur. Nein! Er krümmte sich vor Lachen, Tränen liefen über seine Wangen und er musste recht häufig schniefen.
Das hatte Toireasa noch nie gesehen. Mit großen Augen schaute sie zuerst Professor Lupin an, der sich in seinem Stuhl hatte zurücksinken lassen. Seine Augen zuckten von Tarsuinn kurz hoch zu Snape. Toireasa folgte seinem Blick und erblickte einen Snape, der wie eine Königskobra Professor Lupin ansah. Ein feines, kaum sichtbares triumphierendes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Das ist der Hammer", keuchte Tarsuinn und wurde vom nächsten Lachanfall geschüttelt. „Keine Angst, Professor. Ich sag's niemandem."
Er hielt sich an der Tischkante fest und versuchte mit der anderen Hand die Tränen wegzuwischen. Wenn er in diesem Augenblick Snapes Gesicht gesehen hätte – da war sich Toireasa absolut sicher – dann hätte er sofort mit Lachen aufgehört.
„Das schreib ich in meine Memoiren, sobald Sie mal sterben, Professor", fuhr Tarsuinn stattdessen fort. „Ich hab auch schon einen Titel für das Kapitel, inspiriert von Professor Gilderoy Lockhart."
Der Junge schleppte sich zu Toireasa zurück auf den Stuhl, nahm den Ärmel ihres Umhangs samt Arm und wischte sich damit die Tränen aus den Augen.
„Entschuldige!", amüsierte er sich dabei noch immer. „Meiner ist nass."
Dann umarmte er sie plötzlich und lachte an ihrer Schulter weiter. Langsam machte sie sich Sorgen, er würde ersticken oder nie wieder damit aufhören.
Ihr Blick huschte um Hilfe bittend zu Professor Lupin und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass der Professor mit der Hand ein Lächeln verbarg, das umso deutlicher in seinen Augen stand. Seinen Blick konnte man fast dankbar und ein wenig liebevoll nennen.
„Beruhige dich wieder, Tarsuinn", sagte Lupin. „Du machst deiner Freundin Angst."
„Oh", er löste sich einige Zentimeter von ihr, aber sein Erschrecken war nicht echt. Er rang noch immer mit seinem Lachen. Sie konnte seine Augen sehen, die fast zu leuchten schienen. Aber das war nur das Kaminfeuer, das sich in seinen Tränen spiegelte. Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, was Tarsuinn jemals so zum Lachen bringen konnte, dass er die Beherrschung verlor. Und vor allem störte sie, dass Snape nicht irgendeinen ätzenden Kommentar von sich gab.
„Ich hoffe, mein Sabber geht wieder von deinem Umhang ab", flüsterte er ihr zu und zwinkerte das Wasser aus seinen Augen, dann drehte er sich zu Professor Lupin um.
„Sagen Sie bitte, wie wir bestraft werden sollen, Professor, damit ich mich ein wenig einbekomme. Aber bitte – verzeihen Sie mir, wenn ich nicht traurig genug aussehe."
Der Professor sah so aus, als hätte er am liebsten die Bestrafung vergessen.
„Ich mach das für…", begann Snape angewidert, doch Lupin unterbrach ihn mit einer einfachen Handbewegung.
„Zuerst einmal verliert ihr beide zwanzig Punkte für euer Haus und Ihr werdet zusätzlich sieben Tage lang nach dem Unterricht für jeweils drei Stunden, alle euch von Mr Filch übertragenen Putzaufgaben ohne jede Magie zu seiner Zufriedenheit erfüllen."
„Fünfzehn Stunden lang?", fragte Toireasa entsetzt.
„Einundzwanzig, um genau zu sein", korrigierte Professor Lupin.
„Aber am Wochenende ist kein Unterricht!", wies Toireasa den Lehrer auf einen Fehler in seiner Aussage hin.
„Na, dann müssen wir etwas dagegen unternehmen. Professor Snape, wären Sie bereit, ein oder zwei Stunden am Samstag zu opfern, damit die beiden Delinquenten ihren gewünschten Unterricht bekommen? Ich würde dann den Sonntag übernehmen!"
„Es wird mir sicher etwas einfallen", meinte Snape säuerlich und für Toireasa fühlte es sich so an, als hätte ihr jemand einen Eiswürfel ans Genick gedrückt.
„Sehr gut", erwiderte Professor Lupin. „Dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Miss Keary bitte dahin bringen, wo sie sicher ist."
„Mitkommen", zischte Snape und Toireasa erhob sich gehorsam. Sie wusste, das würde jetzt der wirklich unangenehme Teil werden.
Leider war mit der Strafarbeit noch lange nicht alles gegessen. Tarsuinn musste eine Strafpredigt von Flitwick ertragen, der auch gleich einen Brief an Rica schickte, und er musste sich das gleiche auch noch mal von Professor McGonagall anhören. Außerdem forderte die Lehrerin auch noch den Besen ein, wobei er sich diesen jedoch in der Zeit zwischen der Schule und dem Abendessen ausleihen durfte.
Für Toireasa gab es zunächst nur einen Brief an die Großeltern, doch während Tarsuinn eine eher amüsierte Antwort Ricas erhielt, bekam sie selbst Großmutter Kearys Zorn zu spüren und eine Erklärung wurde verlangt. Toireasa hatte sich daraufhin Tarsuinns Ausführungen zu Eigen gemacht, die jedoch in dem Antwortbrief dermaßen zerpflückt wurden, dass keine Argumente mehr übrig blieben.
Eine Tatsache, die Toireasa nicht ignorieren konnte und Tarsuinn einfach kalt ließ. Insgesamt nahmen sie die Strafarbeit ziemlich unterschiedlich hin. Während sie mit mieser Laune durch die stinkendsten Ecken putzte – Filch achtete genau darauf, dass sie immer von Tarsuinn getrennt arbeitete – befleißigte sich Tarsuinn einer geradezu unverschämt fröhlichen Stimmung. Sie konnte ihn ab und an pfeifend eine Toilette putzen sehen oder hörte ihn irgendwelche Lieder gegen Unterdrückung und Ausbeutung singen. Ihm konnte irgendwie nichts die Laune verderben. Selbst als Snape sie am dritten Tag der Strafe, dem Samstag, Feuerblätter schneiden ließ. Diese Pflanze hatte die dumme Angewohnheit sogar durch Drachenlederhandschuhe hindurch die Haut zu reizen und es juckte noch Stunden. Natürlich war das Zeug ungefährlich, doch auch irgendwie eine kleine Folter. Am Ende war Toireasa wirklich sauer, bis Tarsuinn ihr augenzwinkernd erklärte, was man doch mit diesen Feuerblättern Regina und Vivian alles antun konnte, ohne groß Aufmerksamkeit zu erregen. Unauffälliger als Juckpulver, billiger und einfacher zu verstecken. In den Kragen eines Umhanges genäht, konnte man tagelang Spaß haben. Sie beschlossen ein wenig Zeit vergehen zu lassen und einen passenden Anlass abzuwarten, bis sie das nutzten, wobei sich Filch da immer weiter in den Vordergrund drängte.
Diesem schien es nämlich überhaupt nicht zuzusagen, dass Tarsuinn einfach nicht kleinzukriegen war und der Hausmeister begann, Professor Lupins Worte sehr genau auszulegen. Während Toireasa nach drei Stunden Schluss machen durfte, war Filch niemals mit Tarsuinns Putzleistung zufrieden und ließ den Jungen bis zu zwei Stunden nacharbeiten.
Winona brachte diese Ungerechtigkeit regelmäßig auf die Palme. Sie hatte sich deshalb schon bei Professor Lupin beschwert, aber dieser hatte ihr nur leise geraten, die Zeit, wie Tarsuinn auch, durchzustehen und Filch nicht die Befriedigung zu geben. Es war trotzdem abzusehen, dass der Hausmeister dafür noch einiges würde büßen müssen, bevor das Schuljahr endete.
Bis sie das aber umsetzen konnte, wollte sie erst einmal abwarten und half Tarsuinn und Toireasa aufopferungsvoll bei den Hausaufgaben.
Es war Mittwoch der letzte Tag der Strafarbeit, und Toireasa hatte es schon hinter sich. Sie saß mit Winona, Merton und Luna in der Großen Halle und versuchte sich an einer theoretischen Erklärung für den Polymorphzauber für Flüssigkeiten. Je näher jedoch das Abendessen rückte, desto häufiger wanderte der eine oder andere Blick zur Eingangstür.
„Filch scheint es ja heute noch mal richtig auskosten zu wollen", murrte Winona feindselig.
„Wenn er Tarsuinn nicht einfach vergessen hat", meinte Merton ernst und nickte Richtung Eingang, wo eben Filch auftauchte und zu ihnen herüber kam.
„Wo ist die kleine, blinde Zecke?", fragte er laut, noch gut zehn Meter entfernt.
„Kommt gerade auf uns zu", murmelte Merton kaum hörbar.
„Wen meinen Sie?", fragte Toireasa, weil sie einfach nicht auf die beleidigende Beschreibung reagieren wollte.
„McNamara natürlich!", fauchte Filch abfällig. „Wo ist er?"
„Keine Ahnung!", zischte Winona zurück. „Er steht doch momentan unter Ihrer Aufsicht!"
„Hat sich abgesetzt, dieser arbeitsscheue Gnom. Ihr wisst doch, wo er ist. Rückt damit raus!"
„Wir sind hier, seit mich gnädigerweise entlassen haben, wie Ihnen William und Aaron da drüben sicher bestätigen können", versuchte es Toireasa ein wenig vernünftiger, denn sie fragte sich besorgt, was Tarsuinn denn bewogen haben könnte, sich in der letzten Strafstunde abzusetzen. „Wo haben Sie ihn denn vermutet?"
„Er sollte das Klo im dritten Stock des Westflügels putzen und hat nach der Hälfte aufgehört."
„Ich werde ihn suchen", sagte Toireasa und erhob sich. Sie packte ihre Schulsachen ein.
„Ach, damit du ihn warnen kannst? Hah!", ereiferte sich Filch.
„Es ist untypisch für Tarsuinn", sagte Luna ohne Filch anzusehen und packte auch.
Merton und Winona sahen sich einander kurz an und dann waren auch für sie die Hausaufgaben vergessen.
„Soll ich die anderen fragen, ob sie helfen?", erkundigte sich Merton und deutete kurz auf ein paar ältere Ravenclaws, die ein paar Meter weiter weg ein kleines Zauberschachturnier abhielten.
Toireasa schüttelte entschieden den Kopf und schaute Winona für einen Moment in die Augen, die zustimmend nickte.
„Ich weiß, wer ihn innerhalb von Sekunden finden kann", sagte sie entschieden. „Merton, du und Luna, könntet ihr schon mal Madame Pomfrey aufsuchen, nur für…na ihr wisst schon."
Dann stürmte sie mit Winona zusammen an Filch vorbei.
„Heh!", rief Filch ihnen nach. „In den Gängen wird nicht gerannt!"
Toireasa ignorierte das, während Winona sich hinter der nächsten Ecke zu einer obszönen Geste hinreißen ließ.
Ohne dass eine Absprache nötig war, rannten sie gemeinsam zum nächstgelegenen Bild eines verflossenen Direktors.
„Schnell!", keuchte Winona von dem kurzen Sprint. „Wo ist Professor Dumbledore gerade?"
„Bitte!", ergänzte Toireasa schnell.
Die großäugige, alte und verhutzelte Hexe auf dem Bild starrte sie einen Moment frustriert an. Sie bewegte zwar die Lippen, aber kein Laut kam heraus. Toireasas schaute auf das Schild im Bilderrahmen.
Ulula, die Stumme 1667-1699, stand da in leicht abgeblätterten Goldlettern.
Schnell zog Toireasa Winona zum nächsten Bild, bevor diese sich zu einer überzogenen Reaktion hinreißen ließ.
„Sagen Sie uns bitte, wo Professor Dumbledore ist", bat Toireasa ein recht junges Zaubererabbild. „Es ist verf…es ist wichtig."
„Verflucht wichtig", stellte Winona klar.
Der Zauberer im Bild, der ja schon die Szene mit der stummen Hexe mitbekommen hatte, meinte nur kurz: Moment, dann verschwand er aus dem Bild. Keine zwei Sekunden später war er wieder da.
„Der amtierende Direktor befindet sich gerade auf dem Weg von seinem Büro zur Großen Halle. Ich vermute…"
Winona rannte schon los.
„Danke!", rief Toireasa schnell und sprintete hinterher. Was das Bild dazu sagte, hörte sie nicht mehr.
Sie fingen den Professor auf der Treppe ab, der sofort stirnrunzelnd stehen blieb, als er die beiden Mädchen näher stürzen sah.
„Professor, Professor", rief Toireasa schon von weitem. Eine seltsame Hast hatte sie, und anscheinend auch Winona, ergriffen.
„Wo ist Tarsuinn?", brachte Winona heraus.
Dumbledore fragte nicht warum. Er hob seine Hand, schloss sie zu einer Faust, öffnete diese und Sekunden später erschien mit einem kleinen Funkenregen eine schwarze Kugel in seiner Hand. Sie sah aus wie eine größere Ausgabe der Steine, die Toireasa, Winona und Tarsuinn um den Hals trugen.
Unendlich scheinende Sekunden schaute der Professor den Stein an, dann glaubte Toireasa, ihn bleich werden zu sehen. Sie mochte sich irren, denn der Bart verbarg fast sein gesamtes Gesicht, aber die Nase war ihr eben nicht so hell erschienen.
„Kommt!", sagte Dumbledore kurz angebunden und ging zügigen Schrittes voraus. Sie mussten laufen, um mit dem groß gewachsenen Mann mithalten zu können.
Sie durchquerten in Windeseile das halbe Schloss.
„Wir sind unter dem Marie-Ann-Turm", flüsterte Toireasa leise Winona zu.
„Und gleich bei dem Raum, in dem er nicht sein wollte…", entgegnete das Mädchen und deutete auf Dumbledore, der jetzt vor einer bekannten Tür anhielt und diese auch noch öffnete.
Es rumpelte dumpf im Gemäuer, ein feiner Nebel von Deckenputz rieselte zu Boden. Sie rannten in den Raum, in dem Winona ihre Großeltern getroffen hatte. Hier hatte sich nicht viel verändert, außer dass noch mehr Dreck und kleine Steinchen von der Decke fielen.
„Bleibt hier!", befahl Professor Dumbledore und ging auf die hintere Tür im Raum zu. Erst jetzt fiel Toireasa auf, dass deren Klinke weiß glühte. Als der Direktor kurz davor war die Tür zu öffnen, knallte es laut gegen diese und der große Mann überlegte es sich anders.
Er hielt seinen Zauberstab mittig und flach an die Mauer und machte dann große wischende Bewegungen. Der Stein wurde an den Stellen durchsichtig, über die der Zauberstab geglitten war. So, als wäre ein Fenster geputzt worden, das zufällig wie ein Stein ausgesehen hatte.
Entgegen dem Befehl des Direktors traten Winona und Toireasa im Gleichschritt hinzu und starrten durch den Stein hindurch ins Chaos.
Inmitten eines zehn mal zehn Meter großen Raumes stand Tarsuinn, mit dem Rücken zu ihnen. Ein Wirbelsturm aus Bildern, Staub und diversen Kleinteilen tobte um ihn herum. Toireasa hatte so etwas schon mal gesehen, doch hier war die Zerstörung heftiger und doch deutlich gezielter. In der Hand sah sie seinen Zauberstab.
Als würde er ihren Blick spüren, drehte Tarsuinn sich langsam herum. Seine blicklosen Augen waren total schwarz, umgeben von einem silbrig leuchtenden Glanz. Und genau wie seine Augenfarbe waren die Tränenspuren auf seinen Wangen schwarz und silbern. Sein Gesicht war eine absolut kalte Maske.
Langsam hob er den Zauberstab und für einen Moment glaubte Toireasa, er würde auf sie zielen, doch sie irrte.
„Schuldig!", peitschte seine Stimme durch den Stein und eines der Bilder zerstob zu Staub. Die Kraft seiner Magie war so stark, dass auch ein großes Stück der Steinmauer hinter dem ehemaligen Bild herausgefetzt wurde. Die Brocken schlossen sich sofort dem Wirbelsturm an und beeinträchtigten die Sicht noch mehr. Tarsuinn wandte sich wieder von ihnen ab und deutete auf eine Wand hinter dem Nebel. Ein Flammenstrahl schoss aus seinem Zauberstab, durchdrang den Wirbelsturm und im Schein des Feuers konnte Toireasa einen kurzen Moment lang sehen, was sich an der Wand dahinter befand. Ein Einhornkopf verbrannte zu Asche und wurde Teil des Sturms.
„Ruhe in Frieden", hörte sie den Jungen sagen.
„Das ist die wahre Macht des Wilden Talentes, wenn die Kraft nicht gezügelt wird", sagte Dumbledore leise.
„Er tötet sich selbst", rief Winona panisch und deutete auf den Jungen.
Für einen Moment war Toireasa verwirrt, denn Tarsuinns Macht schien sich nicht gegen ihn selbst zu richten, doch als das nächste: Schuldig, ertönte und das nächste Bild starb, sah sie es auch – die Haut seiner Hand war aufgeplatzt. Blut ran unter den Fingernägeln hervor.
„Er verbrennt innerlich", sagte Dumbledore.
„Tun Sie etwas!", schrie Toireasa und sah entsetzt, wie der nächste Einhornkopf verbrannte. „Halten Sie ihn davon ab!"
„Wenn ich hineingehe, wird er gegen mich einsetzen, was immer er kann, und dann wird er ausbrennen. Weder ich – noch ihr – können ihm helfen", erwiderte Dumbledore. „Nur eine Person vielleicht. Fawkes, ich brauche deine Hilfe."
Eine plötzliche Stichflamme direkt über ihnen ließ sie zusammenzucken und ein roter Vogel mit langem, goldenem Schwanz erschien. Toireasa brauchte keine Sekunde, um das Tier als einen Phönix zu identifizieren.
„Hol bitte Rica McNamara her", bat Dumbledore und schon war der Vogel wieder in einer Flamme verschwunden.
Auf der anderen Seite der Wand zerlegte Tarsuinn weiterhin methodisch Bild für Bild und Einhornkopf um Einhornkopf. Inzwischen hatte er den Zauberstab in die linke Hand gewechselt. Sein rechter Arm hing nutzlos an der Seite.
„Wir müssen Tarsuinn doch irgendwie helfen können?", bettelte Toireasa und fühlte sich so ohnmächtig. Sie hatte aber gleichzeitig auch solche Angst vor dem Jungen dort, dass es ihr fast das Herz zerbrach. Die Tränen, die sich schon lange angekündigt hatten, strömten jetzt aus ihren Augen.
„Das ist nicht mehr Tarsuinn", sagte Professor Dumbledore sanft und zog sie an sich heran. Sie drückte ihr Gesicht in die Seite des Mannes, damit sie nicht mehr zuschauen musste. „Das da ist des Narren Wahnsinn und sein Erbe. Unheilvoll vereint."
Bei jedem lauten Krachen zuckte Toireasa zusammen, bis es schlagartig aufhörte.
Vorsichtig schaute sie hin und wünschte sich, es gelassen zu haben.
Kein Bild umschwebte mehr Tarsuinn. Nur noch die Überreste seiner Zerstörungswut. Er starrte genau auf Toireasa – oder auf Dumbledore, Winona oder einfach nur die Wand.
„Wer seid ihr eigentlich?", fragte er. Sein Zauberstab war verschwunden, seine Arme hingen schlapp herab. Sein Gesicht war vollständig von Schwarz, Silber und Rot überzogen.
„Was gibt euch das Recht uns zu jagen!", wurde er lauter und zum ersten Mal zeigte sich ein Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Uns zu töten!", schrie er.
„Uns als Trophäen an die Wand zu hängen!", brüllte er und direkt vor Toireasas Gesicht splitterte Stein. Zum Glück für sie auf der anderen Seite der Wand und der Zauber brach auch nicht durch. Ohne Zauberstab schien Tarsuinns Magie deutlich schwächer, doch dafür beschränkten sich die Verletzungen, die er sich damit selbst antat, nicht mehr nur auf seine Arme.
„Vielleicht sollte ich euch mal jagen!", donnerte Tarsuinn nun mit magisch verstärkter Stimme und wieder knallte ein Zauber so heftig gegen dieselbe Stelle wie vorhin, dass Dumbledore sich genötigt sah, die Wand mit einem Zauber zu stärken. Er zog Toireasa hinter sich.
Einen Moment lang geschah nichts.
„Wie könnt ihr das nur tun?", sagte Tarsuinns Stimme leise und jetzt hörte man zum ersten Mal Trauer und Schmerzen. Sie lugte hinter Dumbledore hervor und sah den Jungen am Boden knien. Er weinte zum Gotterbarmen. Nichtsdestotrotz war der Wirbelsturm immer noch aktiv. Flüssigkeiten aller drei Farben tropften unter seinem Gesicht zu Boden und bildeten eine gemeinsame Lache, in der sich nur das Silber und das Rot miteinander vermischten.
Wieder erhellte eine Flamme den halbdunklen Raum, diesmal hinter ihnen, und Fawkes war wieder da. Zusammen mit Rica, die ein wenig verwirrt zu sein schien. In der ausgestreckten Hand hielt sie eine einzige Phönixfeder.
„So…", sagte Rica anscheinend mehr zu sich selbst und öffnete die Augen „…und welche Katastrophe…"
Sie sah zu Dumbledore, erblickte das im Stein geschaffene Fenster, ihr Blick wanderte zur Tür und ihr Gesicht bekam einen mörderischen Ausdruck, der in nichts dem von Tarsuinn nachstand.
„Öffnen Sie die Tür!", sagte sie mit kühler Stimme.
„Ich weiß nicht, ob ich dich beschützen kann", erklärte Dumbledore in mitfühlendem Ton. „Es…"
„Öffnen Sie die Tür", unterbrach ihn Rica etwas lauter. „Und halten Sie sich heraus! Verstanden! Wie Sie sich auch vorher hätten heraushalten sollen."
Ohne ein weiteres Wort ging sie auf die Tür zu, die auf einen Wink Dumbledores aufging.
„Nicht, Rica!", riefen Toireasa und Winona gleichzeitig und wollten zu der Freundin, doch Dumbledore hielt sie fest.
„Ist schon okay", sagte Rica und klang wenigstens ein wenig sanfter. „Ich hab das so ähnlich schon einmal erlebt. Schließen Sie die Tür hinter mir, Professor."
Es hatte etwas Unwirkliches, wie Rica in den Raum ging. Sie wirkte jetzt ruhig, geradezu entspannt und ging ohne zu zögern in den Raum mit dem Wirbelsturm. Obwohl Toireasa fürchtete, was sie sehen würde, konnte sie nichts anderes machen, als durch die Steine zu schauen. Dumbledore verschloss mit einem Wink die Tür hinter Rica. Er wirkte alles andere als glücklich und tiefe Sorgenfalten zogen sich über seine Stirn.
„Tarsuinn-chan", sagte Rica drin mit sanfter Stimme. Alle weiteren Worte verstand Toireasa nicht, denn sie sprach entweder japanisch oder chinesisch. Sie trat mitten in den Wirbelsturm und Toireasa biss sich vor Aufregung, Angst und Hilflosigkeit in die Faust. Ricas Barett wurde weggerissen und auch der Schal, mit dem sie ihre Narben verdeckte, aber ihr selbst schien nichts zu passieren. Rica erreichte Tarsuinn, kniete sich neben ihn und zog ihn langsam und sanft an sich. Zunächst wehrte sich der Junge schwach, doch dann klammerte er sich verzweifelt an seine Schwester und der Wirbelsturm verebbte.
„Sie wollen, dass ich sie räche, Rica", sagte Tarsuinn mit zittriger Stimme.
„Beruhige dich", sagte sie und streichelte ihn unablässig. „Konzentriere dich, beherrsche die Gefühle und höre nicht auf die Stimmen."
„Nein!", schrie Tarsuinn plötzlich, wand sich in Ricas Armen und ein Kronleuchter – der paradoxerweise völlig unbeschadet war – explodierte über ihm. Scherben regneten auf die beiden herunter und Rica beugte sich über den Jungen, um ihn vor den scharfen Splittern zu schützen.
„Bring mich fort von hier", bat Tarsuinn leise und fast erstickt. „Die Erinnerungen…Zu den…töte…bitte…keine Kontrolle."
Seine Worte waren zu leise um sie alle zu verstehen.
Rica streichelte ihn unablässig weiter.
„Professor? Können Sie mich hören?", fragte Rica mit gleichmäßiger Stimme.
„Ja", antwortete dieser leise.
„Können Sie mir und Tarsuinn so schnell wie möglich Winterkleidung und ein Zelt besorgen?"
„Natürlich."
„Und suchen Sie Tikki!"
„Das werden wir. Winona, geh rauf in euren Turm und hole Tarsuinns warme Sachen. Toireasa, versuche Tikki zu finden."
„Und wenn Sie alles haben,…", ergänzte Rica, „…dann sorgen Sie bitte dafür, dass uns niemand in die Quere kommt, wenn wir gehen."
Toireasa war schon halb aus dem Raum gelaufen. Sie rannte durch die Gänge, rief nach Tikki und ignorierte die Tränen, die über ihre Wangen liefen. Rica würde Tarsuinn wegbringen und so wie sie geklungen hatte, vielleicht für immer. Sogar er hatte es sich gewünscht. Toireasa schämte sich dafür, Angst vor ihm gehabt zu haben, panische Angst sogar. Das war alles nicht fair und sie konnte sich nicht erklären, warum Tarsuinn gerade diesen Raum betreten hatte. Er war es doch gewesen, der sie gewarnt hatte. Wie konnte er seine eigene Warnung so ignorieren?
Und trotzdem war alles ihre Schuld. Sie blieb stehen und lehnte sich schluchzend gegen eine Wand. Wie konnte sie jemals wieder Rica unter die Augen treten? Toireasa war es doch gewesen, die Tarsuinns Schwester endgültig überzeugt hatte, ihn wieder nach Hogwarts zu lassen. Da spielte es keine Rolle, dass es nicht Ricas ursprüngliche Befürchtungen gewesen waren, die Tarsuinn erwischt hatten – oder vielleicht war es doch so.
Ein kaltes, feuchtes Irgendwas drückte sich gegen ihre schlaff herabhängende Hand und ein leises, mitfühlendes Jaulen ertönte. Sie schaute hinunter und erwartete von der Größe her Hagrids Hund zu sehen. Ein Hund war es auch, aber nicht Fang.
Dass er seine Nase in ihre Hand drücken konnte, lag nur daran, dass er den Kopf sehr tief hielt. Toireasa konnte kaum über seine Schultern sehen. Der Hund war groß, sein Fell schwarz, zerzaust und völlig verfilzt. Dazu kamen extrem hervorstehende Rippen. Das musste ein Streuner sein, der auf der Suche nach etwas zu fressen durch die tagsüber offenen Tore gekommen war.
„Ich hab nichts für dich, was gut für dich wäre", sagte sie schniefend und zeigte in einer hilflosen Geste einen Schokoriegel, der ihre Eiserne Reserve darstellte, falls sie zwischen den Mahlzeiten Hunger bekam. Der Hund schnüffelte daran und dann begann er bettelnd mit der Nase daran zu stoßen. Sie konnte nicht anders als nachgeben. Ein wenig machte sie sich Sorgen um ihre Finger, als sie den Schokoriegel dem Hund hinhielt. Doch dieser zog den Riegel fast übertrieben vorsichtig mit den Zähnen aus ihren Fingern.
„Du bist aber ein extrem lieber Hund für einen Streuner", sagte sie und tätschelte seinen Kopf. „Mehr hab ich leider nicht. Und ich muss weiter."
Sie wollte wieder loslaufen, doch der Hund hielt sie an ihrem Schulumhang fest.
„Ich hab nichts!", sagte sie ungehalten. „Ich muss Tikki suchen!"
Der Hund ließ sie los, lief ein paar Schritte, blieb stehen, schaute sie an und gab einen leisen Laut von sich. Dann kam er zurück, biss wieder in ihren Umhang und zog für einen Moment. Dann lief er erneut ein paar Schritte und schaute wieder zurück. Toireasa verstand und weil sie noch immer kein Zeichen von Tikki hatte, lief sie einfach hinterher. Sie musste nicht weit folgen. Der Hund erreichte eine Tür, öffnete diese mit der Schnauze und in dem Raum dahinter – der sich als Besenkammer herausstellte – tippte er mit der Pfote auf eine abgeschlossene Kiste. Es war klar, was der Streuner wollte, aber Toireasa bezweifelte, dass da etwas zu essen drin war.
„Zurück", befahl Toireasa und zog ihren Zauberstab.
„Alohomora!", zauberte sie mit geübter Zunge und Hand.
Die Kiste sprang auf und Toireasa schaute neugierig hinein.
„Tikki!", entfuhr es ihr zunächst erleichtert, aber da sich das kleine Wesen nicht regte, ergriff sofort kalte Angst Besitz von ihr. Sie hob Tikki aus der Kiste und suchte verzweifelt nach Lebenszeichen und erst als sie sah, wie das Atmen den Brustkorb bewegte, wurde sie etwas ruhiger. Sie barg Tikki in ihrem Arm und öffnete den Mund, um dem Hund zu danken. Doch sie war allein. Keine Spur von einem über einen Meter hohen, zotteligen Wesen.
Für einen Augenblick wunderte sie sich darüber, verdrängte jedoch den Gedanken wieder und lief zurück. Dumbledore würde Tikki sicher helfen können.
Diese Annahme stellte sich als richtig heraus. Mit einem einfachen Enervate wurde Tikki aus ihrer Starre erlöst.
„Wo hast du sie so gefunden?", fragte Professor Dumbledore Toireasa leise, während Tikki sofort zu Tarsuinn und Rica lief.
„In einer Besenkammer in einer abgeschlossenen Kiste."
„Das gibt der Sache eine ganz andere Wendung", murmelte der Professor.
Von dieser Seite hatte es Toireasa in ihrer Aufregung noch gar nicht betrachtet. In ihrer Vorstellung war es unmöglich, dass Tarsuinn Tikki geschockt haben könnte, aber es war absolut vorstellbar, dass die kleine Freundin ihn vor dem Ausflippen hätte bewahren können.
„Das war Absicht", wurde ihr klar.
Sie schaute zu Tarsuinn, der immer noch in Ricas Armen lag. Seine Hände waren inzwischen verbunden und versuchten mechanisch Tikki zu streicheln.
Neben ihnen stand inzwischen ein riesiger Rucksack.
„Was passiert jetzt?", fragte Toireasa den Direktor.
„Ich kann sie nicht zwingen, ihn ins St. Mungos zu bringen", erläuterte der Professor. „Und ich bezweifle ehrlich, dass diese Umgebung gut für Tarsuinn wäre. Er hat allen Grund das Hospital zu fürchten."
„Aber wohin will Rica ihn bringen?", fragte Toireasa verzweifelt.
Dumbledore beantwortete die Frage nicht. Sie schaute zu ihm hinauf und glaubte eine gewisse Hilflosigkeit in den Augen des Professors zu sehen, was Toireasas Selbstverständnis schwer erschütterte. Albus Dumbledore – der Zauberer des Jahrhunderts – wusste nicht, wie er helfen konnte, und hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde.
Winona kam angelaufen und in ihrem Schlepptau folgten in seltener Eintracht Professor Lupin und Professor Snape.
Das Ravenclaw-Mädchen setzte Tarsuinns Muggelrucksack ab, den es gebracht hatte.
„Professor Snape und Professor Lupin, bitte sorgen Sie dafür, dass niemand sich zwischen hier und dem Weg nach draußen aufhält. Das schließt Sie und die anderen Erwachsenen ein", sagte der Direktor.
Ohne nachzufragen verzogen sich die beiden Lehrer wieder. Toireasa fand es erstaunlich, dass sie und Winona bleiben durften.
Dumbledore ließ Tarsuinns Rucksack schweben, bugsierte ihn durch die Tür, welche kurz aufschwang, und dann zu Rica und dem Rucksack, der da schon stand. Dieser öffnete sich wie von Geisterhand und der Muggelrucksack schwebte hinein, obwohl der eigentlich viel größer war.
„Wir müssen gehen", hörte Toireasa Rica sagen, was nur zur Folge hatte, dass Tarsuinn sich noch fester hielt.
„Du wolltest doch gehen", sagte Rica sanft.
„Ich kann nicht. Ich werde jemandem wehtun. Ich will jemanden töten."
„Dann muss ich dich halt tragen", erklärte Rica und schulterte im Sitzen den Rucksack. Dann zog sie Tarsuinns Beine um ihre Hüften, legte seine Arme um ihren Hals – Tikki kletterte derweil auf ihre Schulter – und stand mit leichtem Schwanken und den Jungen tragend auf.
„Ich kann sie fühlen", murmelte Tarsuinn und klang plötzlich wieder mörderisch eiskalt. „Sie sind böse Menschen!"
„Ganz ruhig, Tarsuinn. Konzentriere dich auf meine Stimme und auf deine Erinnerungsscheibe."
Während Rica langsam zur Tür ging, holte Tarsuinn die kleine Scheibe hervor und presste diese gegen seine Stirn.
„Wir sollten gehen", sagte Professor Dumbledore und schob Toireasa und Winona vor sich her. Hinter ihnen hörten sie Rica singen.
Hier steht in meiner Privatversion der Liedtext unten genannten Songs.
Da aber gerade Abmahnungen herum gehen…
(1600,-Euro für die Abmahnung und 50.000,- Streitwert)
…verzichte ich lieber darauf, es so online zu stellen.
Der Liedtext ist aber durchaus empfehlenswert, weil er fast perfekt passt.
(Musik und Text – Dob Russkin „The Fox")
Rica sang den ganzen Weg nach draußen und ihre wunderschöne Stimme lockte einige Schüler an, die gerade vom Essen kamen. Snape, Lupin, und wenig später auch die anderen Lehrer, hatten alle Hände voll zu tun, die neugierige Schar woandershin zu verweisen. Snape war dabei eindeutig der erfolgreichste von allen.
Toireasa und Winona schauten aus dem Fenster zu, wie Rica Tarsuinn direkt zum Verbotenen Wald trug, ihn dort absetzte und sie dann Hand in Hand – der Junge übernahm sofort die Führung – hineingingen. Ihnen weit voraus ging Professor Dumbledore und Toireasa vermutete, dass er die Dementoren vertrieb, damit sie Rica und Tarsuinn nicht zu nahe kamen.
Wieder musste Toireasa weinen. Sie hatten sich nicht einmal verabschieden können. Winona neben ihr vergoss keine Träne. Das Mädchen starrte nur feindselig und ihre Zähne knirschten unablässig.
