- Kapitel 24 -

Ungesunder Frieden

„Reiß dich zusammen", fuhr Winona Toireasa an, sobald die beiden Gestalten nicht mehr zu sehen waren. „Wir müssen herausfinden, was passiert ist."

„Irgendwer hat Tikki geschockt", versuchte Toireasa der Aufforderung nachzukommen. Ihre Stimme zitterte verheult.

Winona fackelte nicht lange, ergriff Toireasas Hand und zog sie einfach mit zurück zu dem Raum, in dem Tarsuinn ausgeflippt war.

„Hier!", meinte Winona und hielt ihr ein Taschentuch vor die Nase. „Du siehst furchtbar aus."

Toireasa benutzte das Tuch ausgiebig und gab es danach aus hygienischen Gründen lieber nicht zurück.

Sie waren allein in dem Raum, den Tarsuinn zerlegt hatte, und konnten sich nun das erste Mal in Ruhe umsehen.

Die eine Wand, an der Toireasa die Einhornköpfe gesehen hatte, war leer und rußgeschwärzt, aber die anderen drei Wände waren, wenn man von einigen kleinen Kratern absah, noch halbwegs intakt. Zwischen weißen, viereckigen Flächen, die sehr an die Form von Bildern erinnerten, hingen überall im Raum die Köpfe von getöteten Tieren. Sie erkannte zwei Höllenhunde, einen schlesischen Jungdrachen, drei Chimären, einen Eisadler und einige Kreaturen, die Toireasa noch nie in irgendwelchen Büchern gesehen hatte.

„Was zum Teufel ist das hier überhaupt?", fragte sie angewidert.

„Dies ist der Raum für den Lehrer, der in den alten Zeiten das Fach Gefährliche Kreaturen leitete", erklärte Professor Dumbledore, der plötzlich irgendwie da war. „Der Zusatz – und wie man sie tötet – wäre dabei durchaus passend gewesen."

„Aber Einhörner sind doch nicht gefährlich", sagte Winona mit einem Seitenblick auf Toireasa. „Solange man sie nicht reizt."

„Das mag sein", gab der Professor traurig zu und ging ein paar knirschende Schritte über die Zerstörung hinweg. „Aber viele der Lehrer für dieses Fach waren Trophäenjäger. Besonders der letzte, der hierfür verantwortlich war."

Der Professor deutete auf die rußgeschwärzte Wand.

„Er wurde dafür aus der Schule verbannt."

„Aber seine Bilder anscheinend nicht", meinte Winona.

„Jetzt wohl schon", erklärte der Direktor und ein feines Lächeln umspielte einen Moment lang seine Lippen. „Man hatte alle Bilder dieses Mannes, die im Schloss hingen, in diesen Raum hier verbannt und eingeschlossen."

Schritte kamen näher und Toireasa drehte sich diesen zu.

„Ich war bisher der Überzeugung, Professor,…", sagte Snape von der Tür her und stutzte beim Anblick der Mädchen kurz, „…dass dieser Raum nur mit dem passenden Schlüssel zu öffnen wäre und dieser sich in der Verwahrung des Lehrers für Verteidigung gegen die Dunklen Künste befindet?"

„Was leider nicht mehr der Fall ist", erklang Professor Lupins Stimme von etwas weiter weg und seine Schritte kamen näher. „Ich habe eben nachgesehen. Anscheinend ist jemand eingebrochen."

„Was für ein Zufall", kommentierte Snape ätzend. „Ein weiterer!"

„Gab es irgendwelche verräterischen Spuren?", überging Professor Dumbledore den Kommentar.

„Keine", erwiderte Lupin. „Es hing sogar ein Imitat da, das zerfiel, als ich es berührte."

„Praktisch!", murmelte Snape und auch wenn Toireasa sich dagegen sträubte, sie ertappte sich, wie sie ihm Recht gab. Sie betrachtete Lupin misstrauisch und musste an die Nacht vor einer Woche denken.

„Warum gibt – ähem – gab es diesen Raum überhaupt noch?", fragte Winona und ihre Vorwürfe richteten sich eindeutig gegen Dumbledore. Es war klar, was das Mädchen eigentlich sagen wollte.

Warum zum Teufel haben Sie diesen Raum nicht selbst in ein Trümmerfeld verwandelt?

„Ein Direktor ist nicht der uneingeschränkte Herrscher über die Schule, Winona", erklärte Dumbledore nachsichtig. „Das Schloss hat seinen eigenen Willen, wie ihr sicher durch Tarsuinn erfahren habt. Etwas hier zu zerstören oder auch nur zu entfernen ist, als würde man das Schloss selbst verletzen. Da spielt es keine Rolle, was man zerstört."

„Ein Geschwür entfernt man auch!"

„Es ist ein Teil der Geschichte, Winona", fuhr Dumbledore geduldig fort. „Wärst du dieselbe Person, wenn man alles Schlechte aus deinem Leben entfernen würde?"

Man konnte nicht sehen, ob Winona ernsthaft über diese Frage nachdachte. Sie zog nur ein widerspenstiges Gesicht. Toireasas Blick war inzwischen Snape gefolgt, der mit hängendem Kopf und Schultern die Trümmer mit den Füßen durchstöberte. Der Lehrer bückte sich, hob etwas auf und hielt es gegen das Licht. Einen Glassplitter, an dem ein hellblauer Tropfen schimmerte. Er schnupperte mit seiner großen Nase daran.

„Direktor?", fragte er und hielt Dumbledore den Splitter hin.

Die Augen des Direktors verengten sich.

„Ist es das, was ich vermute?", fragte er leise.

Snape nickte und schaute kurz warnend auf die Mädchen.

„Ich hab eine Flüssigkeit dieser Farbe in Tarsuinns Zimmer gesehen!", sagte Winona laut. „In einer großen Flasche."

Es war offensichtlich, dass alle drei Erwachsenen diese Information erst mal verarbeiten mussten. Während Professor Lupin aber ähnlich ahnungslos wie Toireasa schien, waren Snapes und Dumbledores Überlegungen sehr unterschiedlich.

„Der Trunk hat keine Nebenwirkungen dieser Art…", begann Snape.

„Direktor!", unterbrach die Stimme Filchs vom Gang her. „Sind Sie hier drin?"

„Ja, Argus. Was ist?"

„Ich glaub, das sollten Sie sich anhören, Direktor", antwortete der Hausmeister unterwürfig und ein wenig ängstlich. Er kam näher und war nicht allein. An der Schulter führte Filch einen sehr eingeschüchterten Erstklässler aus Hufflepuff.

„Los, sag was du mir gesagt hast!", forderte Filch und schob den Jungen in den Raum, der nicht sonderlich dazu geeignet war, diesem mehr Selbstvertrauen einzuflößen. Er sah sich ziemlich unsicher um.

„Hab keine Angst, Jason", sagte Professor Dumbledore. „Dieser Raum brauchte schon länger jemanden, der hier gründlich sauber macht."

„Ich…ich…ich weiß, Sir", stammelte der Junge. „Ich hab auf Anweisung…"

Ein extrem unsicherer Blick wanderte zum Hausmeister.

„…ich glaubte auf Anweisung von Mr Filch zu handeln, als ich den Ravenclaw-Jungen hierher zum Putzen brachte."

Professor Dumbledore machte in Filchs Richtung eine abwehrende Geste, weil dieser gerade etwas sagen wollte.

„Du hattest den Schlüssel?", fragte der Professor nach.

„Ja", antwortete der Junge, holte einen stählernen, halbverrosteten Schlüssel hervor und gab ihn dem Direktor. „Ich wollte ihn Mr Filch wiedergeben, als er…"

Der Junge verstummte und zog den Kopf zwischen die Schultern.

„Mr Filch gab ihn dir?"

„Ich dachte…na ja…am Anfang schon…"

Wieder ein unsicherer Blick zu Filch.

„…aber jetzt nicht mehr…"

„Warum?", fragte der Direktor.

Der Hufflepuff-Junge schien zu unsicher, um laut zu antworten, und so beugte sich Dumbledore zu dem Jungen hinunter.

Als sich der Professor wieder erhob, umspielte der Hauch eines Lächelns seine Lippen.

„Du darfst gehen, Jason", sagte er freundlich. „Du hast nichts Falsches getan."

Der Junge schien es kaum glauben zu können, einfach so entlassen zu sein. Langsam ging er nach draußen, doch kaum dass er außer Sicht war, hörte man ihn losrennen.

„Ihr solltet jetzt auch in eure Gemeinschaftsräume gehen", sagte Dumbledore zu Toireasa und Winona.

„Ich will vorher wissen, was passiert ist", stellte sich Winona stur.

„Sobald wir eine Antwort haben, werde ich es euch sagen", versprach der Direktor.

„War es vielleicht Black?", fragte Winona, ohne mit der Wimper zu zucken, weiter. „Oder hat Filch einfach Mist gebaut?"

Das in Gegenwart des Hausmeisters zu sagen, war ziemlich unverschämt, selbst für Winonas Verhältnisse, und trotzdem war auch diese Frage durchaus berechtigt.

„Mr Filch hätte sich niemals den Schlüssel beschaffen können", nahm Dumbledore den Hausmeister in Schutz. „Und jetzt geht. Schreibt euren Familien, bevor sie es anderweitig erfahren, und erzählt den anderen Schülern bitte nur, dass Tarsuinn krank geworden ist und deshalb eine spezielle Behandlung braucht, die er hier in Hogwarts nicht erhalten kann."

Toireasa sah, dass Winona sich damit nicht zufrieden geben wollte, und ging deshalb zu dem Mädchen hin und zog es aus dem Raum. Jetzt würden sie nichts erreichen. Noch bevor sie aus der Tür war, hörte sie jedoch Snape noch etwas sagen.

„Ich glaube, jemand hat versucht McNamara aus dem Weg zu schaffen, weil er zu viel wusste."

Die Antwort des Direktors bekam Toireasa nicht mehr mit, denn die Tür schloss sich von selbst hinter ihnen.

„Pah!", fauchte Winona. „Die werden uns sicher nicht alles erzählen. Die denken doch, wir verkraften das nicht oder aber es wäre zu gefährlich."

„Das kannst du jetzt noch nicht sagen", widersprach Toireasa. „Professor Dumbledore war immer sehr offen zu uns. Warum sollte er es diesmal nicht sein?"

„Weil er nie alles sagt. Er erzählt ein Stück und dann wartet er auf Fragen. Sachen, die wir nicht fragen, erzählt er nicht. Was wiederum bedeutet, er erzählt uns einfach nicht alles."

„Dann müssen wir einfach besser fragen."

„Nein! Ich werde jetzt nach oben gehen und mich selbst in Tarsuinns Zimmer umsehen", erklärte Winona trotzig.

„Das kannst du nicht tun. Das sind Tarsuinns Sachen, da kannst du nicht drin herumstöbern!"

„Wenn es mithilft zu verstehen und einen Ansatz bietet, ihm zu helfen, dann mache ich das. Irgendwer hat ihm wehgetan und irgendwie glaube ich nicht, dass es erst heute begonnen hat. Erst diese Anhörung und dann das hier – wenn das ein Zufall ist, dann beginne ich für den Quibbler zu schreiben."

„Dazu fehlt dir die nötige Phantasie", meinte Toireasa und schaffte ein halbherziges Lächeln. „Trotzdem kommt es mir falsch vor, in Tarsuinns Sachen zu stöbern."

„Die Erwachsenen werden es auch machen", argumentierte Winona. „Ich denke, Tarsuinn hat weniger Probleme damit, wenn wir das machen. Es gibt Sachen, die Dumbledore nichts angehen."

„Das ist nicht dein Ernst, oder?"

„Doch! Mag sein, dass uns vieles nichts angeht, was die Erwachsenen hier veranstalten, aber – alles was Tarsuinn betrifft ist unsere Baustelle. Wir haben ihn in Schwierigkeiten gebracht und er hat das mit uns gemacht. Wir haben ihn beschützt und er hat uns beschützt. Anscheinend sind wir wieder mal dran."

„Hast du Ricas Blick gesehen?", fragte Toireasa. „Sie war wütend und entschlossen. Ich fürchte, wir sehen beide nie wieder."

Wieder stiegen Tränen in ihr auf, doch diesmal drängte sie diese entschlossen zurück.

„Ich weigere mich, das zu akzeptieren!", sagte Winona. „Und deshalb werden wir herausfinden, wer das war und seinen Arsch nach Askaban treten."

„Als ob wir das könnten", murmelte Toireasa. „Weißt du noch, wie locker uns die Hexe letzten Sommer weggeputzt hat?"

„Das hab ich nicht", entgegnete Winona aggressiv. „Und so hab ich das auch nicht gemeint. Wir finden raus, wer es war, und dann lassen wir Dumbledore den nach Askaban treten – oder vielleicht sagst du es Snape."

„Und warum sollte er das tun?"

„Weil er voller Frust ist, der irgendwann mal raus will und das besser bei jemandem, der es verdient, als bei uns."

„Du machst mir ein wenig Angst", gestand Toireasa. Winona schien es durchaus ernst mit ihren Plänen zu meinen.

„Sagen wir es so, im Moment entdecke ich durchaus positive Strömungen in der Slytherin-Philosophie. Also sei stolz auf dich und die Welt – ich bin auf dem Kriegspfad."

Und auch dies war eine durchaus ernst gemeinte Ankündigung Winonas. Jede freie Minute widmete sich das Mädchen irgendwelchen Nachforschungen und Toireasa begleitete sie vorsichtshalber so oft sie konnte.

Winona hatte zum Beispiel noch einmal selbst den kleinen Jason ausgequetscht und wenn Toireasa nicht da gewesen wäre, um den guten Auror zu spielen, hätte der Erstklässler aus Hufflepuff sicher geweint, so gemein war das Ravenclaw-Mädchen.

Im Grunde war in dieser Zeit Toireasas Aufgabe weniger Information zu suchen, als hinter einem Vorschlaghammer namens Winona aufzuräumen. Das Mädchen stieß im Moment jeden vor den Kopf, egal ob Freund, Mitschüler oder sogar Lehrer. Toireasa versuchte im Kielwasser ein wenig Schönwetter zu machen. Dazu zählte auch, dass sie die ganzen Lügen und Ausreden erfinden musste, um Tarsuinns Verschwinden zu erklären. Es war nicht einfach, die korrekte Mischung aus Wahrheit und Auslassung zu finden. Am Ende blieb übrig, dass Tarsuinn krank wäre und deshalb Hogwarts verlassen musste. Natürlich erzeugte dies einige Spekulationen, aber sie tat so, als wüsste sie auch nicht mehr. Leider aber hatte der Hufflepuff-Junge einiges herumerzählt und so gab es auch ein paar Gerüchte, es hätte einen Kampf gegeben. Glücklicherweise schoben die meisten der älteren Schüler alles auf die durchgegangene Phantasie eines kleinen Jungen, der auch mal was über Sirius Black erzählen wollte. Dass der Junge niemals Blacks Namen in den Mund genommen hatte, schien niemanden zu interessieren.

Dafür hatten Toireasa und Winona erfahren, weshalb der Junge nicht mehr glaubte, dass Filch ihm den Auftrag gegeben hatte, Tarsuinn in den Raum des Verderbens zu schicken: Der Hausmeister war einfach zu nett dabei gewesen.

Aber ansonsten hatten sie nicht viel herausgefunden. Niemand hatte Tarsuinn an dem Nachmittag groß gesehen, niemandem war ein doppelter Filch aufgefallen. Auch die Geister hatten nichts mitbekommen. Aber zumindest hatte Winona eine ziemliche Sammlung an Tränken in seinem Zimmer gefunden. Leider alle unbeschriftet und einige anscheinend so gefährlich, dass Professor Flitwick sie aus dem Zimmer entfernte. Was der kleine Lehrer jedoch nicht wusste – Winona hatte Proben gezogen und die wollten sie gerade analysieren.

„Warum geben wir das nicht jemandem mit Ahnung?", fragte Toireasa zweifelnd. Sie hatten sich in dem Klassenzimmer versteckt, dessen Tür zu dem von Tarsuinn zerstörten Raum führte.

„Und wem?"

„Keine Ahnung, Penelope vielleicht? Oder jemandem von unserer Familie? Aber sicher nicht wir zwei blutige Anfänger."

„Wir wollen doch nur rausbekommen, was das für ein Zeug ist", erwiderte Winona. „Das kann doch nicht so schwer sein!"

„Bei Tarsuinn würde es mich nicht wundern, wenn uns was um die Ohren fliegt, wenn Luft dran kommt."

„Ganz bestimmt nicht. Schließlich hab ich Proben entnommen und keine geschlossenen Flaschen geklaut. Ich würd hier nicht stehen, wenn was Explosives oder Giftiges dabei wäre."

„Dann sollten wir wenigstens erst nach der Farbe und Konsistenz schauen, bevor wir dran riechen oder es gar anfassen, okay?", bat Toireasa zweifelnd. „Ich meine…"

Der Tisch, auf dem sie alle Trankproben und die Zaubertrankbücher abgelegt hatten, erhob sich plötzlich um einen halben Meter in die Luft.

Überrascht starrte Toireasa auf den kleinen, bösartig grinsenden Mann, der mühelos den Tisch trug.

„Erinnert ihr euch noch an Halloween?", fragte Peeves und pfefferte den Tisch, mit allem was darauf war, gegen die Ausgangstür und versperrte diese damit. Toireasa sprang gerade noch so aus der Flugrichtung.

„Nein!", schrie Winona entsetzt auf, als alle Probengläser zerbrachen.

„Was? Nein?", lachte Peeves hämisch. „Aber das ist doch ein toller Spaß."

Der Poltergeist holte irgendwoher einige große Ballons und warf diese nach den Mädchen. Sekunden später waren Toireasa und Winona mit einer schwarzen, klebrigen und übel riechenden Masse bedeckt.

„So – und jetzt noch die Federn!", erklärte Peeves voller Schadenfreude und holte auch noch ein Federkissen aus seiner Tasche.

„Vergiss es", fluchte Winona und spuckte. Das Mädchen hob mit dem Zauberstab und einem Levitationszauber einen Tisch an und nutzte diesen wie eine Keule. Peeves wich kichernd und locker aus, nur um von der Tafel, die Toireasa benutzte, durch die Wand geschlagen zu werden.

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass Peeves auch ein wenig körperlich ist, wenn er mit Gegenständen…"

„DAS WAR NICHT NETT!", schrie Peeves hallend und kam hinter ihnen durch die Wand geschossen. Der Poltergeist zog über ihnen weite Kreise und ließ Federn durch den gesamten Raum regnen, die überall an ihnen haften blieben, wo sie mit dem schwarzen Zeug beklebt waren. Es gelang ihnen nicht, Peeves noch einmal mit den Tischen zu erwischen, doch lange blieb der böse Geist sowieso nicht mehr.

„Merkt euch das, Blagen!", rief Peeves von oben herab. „Jetzt, da dieser kleine Verrückte nicht mehr euer Schutz ist, werde ich euch so oft besuchen, wie ich nur kann."

Sekunden später standen Winona und Toireasa in einem ziemlich chaotisch zugerichteten Raum.

„Hab ich schon erwähnt, dass wir ihn nie wieder aus dem Zeug hätten befreien sollen?", schnaubte Winona.

„Als ob die Graue Lady uns eine Wahl gelassen hätte", murmelte Toireasa auch ziemlich genervt. „Im Grunde hab ich mich schon gewundert, dass wir so lange ungeschoren davon gekommen sind."

„Ich schwöre dir, noch einmal so eine Aktion und ich werde Exorzistin", versprach Winona. „Und dann tret ich seinen Astralhintern in die Moore der Vergessenen."

„Ich werde dich nicht aufhalten!", kommentierte Toireasa und musste verstimmt feststellen, dass das klebrige Zeug auf ihrer Kleidung und Haut einfach nicht mit einem Zauberspruch zu entfernen war.

„Eventuell helfe ich dir sogar dabei", fügte sie hinzu und rümpfte die Nase, denn das Zeug roch wirklich nicht wie Blumen. Eher als hätte ein Hund ins Rosenbeet...

„Wir sollten sehen, dass wir uns gewaschen bekommen", meinte Winona. „Wer weiß, ob es noch rausgeht, wenn es einmal getrocknet ist."

Sie wandten sich beide zur Tür und schoben den Tisch davor beiseite. Sorgsam achteten sie darauf, nicht in die Überreste der sich vermischenden Proben zu treten. Wer wusste schon, was dies für furchtbare Auswirkungen haben konnte.

„Vorher noch ein wenig aufräumen?", fragte Toireasa und blickte in den Raum zurück.

„Warum?", fragte Winona unschuldig. „War doch alles Peeves, nicht wahr?"

„Da hast du natürlich vollkommen Recht", grinste Toireasa für einen Moment und ohne Gewissensbisse. „Lass uns gehen."

„Dieser blöde Peeves hat unsere gesamte Nachforschung unmöglich gemacht", fluchte Winona noch immer.

Nach nicht einmal drei Ecken mussten sie jedoch stehen bleiben. Es blitzte kurz und überraschend vor ihren Augen.

„Sagt Cheese!", rief triumphierend eine Stimme und als der hellblaue Fleck vor Toireasa langsam verschwand, erkannte sie Riolet mit einer Zauberkamera.

Neben ihr standen Vivian und Kodachi, die beide fies grinsten und die Nase rümpften. Von Regina oder Aidan war weit und breit nichts zu sehen.

„Ihr müsst euch unheimlich wohl in eurer natürlichen Umgebung fühlen", lachte Vivian. „So sauber wie ein Schwein nach nem Schlammbad."

„Passt nur auf, dass nicht ein Stinktier euch für seine potentiellen Gefährtinnen hält", fügte Riolet hinzu.

„Oder ein Wiedehopf!", ergänzte Kodachi.

Toireasa war viel zu verdutzt und sauer, um eine passende Antwort zu finden. Winona hingegen schien eine parat zu haben, doch die würde wohl einige blutende Nasen und viele Punkte Abzug zur Folge haben. Zumindest war es falsch, wenn Winona die Auseinandersetzung begann.

Um eine Eskalation in die richtigen Bahnen zu lenken, drängte sich Toireasa dazwischen und wischte ihre Hand demonstrativ an Riolets Umhang ab, die fast augenblicklich zurücksprang.

„Du Ferke..."

„Vorsicht, Riolet!", drohte Toireasa lächelnd mit dem Finger. „Keine bösen Flüche über deine Familie."

„Ich mach dich zur Schnecke", schnappte das Mädchen, griff in ihren Umhang und zog ihren Zauberstab halb hervor.

„Das bezweifle ich ernsthaft", erklärte Winona kalt und trat nun wieder hinter Toireasa hervor, den Zauberstab schon längst in der Hand. Toireasa war stolz auf ihren Schachzug und dass Winona sofort begriffen hatte.

„Zaubern auf den Gängen ist verboten", sagte Vivian und schien sich nicht im Geringsten unwohl zu fühlen. „Wir haben einen tollen Schnappschuss. Ein Punktverlust für Ravenclaw wäre nur ein Sahnehäubchen."

„Dann könnt ihr ja aus dem Weg gehen", meinte Toireasa und richtete ihren Blick fest auf Vivian. „Und sag Regina eines – im Gegensatz zu ihr, kratzt uns ein solches Foto nicht die Bohne."

Sie ging an den Slytherin-Mädchen vorbei und zog Winona mit sich mit.

„Sprich nur für dich selbst", maulte Winona, aber erst nachdem sie außer Hörweite waren. „Ich bin sauer und wenn ich ein einziges Foto davon sehe, ist es Asche und der es ansieht auch."

„Ich finde es eher erstaunlich, dass die sich das getraut haben", flüsterte Toireasa nachdenklich. „Sie müssen Peeves das Zeug gegeben haben. Eine seltsame Zusammenarbeit. Normalerweise macht der Penner so was doch nicht."

„Vielleicht haben wir ihn ein wenig zu sehr an Halloween gequält", gestand Winona leise und überraschend ein. „Was mich aber viel mehr beschäftigt..."

Das Mädchen verstummte einige Sekunden.

„Was glaubst du? Könnten Peeves und diese Schlangenbrut schon länger zusammenarbeiten? Ich meine, sie sind beide recht sauer auf Tarsuinn, oder? Fast mehr als auf uns."

„Das würden sie nicht machen", glaubte Toireasa. „Selbst für die ist das zu gemein und gefährlich obendrein. Außerdem fehlen ihnen die Fähigkeiten dazu.

„Bist du dir da sicher?", fragte Winona ernst.

Toireasa dachte an Aidan und wie er Tarsuinn für den Schuldigen an Toireasas Wandlung hielt. Wenn sie daran dachte, wie er diesen einen Fluch gegen sie geschickt hatte und welche Zauberkraft er seit diesem Jahr an den Tag legte...

„Es wäre trotzdem außerhalb ihrer Möglichkeiten. Einen Vielsafttrank bekommt man nicht einfach mal so in der dritten Klasse hin.

„Es gibt auch ältere Slytherins!", entgegnete Winona und legte nachdenklich den Kopf schräg. „Warum sagst du eigentlich dritte Klasse statt zweite? Denkst du, dein Bruder könnte...?"

Toireasa biss sich auf die Lippen. Wenn er dazu in der Lage wäre, würde er vielleicht, das wurde ihr schmerzhaft bewusst und wenn Regina ihn dazu drängte, war es noch wahrscheinlicher.

„Lass uns erst mal duschen, dann reden wir darüber", brach Toireasa ihre Gedanken ab. „Das ist mir im Moment zu extrem!"

„Wie du meinst", gab Winona sofort nach und sie trennten sich.

Toireasa ging in ihren Gemeinschaftsraum. Da sie wusste, was kommen musste, bereitete sie sich ruhig vor, betrat den Raum und ignorierte sämtliche Sticheleien, die auf sie einprasselten. Sie registrierte sehr deutlich, wer sie in Ruhe ließ und wer nicht. Es war ein echt mieses Kräfteverhältnis.

Doch es waren ja nur ein paar kurze Meter und dann hatte sie ihre Ruhe. Ihr einsames Zimmer war inzwischen ein liebgewordener Rückzugsraum für sie.

Sie ging in Waschraum und machte gar nicht erst viel Federlesens. Sie zog sich aus und warf die schmutzigen Sachen auf den Boden der Dusche. Konnte sicher nicht schaden, die nass zu halten.

Danach genoss sie eine ausgiebige Dusche und war froh, dass die Kernseife die man so häufig nach dem Kräuterkundeunterricht brauchte, auch bei diesem widerlichen Zeug half. Sogar der Geruch wurde restlos beseitigt. Nur der Wasserabfluss rülpste ein wenig vorwurfsvoll, als er versuchte, mit einer Mischung aus etwas Teerähnlichen und Federn klarzukommen. Die eine oder andere Hautschicht fiel dabei gar nicht mehr ins Gewicht. Anschließend reinigte sie sogar ihre Kleidung mit der Seife, obwohl die Hauselfen das sicher viel besser konnten.

Toireasa öffnete die Duschtür und warf diese sofort wieder mit einem leisen Schrei zu.

„Was zum Teufel machst du hier?", schimpfte sie.

„Oh, Patsy nicht wollen kleine Lady erschrecken. Patsy wollen nur fragen, ob kleine Lady weiß, wo kleiner Meister ist. Kleiner Meister ist nicht in seinem Zimmer gewesen, die letzten drei Nächte.

Ein wenig ruhiger schob Toireasa ihren Kopf wieder durch die Tür und schaute auf die kleine Gestalt in ihrem Waschraum. Winona und Tarsuinn hatten Toireasa nebenbei mal von der Elfe erzählt.

„Gibst du mir bitte mein Handtuch", bat sie freundlich.

Mit zitternder Hand überreichte Patsy ihr das große Badehandtuch. Sie trocknete sich schnell ab und wickelte sich dann in den Stoff ein. So in ihrer Würde halbwegs geschützt, traute Toireasa sich aus der Dusche.

„Komm", forderte sie die Hauselfe auf und sie gingen in den Schlafraum.

„Setz dich!"

Die Elfe blieb stehen.

„Bitte, kleine Lady. Niemandem sagen, dass Patsy am helllichten Tage zu jemandem geht. Aber Patsy muss wissen, wo ihr kleiner Meister ist. Patsy ist nicht nutzlos."

„Nein, das bist du nicht!", versicherte Toireasa. „Tarsuinn war immer voll des Lobes über dich."

„Wirklich!", die Augen der Elfe füllten sich mit Freudentränen und die Ohren strebten ein wenig in die Höhe. „Kleiner Meister immer so freundlich und gut zu Patsy. Aber wo ist er?"

„Das wissen wir nicht genau", sagte Toireasa vorsichtig und log dann jedoch. „Aber er ist in Sicherheit und bei seiner Schwester."

„Aber wo ist er?", drängte Patsy schon wieder verzweifelt. „Das Schuljahr ist noch nicht vorbei. Er darf gar nicht weg und fast alle seine Sachen sind noch da. Er ist auch nicht im Krankenflügel, wo er sonst immer ist, wenn er mal woanders ist."

„Du wirst ihn nicht im Schloss finden...", setzte Toireasa zu einer Erklärung an.

„Bei dem großen, dicken Mann draußen am Waldrand ist er auch nicht", unterbrach Patsy.

„Die Richtung stimmt aber", murmelte das Mädchen zur Antwort.

Es sprach für die Intelligenz der Elfe, dass sie sofort den richtigen Schluss zog.

„Er ist wieder in den Wald gegangen? Oh, nein! Das gar nicht gut ist. Böse Feen, böse Geister, böse Zentauren, böse Spinnen, böse Mädchen, böse Hexen – alles im Wald ist böse. Patsy muss zu ihm. Muss ihn beschützen, muss..."

Toireasa griff sich die Elfe.

„Er ist in Sicherheit", versprach sie und versuchte die sich windende Elfe zu beruhigen. „Seine Schwester ist bei ihm und ich vermute, er ist jetzt bei den Einhörnern. Und die sind doch nicht böse, oder?"

Die Elfe erschlaffte sofort in ihrer Hand und schaute sie mit großen Augen an.

„Kleiner Meister wird von den guten Einhörnern beschützt?", fragte sie hoffnungsvoll.

„Ja, sie lieben ihn und werden ihn beschützen, glaub mir", sagte Toireasa und redete sich auch selbst diese Hoffnung ein.

„Oh, Patsy ist so dumm", murmelte die Elfe plötzlich und wieder schossen große Tränen in ihre Augen. „Patsy solche Sachen gar nicht hören will."

Sie steckte die Finger, um genauer zu sein genau acht, in ihre Ohren.

„La, la, la!", sang sie dabei wie eine Irre.

Toireasa zog ihr sanft vier Finger aus dem rechten Ohr.

„Davon geht die Welt nicht unter", versprach sie. „Er kommt wieder. Und ich bin mir sicher, wenn du all seine Sachen ordentlich und sauber hältst, dann wird er sich sehr freuen, wenn er zurückkommt."

„Patsy muss zu ihm. Kleiner Meister ist blind und ohne Patsy völlig hilflos. Patsy achtet sehr auf ihn. Kleinem Meister darf nichts passieren, wo soll Patsy sonst hin?"

Die kleine Elfe tat Toireasa Leid. Sie wirkte so verzweifelt und in ihren Augen lag eine solche Zuneigung, die fast bedingungslos schien.

„Es ist gefährlich für dich, Patsy!", sagte Toireasa. „Im Moment erkennt Tarsuinn seine Freunde nicht mehr und es besteht die Gefahr, dass er dir aus Versehen weh tut."

„Kleiner Meister würde nie Patsy wehtun."

„Er würde", versicherte Toireasa und dann wurde ihr etwas klar. „Es ist für ihn, als wäre er in seinem Alptraum gefangen und du weißt doch, was dann immer passiert."

Mit weit aufgerissenen Augen schaute Patsy sie an.

„Dann ist Schwester von kleinem Meister in großer Gefahr", sagte die kleine Hauselfe besorgt.

„Ihr tut er niemals etwas", entgegnete Toireasa überzeugt. „Er kennt sie von klein auf."

Diesmal schaute die Elfe nur zweifelnd.

„Lässt kleine Lady jetzt Patsy los?", fragte das kleine Wesen dann. „Patsy weiß genau, was jetzt zu tun ist."

„Du wirst doch nicht irgendetwas Unüberlegtes tun oder in den Wald gehen?", vergewisserte sich Toireasa, während sie losließ.

„Nein, das wird Patsy nicht machen. Patsy ist zu ungeschickt, um eine Hilfe sein zu können. Aber Patsy wird Heim von kleinem Meister ganz sauber halten und auf seine Rückkehr warten. Kleiner Meister wird nicht merken, dass er weg war, und bösen Traum sofort vergessen. Aber Patsy wird wieder nutzlos sein."

Traurig schlurfte die Elfe zur Wand.

„Warte!", rief Toireasa. „Möchtest du meine Sachen waschen? Ich weiß, sie sind sehr schmutzig..."

„Patsy macht das gerne!", versicherte die Elfe begeistert und strahlte schon wieder. „Patsy gibt sich auch große Mühe!"

Toireasa holte die klatschnassen Sachen aus der Dusche und wrang diese noch einmal aus.

„Sind leider noch ziemlich nass", entschuldigte sie sich. „Ich dachte, dann geht der Dreck vielleicht einfacher raus."

„Alles gut!", sagte Patsy, nahm ihr die Kleidung aus der Hand – und kippte durch das Gewicht hinten über.

„Oh – schwer", murmelte Patsy offensichtlich überrascht, rappelte sich wieder auf, ging mit den Sachen ein Stück und trat auf einen herunterhängenden Ärmel des Umhanges. Toireasa, die das hatte kommen sehen, fing die Elfe im letzten Moment auf.

„Kann jedem mal passieren", sagte Toireasa, als sie das rot werdende Gesicht der Hauselfe bemerkte, und versuchte krampfhaft nicht zu grinsen. Sie packte den herunterhängenden Ärmel oben auf den Kleidungsstapel. „Jetzt geht es sicher besser."

„Danke, kleine Lady!", sagte Patsy verschüchtert. „Patsy ist so ungeschickt, aber Patsy wird sich viel Mühe mit den Sachen geben."

„Da bin ich mir sicher", entgegnete Toireasa, schrieb in Gedanken ihre Kleidung schon ab und formulierte einen Bettelbrief an ihre Großeltern.

Patsy ging mit den Sachen – der Stapel war so hoch, dass sie nicht kaum darüber hinwegsehen konnte – auf einen Wand zu, stieß, erneut durch Toireasas Hilfe nicht dagegen, und klopfte dreimal mit dem Fuß gegen einen Stein. Der Stein wich zurück und ein elfenhoher und –schmaler Gang kam zum Vorschein.

„Patsy wünscht einen schönen Tag", sagte die Elfe, trat in den schwarzen Gang und nur Sekunden später erklang ein lautes: Au!

Der Stein rückte wieder an seine richtige Stelle und Toireasa realisierte, dass es wohl an der Zeit war, sich endlich in anständige und vor allem warme Bekleidung zu werfen. In den Räumen der Slytherins war es eigentlich immer recht kalt, wenn man nicht gerade am Kamin saß. Sogar im Sommer, obwohl es dann eher eine Wohltat war. Doch bis dahin war es noch eine Weile.

Am Abend und während der nächsten Tage durfte Toireasa mit ansehen, wie Bilder von ihr und Winona unter den Slytherins Verbreitung fanden. Zu ihrer eigenen Überraschung störte es sie wirklich so wenig, wie sie Vivian gegenüber behauptet hatte. Sie wusste, das wäre anders gewesen, wenn sich ihre Gedanken nicht mit anderen Dingen beschäftigt hätten. Winona hatte sich in den Kopf gesetzt, alle Geister im Schloss zu befragen, ob sie nicht etwas gesehen hätten oder ob sich Peeves irgendwie auffällig verhielt. Beides recht unergiebig und frustrierend. Niemand hatte etwas bemerkt. Die Bilder konnten zwar die Geschichte des Hufflepuff-Jungen bestätigen, mehr aber auch nicht. Der einzige bedenkliche Hinweis den sie bekamen war, dass eine Statue Professor Lupin in der Nähe gesehen zu haben glaubte.

Was jedoch noch frustrierender war, auch die Erwachsenen hatten keine Lösung des Rätsels parat. Toireasa war extra zu einem privaten Gespräch bei Filius gewesen und der hatte ihr auch nichts sagen können, außer, sie solle sich in Geduld üben.

Fasziniert betrachtete Toireasa, wie der Tintenfleck auf ihrer Geschichtshausaufgabe immer größer wurde. Sie musste nur die Feder anheben, doch irgendwie konnte sie ihren Blick einfach nicht von den kleinen blauen Adern losreißen, die sich durch die Tinte immer weiter ausbreiteten. Wie bei einem Tumor, der alles Helle auslöschte. Geschah das gerade mit Tarsuinns Seele? Aber er hatte doch so gelöst gewirkt, so voller Tatendrang, seit er mit seinem eigenen Besen fliegen konnte! Hatte dieser sein Gehirn überfordert? War es zu viel gewesen? Hätte sie ihn davon abhalten sollen zu fliegen?

„Es ist nicht gut, ständig so zu grübeln!", sagte Miriam und setzte sich mit William zusammen neben Toireasa. „Die blöden Bilder interessieren in ner Woche keinen mehr."

Toireasa wachte aus ihren Gedanken auf.

„Ähem, ja...klar! Die Bilder!", versuchte sie zu tun, als wären das wirklich ihre Gedanken gewesen. „Besorgt mir mal eines. In zehn Jahren lach ich sicher drüber."

„Aidan zumindest tut es nicht", sagte William ruhig und nickte unauffällig in die Richtung ihres Bruders.

„Ja, der ist wahrscheinlich gar nicht so glücklich darüber", stimmte Toireasa leise zu.

Ihr Bruder hatte sicher ein Motiv Tarsuinn aus dem Weg zu schaffen und jetzt wo es passiert war, hatte er sicher gehofft, vernünftig mit Toireasa reden zu können. Doch die Aktion der Mädchen, und das war ihm sicher klar, hatte nicht gerade zu ihrer Entspannung beigetragen.

„Soll ich mich nachher ein wenig um deine Haare kümmern?", bot Miriam an. Die haben das sicher recht übel genommen. Mit was hast du die denn gewaschen?"

„Kernseife!", zuckte Toireasa die Schultern. Ein wenig neidisch schaute sie auf die inzwischen schon wieder einige Zentimeter langen Haare des anderen Mädchen, die so wunderbar seidig weich schienen und glänzten. Ein Barett brauchte Miriam nicht mehr, um ihre Haare zu verbergen.

„Oh, mein Gott!", rief Miriam ehrlich entsetzt auf.

„Ein Notfall!", lachte William ironisch. „Kümmert euch darum, während ich..."

Er beugte sich erstaunt nach vorn und schaute auf Toireasas Hausaufgabe.

„Tarsuinn ist länger weg? Oder warum machst du die Aufgaben für nächste Woche selbst?", fragte er leise und plötzlich sehr ernst. „Es gibt Gerüchte..."

„Er kommt zurück!", behauptete Toireasa fest. „Er braucht nur einfach mal eine Pause."

„Er ist nicht in St. Mungos", stellte William leise fest. „Ich hab meinen Onkel gefragt."

„Das hat er nicht nötig", log Toireasa. „Das mit der Anhörung hat ihn nur ein wenig mehr mitgenommen als gedacht und er wollte bei seiner Schwester sein."

Es war offensichtlich, dass weder Miriam noch William ihr wirklich glaubten.

„Hauptsache, er erholt sich rechtzeitig zur Prüfung", sagte William betont unbekümmert. „Was sollen wir nur ohne seine Aufzeichnungen machen?"

Toireasa schaute auf ihren großen Tintenfleck. Sie holte Madame Eleasels Tintenkirra heraus und saugte damit die Tinte weg.

„Ich schätze, ab jetzt muss einer von uns immer im Unterricht wach bleiben, so wie wir es im Dezember schon gemacht haben", sagte sie.

„Oh, Mann", stöhnte Miriam theatralisch. „Ich hatte mich schon wieder an die Stunden Extraschlaf gewöhnt. Wir sollten zum Ausgleich mal für Tarsuinn..."

Toireasa erfuhr nicht mehr, was Miriam sagen wollte, denn die Tür des Gemeinschaftsraums hatte sich geöffnet und der fettig glänzende Haarschopf von Professor Snape stand da. Es war umgehend still im Raum, denn der Hauslehrer der Slytherins ließ sich hier eigentlich fast nie blicken. Es sei denn, es war eine ernste Angelegenheit zu klären.

Snapes Blick wanderte durch den Raum und blieb an Toireasa hängen.

„Keary!", sagte er ungnädig. „Kommen Sie mit!"

Sie schluckte schwer. Professor Snape pflegte sie inzwischen größtenteils zu ignorieren. Eine so ernste Aufmerksamkeit war da sehr beunruhigend. Auf der anderen Seite konnte es auch bedeuten, dass Professor Dumbledore endlich mit ihr reden wollte.

Aufgeregt folgte sie dem rasch ausschreitenden Lehrer durch die Kerker. Zu Professor Dumbledore ging der Weg nicht, wie sie enttäuscht feststellte.

„Da hinein!", befahl Snape. „Keine Widerrede."

„Er deutete auf eine schwere, hölzerne Tür, auf der die Reliefs einiger unschöner Werkzeuge abgebildet waren. Karzer stand auf einem Schild darüber.

Toireasa zögerte.

„Die gegenwärtige Verwendung des Raumes hat nichts mehr mit seiner Vergangenheit zu tun", versicherte Snape genervt.

Entgegen ihrer Instinkte kam Toireasa nun doch der Aufforderung nach.

Der Raum hinter der Tür enthielt wirklich nicht die befürchteten Folterinstrumente, sondern wirkte eher wie ein Klubraum. An der Wand über einer kleinen Tafel hatte jemand ein großes Schild in der Form einer Schlange geschnitzt und kunstvoll mit Buchstaben verziert.

Versammlungsraum der Vertrauensschüler und des Schulsprechers des Hauses Slytherin, stand da geschrieben.

„Die lassen es sich hier aber gut gehen", murmelte Toireasa und ließ ihren Blick über einen bequeme Sessel, einigen Flaschen mit Butterbier und einen riesigen Korb mit Süßigkeiten und frischem Obst schweifen.

Warum war sie hier? Und vor allem, warum allein?

Nirgendwo hingen Bilder.

Langsam ging sie durch den Raum. Sie entdeckte mehrere der illegalen Kopierfedern, die besten Schulbücher und auch einige Papiere, die ihr geradezu verboten vorkamen. Gedächtnisprotokolle zu Flitwicks Prüfungen.

Bevorzugte Prüfungstränke Professor Snapes.

McGonagalls fieseste Tricks um Slytherins reinzulegen.

So beeindruckt man Trelawney problemlos.

Das war vielleicht nicht illegal, wie Toireasa bewundernd bemerkte, sondern nur eine Art Wissenssammlung, aber trotzdem gab es den Vertrauensschülern einen unfairen Vorteil. Warum ließ Snape sie das sehen?

Hinter ihr knarrte die Tür. Sie fuhr herum und war fast entsetzt, als zwei ihr bekannte Erwachsene den Raum betraten.

„Guten Abend, Toireasa", begrüßte sie der jüngere der beiden Ankömmlinge freundlich.

Toireasa wollte den Raum verlassen, doch die Tür war verschlossen. Sie wollte den beiden Ministeriumsbeamten nicht allein gegenüberstehen.

„Sie haben kein Recht, mit mir allein zu sprechen", sagte sie und fühlte sich in der Falle.

„Ich werde dich sofort rauslassen, wenn du dies wünschst, aber vorher beantworte mir eine Frage. Hat sich eine Person bei dir gemeldet, die behauptet deine Mutter zu sein?"

„Warum wollen Sie das wissen?", forschte Toireasa neugierig und stellte ihr sinnloses Drücken auf die Türklinke ein.

„Hat jemand behauptet deine Mutter zu sein?", wiederholte der junge Mann ohne Namen seine Frage.

„Und wenn ja...?", gab Toireasa halb zu.

„Dann solltest du uns das sagen. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um ein sehr gefährliches Subjekt, ohne jeden Skrupel."

„Warum sollte jemand vorgeben meine Mutter zu sein?", fragte Toireasa stur weiter. Sie war nicht bereit, einfach so Informationen ohne Gegenleistung preiszugeben. Sie wollte endlich mehr wissen.

„Nun...", der junge Mann wechselte einen kurzen Blick mit dem diesmal stillen älteren, „...über Silvester ist jemand ins Archiv des Ministeriums eingebrochen und hat alte Aufzeichnungen kopiert. Vorzugsweise über ihre Mutter. Handschriftliche Memos, Untersuchungsberichte und Aufzeichnungen zu ihrem tragischen Tod. Aussagen von Personen, die damals im Ministerium arbeiteten. Außerdem wurde auch eine Kopie deiner Schulakte angefertigt. Wir befürchten, dieser Jemand hat ein Interesse an dir, welches wir als gefährlich einstufen würden. Du erinnerst dich doch sicher noch an unsere erste Begegnung im Herbst? Da waren nur Dinge von Privatpersonen gestohlen worden. Es muss etwas geben, das dieses Risiko wert ist!"

Toireasas Gedanken rasten fieberhaft. Möglichkeiten listeten sich vor ihr auf und gleichzeitig versuchte sie, nichts davon auf ihrem Gesicht widerspiegeln zu lassen.

„Ich hab vor einigen Tagen einen Brief bekommen", log sie. „Aber es hat niemand behauptet, er oder sie wäre meine Mutter. Ich wurde nur gefragt, ob ich nicht erfahren will, was meiner Mutter wirklich zugestoßen ist."

Es war nur ein winziger Augenblick, aber sie sah, wie die beiden Männer einen sehr besorgten Blick tauschten.

„Hast du geantwortet?", fragte der junge Mann weiter.

„Noch nicht", behauptete Toireasa. „Ich hielt es für einen bösen Scherz und hab die Eule weggeschickt. Ein Name stand leider nicht drunter."

„Können wir den Brief sehen?"

„Er hat sich einen Tag später aufgelöst."

„Und wie solltest du dann die Antwort geben?"

Vorsicht Toireasa, dachte sie.

„Der Schreiber wollte sich noch einmal melden und ich sollte inzwischen darüber nachdenken."

„Du wirst uns informieren, wenn der nächste Kontaktversuch erfolgt, oder?"

„Was sollte jemand davon haben, mich über den Tod meiner Mutter anzulügen?", stellte Toireasa eine Gegenfrage.

„Es geht nur darum, dein Vertrauen zu gewinnen", erklärte der Mann freundlich. „Genau wie wir, kann jemand anderes aus den kopierten Dokumenten den Schluss ziehen, dass du etwas besitzt, dass Zugang zu einem gefährlichen Ding verschafft. Ein Ding, für das den Menschen töten würden und schon haben."

„Und Sie denken, jemand will mich benutzen, um da heranzukommen?"

„Nicht unbedingt!", sagte der junge Mann flüsternd. „Es gibt auch den Verdacht..."

„Das ist nicht im Sinne des Ministeriums", unterbrach der ältere Mann heftig.

„Ich hab weitreichendere Kompetenzen bekommen!", hielt der jüngere gegen.

„Das geht zu weit. Sie ist noch ein Kind. Kaum in der Lage die Konsequenzen zu begreifen. Ich werde das melden müssen, wenn..."

„Tun Sie das!", stimmte der Jüngere ruhig zu. „Jetzt!"

Der ältere Mann schaute für einen Moment verwirrt, zögerte und stand dann linkisch auf.

„Das hat ein Nachspiel!", schwor er und verließ danach den Raum.

„Wo waren wir stehen geblieben?", fragte der junge Mann freundlich und ungerührt. „Ach ja – ich wollte dir etwas sagen..."

Er machte eine Pause, in der er sie eindringlich ansah.

„Es besteht die Möglichkeit – eine sehr kleine Möglichkeit – dass deine Mutter wirklich noch am Leben ist", sagte der junge Mann und obwohl Toireasa diese Information nicht neu war, blieb ihr der Mund offen stehen. Wenn das ein Erwachsener sagte, klang das viel realer.

„Uns wurden während unserer Untersuchung derart Steine in den Weg gelegt, dass mein Kollege es mit der Angst zu tun bekommt. Als wir vor wenigen Tagen erwähnten, dass diese spezielle geringe Möglichkeit existieren könnte, wurden wir wenige Stunden später angewiesen, diese Spur nicht weiter zu verfolgen. Weißt du, dass es im Ministerium Menschen gibt, die sich darüber freuen, dass die Mission deiner Mutter damals scheiterte?"

„Ich weiß so gut wie nichts über meine Mutter", erklärte Toireasa vorsichtig, musste aber zugeben, die Neugier steigerte sich immer weiter.

„Da bist du nicht allein", versprach der junge Mann. „Niemand kann uns auch nur einen vernünftigen Grund sagen, warum deine Mutter überhaupt ins diplomatische Corps durfte. Versteh das nicht falsch, aber ihre Zensuren passten gar nicht dazu."

„Ich weiß", gestand Toireasa und fügte hinzu. „Das hat mir Professor Flitwick erzählt."

„Dann verstehst du vielleicht auch unsere Skepsis. Sie hatte nichts im Ministerium zu suchen, ging auf eine sehr wichtige Mission, die spektakulär scheiterte und kaum deutet jemand an, sie könnte noch leben, wird es hektisch."

„Aber Sie sind sich nicht sicher...", fragte Toireasa.

„Ich wäre mir nicht sicher, selbst wenn sie vor mir stünde", entgegnete er ernst, griff in die Tasche und reichte Toireasa ein Foto.

Sie erkannte ihre Mutter sofort wieder.

„Das ist das Foto für ihren diplomatischen Pass", erklärte er.

Ihre Mutter schaute auf dem Bild schelmisch nach links, dann prüfend nach rechts und streckte der Kamera frech grinsend die Zunge heraus.

Toireasa musste leise lachen. Nein – das sah wirklich nicht nach eine Diplomatin aus. Höflich reichte sie das Bild zurück, doch der junge Mann schüttelte den Kopf.

„Behalt es. Ich hab mehr davon."

Dann blickte er ihr ernst in die Augen und Toireasas Lächeln der Dankbarkeit schwand.

„Ich weiß,...", begann er „...du hast keinen Grund mir oder irgendjemandem zu trauen, aber bitte sei vorsichtig bei dem was kommt und wenn du Zweifel hast, vertraue ihnen. Egal, ob deine Mutter noch lebt – und das ist äußerst zweifelhaft – oder nicht. Du schwebst in beiden Fällen in Gefahr. Entweder weil dich jemand ausnutzen will oder weil man so an deine Mutter heran will. Mach nichts Gefährliches. Schick mir eine Eule oder geh zu Professor Flitwick, aber um Himmelswillen, mach nichts Unüberlegtes. Das hier ist kein Spaß und glaube niemandem, wenn er sagt, er kommt in meinem Auftrag um dir zu helfen. Mein Kompagnon und ich, wir arbeiten in der internen Ermittlung. Niemand mag uns und niemand unterstützt uns. Verstehst du?"

„Ich hab eine gewisse Vorstellung...", murmelte Toireasa. Sie wusste, wie Außenseiter behandelt wurden. „Aber ich habe keine Vorstellung, wie ich Ihnen eine Eule schicken soll."

„Schick Sie an die Nestbeschmutzer des Ministeriums", er lächelte amüsiert. „Das kommt immer an."

„Das werde ich mir merken", versprach Toireasa.

„Und du versprichst mir nichts Unüberlegtes zu tun? Besonders nicht allein zu irgendwelchen nächtlichen Treffen zu gehen? Denk dran – eine gute Mutter würde alles tun, außer ihr Kind in Gefahr bringen, und nach allem was ich erfahren habe, wäre sie eine gute Mutter gewesen."

„Ich verstehe", murmelte Toireasa.

Er nickte zufrieden.

„Eine Bitte hätte ich aber noch", sagte der junge Mann dann doch noch.

„Ich habe nichts dagegen, wenn du Professor Flitwick oder Professor Dumbledore von diesem Gespräch erzählst, nur bitte erwähne es niemanden vom Ministerium gegenüber und auch nicht deinem Hauslehrer. Es könnte uns beide in Schwierigkeiten bringen."

„Ich dachte, Ihr Begleiter würde selbst alles berichten?", fragte sie erstaunt über diesen Widerspruch.

„Das war nur eine Drohung", wehrte der Mann leicht ab. „Er hat mich noch nie im Stich gelassen und wird es auch diesmal nicht tun. Dafür haben wir gemeinsam zu viel erlebt und verdanken einander eine Menge. Er macht sich mehr Sorgen um mich, als um sich selbst."

„Solche Freunde sind was Besonderes", stimmte Toireasa, von der Realität eingeholt, zu.

„Gut – dann wünsch ich dir noch einen wunderschönen Abend und halte deine Eule immer nah bei dir."

„Ich denk dran", entgegnete sie und sah nachdenklich zu, wie der junge Mann den Raum verließ. Das war völlig anders gelaufen, als der erste Moment sie hatte befürchten lassen.

Jetzt war das Leben noch komplizierter!

Sie ließ sich in einen der Sessel fallen und blies die Anspannung aus ihrem Körper.

„War das denn nun nötig, Welt?", fragte sie. „Noch mehr Unsicherheit und Verwirrung!"

Sie zuckte zusammen und sprang auf. Der Sessel hatte zwei Hände geformt und versucht nach ihr zu greifen. Die Hände verschwanden wieder.

Als sie sich gefangen hatte, setzte sie sich lachend wieder. Die Hände erschienen erneut und begannen sanft ihren Nacken zu massieren. Die Anspannung fiel langsam von ihr ab. Sie griff sich einen Pfirsich und lutschte genüsslich die fast überreife Frucht.

Also diese Vertrauensschüler wussten wirklich zu leben.

Viele Tage später, es wurde langsam Frühling und Toireasa hatte nur Winona von dem vertraulichen Gespräch erzählt – war wieder Quidditch. Doch obwohl Ravenclaw gegen Gryffindor eine spannende Partie zu werden schien, war Toireasa nicht im Stadion. Ein wenig lag das daran, dass Toireasa den ständigen Sticheleien in ihrem Haus einmal entkommen wollte. Seit Tarsuinn weg war, schien sie wieder zum Abschuss freigegeben zu sein. Es war wie bei Peeves. Der Junge hatte einen Sonderschutz bei den Lehrern besessen und das hatte anscheinend auch für Toireasa gegolten, solange sie in seiner Nähe gewesen war. Sie wusste selbst, dass sie mit einer gewissen Passivität den Hänseleien gegenüber diese noch anspornte, aber sie fühlte sich einfach zu schwach, um die Energie für eine Verteidigung aufzubringen. Ihre Träume waren inzwischen nur noch düster und handelten von Trennungen, Verlust und Einsamkeit. So manches Mal erwachte sie weinend. Sie wusste, wen sie vermisste, aber dass es sie so mitnahm, hatte sie nicht erwartet. Im Dezember war alles viel einfacher gewesen.

Auch das Verhalten der Erwachsenen half nicht sonderlich dabei ihre Stimmung zu heben. Sie glaubte einfach nicht, dass die Lehrer nichts über diesen netten Filch und warum Tarsuinn so extrem reagiert hatte herausbekommen konnten. Ständig wurden sie und Winona nur auf später vertröstet.

Doch die Sticheleien waren nicht der wahre Grund, warum Toireasa sich hinter Hagrids Hütte versteckte, statt im Stadion zu sein. Hätte sie gewusst, dass gerade heute ein Feuerblitz in der Schule auftauchen würde – sie hätte alles verschoben. Sie hatte gar nicht gewusst, was Sehnsucht war, bis dieses spezielle Stück Holz aufgetaucht war. Ravenclaw schoss ein Tor und in der Fankurve der Blau-Gelben stob ein brauner Funkenstrahl in den Himmel. Das war Toireasas Zeichen. Alle Lehrer, Hagrid und auch Filch waren im Stadion und damit hatte sie freie Bahn.

Sie schlich in die Hütte des Wildhüters – er schloss praktisch nie ab – und ging sofort zu Seidenschnabel.

„Seidenschnabel, mein Stolzer", schmeichelte sie mit weicher Stimme und verbeugte sich tief vor dem etwas erschöpft wirkenden Tier. Wie in den letzten Wochen meist, schien der Hippogreif kaum die Energie für ein deutliches Nicken aufzubringen.

„Komm, mein Großer", sagte sie und kratzte ihn sanft oberhalb des Schnabels. „Die Freiheit wartet auf dich!"

Seidenschnabel verstand nicht, aber er kannte und vertraute Toireasa. Langsam folgte der Hippogreif ihr durch die Hintertür nach draußen.

„Nein, nicht schon jetzt fliegen", beschwor sie ihn, als er draußen die Flügel ausbreiten wollte. „Noch kann man uns sehen."

Sie zog ihn zum Waldrand und ging sogar ein kleines Stück hinein. Nicht weit, denn sie fürchtete die Dementoren, aber immerhin ein Stück.

„So – und jetzt halt still. Ich nehm dir jetzt den Strick ab."

Sie trat dich an ihn heran und machte sich an dem Knoten zu schaffen.

„Ich an deiner Stelle würde Hagrid das nicht antun", sagte eine Stimme hinter Toireasa. Sie sprang erschrocken halb in die Luft, halb versuchte sie in Deckung zu gehen.

Keine fünf Meter von ihr entfernt, stand eine unbekannte Frau. Nicht sehr groß und ihre Hände waren unter einem weiten Umhang verborgen, aber nichts in ihrer Haltung erschien aggressiv. Nur ihr Gesicht war halb von einer Kapuze verdeckt.

„Mama!", entfuhr es Toireasa erschrocken und doch voller Hoffnung.

„Wer?", fragte die Frau erstaunt und trat ein wenig näher. Jetzt erst konnte Toireasa ihre Gesichtszüge sehen und musste feststellen, es gab keine Ähnlichkeit zwischen ihrer Mutter und dieser Frau. Stattdessen entdeckte sie jedoch einige frisch aussehende, aber langsam heilende Wunden.

„Entschuldigung, ich habe Sie verwechselt", sagte Toireasa und ihre Augen verengten sich plötzlich. „Wer sind Sie eigentlich und was machen Sie hier?"

Sie überlegte, wie sie unauffällig an ihren Zauberstab kommen konnte.

„Ich bin eigentlich nur hier, um dich vor einer Dummheit zu bewahren. Ich vermute mal, du möchtest Seidenschnabel befreien?"

„Und wenn es so wäre? Was geht es Sie an?"

„Einiges. Ich möchte Hagrid nicht in Askaban und Professor Dumbledore auch weiterhin als Schulleiter sehen. Was dich angeht – auch du könntest mit einigen Problemen rechnen. Schulverweis, Zauberverbot, Hausarrest. Die Möglichkeiten sind vielfältig, auch wenn du noch minderjährig bist."

„Dumbledore und Hagrid sind beide beim Spiel, niemand kann das abstreiten!", antwortete Toireasa widerspenstig. „Niemand wird ihnen etwas anhaben können."

„Könnte es sein, dass du im Moment nur widerspenstig bist und nicht an die Konsequenzen denken willst, weil du dich von den Erwachsenen verraten fühlst, Toireasa?"

„Sie kennen meinen Namen?", entfuhr es ihr erschrocken.

„Natürlich", schmunzelte die Frau freundlich. „Mir ist schrecklich langweilig und deshalb beobachte ich dich."

Jetzt begann Toireasa langsam, sich wirklich Sorgen zu machen. Sie kannte diese Frau nicht und im Schloss war jemand gewesen, der als Filch auftreten konnte. Genauso war jede andere Gestalt möglich. Es konnte sogar sein, dass Sirius Black ihr eben gegenüberstand. Aber leider hatte sie kaum eine Handlungsmöglichkeit. Nach Hilfe rufen war sinnlos, Seidenschnabel konnte man nicht wie einen Hund auf jemanden hetzen und ihr Zauberstab konnte sie einfach nicht schnell genug erreichen. Immerhin verbarg die Frau ihre Hände unter dem Umhang, da konnte sie den Zauberstab schon bereithalten.

„Woher sollte das Ministerium wissen, ob Seidenschnabel sich wirklich von allein und das gerade beim Quidditchspiel befreit hat?", fragte die Frau noch immer lächelnd. „Niemand kann das aussagen, mit Ausnahme von dir."

„Es ist doch bloß ein Hippogreif! Was sollten sie dafür schon Hagrid anlasten?", fragte Toireasa trotzig, spürte diesen Trotz aber gleichzeitig schwanken.

„Eine Menge. Wenn man Seidenschnabel zum Tode verurteilt – und das werden sie höchstwahrscheinlich auch machen, wenn er abwesend ist – dann hat Hagrid einem verurteilten, gefährlichen, magischen Geschöpf zur Flucht verholfen. Darauf stehen ein bis zwei Jahre Askaban und jedes Verbrechen, das Seidenschnabel danach begeht, würde Hagrids Strafe verlängern."

Vernunft tat weh, das spürte Toireasa. Vor allem als Seidenschnabel sie fragend und vorsichtig in den Rücken stupste.

„Und Hagrid ist ein viel zu sanfter Riese, er würde das nicht lange überleben", fuhr die Frau gnadenlos fort. „Dumbledore würde sich verpflichtet fühlen, ihn sobald wie möglich da rauszuholen. Nimmt er den politischen Weg, würde er als Gegenleistung seinen Posten aufgeben müssen. Versucht er den direkten, dann würde man ihn dahinter vermuten, auch wenn es keine Spuren zu ihm gibt. Er würde bald abgelöst werden. Das Ergebnis wäre dasselbe."

„Ich glaub nicht, dass es so schlimm kommen würde", sagte Toireasa, aber nicht aus Überzeugung. Sie wollte der Frau einfach nicht Recht geben.

„Ich versichere dir, es wäre nicht das erste Mal. Aber es gibt auch noch einen dritten Grund und ich schätze, diesem bist du zugänglicher."

„Und der wäre?", fragte Toireasa und schaute irritiert zu, wie die Frau sich etwas vorbeugte, dann wie selbstverständlich zu Seidenschnabel trat und ihn liebevoll mit einer stark bandagierten Hand tätschelte.

„Diese Tiere sind doch erstaunlich, oder?", sagte die Frau und schaute Toireasa überhaupt nicht mehr an. „Mit ihnen kann man die Dementoren überfliegen, ohne dass diese überhaupt etwas bemerken. Im Gegensatz zu einem Besenritt ist man quasi unsichtbar für sie."

„Das wusste ich nicht", gestand Toireasa und griff verstohlen zu ihrem Zauberstab.

„Und Hippogreife sind fast furchtlos. Sie landen sogar mitten im Verbotenen Wald, selbst wenn ein verängstigter Junge einen tobenden Wirbelsturm erzeugt. Hast du endlich deinen Zauberstab bereit?"

Die Frau schaute ohne Angst wieder zu Toireasa und lächelte breit, als sie den auf sie gerichteten Stab sah, den eine zitternde Hand gerade langsam senkte.

„Irgendwer muss ihnen ja etwas zu essen bringen", sagte die Frau freundlich. „Der Wald ist nicht gerade für ausgedehnte Jagdtouren geeignet und im Winter gibt es auch keine Beeren oder Pilze."

„Wer sind Sie?", fragte Toireasa und schaute der Frau in die Augen. „Kenne ich Sie?"

„Wie geht es Keyx?", wich sie der Frage aus. „Hält er sich immer noch für den Größten? Vermisst er mich manchmal?"

„Sie sind Tante Glenn?", wurde es Toireasa endlich klar. „Sie sind die Einbrecherin!"

„Welch hartes Wort", sagte die Frau und klang nicht sonderlich verletzt. „Ich bin aber erstaunt, dass Tarsuinn dir das gesagt hat."

„Er hat es mal beiläufig erwähnt."

„So was kann man beiläufig erwähnen?", fragte die Frau, die sich Tante Glenn nannte.

Doch Toireasas Gedanken waren schon woanders.

„Wie geht es Tarsuinn?", wollte sie wissen. „Und Rica? Kommen sie zu uns zurück?"

„Du bist ja schnell überzeugt", amüsierte sich die Frau.

„Wie geht es ihnen!", forderte Toireasa noch mal zu wissen.

„Den Umständen entsprechend", antwortete die Frau endlich und wurde ernst. „Und das wolltest du sicher nicht hören?"

Toireasa schüttelte den Kopf.

„Das hab ich mir gedacht", fuhr Tante Glenn fort. Sie war keine besonders hübsche Frau, eher ein wenig zu schmal, und in ihren Augen lag eine tiefe Trauer. Das, was Toireasa von den Haaren der Frau sah, war dunkelblond und mit vielen weißen Strähnen durchzogen, die für eine Frau von vielleicht dreißig Jahren etwas übertrieben wirkten. Die konnten nicht echt sein!

Aus dem Stadion erklang ein seltsamer Aufschrei. Zuerst wie kurz vor der Panik, dann voll Jubel und Sekunden später mit einer Menge Buhrufe. Hätte Slytherin gespielt, Toireasa hätte darauf gewettet, dass Malfoy den Schnatz gefangen hatte.

„Ich denke, uns bleibt nicht viel Zeit", sagte die Frau, nahm ihren Umhang ab und legte ihn sich anders herum um die Schultern. Sie sah plötzlich aus wie ein Stück Rasen und ein Teil des Schlosses.

„Ein Chamäleonumhang", staunte Toireasa.

„Der Tarnumhang des kleinen Mannes", bestätigte die Frau und das Bild verzerrte sich etwas, während sie sich bewegte. „Nicht perfekt, aber ausreichend. Ich muss jetzt gehen."

„Warten Sie!", rief Toireasa, als sie sah, wie die Frau sich entfernte. „Bitte, wie geht es Tarsuinn wirklich?"

Die Gestalt mit den verzerrten Farben kam noch einmal näher.

„Solange er wach ist, ist er meist ruhig. Leider viel zu ruhig."

Dann lief die Frau davon.

Toireasa wollte ihr hinterher laufen, doch Seidenschnabel bremste sie und so wurde sie sich ihrer Pflicht bewusst.

Hagrid, dachte sie schuldbewusst.

Sie zog einen leicht widerstrebenden Seidenschnabel wieder zurück ins Haus, band ihn an und schloss danach von außen die Tür. Toireasa fühlte sich so mies, als ob sie eben selbst das Henkerbeil geschwungen hätte. Sie hatte entschieden, dass Hagrids Leben ihr wichtiger war, als das von Seidenschnabel.

Sie riss sich zusammen. Noch war Seidenschnabel nicht tot und es gab ja noch Dumbledore. Wenn der Hippogreif gerade so hilfreich war, dann musste der Professor sich einfach verpflichtet fühlen zu helfen oder ihr fiel noch eine bessere Lösung ein.

Versteckt hinter Hagrids Hütte, blickte Toireasa hinüber zum Stadion, aus dem gerade die Spieler und Zuschauer strömten. Allen voran ein Haufen Gryffindors in bester Laune.

Na, dann würde sie ja gleich ein paar deprimierte Ravenclaws zu sehen bekommen. Im Grunde fand Toireasa einen Feuerblitz unfair. Das war Material für die Nationalmannschaft, nicht für eine Schulmeisterschaft. Aber eigentlich – wenn sie selbst einen Feuerblitz ihr Eigen genannt hätte…?

Zwischen dem Schülerstrom, der zurück zum Schloss strebte, erblickte Toireasa eine skurrile Szene. Flint, Malfoy, Crabbe und Goyle tapsten mit hängenden Köpfen vor einer hochroten, und wie ein Rohrspatz schimpfender, McGonagall her zurück zum Schloss. Toireasa konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie die vier Mist gebaut haben sollten. Sie waren heute doch nur Zuschauer gewesen?

Sie würde es ja gleich erfahren, denn Hagrid kam auf seine Hütte zu. Begleitet von Winona, die die unabhängige Zeugin spielen sollte. Theoretisch hätte Toireasa sich jetzt verdrücken sollen, damit ihr plötzliches Auftauchen nicht auffiel. Aber das war ja jetzt egal. Toireasa ging einfach um die Ecke und begrüßte Hagrid.

„Na, wie war das Spiel?", fragte Toireasa.

„Frustrierend", antwortete Winona und schnitt eine fragende Grimasse.

„Ich fand's gut!", brummte Hagrid und lächelte breit. Ein Gryffindorschal hing um seinen Hals.

„Also wirklich, Hagrid. Solltest du als Lehrer nicht neutral sein?", sagte Toireasa ironisch.

„Ähem, ja – meint ihr wirklich?", fragte Hagrid unsicher.

Sie zählte ernst bis drei, dann lachte sie den Wildhüter an.

„Nein, Hagrid! Das war nur Spaß. Ich hab dich nur auf den Arm genommen. Bis auf Professor Dumbledore, der es nicht offiziell zeigen kann, hat doch jeder Lehrer sein Lieblingsteam, oder?"

„Wenn du meinst…", sagte Hagrid.

Er war furchtbar unsicher, seit der Sache mit Malfoy in seiner ersten Unterrichtsstunde. Ständig schien der große Mann sich zu fragen, ob er alles richtig machte, dass ja nichts gefährlich war und wie man sich als Lehrer zu benehmen hatte. Demzufolge hassten fast alle älteren Schüler Hagrids Unterricht und die es nicht taten, langweilten sich. Hagrid war vielleicht langsam, aber er war nicht dumm – er merkte die Ablehnung seines Unterrichts und das verunsicherte ihn noch mehr.

Hagrid öffnete die Tür zu seiner Hütte.

„Wollt ihr einen Tee?", fragte er höflich.

„Klar", sagte Toireasa sofort. Durch die offene Tür begrüßte Seidenschnabel Hagrid freudig.

Hinter dem Rücken des Wildhüters zeigte Winona deutlich an, dass sie die Anwesenheit des Hippogreifs überraschte. Toireasa schüttelte entschieden den Kopf. Nicht jetzt.

„Also hat Gryffindor gewonnen", tat sie unschuldig und versuchte Hagrid in Sicherheit zu wiegen. „War es wenigstens spannend?"

„'türlich", brummte Hagrid.

„Nicht wirklich!", widersprach Winona. „Cho war zwar gut, aber im Endeffekt hat sie nur verteidigen können und auf einen Glücksfang gehofft. Punktemäßig haben wir auch deutlich hinten gelegen. 230:30 haben wir verloren."

Toireasa rechnete kurz im Kopf durch.

„Also muss Gryffindor Slytherin mit großem Vorsprung schlagen. Mit genau…", sie überlegte noch mal kurz, „…210 Punkten. Das wird schwer gegen sieben Nimbus 2001."

„Die schaff'n das!", meinte Hagrid überzeugt und in seinen Worten lag ein wenig bittere Hoffnung. Kein Wunder, wenn man bedachte, wem der Wildhüter seine Probleme zu verdanken hatte.

„Aber das Beste am Spiel war was anderes!", amüsierte sich Winona. „Nicht wahr, Hagrid?"

„Als Lehrer darf ich da keine Freude zeigen", meinte Hagrid, doch unter seinem Bart zeigte sich ein breites, fast stolzes Lächeln.

„Genau! Potter hat Malfoy die richtige Antwort gegeben und McGonagall war so sauer, dass nicht mal Snape sich ihr in den Weg zu stellen traute. Das – war – wunderschön!", begeisterte sich Winona.

„Und was ist genau passiert?", fragte Toireasa, amüsiert über das hellrote Glänzen auf Winonas Wangen. Sie musste die ganze Zeit fast geplatzt sein und jetzt drängten die Worte stakkatohaft nach draußen.

„Du weißt doch noch, dass Potter abgeschmiert ist, als die Dementoren das Quidditch-Stadion gestürmt haben, ja? Gut. Kann man ja auch kaum verdrängen. Zumindest waren heute wieder drei da. Moment, sag nichts, wart's ab! Also, alle sind kurz davor schon wieder in Panik zu verfallen, als Potter oben irgendeinen Zauberspruch mit ner echt coolen Lightshow macht, damit die Dementoren zu Boden wirft und nebenbei den Schnatz fängt. Der Witz ist, am Anfang sah es so aus, als ob er einen der Dementoren sogar geteilt hätte, doch dann haben sich Malfoy und Goyle aus dem Umhang gewickelt."

„So ne Sauerei hab ich in fünfzig Jahren hier nich gesehn", konnte es sich Hagrid jetzt auch nicht mehr verkneifen und schüttelte den Kopf. „Zuschauer, die in ein Spiel eingreifen…"

„In der guten alten Zeit hätte das übel ausgehen können", kommentierte Toireasa und musste trotz ihrer schlechten Stimmung ehrlich lachen. „Ich hab mal gehört, dass da wer als Ochsenfrosch geendet ist. Wäre bei Malfoy eine deutliche Verbesserung des Wesens."

„Warte, es kommt noch besser. McGonagall hat alle vier zu Strafarbeiten verdonnert und…", Winona schaute sie lauernd an, „…fünfzig Punkte von Slytherin abgezogen!"

„Fünfzig?", fiel Toireasa auf die Falle herein.

„Ja!", lachte Winona triumphierend und tanzte einmal um den Tisch. Ravenclaw verliert zwar heute im Quidditch, aber übernimmt die Führung im Hauspokal und wird sie bis ins Ziel halten."

„Nur wenn Gryffindor nicht den Quidditch-Pokal gewinnt", torpedierte Toireasa die Freude des Mädchens.

„Na, danke!", fauchte sie gespielt sauer. „Nicht mal ein paar Sekunden des Siegesrausches gönnst du mir. Hagrid, sag auch mal was!"

„Sie hat Recht."

„Sag mal, auf welcher Seite stehst du eigentlich?", beschwerte sich Winona jetzt bei dem großen Mann und boxte spielerisch in dessen Schulter, was in etwa so aussah, als würde eine Vierjährige den Box-Weltmeister im Schwergewicht schlagen.

Hagrid lachte nur.

„Hagrid", nutzte Toireasa den Moment. „Was weißt du eigentlich von der Frau, der du immer Seidenschnabel borgst?"

„Maria?", entfuhr es Hagrid und einen Moment später weiteten sich erschrocken seine Augen. Sie kam sich ein wenig schmutzig vor, denn sie hatte den Wildhüter auf genau dieselbe Weise reingelegt, wie es Tarsuinn immer machte. Dabei konnte der Trick nur funktionieren, weil Hagrid sie mochte und deshalb unaufmerksam war.

„Ich kenne sie als Tante Glenn", sagte Toireasa und jetzt wusste auch Winona, um wen es ging. „Sie hat eben mit mir gesprochen."

„Das darf niemand wissen!", polterte der Wildhüter.

„Erzähl mir von ihr!", forderte Toireasa. „Du musst sie doch kennen."

„Ich weiß nichts", lehnte Hagrid ab.

„Oh doch! Sie ist bestimmt deutlich jünger als du und da du hier schon ewig bist, musst du sie kennen gelernt haben. Sag mir, was du von ihr denkst."

„Professor Dumbledore vertraut ihr, das reicht mir", sagte Hagrid, stand auf und tat so, als müsse er sich um den Tee kümmern.

„Was ist deine Meinung!", blieb Toireasa hart.

„Menschen ändern sich. Manche früher, manche später", gab Hagrid ein wenig nach.

„Das bedeutet, du magst sie nicht", unterstellte Toireasa.

„Ich vertraue Professor Dumbledore!", entgegnete der Wildhüter – Lehrer, korrigierte sie sich gedanklich.

„Und Tarsuinn vertraute Tante Glenn", fügte Winona unerwartet hinzu. „Sie hat ihm immer geholfen."

„Trotzdem verschweigst du was, Hagrid!", bestand Toireasa, stand auf, ging zu dem großen Mann hin und versuchte ihn herumzudrehen, damit er in ihre Augen sehen musste. „Sag mir! Würdest du ihr Tarsuinn anvertrauen?"

Für einen langen Moment starrte Hagrid sie seltsam an, dann senkte er den Blick und schüttelte betreten den Kopf.

„Sag mir warum, Hagrid!", sagte sie noch einmal, diesmal jedoch eher bittend.

Erneut schüttelte Hagrid den Kopf.

„Professor Dumbledore sollte euch das sagen, nich ich. Ich find nich die richt'gen Worte."

„Dann…", wollte Toireasa beginnen.

„Lass gut sein", mischte sich Winona ein. „Komm, verdirb Hagrid nicht den Tag. Wahrscheinlich hat er versprochen die Klappe zu halten."

Das Ravenclaw-Mädchen schaute sie eindringlich an. Toireasa konnte ein deutliches nein von ihren Augen ablesen.

Es brauchte eine Weile, ehe Toireasa nachgab. Sie wollte es wissen und sie wollte verstehen, warum gerade diese Frau Tarsuinn besuchen durfte. Warum nicht sie? Immerhin kam Toireasa hervorragend mit Seidenschnabel klar und Tarsuinn fürchtete sie sicher nicht so sehr, wie jemand fast Unbekannten.

„Danke für den Tee, Hagrid", sagte Winona, obwohl sie noch gar keinen bekommen hatten. Draußen wurde Winona dann deutlich heftiger.

„Sag mal, hast du sie nicht mehr alle? Ich dachte, Hagrid ist dein Freund und du willst ihn noch eine Weile behalten? So schaffst du das garantiert nicht."

„Das musst du gerade sagen, wo du doch Luna gesagt hast, egal was mit Tarsuinn ist, es ginge sie garantiert nichts an!", giftete Toireasa zurück. „Sie hat geweint."

Einige Sekunden lang starrten sich die beiden Mädchen wütend an, dann rissen sie sich fast zeitgleich zusammen.

„Wir müssen uns beruhigen", sagte Toireasa distanziert.

„Deine ersten vernünftigen Worte, der letzten Viertelstunde", stimmte Winona bei.

Das ruhig werden dauerte seine Zeit, denn je länger niemand bereit war mit ihr zu reden, desto unleidlicher wurde Toireasa. Winona schien es ähnlich zu gehen, aber das andere Mädchen schien keine Probleme zu haben, ab und an Dampf abzulassen. Etwas, was Toireasa im Moment irgendwie nicht konnte, egal wie viele Stunden sie mit ihrem Besen durch die Gegend flog.

Am Tag nach dem Quidditchspiel gab es jedoch ein Ereignis, das sie durchaus für einige Zeit ablenken konnte. Schon auf dem Weg zum Frühstückstisch war sie sich einem seltsamen Summens innerhalb der Schülerschaft bewusst, sowie ernsten Lehrern, die mit starren Gesichtern und düsteren Blicken Gerüchte zu unterdrücken versuchten. Was natürlich schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt war. Keine fünf Minuten am Frühstückstisch und Toireasa wusste, dass Sirius Black diese Nacht im Gryffindor-Turm eingebrochen war und versucht hatte, Harry Potter zu töten. Seltsam war zu Beginn dabei nur, dass alle Ginnys jüngsten Bruder umschwärmten. Doch auch dieses Rätsel löste sich relativ schnell. Sie brauchte sich nur nach dem Frühstück der Traube von neugierigen Schülern anzuschließen, die Ron Weasley umgab und schon erfuhr sie die Geschichte in jeder Einzelheit. Im Grunde genommen hatte sich Sirius Black einfach nur im Bett geirrt. Toireasa fand es nur erstaunlich, warum dieser nicht vorher einfach einen Stille-Zauber auf sein Opfer gewirkt hatte. Bedeutete dies, dass Black sich nicht die Zeit genommen hatte, einen Zauberstab zu stehlen oder jemanden dafür zu töten? Seltsam. Anscheinend schien Askaban wirklich das Gehirn zu zerstören. Wie aber sollte er ohne Zauberkräfte ins Schloss gelangen? So als Quasi-Muggel. Und warum hatte er von Ron abgelassen? Nicht dass Toireasa es Ginny nicht gönnte, ihren Bruder behalten zu dürfen, aber seltsam war das schon.

Malfoy, Flint und einige andere Slytherins machten sich darüber keine Gedanken. Niemand wagte es in Toireasas Gegenwart auszusprechen, aber sie hatte den Eindruck, einige bedauerten den Fehlschlag Blacks sehr.

Doch die wirkliche Ablenkung für sie gab es erst im Laufe des Tages zu bestaunen. Angesichts der Ereignisse – und dass Black im Schloss anscheinend nach Belieben ein- und ausgehen konnte – hatte der Direktor entschieden, dass ein wenig zusätzliche Sicherheit nötig wäre und hatte Trolle als Wachen ins Schloss geholt.

Darüber war Toireasa sehr erfreut, bot es ihr doch mal die Gelegenheit, solche Wesen ohne große Gefahr kennen zu lernen.

Sie wartete einige Tage ab, dann begann sie sich täglich, für eine halbe Stunde pro Tag, auf dem Gang im Gryffindor-Turm herumzutreiben, wo immer zwei der Sicherheitstrolle Wache schoben. Mit Notizblock und Feder bewaffnet machte sie sich Notizen, malte Skizzen und begutachtete die groben Keulen. Eine Woche später hatte sie begriffen, dass Trolle stark und robust waren, aber nicht viel im Hirn hatten. Zu Sicherheitstrollen ließ sie nur ihre – laut einem Buch aus der Bibliothek – hohe Resistenz gegen Magie und gegen Beeinflussungszauber werden. Tja – wo nichts zum Beeinflussen war.

Trotzdem waren sie ziemlich beeindruckend. Mit ihren vier Metern stellten sie sogar Hagrid in den Schatten, schienen nur aus Muskeln zu bestehen und waren deutlich agiler als ein durchschnittlicher Hügeltroll. Sogar eine gewisse soziale Struktur war bei ihnen erkennbar, auch wenn die meist darauf hinauslief, dass es bei Meinungsverschiedenheiten was aufs Auge gab. Das konnte eine durchaus effektive und schnelle Methode der Entscheidungsfindung sein, stellte aber nicht gerade einen evolutionären Vorteil für die Intelligenz dar.

Leider beantworteten Bücher und Beobachtungen nicht alle Fragen.

Zum Beispiel wusste sie nicht, warum dieser dickliche Gryffindor-Junge immer vor der Tür zu seinem Gemeinschaftsraum warten musste, bis ihn jemand mit in den Turm nahm. Toireasa musste zugeben, die Gryffindors waren sehr vorsichtig. Sie flüsterten ihr Passwort nur und an den Lippenbewegungen glaubte Toireasa zu erkennen, dass es jeden Tag ein anderes Wort war.

Doch irgendwann wurden die Trolle sogar ihr langweilig. Ein Rülpser – so beeindruckend er in seiner Lautstärke auch war – schaffte es nicht, jemanden für mehrere Wochen zu faszinieren. Toireasa beschloss, ihre Untersuchungen abzuschließen.

Sie trat aus dem Schatten ihres Beobachtungspunktes und ging lässig zu den Trollen.

„Hallo", sprach Toireasa die beiden Trolle an. „Kann ich euch ein paar Fragen stellen?"

Der Troll links glotzte sie blöd, aber irgendwie freundlich an, während der andere seine Patrouille von zwei Schritten fortsetzte. Dabei murmelte er immer wieder…

„Eins…Zwei…Drei…Eins…Zwei…Drei…Eins"

„Heh!", rief Toireasa laut, nachdem sie einige Sekunden gewartet hatte. „Nur ein paar einfache Fragen."

„Drei…Eins…Drei…Zwei…Eins…"

„Hallo!", rief sie etwas lauter.

„Nicht stören, Boss zählen!", hielt der Patrouillierende kurz an.

„Boss verzählt hab'n!", brummte der Dümmlich-nette triumphierend.

Dafür bekam er einen Klaps mit der Keule, den jeder Mensch mit dem Tode bezahlt hätte.

„Schnauze, wenn Boss zählt", befahl der große Troll und machte weiter.

„Boss lernt zählen. Ist eins weiter als Grumpf", sagte der Dümmliche.

„Bist du Grumpf?", fragte Toireasa.

„Nö, ich Mampf. Ich nur bis…ähem…eins zählen!"

„Großartige Leistung!", log Toireasa und schaute sich interessiert das narbige und deformierte Gesicht an. Unsymmetrisch war eine viel zu nette Bezeichnung. Nicht einmal die Augen lagen auf einer Höhe, weshalb der Troll immerzu schielte.

„Zählen ist wichtig!", erklärte Mampf überzeugt. „Dann kann niemand bei Bezahlung betrügen."

„Was bekommt ihr denn für den Job?"

„Ähem…", Mampf wirkte verlegen und hielt fünf Finger hoch.

„Fünf", half Toireasa aus.

„…Rinder und Stiere pro…"

Er hielt erneut Finger hoch.

„Drei Tage", ergänzte Toireasa. „Wer kann denn bei euch so weit zählen?"

„Sind mehr als…"

Drei Finger wurden erhoben. Toireasa musste zugeben, es entbehrte nicht einer gewissen Logik.

„Wo lebt ihr eigentlich?"

„Das sagen wir nicht", Mampf schüttelte entschieden den Kopf. „Böse Zauberer sonst uns finden."

„Aber wie bekommt ihr dann eure Aufträge?"

„Koboldin Consilia macht Geschäfte für das Starke Volk. Frag immer sie."

„Du sprichst richtig gut unsere Sprache", schmeichelte Toireasa.

„Mampf war lange Diener von Zauberer. Sollte dienen für ein Rind eine Dekade."

„Da hat dich aber wer ziemlich reingelegt."

„Jetzt ist der tot, aber Mampf nicht brechen sein Wort!"

„Euer Wort ist euch wohl sehr wichtig?"

„Sehr!", nickte Mampf überzeugt.

„Ohne Wort, ein Troll kein Troll. Außer Bosstroll, niemand Boss von Mampf. Wir nicht ducken wie Hauself. Wir kennen ich!"

„Das ist wirklich wichtig!", fand auch Toireasa. „Sag mal – habt ihr auch Familie, Freizeit, Hobbys oder Spaß?"

„Spaß?", der Bosstroll hörte auf sich zu verzählen und schaute sich aufmerksam um. „Gluck-Gluck?"

„Gluck-Gluck?", fragte Toireasa verwirrt.

„Gluck-Gluck!", entgegnete Bosstroll und tat so, als würde er trinken.

„Was möchtest du denn zum Gluck-Gluck?", begriff Toireasa.

„Gluck-Gluck hat Schaum und Blasen und Zunge immer ganz kitzelig."

„Bier?"

„Gluck-Gluck", lächelte Mampf und nickte bestätigend. „Nix geben Gluck-Gluck in Hütte hier."

„Was bekomm ich denn dafür, wenn ich euch Gluck-Gluck besorge?", fragte Toireasa, eher aus Neugier, als aus Berechnung.

„Gib mir groß Fass, ich geb dir klein Kalb!", bot der Trollboss namens Bosstroll an.

„Das ist fair", tat Toireasa beeindruckt. „Aber ich brauch kein Kalb. Ich mach dir einen Gegenvorschlag. Ich bring euch beiden je einen Eimer…"

Sie zeigte ungefähr an, wie groß dieser war.

„…und ihr erzählt mir wie Krach-Spritz-Knall geht."

„Seien Spiel für Trolle!", murmelte Mampf. „Nicht für Mensch."

„Ich möchte es nicht spielen", erklärte Toireasa und erntete dafür entsetzte Blicke. „Ich hab nur nie eine Beschreibung gehört, wie die Regeln sind und wie es abläuft. Es muss doch ein ganz tolles Spiel sein."

Sie schaute möglichst bewundernd die beiden Trolle an.

„Oh, wirklich toll!", sagte Bosstroll und klopfte sich auf die Brust. „Ich bin der beste."

„Wirklich", himmelte Toireasa ihn an.

Zwei Stunden später hatte sie alles über ein Spiel erfahren, das wie Quidditch war, wenn man davon absah, dass es vier Mannschaften gab, es im Wasser stattfand und eigentlich nur aus Fouls bestand. Dabei spielte auch noch ein Ochsenkopf eine Rolle, den man ans Ufer seines Dorfes bringen musste. Mampf erzählte im Anschluss auch, dass jeder Troll, der laufen konnte, einmal in der Woche teilnehmen musste und dass es ein heiliges Gebot des größten aller Trolle war. Seitdem blieben die vier Dörfer von großen Krankheiten verschont.

Toireasa hatte die persönliche Theorie, dass dies wohl eher an dem wöchentlichen Bad liegen konnte.

Eine Stunde später überzeugte Toireasa Patsy ihr Bier zu besorgen und schleppte es kurz vor der verordneten Schlafenszeit in Putzeimern, mit Lappen überdeckt, damit jeder dachte sie wäre auf Strafarbeit und niemand das Bier roch, hoch in den Gryffindor-Turm. Wenn sie etwas aus dem Gespräch gelernt hatte, dann dass man gegenüber einem Troll nicht sein Wort brach, ansonsten brachen sie einem die Knochen.

Sie war schon wieder auf dem Rückweg, die Eimer hatte sie den Trollen gleich mit geschenkt, weil diese sie so praktisch und formschön fanden. Sprich, die gingen nicht beim ersten Anfassen kaputt und passten hervorragend zu den großen Mündern der Trolle. Das begeisterte Mampf und Bosstroll sehr für dieses neue Trinkgefäß. Filch würde hoffentlich an die Decke gehen, wenn er die zwei Eimer vermisste.

An einem Fenster blieb sie stehen und schaute versonnen nach draußen. Der Verbotene Wald lag da. Schwarz und düster. Schemenhaft konnte sie kalte Schatten an den Grenzen sehen. Kopfjäger.

Nein! Sie korrigierte sich und schüttelte den kalten Schauer ab. Aasgeier, Hyänen, Schlupfwespen, das waren sie – doch ohne deren Nützlichkeit. Sie verspeisten nicht das Verdorbene, sondern verdarben das Leben und sie waren hungrig.

Die Dementoren sind so hungrig, dass sie sich perfekt kontrollieren lassen.

Diese Worte kamen ihr in den Sinn, als sie nach draußen schaute. Hunger kontrollierte die Dementoren. So machte es auch das Ministerium – und hielt sie damit permanent unzufrieden. In Toireasas Vorstellung schwärmten hunderte wild gewordene Dementoren über das Schloss aus, und obwohl die Lehrer alles taten, konnten sie nicht überall sein. Die Schreie der Schüler hallten durch ihre Vorstellung. Es war gut zu wissen, dass die Tore geschlossen waren.

„Düstere Gedanken, Toireasa?", fragte die Stimme Professor Dumbledores.

Toireasa zuckte nicht zusammen, sie war nicht einmal überrascht. Sie hatte sich das herbeigesehnt und genauso immer vorgestellt. Es war nicht das erste Mal, dass sie in letzter Zeit so am Fenster stand.

„Ist es so weit?", fragte sie, ohne den Professor anzuschauen.

„Es ist so weit", antwortete dieser schlicht.

„Gut oder schlecht?"

„Das kann ich noch nicht sagen."

„Dann bringen wir es hinter uns", sagte Toireasa und hatte keine wirkliche Hoffnung auf gute Nachrichten.

„Lass dir nicht den Spaß am Leben verderben", tadelte Professor Dumbledore. „Man muss es ehren, um seinen Freunden dienen zu können. Komm und sei stark für die, die es nicht sein können."

Toireasa straffte ihren Rücken, drängte die Gedanken an die Dementoren zurück und drehte sich zum Professor. Er schien so alt, hatte so viel erlebt und doch strahlten seine Augen eine unglaubliche Kraft aus. Seine Hand streckte sich nach ihr aus und Toireasa ergriff sie. Sie wollte etwas von der Kraft des Professors ihr Eigen nennen.

Er brachte sie zu seinem Büro. Vor der Tür wartete schon Winona. Das Mädchen sah sehr nervös aus und schien sehr froh darüber zu sein, Toireasa zu sehen.

„Entschuldige bitte, dass du warten musstest", sprach der Professor Winona an. „Toireasa war nur schwer zu finden."

Das Mädchen nickte nur und schluckte schwer.

„Bitte bewegt euch langsam und ruhig", fügte er hinzu.

Die Tür öffnete sich langsam und Toireasa trat ein.

Zunächst konnte sie nichts Ungewöhnliches sehen, was die Ermahnung des Professors rechtfertigte. Toireasa ließ ihren Blick schweifen, hing kurz an dem Phoenix fest und wanderte dann weiter. Trotz eines prasselnden Kaminfeuers war es ziemlich kalt im Büro und so sah sie sich nach dem Problem um. Im Halbdunkeln, vor einem sperrangelweit geöffneten Fenster, glaubte sie eine kleine Gestalt zu sehen, aus deren Kapuze zwei kleine Köpfe schauten.

„Tarsuinn!", rief sie begeistert und wollte losstürzen, doch die schnelle Hand des Professors hinderte sie daran.

„Langsam und ruhig", ermahnte er sie noch einmal.

Ohne den Blick von der Silhouette zu nehmen, trat Toireasa zusammen mit Winona näher. Professor Dumbledore machte ein wenig Licht und jetzt erkannte sie deutlich Tarsuinn, aus dessen Kapuze eine sehr müde Tikki und ein extrem zerfledderter Teddy schauten.

„Tarsuinn?", fragte Winona vorsichtig.

Der Junge zuckte mit keinem Muskel, sondern starrte weiter blicklos zum Fenster hinaus. Sein Gesicht kam einer Totenmaske gleich. Ganz vorsichtig hob Toireasa die Hand und tippte seine Hand an. Zunächst geschah nichts, doch dann bewegte er die Finger, fühlte über ihre Handfläche und dann wurden Toireasas Finger ergriffen. Mehr geschah nicht.

„Professor?", wandte Winona sich hilfesuchend an Dumbledore.

„Biete ihm auch deine Hand an, Winona", sagte der Professor mit sehr sanfter Stimme.

Das Ravenclaw-Mädchen tat es und auch bei ihr erfolgte die gleiche Reaktion des Jungen.

„Bittet ihn, mit euch zu gehen", sagte Dumbledore weiter.

„Komm bitte mit uns", kam Winona der Aufforderung nach.

Versuchsweise tat Winona einen Schritt, aber der Junge blieb wie angewurzelt stehen.

„Verwende seinen Namen", präzisierte der Professor. „Sei präzise!"

„Begleite uns bitte, Tarsuinn", versuchte es Winona erneut.

Als sie jetzt – und diesmal half Toireasa auch – losgingen, kam Tarsuinn mit. Er bewegte sich als würde er schlafwandeln.

„Kommt bitte zu mir", bat der Professor und verwandelte mit einem Metamorphose-Zauber die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch in eine bequeme Couch.

Sie setzten sich darauf und mussten sogar Tarsuinn nicht dazu auffordern.

„Was ist mit ihm, Professor?", fragte Toireasa und fühlte sich unwohl, die Frage in Tarsuinns Gegenwart auszusprechen. Eine Schriftrolle schwebte vom Tisch in ihre Hände.

„Von Rica McNamara", erklärte Dumbledore. „Es wird vieles erklären und wenn ihr danach noch Fragen habt, werde ich sie beantworten so gut ich kann."

Da Tarsuinn sie nicht losließ, brach Toireasa mit einer Hand das Siegel und dann legte sie den Brief auf die Knie des Jungen, damit Winona mitlesen konnte.

Liebe Winona, liebe Toireasa,

wenn Ihr das lest, habt Ihr sicher schon Tarsuinn getroffen und habt keine Ahnung, was los ist.

Damit seid ihr nicht allein. Alles, was ich euch bieten kann, ist der Versuch einer Erklärung.

Gleich vorweg, es war eigentlich mein Wille, ihn nie wieder zurück nach Hogwarts zu lassen. Wenn es möglich gewesen wäre, so hätte ich ihm auch die Zauberkraft nehmen lassen. Doch leider ist das unmöglich, ohne Tarsuinn zu zerstören. Ich habe begreifen müssen, dass er schon immer ein Zauberer war, selbst als er nicht zaubern konnte. Es ist seine Natur und seine Bestimmung. Ihn davon zu trennen, ist ein Ding der Unmöglichkeit und könnte böse Auswirkungen haben.

Doch das beantwortet sicher nicht die Fragen, die Ihr habt. Was ist mit ihm passiert? Nun, ich habe genau das schon einmal erlebt, als Tarsuinn vier Jahre alt war. Damals glaubte ich, er hätte einen Dämon in sich, heute weiß ich, dass dieser Vergleich gar nicht so weit hergeholt ist. Im Wald bei den Einhörnern ist mir das klar geworden. Das, was man Tarsuinn aufgezwungen hat, ist nicht nur der Wahnsinn und die Alpträume eines anderen, sondern auch dessen Mordlust, die Liebe zur Gewalt und auch die Gier. Seltsamerweise scheint dieses Etwas in ihm, nicht ohne seine Zustimmung handeln zu können.

Ich bin im Glauben an die Ausgeglichenheit der Welt aufgewachsen und so habe ich immer versucht ihn im Gleichgewicht zu halten. Als er vier war und der Wahnsinn ihn zu überwältigen drohte, habe ich ihn zuerst dazu gebracht, all seine Gefühle und auch die Kontrolle seines Körpers aufzugeben, solange er wach war. Auf diese Weise war er ruhig und konnte so Kraft schöpfen, während ich für ihn entschied. Erst danach konnte ich beginnen nach seinem Ich zu suchen, seine Gefühle von denen seines Dämons zu trennen und ihn wieder lernen zu lassen. Ich habe ihn langsam ins Leben zurückgeführt und bei gelegentlichen Rückschlägen war ich kräftig genug ihn zu bändigen und zu beruhigen.

In meiner Vorstellung glaubte ich einen Engel aus ihm machen zu müssen, damit er seinen Dämon in Schach halten konnte. Dass mir dies nicht gelungen ist, wisst Ihr ja selbst. Er mag sich zwar stärker beherrschen können als die meisten Kinder, aber er neigt genau zu demselben Unsinn wie alle anderen. Lange Zeit glaubte ich, es wäre mein Einfluss, der ihm dies ermöglichte, seitdem ich jedoch die Einhörner kennen gelernt habe, weiß ich es besser. Es ist seine Natur – sein Blut – das den Ausgleich herstellt. Doch glaubt nicht, dies wäre vorbehaltlos gut. Ihr habt gesehen was passiert, wenn beide Seiten in ihm in die gleiche Richtung ihren Einfluss ausüben. Es ist, als würde Tarsuinn auf einem schmalen Grat balancieren, an seiner linken Hand zieht ein Dämon, an der rechten ein Einhorn, wobei das Einhorn sicher nichts Böses von ihm will. Im Gegenteil! Ich glaub, die realen Gegenstücke haben mir sehr geholfen, seinem Erbe Einhalt zu gebieten und so habe ich es mit Tikkis Hilfe erneut geschafft ihn dazu zu bringen, auf die Kontrolle zu verzichten.

Doch nun stehe ich kurz vor dem Zusammenbruch. Ist Tarsuinn wach, kann ich nicht schlafen, denn er würde in den Wald gehen. Schläft er, holzt er den halben Wald ab.

Viel schlimmer ist jedoch, ich kann ihn in der Zeit zwischen Traum und Wachsein nicht beruhigen. Ironie der Geschichte – sein Instinkt, der ihn in diesen Minuten beherrscht, erkennt meine Stimme nicht und versucht mich gar zu töten. Zum Glück ist er wach nicht so stark (und ohne Zauberstab erst recht nicht) und zielt auch oft daneben. Trotzdem habe ich einige schmerzhafte Erlebnisse hinter mir, wie Toireasa sicher dank Tante Glenns Gesicht vermuten kann.

Aber egal – ich habe es trotzallem ab und an geschafft bis zu Tarsuinn vorzudringen und deshalb weiß ich, dass er wieder in Hogwarts sein will. Bei Euch.

Ich gebe zu, das hat mir ein wenig wehgetan, aber im Grunde bin ich froh, Euch zu haben, denn noch länger hätte ich nicht durchgehalten und auch Tikki ist am Ende ihrer Kräfte. Außerdem versteht Ihr einen Teil seines Lebens, den ich – trotz all meiner Mühe daran teilzunehmen – nur schwer erfassen kann. Bitte kümmert Euch so gut es geht um ihn. Ich weiß, ich verlange viel, doch müsst Ihr keine Angst haben. Professor Dumbledore hat mir erklärt, wie es mit Tarsuinn so weit kommen konnte und ich mache mir große Vorwürfe, weil ich es nicht bemerkt habe.

Desweiteren meinte Tante Glenn, Ihr – oder zumindest Toireasa – würdet Euch auch schuldig fühlen, denkt nicht so einen Mist. Ich war sehr enttäuscht von euch allen, weil ihr meinen Bruder nicht beschützen konntet, aber dies war nur eine Lüge meinerseits. Ihn wieder nach Hogwarts zu lassen war richtig, denn wer immer ihm das angetan hat, in London hätte er freie Hand für Schlimmeres gehabt.

Ich bin müde. Fawkes ist da. Er wird mich nach Hause bringen und Tante Glenn bringt Tarsuinn zu Euch. Bitte schreibt mir jeden Tag und habt Geduld mit Tarsuinn. Erzwingt nichts und achtet darauf, dass seine Augen so grau bleiben, wie sie sind. Ich vertrau ihn Euch an und hoffe, ich verlange nicht zu viel von Euch. Wenn doch, sehe ich keine andere Möglichkeit, als ihn doch in St Mungos einzuliefern oder mir Hilfe zu kaufen.

Lieb und müde

Rica McNamara

P.S.: Tikki hat sich Unmengen roher Eier verdient.

Toireasa wartete, bis auch Winona fertig gelesen hatte.

„Es ist eure Entscheidung", sagte der Professor, kaum dass auch Winona ihren Blick gehoben hatte. „Ich kann Tarsuinn noch heute…"

„Nein!", sagte Winona empört. „Er ist hier besser aufgehoben. Wir kümmern uns um ihn."

Dabei schaute das Mädchen fast drohend Toireasa an.

„Rica weiß besser als wir, was für ihn gut ist", stimmte Toireasa zu und ignorierte die Erleichterung des Ravenclaw-Mädchens.

Eine unangenehme Pause folgte.

„Ihr habt sicher Fragen?", ermutigte Dumbledore sie.

„Ja – da wäre was", sagte Winona zögernd. „Rica schreibt hier, Sie hätten ihr gesagt, wie das mit Tarsuinn passieren konnte. Lag es denn nicht an dem Raum?"

„Ich denke nicht, dass es an dem Raum lag", verneinte der Professor und legte nachdenklich die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander. „Im Grunde hat das Tarsuinn wohl selbst mit zu verantworten."

Toireasa glaubte nicht, was sie da hörte.

„Wie soll Tarsuinn denn daran schuld sein?", empörte sie sich.

„Erinnert ihr euch, was Professor Snape in dem zerstörten Raum gefunden hatte?", entgegnete der Professor freundlich.

„Diese Flüssigkeit?"

„Genau die. Wie sich herausstellte waren es Reste vom Trunk des Friedens. Ich weiß, den hattet ihr noch nicht in der Schule. Zumindest hat Rica herausgefunden, dass Tarsuinn den Trunk gebraut hat, um während der Gerichtsverhandlung ruhig zu bleiben. Das wäre normalerweise auch gar nicht schlimm, solange man den Trunk richtig dosiert ist er absolut harmlos, aber Tarsuinn schenkte er auch noch einen ruhigen Schlaf ohne Alpträume."

„Was ist daran schlimm?", fragte Winona dazwischen.

„Hat er dir davon erzählt, Winona?", stellte der Professor eine Gegenfrage, die Winona sofort den Kopf senken ließ.

„Er hat es niemandem erzählt. Ich denke, er wusste, dass etwas nicht stimmte. Wahrscheinlich musste er immer mehr davon nehmen, um ruhig bleiben zu können, und er wusste, dass es schief ging. Aber das kann man ihm nur schwer vorwerfen."

„Er wollte es mir sagen", flüsterte Toireasa und bemerkte erst danach, dass sie laut gedacht hatte. Zwei fragende Augenpaare waren auf sie gerichtet.

„Als Mr Filch uns beim Fliegen in der Großen Halle erwischte", erklärte sie verlegen. „Da wollte er mir etwas sagen, aber ich dachte…", sie sagte nicht, was sie gedacht hatte. Dafür sorgten die tausend Liter Blut, die in ihren Kopf schossen, „…na ja, Mr Filch hat uns erwischt."

„Mich würde trotzdem mehr interessieren, weshalb das nur schief gehen konnte?", lenkte Winona das Gespräch wieder auf das Thema zurück. „Was ist so schlimm an dem Zeug?"

„Im Grunde überhaupt nichts, nur das Tarsuinn nicht mehr kämpfen musste", erklärte Dumbledore ruhig. „Seht, jede Nacht bekämpft er etwas in seiner Seele und jeden Morgen den er aufwacht und er selbst ist, schwächt er dieses Etwas. Durch den Trunk des Friedens hatte er jedoch nicht mehr kämpfen müssen und so entstand ein Ungleichgewicht in ihm, das er künstlich mit dem Trunk aufrechterhielt."

„Und dann schupste ihn jemand, und er fiel", murmelte Toireasa und dachte dabei an Ricas Analogie mit dem schmalen Grat, auf dem Tarsuinn wanderte.

„Wahrscheinlich war es sogar unbeabsichtigt", ergänzte der Professor.

„Aber warum!", seufzte Winona frustriert. „Was hätte man davon? Und wer?"

„Die Person, der er die Träume verdankte, Mr Ciffer, die Angehörigen der Menschen, die Tarsuinn getötet hat, Sir Oliver. Es gibt viele."

„Die Dementoren", ergänzte Toireasa und fühlte ein leichtes Zucken in Tarsuinns Hand.

Professor Dumbledore nickte bedeutungsvoll.

„Rica hat auch geschrieben, wir sollten auf die Farbe seiner Augen achten", sagte Toireasa. „Was meint sie damit?"

„Ich habe keine Ahnung", entgegnete der Professor. „In meinem Brief hat sie es nicht erwähnt."

„Wir werden es schon noch herausfinden", meinte Winona nur.