- Kapitel 25 -
Kleine Schritte
Es war vier Uhr vierzig, als Toireasas neuer Wecker klingelte. Gähnend starrte sie auf die Zeiger und verfluchte die Kräuterkundeaufgaben, die sie gestern so lange wach gehalten hatten. Wenigstens hatte Winona es geschafft, Tarsuinn erst nach Mitternacht ins Bett zu lotsen.
Toireasa stand auf, ging ein paar Schritte und schlug mit Wucht oben auf das klingelnde Etwas. Es war Absicht, dass der Wecker so weit vom Bett weg stand. Jetzt, wo sie wach und auf den Beinen war, konnte sie sich auch fertig machen. In einer halben Stunde würde Tarsuinn aufwachen und dann sollte sie bei ihm sein. Im Grunde musste sie für den Wecker sogar dankbar sein. Winona oben in ihrem Turm besaß ein identisches Gegenstück und wenn die Ravenclaw am Abend eine Weckzeit einstellte, dann klingelte am nächsten Morgen Toireasas Wecker. Umgekehrt funktionierte das natürlich genauso. Deshalb wusste sie auch, dass Tarsuinn vor dreieinhalb Stunden eingeschlafen war.
Dank einer gewissen Routine brauchte Toireasa gerade mal eine Viertelstunde und schon stand sie sauber und angezogen mit ihrer Schultasche im Gang vor den Gemeinschaftsräumen. Wie immer wurde Toireasa hier erwartet.
„Guten Morgen, Mampf", grüßte sie den Troll gähnend. „Wieder mit Bosstroll gestritten?"
Diese Frage war durchaus berechtigt, denn Mampf drückte einen riesigen Sack Eis auf sein Auge.
Miteinander redend gingen sie los.
„Bosstroll wollte nicht glauben, dass nach drei die Vier kommt", brummte Mampf.
„Das stimmt aber", versicherte Toireasa.
„Kannst du ihm das sagen?"
„Ganz bestimmt nicht", lachte sie. „Dann wäre ich nach kurzer Zeit tot. Sorg doch einfach dafür, dass er genauso weit zählen kann wie du inzwischen, und dann haut er dir auch keine runter."
„Aber Bosstroll ist dümmer als ich. Mampf sollte jetzt Bosstroll sein."
„Solange er aber stärker ist, solltest du das lieber nicht so laut sagen. Versuch doch einfach Zweiter Bosstroll zu werden. Du zählst, er haut zu und schon seid ihr die unbestrittenen Bosse."
„Meinst du, das klappt?"
„Klar doch. Spätestens, wenn ihr vier Rinder für vier Tage Dienst bekommen habt."
„Oh ja, vier Rinder", sabberte der Troll gierig.
Inzwischen hatten sie die Treppen erreicht.
„Vielleicht sogar fünf", meinte Toireasa und lächelte Mampf breit an. „Bereit?"
„Fünf nach vier?", fragte er unsicher.
„Genau! Du lernst schnell", lobte sie, obwohl sie die Fünf jetzt schon seit drei Tagen versuchten. „Auf geht es. Eins…?"
Sie nahmen die ersten drei Stufen und Toireasa, wie auch Mampf hielten einen Finger hoch.
„Zwei!", sagte Mampf und hob den nächsten Finger, nahm dabei drei Stufen auf einmal, und zählte dann allein bis vier.
„Fünf jetzt?", fragte er.
„Richtig!", freute sich Toireasa. „So – und jetzt alle Finger der linken Hand wieder zur Faust, einen der rechten Hand nach oben und dann fangen wir wieder mit der linken von vorn an. „Eins…"
Sie erreichten die gewünschte Etage, als gerade alle Finger des Trolls ausgestreckt waren.
„So – und jetzt sag mir, wie viele Stufenschritte du gemacht hast?", fragte Toireasa und sah den Troll aufmunternd an. Das war die Frage, an der Mampf immer scheiterte. Sie konnte in seinen Augen das Rechenwerk förmlich rattern sehen. Dabei zuckten seinen Finger nacheinander alle einmal.
„Fünf mal fünf!", sagte er dann.
„Das ist richtig!", freute sich Toireasa. „Dann bis morgen."
„Bis morgen", verabschiedete sich Mampf.
Toireasa ging die letzten Schritte allein. Zuerst an Professor Dumbledores Büro vorbei und blieb dann vor einer unscheinbaren Tür nur wenige Meter weiter stehen. Hinter dem schweren Holz der Tür, innen verstärkt durch Stahl, ging es ziemlich laut zu. Geduldig schaute Toireasa auf die Uhr und nach fast exakt vier Stunden und sieben Minuten erwachte Tarsuinn mit einem gut hörbaren Schrei. Erst dann schloss Toireasa leise die Tür auf und öffnete diese ganz vorsichtig. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Beule, die Winona am ersten Tag davongetragen hatte, als diese mit der Ansicht – Tarsuinn braucht Fröhlichkeit und Aufmunterung – energisch und mit einem Guten Morgen durch die Tür getreten war. Winona konnte sich später nicht erinnern, wie und warum sie auf der Krankenstation aufwachte und warum ihr der Schädel brummte. Toireasa hatte es ihr sagen müssen.
Aus diesem Grund hielt Toireasa auch die Tür sehr fest in der Hand, damit diese ihr nicht vor oder auf die Nase zuschlug. Tarsuinn war gar nicht so stark, wenn er wach war. Man durfte ihn nur nicht Schwung holen lassen.
Doch wenn man vorsichtig war – langsam und leise – dann passierte auch nichts. Dann saß Tarsuinn zitternd auf seinem Bett, versuchte sich tief in eine Ecke zu pressen und hatte die Bettdecke über den Kopf gezogen. Toireasa sagte kein Wort. Gleich nach dem Aufwachen reagierte er nicht sonderlich gut auf ihre Stimme. Das fand sie ein wenig seltsam, denn bei Winona, wenn diese ruhig mit ihm sprach, gab es diese Probleme nicht.
Vorsichtig setzte Toireasa sich aufs Bett und rückte nahe an Tarsuinn heran. Langsam zog sie die Decke von seinem Kopf und berührte mit den Fingerspitzen seine Wangen. Wie die letzten Tage immer, zuckte er kurz zusammen, doch dann hob er die Hand und ergriff die ihre. Dies war der Moment, in dem die Angst ein wenig von ihm wich und er sich an sie anlehnte und den Kopf auf ihre Schulter legte.
Ohne sich viel zu bewegen, holte sie daraufhin das Buch vom Kleinen Hauselfen hervor und begann vorzulesen. Erst dann kam Tikki unter dem Bett hervor und rollte sich auf Tarsuinns Beinen zusammen, woraufhin dieser begann, seine kleine Freundin mechanisch zu streicheln.
So verging vielleicht eine halbe Stunde. Manchmal mehr, manchmal weniger, doch es war unausweichlich. Irgendwann hob er den Kopf, ließ Toireasas Hand los und hörte auf, Tikki zu liebkosen.
Toireasa legte das Buch weg. Es hatte keinen Sinn mehr vorzulesen.
Aber jetzt wusste sie, warum Rica die Zeit nach dem Aufwachen für so wichtig hielt. Nur in diesem kurzen Zeitraum war Tarsuinn sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst. Egal wie viel Angst er verspüren mochte, wenigstens lebte er da.
„Komm bitte, Tarsuinn", sagte sie sanft und nahm sich wieder seine Hand. Sie führte ihn ins Bad.
„Tarsuinn, zieh dich bitte aus und wasch dich", bat sie.
Vollkommen mechanisch und willenlos tat er es, während sie krampfhaft versuchte ihn nicht anzusehen. Das ließ sich aber kaum vermeiden, denn die Wasserhähne für die Dusche musste sie aufdrehen, sonst duschte der Junge entweder eiskalt oder kochend heiß.
Während Tarsuinn sich wusch, das konnte er zum Glück alleine, plapperte Toireasa ein wenig vor sich hin, um vielleicht doch irgendeine Reaktion von ihm zu erhalten.
„Hagrid hat am 21. einen Brief vom Ministerium erhalten", begann sie und sagte dann doch nicht alles, wie sie im ersten Moment gedacht hatte. „Sieht nicht gut aus für Seidenschnabel. Die Berufung wird sicher sehr haarig."
Nichts.
„Kennst du Hermine Granger? Man erzählt sich, sie hätte Malfoy geohrfeigt und er habe sich das gefallen lassen. Kannst du dir das vorstellen? Eine muggelgeborene Hexe haut dem reinblütigen Malfoy eine runter und der hat Schiss sich zu wehren. Ich wäre zu gern dabei gewesen. Du auch, Tarsuinn?"
Wieder keine Reaktion.
„Ich werde Seidenschnabel nicht helfen, weil ich Hagrid nicht nach…", sie vermied ein bestimmtes Wort, „…ins Gefängnis bringen will."
Tarsuinn trat ungerührt aus der Dusche. Sie schloss die Augen, bis sie ihm ein Handtuch vor die Brust gedrückt hatte.
„Bitte trockne dich ab, Tarsuinn."
Danach reichte sie ihm die Sachen, die die Hauselfen, wahrscheinlich Patsy, schon im Bad bereitgelegt hatten, und bat ihn sich anzuziehen. Danach fühlte sich Toireasa ein wenig besser. Beim Zähneputzen versuchte sie es weiter.
„Nächste Woche sind Osterferien. Dann findet auch das letzte Quidditchspiel statt. Wenn Slytherin gewinnt, dann gewinnen sie den Pokal. Wenn Gryffindor jedoch mit 210 Punkten Abstand gewinnt, dann sind sie es. Kannst dir sicher gut vorstellen, hinter welcher Mannschaft ein großer Teil der Schule steht."
Sie sagte ihm, er solle aufhören zu putzen, denn von allein hörte er nicht auf.
„In den Ferien müssen wir auch die zusätzlichen Fächer für die dritte Klasse wählen. Wie sieht es aus, du willst doch sicher Wahrsagen weitermachen, oder Tarsuinn?"
War es nur ein Fehler im Spiegel oder war da eben wirklich ein abfälliges Zucken am rechten Mundwinkel zu sehen gewesen?
„Tarsuinn, du magst doch Wahrsagen?", fragte sie hoffnungsvoll weiter, doch da war nichts. Ihre Hoffnung musste sie getäuscht haben.
Sie führte ihn zurück in den Raum und wie jeden Tag, bat sie ihn seine Thai-Chi-Chuan-Übungen zu machen. Auch wenn man genau sah, wie seelenlos er dabei war, so war es doch sicher gut, wenn sein Körper halbwegs in Form blieb. Es war nicht viel, aber wenn Tarsuinn wieder normal wurde, war er sicher dankbar, wenn er einigermaßen fit war.
Toireasa machte in der Zwischenzeit noch ein paar Hausaufgaben. Es blieb immer viel Arbeit liegen, auch wenn sie sich mit Winona abwechselte und sie oft voneinander abschrieben.
Sobald sie fertig war, es war so gegen sieben Uhr, sagte sie Tarsuinn, er solle aufhören (er schwitzte nicht einmal) und ging mit ihm draußen eine halbe Stunde in der Morgensonne spazieren. Tikki begleitete sie, aber erst, nachdem Toireasa ihr eine kleine Tasche umgeschnallt hatte. Toireasa vermutete, dass Rica diese gefertigt hatte und so lang und dünn wie die war, vermutete sie Tarsuinns Zauberstab darin.
Danach brachte sie ihn zu Professor Dumbledores Büro, sagte das Passwort, ging die Wendeltreppe nach oben, klopfte an und trat ohne auf eine Antwort zu warten ein. Es war Routine und es war auch Routine, dass, wenn das Büro wie heute leer war, sie trotzdem ein Frühstück erwartete. Toireasa fand das gut, denn Tarsuinn wollte nie etwas von selbst essen. Sie musste ihn füttern und sie wollte nicht, dass Regina und Konsorten dies sahen. Es war einfach entwürdigend für einen Jungen, der sonst so selbstständig durchs Leben ging und nur um Hilfe bat, wenn es unbedingt nötig war.
Sie hatte gerade die letzten Essensreste aus seinem Gesicht gewischt, als Professor Dumbledore das Büro betrat.
„Guten Morgen, Tarsuinn, Toireasa. Wie geht es euch denn?"
„Ganz gut, Professor", antwortete Toireasa ohne Überzeugung. „Wie immer."
Er lächelte sie aufmunternd an.
„Du wirst ein wenig spät zu deiner ersten Stunde kommen, aber das ist schon geregelt. Geh jetzt und mach dir keine Sorgen, Toireasa. Ich habe vor wenigen Minuten mit einem Heiler gesprochen und er glaubt, was wir hier tun, ist wahrscheinlich das Beste für ihn."
Innerlich widerstrebend ging Toireasa zur Tür, blickte dann jedoch noch einmal zurück.
„Ich glaube, er hat heute Morgen reagiert", erzählte Toireasa. „Ich hab ihn auf Wahrsagen angesprochen und da war ein ungewöhnliches Zucken."
„Das ist gut", entgegnete der Direktor und schaute Tarsuinn forschend an. „Ich werde sehen, dass Tarsuinn auch in der dritten Klasse an Wahrsagen teilnimmt."
Toireasa wusste nicht, ob auch er etwas gesehen hatte, dazu war ihr Blickwinkel nicht gut genug. Sie ging und auf dem Weg nach draußen hörte sie, wie Professor Dumbledore begann, vollkommen normal mit Tarsuinn zu sprechen und – wenn sie es richtig interpretierte – eine Unterrichtsstunde in Geschichte zu improvisieren.
Düstere Gedanken begleiteten sie durch den Tag. Sie saß müde neben einer genauso verschlafenen Winona, wann immer Ravenclaw und Slytherin gemeinsam Unterricht hatten. Die Worte der Lehrer und ihre Anweisungen plätscherten so dahin. Sie versuchte nicht, dem zu folgen. Sie schrieb mit, wenn es alle anderen taten, und sie versuchte zu zaubern, wenn sie dazu aufgefordert wurde. Erst zur Mittagspause – Winona und Toireasa verbrachten sie draußen allein am Waldrand und aßen die Brote, die die Dienstfreie von ihnen morgens geschmiert hatte – hatten sie etwas Zeit für offene Worte.
„Gestern Abend noch etwas Besonderes passiert?", fragte Toireasa.
„Das Übliche. Er wollte nicht schlafen und versuchte sich wieder den Kopf an der Wand zu stoßen, damit der Schmerz ihn wach hielt. Ich hab ihm einen Turban aus Kopfkissen und Handtuch gewickelt und ihn festgehalten, bis er eingeschlafen war. Aber er hat mich diesmal nicht mit Zaubern angegriffen. Ich hatte das Gefühl, er hat mich irgendwie erkannt."
„Das ist ein Fortschritt", fand Toireasa.
„Ich kann dir heute Abend helfen", bot Winona an.
„Wir müssen schlafen", schüttelte Toireasa den Kopf. „Sonst brechen wir wie Rica zusammen."
„Ich weiß", brummte Winona. „Und Dumbledore kann uns nicht helfen. Tarsuinn reagiert nach dem Aufwachen nicht sonderlich gut auf ihn. Haben wir gestern herausgefunden."
„So schlecht wie auf meine Stimme?"
„Viel schlimmer. Seine Magie war nicht so wild, aber er hat voll Panik geschrien, dass er nicht nach St Mungos will. Hat erst aufgehört, als Dumbledore gegangen war. Weißt du, was da los gewesen sein könnte?"
Toireasa schüttelte den Kopf.
„Er hat nie was erzählt und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was es sein könnte. Professor Dumbledore und Tarsuinn hatten doch eigentlich keine Probleme miteinander. Vor allem im Zusammenhang mit St Mungos."
„Vielleicht hat der Professor Rica geraten Tarsuinn dahin zu schicken?", vermutete Winona.
„Möglich, denkst du, wir sollten fragen?"
Jetzt war es an Winona den Kopf zu schütteln.
„Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir besser auf ihn Acht geben können, weil wir solchen Kram nicht wissen. Professor Dumbledore kümmert sich zwar den ganzen Tag um Tarsuinn, aber irgendwie hab ich immer das Gefühl, er versucht, damit auch irgendwas gut zu machen und schützt ihn vielleicht viel zu sehr."
„Wo du gerade davon sprichst", nahm Toireasa den letzten Satz zum Anlass. „Was hältst du davon, wenn wir Tarsuinn ein wenig mit den anderen in Kontakt bringen? Luna, Merton und so weiter. Schließlich sind bald Osterferien und wir können ihn nicht die ganze Zeit verstecken und einsperren."
„Ich weiß nicht", murmelte Winona.
„Zumindest Luna und Merton", drängte Toireasa. „Ich weiß, du magst Luna nicht so sehr, aber Tarsuinn tut es. Sie hat ihm niemals irgendwie geschadet. Ich denke, er wird sie in seiner Nähe dulden. Und was Merton angeht…"
„Gegen ihn hab ich nichts", betonte Winona.
„Das weiß ich. Ich meine, wir müssen ihn ein wenig einbremsen, damit er nicht auch eine Tür gegen den Kopf bekommt. Ich bin mir sicher, du erinnerst dich daran, oder?"
„Du bist so liebenswürdig zu mir", maulte Winona. „Na gut, aber nur die beiden!"
„Eigentlich wollte ich sie nur als ersten Test einladen", drängte Toireasa weiter. „Wenn das gut geht, dachte ich daran, ihn ganz normal mit durch die Schule zu schleifen. Auch zu den Slytherins."
„Du hast schon mal bessere Scherze gemacht", kommentierte Winona zweifelnd. „Die werden sich doch über ihn lustig machen und wenn er dann austickt…"
„Nein, hör mir mal zu", versuchte Toireasa das andere Mädchen zu überzeugen. „Tarsuinn reagiert doch überhaupt nicht extrem. Ich denke, Ricas Irrtum war, dass sie versucht hat, wieder einen Engel aus ihm zu machen. Doch das funktioniert, wenn überhaupt, nur bei einem Vierjährigen, dem man das Gedächtnis gelöscht hat, und sie hat doch selbst festgestellt, dass dies bei Tarsuinn gar nicht nötig ist. Vielleicht ist es viel besser ihm wieder beizubringen, dass Emotionen nichts Schlimmes sind, auch wenn man mal wütend ist. Ohne Zauberstab ist er überhaupt nicht so stark, als dass es richtig schief gehen könnte, und im Zweifelsfall sind wir ja in der Nähe."
„Das ist trotzdem ein ziemliches Risiko", meinte Winona, doch sie klang nicht mehr so abwehrend wie zuvor. „Willst du wirklich den letzten Rest Tarsuinns darauf verwetten?"
„Ich weiß es nicht", gestand Toireasa. „Glaubst du, er würde so etwas Leben nennen?"
Winona starrte eine Weile still vor sich hin.
„Wir bitten aber Professor Dumbledore um Erlaubnis!", sagte das Mädchen schließlich.
„Anders würde es wohl kaum gehen", atmete Toireasa erleichtert auf. Sie hielt ihre eigene Idee für nicht sonderlich ausgereift, aber wenn Winona zustimmte, war es schon mal nicht nur ihre Entscheidung.
„Wie ist deine Hausaufgabe für Zaubertränke gelaufen?", fragte Winona nach einer Pause.
„Erbärmlich", gab Toireasa zu. „Aber auch von ihm keine Strafaufgaben. Dafür hat er mir nach der Stunde gesagt, man wüsste immer noch nicht, wie der angebliche Filch an den Schlüssel für den Raum kommen konnte."
„Es ist fast so, als versuche er die ganze Zeit, uns mit der Nase auf was zu stoßen. Mir hat er nach meiner Hausaufgabe gesagt, es gäbe nicht nur den Vielsafttrank, um sich in eine andere Gestalt zu verwandeln. Wenn ich nur wüsste…oh, da ist ja unser besonderer Tischgast."
Unter den Bäumen des Waldes war ein großer, zotteliger und schwarzer Hund erschienen und legte sich im Halbdunkel des Waldes auf den Bauch. Der Schwanz des Tieres wedelte freundlich und sein Blick bettelte förmlich nach Essen, aber er kam nicht näher.
Toireasa blickte auf die Brote neben sich. Es waren noch ein paar übrig.
„Wenn Hunde im Schloss erlaubt wären… ich würde ihn adoptieren", meinte Winona und warf dem Tier ein Schinkenbrot zu.
„Ich glaub, das ist ein Streuner, wie er im Buche steht", meinte Toireasa, während der Hund das Brot fing und mit einem Bissen herunterschlang. „Der würde nicht freiwillig bleiben."
„Hast wahrscheinlich Recht. Aber er ist trotzdem kein wilder Hund, denn der würde wie ein Wolf jagen und Menschen meiden. Dieser hier bettelt, also ist er wahrscheinlich bei Menschen aufgewachsen."
„Immerhin meidet er anscheinend das Schloss. Bis auf das eine Mal halt…", sann Toireasa leise und warf dem Tier ein Brot mit Kalbsleberwurst zu. „Vielleicht ist er irgendeine magische Kreuzung und ist mit Tikki befreundet."
„Du meinst, da könnte ein Teil Höllenhund mit drin sein?", fragte Winona neugierig.
„Soweit ich weiß, bekämpfen sich Höllenhunde und normale", sagte Toireasa. „Aber vielleicht frag ich da mal Hagrid. Er meint, mit den richtigen Zaubern oder Tränken könnte man fast alles miteinander kreuzen."
„Egal wie pervers?"
Toireasa nickte und sah vor ihren inneren Augen eine Tausendfüßlerschlange vorbeilaufen.
„Wusstest du, dass das Schnabeltier eigentlich der Versuch war, einen geflügelten Biber zu züchten und den Fehlschlag man mit nem Verschwinde-Zauber verbannt hat?"
„Wozu braucht jemand einen geflügelten Biber?", fragte Winona stirnrunzelnd.
„Frag mich doch so was nicht", murrte Toireasa. „Ich würde das nicht machen."
„Da bin ich mir nicht so sicher", zwinkerte Winona fröhlich. „Du bist wie Hagrid und wenn dir die üblichen Sachen langweilig werden, dann bist du zu allem fähig – wobei ich dir doch ein wenig sinnvollere Ziele zutraue."
„Herzlichsten Dank!", ließ Toireasa sich von der Fröhlichkeit anstecken. „Sobald mir eine Erwiderung einfällt, die nicht lahm ist, werde ich sie dir sagen."
„Okay – ich hätte in zehn Jahren Zeit", lachte Winona laut und warf dem Hund das letzte Brot zu. „Aber jetzt müssen wir zu Dunkle Künste."
Der anschließende Unterricht, die letzte Stunde des Donnerstages, war, wie immer bei Professor Lupin, hochinteressant. Jetzt, da sie eine gewisse Grundlage in Verteidigungsflüchen und Abwehrzaubern hatten, hatte der Lehrer begonnen, ihnen die Praxis mit kleinen Monstern näher zu bringen. Wobei das Schlimmste bisher ein paar Doxys waren, für die Professor Lupin immer ein Gegengift bereithielt, das er netterweise von Professor Snape bekommen hatte.
Heute jedoch ging es um das Hinfallen und wie man sich dabei nicht wehtat. Für Hogwarts eigentlich relativ ungewöhnlich, da Professor Lupin zu Beginn eher eine Sportstunde mit völlig unmagischem Abrollen auf weichen Matten veranstaltete. Da Toireasa und Winona das schon ein wenig von Rica gelernt hatten, fiel es ihnen nicht schwer den Anweisungen Folge zu leisten. Einzig, dass man dabei seinen Zauberstab gezogen hatte und immer auf in einen bestimmten Stuhl zielen musste, war neu. Regina und Vivian hatten jedoch nur Verachtung für dieses schlammblutmäßige (das sagten sie aber nur ganz heimlich) Herumwälzen.
Weit mehr Begeisterung brachten jedoch alle für die diversen kleinen Zaubertricks auf, die man verwenden konnte, um sich nicht die Knochen zu brechen, wenn man vom Baum, Pferd oder aus einem Haus fiel. Die meisten Möglichkeiten waren natürlich eher für erwachsene Zauberer gedacht – Veränderung des Untergrunds zu einer Luftmatratze, einen Luftstoß zum Bremsen, ein Taschentuch vergrößern und als Fallschirm nutzen – aber es gab auch einfachere Versionen für kleinere Stürze. Heute übten sie nur einen Zauber, mit dem man sich Sprungfedern an die Schuhe zaubern konnte. Das half zwar nur bei einer Höhe von 2-5 Metern und es war sehr schwer das Gleichgewicht zu halten, aber dafür war ja auch das Abrollen geübt worden. Aber auch so konnte nichts passieren. Professor Lupin hatte etwas gezaubert, das Winona als Hüpfburg bezeichnet hatte. Egal in welche Richtung man fiel oder ob der Sprungfeder-Zauber überhaupt gelang, man landete immer weich. Es war sehr lustig und so überzogen sie trotz der Pausenklingel deutlich.
„Und beim nächsten Mal versuchen wir einen Seilzauber mit zwei Klebepunkten", verabschiedete sich Professor Lupin laut über die fröhliche Stimmung hinweg. „Und ich erwarte, dass ihr nächstes Mal alle den Sprungfeder-Zauber könnt, ohne dass Madame Pomfrey Arbeit bekommen hat. Übt bitte von einem Stuhl oder maximal von einem Tisch, aber nicht höher. Besonders du, Cassandra. Versuch dich am Anfang von einer Stufe. Du hast den Zauber zwar hervorragend gemeistert und Ravenclaw bekommt dafür einen Punkt, aber dein Gleichgewichtssinn scheint nicht sonderlich ausgeprägt zu sein."
Toireasa bezweifelte, dass Professor Lupins Warnung bei vielen angekommen war, so extrem schnatterten die Schüler auf ihrem Weg nach draußen durcheinander. Einzig Cassandra war still und hochrot geworden.
Sie selbst wartete jedoch, bis alle – außer Winona – gegangen waren.
„Ja, Toireasa? Winona?", fragte Professor Lupin, ohne dass sie etwas sagen musste.
Toireasa warf ihrer Freundin einen kurzen Blick zu. Sie sah keine Ablehnung in Winonas Augen, eher Zustimmung.
„Wir wollten Sie gern sprechen, Professor", sagte Toireasa vorsichtig. „Privat."
„Das habe ich befürchtet", sagte der Professor und klang unerwartet traurig. Er lud sie mit einer weit ausholenden Armbewegung in sein Büro ein.
Die Mädchen folgten ihm und schlossen die Tür hinter sich.
„Sie wissen, worum es geht, Professor?", tat Toireasa so, als wüsste sie schon alles.
„Ich ahne es", wich dieser aus und schaute aus dem Fenster.
„Wir nicht!", mischte sich Winona ein und Toireasa verdrehte die Augen. Da versuchte sie mal ein wenig Slytherin zu sein und schon wurde es sabotiert. Davon unbeeindruckt fuhr Winona fort: „Wir würden aber lieber von Ihnen wissen, worum es bei Ihnen geht. Warum Professor Snape Sie ziemlich unverhohlen verdächtigt und warum Sie sich nicht dagegen wehren?"
„Außerdem würden wir gern wissen, was Tarsuinn von Ihnen wusste?", fügte Toireasa hinzu.
„Tarsuinn hat euch nichts erzählt?", staunte der Professor und seine Augen leuchteten einen Moment lang dankbar auf. „Er ist wirklich unglaublich verschlossen."
„Snape scheint zu glauben, dass dies für Sie ein Motiv sein könnte, ihn loszuwerden", provozierte Toireasa ein wenig.
„Ja, der Ansicht ist Professor Snape sicherlich", nickte Professor Lupin. „Und ich bin mir sicher, viele würden ihm beipflichten."
„Das beantwortet unsere Fragen aber nicht", drängte nun auch Winona. „Warum, Professor?"
Mit einer fast müde wirkenden Bewegung setzte Lupin sich hinter seinen Schreibtisch.
„Es würde euch nicht reichen, wenn ich schwöre, dass ich nichts gegen Tarsuinn unternommen habe?", fragte er traurig.
Toireasa schüttelte den Kopf – aber dies war eine eher zögerliche Geste. Professor Lupin klang so bittend und brachte ihre Entschlossenheit fast ins Wanken.
„Nun – anscheinend muss es wohl jetzt sein", resignierte der Professor und holte tief Luft. „Ihr sitzt gerade einem Werwolf gegenüber und das war es auch, was Tarsuinn herausfand, als er den Wolfsbanntrank roch, den er selbst mitgebraut hatte."
Neben Toireasa keuchte Winona erschrocken auf, während sie selbst die Sache überhaupt nicht richtig berührte.
„Und warum hat Tarsuinn dann so gelacht?", fragte sie und musterte interessiert den Mann, der auch ein Werwolf war.
„Ironie würde ich sagen", lächelte der Professor schwach. „Wir sind uns einmal an Vollmond begegnet und er hielt mich wohl für einen großen, kuscheligen Hund."
„Professor Dumbledore…", begann Winona.
„…weiß Bescheid", erklärte Professor Lupin. „Er hat mich gebeten zu unterrichten, obwohl er schon seit meiner Kindheit davon weiß. Der Wolfsbanntrank sorgt dafür, dass ich für niemanden eine Bedrohung bin. Ohne den Trank und Professor Dumbledores Zuspruch, wäre ich das Risiko niemals eingegangen."
Langsam fraßen sich die Konsequenzen des eben Gehörten in Toireasas Hirn. Als Zaubererkind war sie aufgewachsen mit warnenden Geschichten über den Schwarzen Mann und an Vollmond hatte dieser die Gestalt eines Werwolfes besessen. Es war fast schon ein angeborener Instinkt, bei Vollmond einen nächtlichen Wald zu meiden. Natürlich wusste sie, dass die armen Verfluchten nur kranke Menschen waren, die nichts dafür konnten. Zumindest hatte sie das dank ihrer Großeltern und diversen Büchern für sich entschieden, aber sie wusste auch, dass es Menschen wie ihre Stiefmutter gab, die es für eine wohlverdiente Strafe für irgendetwas hielten und gleichzeitig am liebsten das Übel an der Wurzel gepackt hätten. Was übersetzt bedeutete – eine Ausrottung aller Träger der Krankheit. Weniger extreme Meinungen sahen eine Isolation auf einer Insel vor, wobei Toireasa die Idee für ziemlich undurchführbar hielt, denn wie wollte man einen Zauberer dort festhalten, wenn nicht in einem Gefängnis á la Askaban? Sie kannte auch die Meinung, dass man die Erkrankten nicht in die Illegalität drängen durfte. Wenn man alle Werwölfe kannte, dann konnte man ihnen helfen und Ansteckungen vermeiden. Jagte man sie wie Tiere, dann bestand immer die Gefahr, dass sie keinen Ort fanden, um sich an Vollmond einzusperren, oder ihnen die Möglichkeiten fehlten, diesen Wolfsbanntrank zu sich zu nehmen. Außerdem konnte Verfolgung jemanden so in die Enge treiben, dass ihm irgendwann alles egal war und er in Wut und Verzweiflung alles biss, nur um sich für sein versautes Leben zu rächen.
Toireasa erinnerte sich schmerzhaft daran, wie Professor Lupin am Anfang des Schuljahres ausgesehen hatte.
„Was werdet ihr jetzt tun?", fragte der Lehrer leise.
Hilfesuchend sah Winona zu ihr herüber. Solche Sachen waren Toireasas Fachgebiet – leider.
„Wir wissen es nicht", antwortete Toireasa ehrlich und erhob sich.
„Verstehe", sagte Professor Lupin freundlich. „Bitte lasst es mich zuerst wissen, wenn ihr eine Entscheidung getroffen habt."
Sie nickte nur und verließ schweigend das Büro. Winona folgte ihr auf dem Fuß.
Erst als sie kurz vor den Räumen des Direktors waren, fand wenigstens Winona ein paar passende Worte.
„Jetzt weiß ich, was mein Vater mal meinte, als er sagte: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß."
Die Osterferien waren da und die Mädchen hatten niemandem etwas von Professor Lupins Geheimnis erzählt. Zum einen, weil sie absolut keinen Schimmer hatten, was sie eigentlich von der Sache halten sollten, und zum anderen, weil sie nicht glaubten, dass der Professor deswegen Tarsuinn etwas antun würde.
Der Zustand des Jungen hatte sich nicht verändert. Immer noch verbrachte er den Tag in völliger Emotionslosigkeit und nur zwischen Wachsein und Schlaf konnte man seine Seele in ihm erkennen. Das Einzigste was sie noch herausgefunden hatten war, dass er recht gut auf die Stimme der Grauen Lady reagierte und diese ihn jetzt immer in den Schlaf sang.
„Hallo, Luna", grüßte Toireasa das Ravenclaw-Mädchen, das allein in der warmen Sonne am See saß und ein recht exotisch wirkendes Buch mit einer Lupe studierte. Das Mädchen hob den Kopf, ohne dabei die Lupe von ihrem Auge zu nehmen, und so starrte Toireasa ein riesiger Augapfel an. Selbst bei dieser Vergrößerung war es ihr unmöglich zu erkennen, ob die Augenfarbe nun ein helles Blau, Grün oder Grau war. Alles schien vom Lichteinfall abhängig. Langsam senkte sich die Lupe und ohne einen Gegengruß starrte Luna sie an.
„Interessante Lektüre?", tat Toireasa neugierig. Die Buchstaben des Buches waren groß genug, um sie auch ohne Lupe erkennen zu können.
Ohne den Blick abzuwenden, nickte Luna abwesend.
„Ich hab mich gefragt, ob du nicht Lust auf einen kleinen Spaziergang hättest?", versuchte Toireasa es weiter und verstand langsam, warum Winona ihr diese Aufgabe zugeschoben hatte.
Eine Sekunde lang regte sich bei Luna kein Muskel, dann schlug sie ihr Buch zu und erhob sich.
„Gerne", sagte sie und starrte nun über Toireasas Kopf hinweg über die Wipfel des Verbotenen Waldes. Ihre Augen bewegten sich dabei ein wenig, so als würden sie etwas verfolgen. Toireasa sah interessiert dorthin.
„Erschreckend und schön. Geradezu erschreckend schön", murmelte Luna.
„Thestrale!", murmelte Toireasa und schaute dann wieder das Mädchen an. Sie hatte keine Ahnung gehabt…
Jedes Wort wäre in diesem Moment falsch gewesen. Toireasa wollte nicht gefragt werden, also fragte sie selbst auch nicht. Da es bei Mädchen nichts Verwerfliches war, das blödes Gekicher auslöste, nahm sie Lunas Hand und führte sie zum Schloss. Jeder andere hätte gefragt, was denn das für ein Spaziergang war, doch das Ravenclaw-Mädchen schien sich nicht daran zu stören.
„Bringst du mich zu Tarsuinn?", fragte Luna plötzlich, als sie den Gang zu Dumbledores Büro betraten.
Toireasa war dermaßen überrascht, dass sie nur: „Äh, ja", zustande brachte.
„Wurde auch langsam Zeit", fand Luna, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Na ja, du musst wissen,…", Toireasa fragte sich warum sie das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen, „…dass er in einer nicht gerade perfekten Verfassung ist. Du musst also vorsichtig sein."
„Tarsuinn ist eine größere Gefahr für sich selbst, als für seine Umwelt", versicherte Luna ungerührt.
Toireasa hielt ihr zugute, dass sie das Büro des Lehrers für Gefährliche Kreaturen nicht gesehen hatte.
„Darauf würde ich nicht unbedingt vertrauen", bat sie das Mädchen.
„Ich werde sehen."
Langsam öffnete Toireasa die Tür zu Tarsuinns neuem Schlafraum.
Merton war schon da und redete fröhlich auf einen bewegungslosen Tarsuinn ein.
„…und ich hab jetzt auch Zaubertrank-Unterricht was abgewinnen können. Wir haben doch vor Weihnachten diese Schwell-Lösung gebraut – ach, das kannst du ja nicht wissen. Zumindest hab ich es endlich geschafft und mir dann die ekligste und schleimigste Schnecke von den Außenbeeten geklaut, sie vor Filchs Büro ausgesetzt und extrem vergrößert. Ich schwör dir, sie hat kaum in den Gang gepasst und eine zentimeterdicke Schleimspur den Gang entlang gezogen. Ich hab dann nen Stock schweben lassen und damit ans Büro geklopft. Danach bin ich weggeschlendert, weil ich nicht erwischt werden wollte, aber ich hab deutlich gehört, wie Filch in dem Schleim ausrutschte und lauthals fluchte. Ich wünschte, du wärst dabei gewesen. Und das Beste dabei ist, niemand wird mich verdächtigen, weil ich im Unterricht bei der Schwell-Lösung völlig versagt habe. Nun sag schon was, das ist doch das Schlimmste und auch Beste was ich je hinbekommen habe."
„Und warum hast du nicht den Schmierenzauber genommen?", fragte Winona kichernd.
„Weil ich den nicht hinbekomme und ihr nie Zeit hattet, ihn mir beizubringen", verteidigte sich Merton und fügte leise hinzu: „Wenigstens weiß ich jetzt, warum ihr immer was anderes zu tun hattet."
„Was ist mit ihm?", fragte Luna ernst, während sie Tarsuinn musterte. In ihren Augen lag wirklich so etwas wie Sorge.
„Er hat wohl ein wenig Angst vor dem Leben", formulierte es Merton deutlicher, als es Toireasa in Gegenwart von Tarsuinn gemacht hätte.
„Davor muss man keine Angst haben", sagte Luna und kniete sich vor Tarsuinn nieder. Sanft nahm das seltsame Mädchen die Hände des Jungen und führte diese zu ihrem Gesicht.
„Ich bin es", flüsterte sie dabei leise. „Luna! Erkennst du mich?"
Fasziniert betrachtete Toireasa, wie Tarsuinns Finger sich zu regen begannen und langsam über das Gesicht des Mädchens glitten. Es war eines von Toireasas Argumenten gegenüber Winona gewesen, dass Luna in einer Bewusstseinsebene schwebte, die dem Jungen vielleicht näher war als die Realität, hatte sich selbst aber wenig Hoffnung gemacht.
Doch er reagierte. Langsam – ohne die Finger von Lunas Gesicht zu nehmen – rutschte er von seinem Stuhl und als er dann ihr gegenüber kniete, legte er vorsichtig seine Wange gegen die ihre.
„Luna!", flüsterte er kaum hörbar und Toireasa öffnete erstaunt den Mund. Wie konnte er sie am Gesicht erkennen?
Winona winkte Toireasa verstohlen zu ihr zu kommen.
Um den Moment nicht zu stören, schlich sie sich im großen Bogen zu dem Mädchen, das auf Tarsuinn deutete. Seine Augen leuchteten silbern.
„Ist das gut oder schlecht?", flüsterte Winona ihr ins Ohr. Toireasa konnte nur mit den Schultern zucken. Rica hätte es sicher nicht gut gefunden, aber im Moment war sie der Ansicht, dass es eher harmlos war.
Tarsuinn zwinkerte, seine Augen waren wieder grau und er löste sich von Luna.
Luna schien enttäuscht zu sein.
„Tarsuinn?", drängte sie und berührte nun ihrerseits seine Wangen.
„Das war schon mehr, als wir zustande bekommen haben", sagte Toireasa sanft und half dem Mädchen auf die Füße. „Hättest du Lust, uns täglich zu helfen…?"
Zwei Tage später spielte Toireasa mit Tikki im strahlenden Sonnenschein Frisbee. Das war an sich nichts Besonderes, aber es war Mittag und Tarsuinn saß auf einer Decke, wo ihn alle anderen Schüler draußen sehen konnten. Toireasa versuchte sich so normal wie möglich zu geben, doch ihr fielen die vielen neugierigen Blicke der anderen Schüler durchaus auf. Wenigstens aber kam niemand herüber und fragte. Winona war sich gerade umziehen gegangen, denn sie hatte zusammen mit einigen anderen – auch älteren – Ravenclaws etwas getan, was sie Anbaden genannt hatten und nichts anderes beinhaltete, als in noch viel zu kaltes Wasser zu springen, wenig später mit blauen Lippen herauszukommen und das für einen großen Spaß zu halten. Für Toireasa – ein Mädchen, das noch immer der Überzeugung war, dass Schwimmen, Wasser und Freiwilligkeit keine Worte waren, die zusammen in einen Satz gehörten – ein unverständlicher Vorgang.
Sie wollte gerade einen möglichst raffinierten Wurf ansetzen, um Tikki mal zu überraschen, als diese plötzlich an Toireasa vorbei Richtung Tarsuinn lief.
Schnell fuhr sie herum und sah, dass der Junge aufgestanden war und eben wie ein Traumwandler auf den Wald zuging. Sie lief zu ihm hin und hielt ihn fest.
„Bleib bitte stehen, Tarsuinn", sagte sie und spürte das Herz bis zum Hals schlagen, so erschrocken hatte sie sich.
Er folgte der Bitte. Seine Augen waren wieder – und diesmal vollkommen – silbern und er summte ein seltsames Lied.
Tikki sprang aus dem Stand auf seine Schulter, drängte sich gegen Tarsuinns Ohr und begann ihrerseits eine Art fiependen Gegengesang. Toireasa hörte, wie sich das Summen des Jungen langsam veränderte und mit jedem Zwinkern wurden seine Augen wieder grauer.
„Jetzt weiß ich, was Rica gemeint hat!", keuchte sie entsetzt und flüsterte in sein Ohr. „Gib dem Einhorn bitte nicht nach, Tarsuinn. Du gehörst zu den Menschen – zu mir, nicht zu ihnen. Komm, wir gehen zum Schloss."
Widerstandslos folgte er ihr, während sie die Decke und Tikkis Spielzeugbeutel aufnahm und ihn ins Schloss brachte. Toireasa wollte ihn rauf in sein Zimmer bringen – der Schock in ihr saß noch immer tief – doch zum ersten Mal weigerte er sich. Nicht mit Worten, doch sie fühlte Widerstand an ihrer Hand.
„Wo möchtest du hin, Tarsuinn?", fragte sie und wünschte sich, einer der anderen wäre hier. Sie übte keinen Druck mehr auf seine Hand aus und wartete.
Mit langsamen Schritten ging er voran. Toireasa musste ihn einige Male vor ein paar Rüstungen oder Mauern bewahren, aber im Grunde wusste sie, er hatte ein bestimmtes Ziel.
Dann öffnete sich der Gang und sie standen am Rande von einem der kleinen Innenhöfe. Am Liebsten wäre Toireasa sofort wieder abgehauen, denn sie kannte diesen besonderen Fleck im Schloss. Es war nun schon über ein Jahr her, dass sie sich hier befunden hatte.
In dem Innenhof wimmelte es von Slytherins.
Im Gegensatz zur Meinung vieler Nicht-Slytherins waren Slytherinschüler nicht zwangsläufig mit einer Sonnenallergie geschlagen und mochten es durchaus, auch im Hellen zu existieren. Dies hier war der Ort, an dem sie draußen, aber doch unter den ihren sein konnten. Natürlich gab es kein offizielles Verbot für andere Schüler, aber alle Schüler der anderen drei Häuser wussten, dass sie hier nichts zu suchen hatten – wenn man von einem blond gelockten Mädchen mit dem Löwen Gryffindors auf dem Umhang absah.
Es befand sich offensichtlich in einer misslichen Lage, denn es versuchte hüpfend das Gleichgewicht zu halten. Es schien, als wären seine Beine zusammengewachsen. Zu den Füßen des Mädchens lag jedoch noch ein kleiner Junge, und dieser schien zu weinen.
Einige Slytherins mit bösartigen Gesichtern umringten die beiden.
„Ehre und Glorie dem alten Slytherin", sagte das blonde Mädchen und blitzte die Slytherins dabei an. Ihre Stimme plätscherte so schnell wie ein Wildbach. „Wie sehr würde er sich freuen, eure Fähigkeiten zu würdigen. Wie ihr mächtige Eindringlinge und Feinde so schnell und zielstrebig zur Strecke bringt, statt es mit einem freundlichen Wort zu versuchen. Noch nie hat die Sonne solch meisterhafte Beherrschung und Mut gesehen. Erzittert ihr Ungläubigen, denn ein Slytherin hat es einen Muggelgeborenen mal richtig gezeigt. Gott! Bist du erbärmlich!"
„Bring sie endlich zum Schweigen, Aidan", erklang Reginas hoheitsvolle Stimme. „Sie nervt!"
Erst jetzt realisierte Toireasa, wen das Gryffindor-Mädchen direkt ansprach und vor Scham und Wut spürte sie das Blut in ihre Wangen steigen.
„Silencio!", sagte Aidan gelangweilt und das mutige Mädchen verstummte, was es jedoch nicht daran hinderte, seine Meinung jetzt gestenreich zu vertreten. Dafür konnte man nun das Schluchzen eines kleinen Jungen umso deutlicher hören.
Aidan beugte sich zu ihm herunter und hob unsanft seinen Kopf an den schwarzen Haaren hoch. Ein völlig verängstigtes Gesicht schaute ihm entgegen. Auf seiner ebenholzfarbigen Haut schimmerten Tränen.
„Hast du jetzt kapiert, dass dieser Platz nicht allen gehört, Schlammblut?", fragte Aidan unter johlendem Beifall von Malfoy, Crabbe, Vivian und einigen anderen. Der Junge versuchte zu nicken.
„Ich will es hören!", verlangte ein Junge namens Nott.
„Ja", krächzte der Kleine.
Toireasa fand, dass es jetzt langsam reichte. Bisher schien sie niemand bemerkt zu haben.
„Tarsuinn, geh bitte in dein Zimmer", sagte sie.
Doch statt dem nachzukommen, setzte er sich auf eine Steinbank. Wie um Schutz zu suchen, zog er seine Beine an und zog den Umhang darüber. Er sah aus wie ein kleiner Stein, aus dem ein Kopf wuchs. Tikki sprang neben ihn auf die Bank und suchte sich einen Weg unter den Umhang.
„…so – und jetzt musst du nur dafür sorgen, dass auch die freche Miss Gab das nicht vergisst", ertönte Reginas Stimme durch den Innenhof.
Wo war der verdammte Snape, wenn man ihn mal brauchte?, fluchte Toireasa innerlich.
Sie sah, wie Aidan ganz kurz zögerte und sich dann mit kalten Augen an das blonde Mädchen wandte. In dem runden Engelsgesicht der Gryffindor zeigte sich keine Angst und stattdessen vollführte sie eine stille Geste, wie sie auch Winona in Snapes Rücken meist bevorzugte.
„Lass sie zufrieden, Aidan", mischte sich Toireasa jetzt laut ein und ihr Zauberstab zeigte auf ihren ehemaligen Stiefbruder. Es war dumm, es war wie eine Gryffindor gehandelt, aber sie konnte einfach nicht nur zusehen. „Das wird Slytherin viele Punkte kosten."
„Willst du uns wieder verraten?", keifte Regina von der Seite.
„Das ist gar nicht nötig", sagte Toireasa und blickte Aidan in die Augen. „Denn die beiden werden es melden und dann sieht es nicht gut aus."
„Ach, werden sie das?", fragte Aidan eiskalt und gab dem blonden Mädchen einen beiläufigen Schubs, sodass es umfiel. Dann beugte er sich zu dem farbigen Jungen hinunter. „Du willst doch sicher nicht noch mehr Ärger, oder? Ich garantiere dir, sollte irgendein Lehrer hiervon erfahren, dann war das nicht unsere letzte Begegnung, verstanden? Du kannst entscheiden, ob du so…", das Gesicht des Jungen war plötzlich mit vielen kleinen Eiterbeulen verunstaltet, „…oder so…", die Beulen verschwanden wieder, „…herumlaufen willst. Also?"
„Ich werde niemandem davon erzählen. Versprochen!", jammerte er verheult.
Aidan richtete sich wieder auf und starrte feindselig Toireasa an.
„Kein Problem mit dem Schlammblut also", urteilte er. „Und nun…"
Er wollte mit seinem Stab auf das blonde Mädchen deuten.
„Expelliarmus!", sagte Toireasa und ein roter Strahl traf Aidan an der rechten Schulter.
„Wow, kleines Schwesterchen", lachte er abfällig. „Mehr, als ich dir zugetraut hätte."
Sein rechter Arm – der immer noch den Zauberstab hielt – hing schlaff herab. Lässig nahm er den Stab in die linke Hand. „Hätte nicht gedacht, dass du dich das hier traust. Echt unangenehm – für dich. Ich werde…"
Ein Lähm-Fluch traf Toireasa in die Seite und warf sie um. Sie war nicht sonderlich überrascht, denn sie hatte nicht damit gerechnet, ungeschoren davonzukommen.
„Das war mein Job!", ärgerte sich Aidan.
„Ich wollte dir das Problem nur abnehmen", hörte Toireasa Regina sagen. „Nicht, dass du Probleme mit deiner Mutter bekommst. Außerdem hast du doch gesagt, ich dürfe mit ihr spielen, wenn wir sie mal allein erwischen. Im Moment würde ich sagen, die Bedingung ist erfüllt. Oder zumindest sind wir nur von vertrauenswürdigen Freunden umgeben."
Gemeines Lachen erklang.
„Ich denke, ein Juckfluch wäre ein guter Anfang, nicht, Aidan? Also dann…"
Regina sprach einen Fluch, doch Toireasa spürte nichts Negatives. Nur ein kurzes Brummen. Sie versuchte den Kopf zu heben.
„Was zur Hölle…", fluchte das Mädchen und im Hintergrund war erstauntes Gemurmel zu hören. „Furnunculus!"
Diesmal sah Toireasa den Fluch kommen und konnte so auch erkennen, wie er plötzlich an einem schmetterlingsförmigen, magischen Schild zerfaserte.
„Erstaunlich, Schwesterchen", sagte Aidan, bückte sich zu ihr herunter und versuchte sie zu berühren. Wieder erschien das Schild.
„Das muss der Zombie da drüben sein", sagte Vivian Hogan. „Ich hab so ein Schild bei ihm schon mal in Dunkle Künste gesehen."
„Quatsch", widersprach Malfoy. „Der kriegt doch offensichtlich nichts mit."
„Das werden wir ja gleich sehen", erklärte Regina hochnäsig. Hilflos sah Toireasa zu, wie das arrogante Mädchen zu ihrem Freund ging. „Heh, Zombie, Bedlam, Missgeburt! Irgendwer da drin?"
Sie klopfte dem Jungen mit den Fingerknöcheln auf den Schädel.
„Klingt meiner Meinung nach absolut hohl", lachte das Slytherin-Mädchen. „Na, stört es dich nicht, was wir hier mit der Blutsverräterin, dem Schlammblut und dem kleinen Großmaul machen?"
Tarsuinn reagierte nicht, doch Toireasa versuchte verzweifelt den Fluch abzuschütteln. Ihre verkrampften Hände hielten noch ihren Zauberstab, sie musste nur ihre Kiefermuskeln weit genug lockern, um wieder sprechen zu können.
„Ich denke, der ist leer wie ein Longbottom", sagte Nott. „Typen wie der sind doch schon von Geburt her weich in der Birne und nicht zurechnungsfähig. Mein Dad meint, Schwachsinnige sollte man aus den Blutlinien entfernen."
„Ich sag aber trotzdem, dass er das mit dem Schutzzauber ist", beharrte Vivian. „Schaut!"
Sie sprach einen Fluch gegen Toireasa und wieder erschien das Schild.
„Ich hab nichts gesehen", sagte Nott.
„Schaut doch selbst, seine Augen sind plötzlich viel dunkler!", widersprach Vivian. „Und jetzt wieder grau."
„Hör auf sie zu beschützen, McNamara!", befahl Regina genervt.
Sie gab Tarsuinn eine Ohrfeige und langsam verfiel Toireasa in Panik. Das lief völlig falsch! Man durfte den Jungen nicht reizen – zumindest war sie bisher dieser Ansicht gewesen.
Dann – ganz leise – sagte Tarsuinn etwas und seine Stimme schien von ganz tief unten zu kommen: „Ich habe jemandem versprochen sie zu schützen."
„Wem?", fragte Regina und wieder gab sie ihm eine Ohrfeige. „Wem, du Missgeburt?"
Zum ersten Mal hob Tarsuinn den Kopf in den Nacken und schien Regina direkt anzusehen.
„Ich wünschte, alle Menschen wären Caeruleus", sagte er in einer Art Singsang und plötzlich ging ein leichtes Glühen von ihm aus, das jedoch sehr schnell auf Regina übersprang. Das Mädchen sprang erschrocken zurück und wenn Toireasa hätte lachen können, sie hätte es getan. Zum einen, weil Tarsuinns und Reginas Haut langsam einen tiefblauen Ton annahmen und zum anderen, weil das Leuchten auf die Schüler neben ihr übersprang und auch deren Hautfarbe veränderte.
Tarsuinn starrte Regina mit schwarzen Augen und dunkelblauem Gesicht an.
„Eins! Und wenn ich bei fünf bin, fetzte ich dir das Fleisch von den Gliedern", sagte der Junge leise. „Zwei..."
Regina wartete nicht auf die Drei, sondern rannte voller Panik los. Jeder, an dem sie näher als ein paar Meter vorbei kam, fing sich das Leuchten und die blaue Haut ein, was dazu führte, dass alle dem Mädchen hektisch aus dem Weg sprangen. Keine zehn Sekunden später war der Innenhof von Slytherins geleert. Leider konnte Toireasa noch immer nur den Kopf ein wenig drehen.
Tarsuinn war aufgestanden. Unter seinem Umhang fiel Tikki elegant zu Boden und schien bester Laune. Toireasas Blick jedoch haftetet, fest auf den Augen des Jungen. Sie waren pechschwarz und schienen wie ein schwarzes Loch zu wirken. Er schlug den Umhang zurück und jetzt konnte sie erkennen, dass er seinen Zauberstab in den Fingern hielt. Langsam kam er näher, kniete nieder und legte sich dann neben sie. Seine Augen waren nur wenige Zentimeter von ihr entfernt und quälend langsam änderten sie die Farbe zu grau, während zwei schwarze Tränen über sein blaues Gesicht liefen.
„Warum ist nicht die gesamte Welt blau?", fragte Tarsuinn leise und dann schloss er die Augen. So vergingen einige bewegungslose Minuten, in denen Tikki immer wachsam um sie herumstrich.
„Lass uns hier abhauen, Johanna", sagte dann eine Jungenstimme.
„Wir können sie doch nicht einfach so liegen lassen", sagte die Angesprochene und das musste wohl das blonde Mädchen sein. „Immerhin haben sie uns geholfen."
„Sie ist ne Slytherin und der ging es doch nur um die Punkte", sagte der andere mehr ängstlich, als bösartig. „Außerdem lässt der Fluch sicher bald nach."
„Du kannst ja schon mal gehen, Lester. Sag am besten Percy Bescheid. Der kümmert sich sicher drum."
„Den Teufel werd ich tun. Hast du gesehen, was der Bruder von der hier gemacht hat? Nee, wir vergessen das ganz schnell und sehen zu, dass wir nie wieder hier lang gehen!"
„Der Platz gehört denen nicht."
„Bitte, Johanna! Lass es gut sein. Meine Eltern sind Muggel! Du weißt nicht, wie das ist. Die werden immer auf mir rumhacken, aber wenn ich mich jetzt beschwere, dann machen die umso schlimmer weiter."
„Dann wehr dich wenigstens!"
„Ja, wie denn? Die waren alle viel größer. Dir haben ja deine Eltern einige hilfreiche Sachen beigebracht, aber ich weiß nur, wie man Fußball und Kricket spielt."
„Was ich von meinen Eltern gelernt hab, war vor allem Dankbarkeit zu zeigen, wenn jemand es verdient, und ich wette, das haben dir deine Eltern auch beigebracht. Beruhig dich, denk dran, was für ein Glück wir hatten und wie die gerade Madame Pomfrey belagern und...da fällt mir ein…"
Der gelockte Blondschopf mit dem runden Gesicht erschien in Toireasas Blickfeld.
„Dauert nur einen Augenblick", versprach das Gryffindor-Mädchen und stieß einen gellenden Pfiff aus, der Tarsuinn zusammenzucken ließ und selbst Toireasa durch Mark und Bein ging.
Keine zehn Sekunden später rauschten zwei kleine Flügel durch die Luft.
„Du bist der schnellste, Fulmen", lobte Johanna wahrscheinlich ihre Eule. „Ich hab einen Expressbrief für dich. Einen Moment."
Dann hörte Toireasa eine Feder über Papier kratzen. Netterweise las Johanna laut beim Schreiben vor:
„Liebe Großtante Poppy, könntest du bitte die blauen Slytherins ein wenig zappeln lassen? Sie haben das verdient! Gruß Johanna. So – das dürfte witzig werden. Beziehungen schaden nur dem, der keine hat."
„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?", fragte der Junge namens Lester zweifelnd.
„Ja! Und jetzt helfen wir dem Mädchen da", sagte Johanna streng und versuchte danach den Lähmfluch, der auf Toireasa lag, zu brechen. Doch bei dem Versuch blieb es auch. Immer wieder sprach Johanna die Formel, doch jedes Mal irgendwie falsch. Toireasa war froh, dass wenigstens nichts Schlimmes dabei geschah, auch wenn sie zugeben musste, dass das Gryffindor-Mädchen durchaus Ausdauer – oder eine gehörige Menge Trotz – besaß.
Wenigstens ließ der Fluch langsam von selbst nach und sobald Toireasa ihren Zauberstab auf sich selbst wenden und den Kiefer bewegen konnte, brach sie den Fluch selbst.
„Danke!", sagte sie, während sie aufstand und den Schmutz aus ihren Sachen klopfte. Mit einem Lächeln stellte sie fest, dass Johanna kleiner war als sie selbst, und das gefiel ihr sehr bei einer Erstklässlerin. Endlich konnte sie sich mal älter fühlen. „Obwohl du den Gegenfluch noch üben musst."
„Ich weiß", strahlte das Mädchen offen. „Dunkle Künste ist nicht gerade mein Fach."
„Das solltest du bei deinem Mundwerk dringend ändern", meinte Toireasa und zwinkerte verschwörerisch. „Als Gryffindor bekommst du fast sicher Ärger mit meinen Hauskameraden. Ist fast ein Gesetz. Vor allem wenn ihr, wie ich hoffe, am Wochenende den Quidditchpokal gewinnt."
„Das werden wir", versicherte Johanna stolz. „Wir haben die besten Jäger, den perfekten Torwart, einen außergewöhnlichen Sucher, den besten Rennbesen der Welt und natürlich das Gute auf unserer Seite. Niemand kann uns das Wasser reichen – es muss schon Wein sein. Wenn wir übers Spielfeld fegen, gehen die Maulwürfe in Deckung und die Schlange schlägt sich in die Büsche. Wir…"
„Schon gut, schon gut", lachte Toireasa über den Wortschwall. „Ich hab's ja schon kapiert. Ihr seid einfach unschlagbar."
„Genau!", bestätigte das Mädchen stolz.
„Was ist mit deinem Freund?", fragte Lester schüchtern, welcher, wie Toireasa erst jetzt bemerkte, auch zu Gryffindor gehörte.
„Er war schon den ganzen Tag ein wenig müde", erklärte Toireasa leichthin.
„Ist das Blau ungefährlich?"
„Ich denke schon. Aber ich bringe ihn doch besser zu Madame Pomfrey. Besonders, weil ich gespannt bin, ob der Zauber auch auf sie übergesprungen ist."
„Oh ja. Ich komme mit", sagte Johanna begeistert.
Toireasa bat Tarsuinn aufzustehen und bevor sie ihn zum Krankenflügel brachte, wischte sie ihm die schwarzen Tränenspuren von seinem blauen Gesicht.
„Das hast du großartig gemacht", lobte sie ihn, obwohl er wieder völlig abwesend wirkte. Sie beschloss, im Moment lieber nicht daran zu denken, was er zwischen Eins und Zwei gesagt hatte, wusste aber, dass sie nicht darum herum kam, dies Professor Dumbledore mitzuteilen. Egal, ob er es nun als Bluff, Scherz oder Drohung gemeint hatte.
Madame Pomfrey war nicht blau geworden, dafür über zwanzig Slytherins und ein Hufflepuff, der das Pech gehabt hatte, Regina zu begegnen. Am Ende hatte sich alles als absolut harmlos herausgestellt. Die Farbe war nicht echt, sondern nur eine Art ansteckende Illusion. Onkel Filius war durchaus fasziniert von diesem Effekt gewesen und auch Professor Dumbledore hatte interessiert die Augenbrauen gehoben. Anscheinend konnte ein erfahrener Zauberer diesen Effekt fast aus dem Stehgreif erzeugen, doch anscheinend war noch nie jemand auf den Gedanken, es auf diese Weise anzuwenden.
Was jedoch niemand wusste war, ob Tarsuinns Reaktionen der letzten Tage gut oder schlecht waren. Selbst Rica schrieb, dass sie keinen Schimmer hatte, was sie davon halten sollte. Auch dass Tarsuinn seinen Zauberstab nicht mehr hergeben wollte, war eine der ungeklärten Sachen. Die Einzige, die sich darüber überhaupt keine Sorgen zu machen schien, war Tikki. Vielleicht aber war sie auch nur glücklich, dass Tarsuinn sie wieder streichelte, wenn sie darum bettelte.
Und das war auch in Toireasas Augen der größte Lichtblick. Auch wenn vieles nur Gewohnheitsaktionen waren, so machte der Junge doch inzwischen vieles selbstständig, ohne dass er dazu aufgefordert werden musste. Ab und an konnte man fast vergessen, wie abwesend und stumm er trotzdem immer noch blieb. Wenn Winona, Tarsuinn und Toireasa zusammen auf einer Bank saßen und die Abendsonne still genossen, war es fast wie früher.
Zum Beispiel jetzt, wobei es nicht sonderlich still war. Im Quidditch-Stadion kochte die Stimmung, während Toireasa und Winona mit dem Fernglas an einem Fenster des Schlosses hingen und zusahen. Tarsuinn saß zwischen ihnen auf einem mitgebrachten Stuhl und streichelte Tikki. Ein wenig bedauerte Toireasa, dass sie so weit weg war, aber bei Slytherinspielen blieb sie eh meist fern und außerdem hielt sie es für besser nicht beim Anfeuern für Gryffindor gesehen zu werden. Besonders um vorzusorgen, falls Slytherin den Pokal nicht gewann. Vorsichtshalber hatte sie auch schon Matratze, Decke und Schlafanzug zu Tarsuinns Quartier geschmuggelt. Regina war seit ihrer blauen Phase – bei ihr hatte die eine Weile länger gedauert – noch schlechter auf Toireasa zu sprechen. Dazu kam auch noch, dass Aidan einen regelrechten Hass auf Tarsuinn und Toireasa zu entwickeln schien. Das musste sie sich nicht geben. Falls frustrierte Slytherin-Schüler in ihren Gemeinschaftsraum kamen und sich irgendwo abreagieren wollten, wollte Toireasa nicht in der Nähe sein.
Eigentlich hätten Tarsuinn und Winona unten im Stadion sein sollen, doch der Junge war trotz der Ohrenschützer nicht bereit gewesen hinzugehen.
„Kein schönes Spiel", murrte Winona, obwohl sie atemlos zuschaute.
„Ja, fast nur Freistöße", stimmte Toireasa zu und stieß begeistert die Faust in die Luft, als Oliver Wood einen Strafstoß von Markus Flint hielt.
„Ich bin fast versucht zu wetten, wer als Erster in der Krankenstation landet", murmelte Winona.
„Tja, Flint hat heute Morgen die Parole ausgegeben: Nur ein heruntergefallener Gryffindor ist ein guter Gryffindor. Das mit dem allgemeinen Beifall heut Morgen für die Löwen, hat ihm nicht gut getan."
„Aber im letzten Spiel die halbe Mannschaft auszuwechseln ist doch eigentlich selten dämlich…Mist, Tor für dein Haus."
„Flint glaubt einfach nicht, dass Malfoy eine Chance gegen Potter und den Feuerblitz hat. Im Grunde hofft er, mit Fouls und Klatschern die Gryffindors ausschalten zu können, weil auch unsere Jäger nicht die Creme sind. Mit den Nimbus sind sie gut, aber nicht überragend."
„Flint wäre gut, wenn er mehr mit den anderen spielen würde."
„Slytherins sind keine Team- sondern Hierarchie-Spieler", fasste Toireasa die Spielweise ihres Hauses zusammen. „Das kann auch gut funktionieren, wenn Flint gut drauf ist und die Gegner auf seine Taktik reinfallen. Aber im Moment denke ich, er hätte die Taktik schon vor zehn Minuten wechseln sollen, wenn er das denn mit diesen Spielern…hast du das gesehen?"
„Was glaubst du, wo ich die ganze Zeit hinschaue?"
„Dann schau mal auf McGonagall. Ich glaub, am liebsten würde die Malfoy für dieses Foul einen Fluch auf den Hals hetzen."
„Wegen mir muss sie sich keinen Zwang antun", lachte Winona. „Wenn ich mir sicher wäre aus dieser Entfernung zu treffen…Mist, der ging weit daneben."
Die Jägerin der Gryffindors hatte den fälligen Strafwurf völlig verrissen und wenige Sekunden später verkürzte Slytherin auf zwanzig zu siebzig.
„Jetzt braucht Gryffindor wieder ein Tor vor dem Fang. Potter muss ziemlich aufpassen, dass…arrrrg."
Vor Toireasas Fernglas verdunkelte irgendetwas Braunes die Sicht und kam auf sie zugeschossen. Sie stolperte rückwärts, nahm das Glas von den Augen und sah erst jetzt, dass eine Eule auf sie zuflog und noch ein ganzes Stück weg war. Instinktiv streckte sie den Arm aus.
Doch die Eule hatte nicht vor zu landen. Direkt vor dem Fenster ließ sie los, was in ihren Krallen war, und drehte mit einem waghalsigen Manöver ab. Toireasa fing ein ledernes Etwas, welches sich als kleiner Beutel herausstellte. Außerdem war ein Brief daran befestigt.
„S.K.?", fragte Winona nach nur einer Sekunde.
„Sieht ganz so aus", murmelte Toireasa und öffnete den Brief. Wie immer kämpften Hoffnung und Furcht in ihr.
Liebe Toireasa,
es tut mir Leid, dass ich Dir zu Weihnachten nichts schicken konnte. Es war einfach nicht möglich und ich habe auch nicht viel, mit dem ich ein Mädchen erfreuen könnte, denn ich kann nicht einfach so einkaufen gehen. Deshalb musst Du Dich mit etwas Nützlichem begnügen.
Der Beutel in Deiner Hand mag zwar nach nichts Besonderem aussehen, aber es ist ein so genannter Nimmervoller-Beutel. Natürlich ist er nicht wirklich nimmervoll. Dies ist nur sein Namen, aber man kann sehr viel darin unterbringen und das Gewicht wird auf ein Hundertstel reduziert. Ich hoffe, er ist Dir nützlich.
S.K.
Sie reichte den Brief an Winona weiter, die ihn schnell las und dann kopfschüttelnd zurückgab.
„Ist was im Beutel drin?", fragte das Ravenclaw-Mädchen stirnrunzelnd.
Toireasa zog das Band auf – das eine recht große Öffnung freigab – und schaute in einen rund fünf Meter tiefen und circa fünfzig Zentimeter durchmessenden Zylinder. Bei einem fußballgroßen Beutel ein durchaus beachtlicher Raumgewinn.
Da sie nichts sah, hielt sie ihren Zauberstab hinein und flüsterte: „Lumos!"
Der Beutel war leer, bis auf einen kleinen, hellen Fleck ganz unten.
„Und wie komme ich da ran?", fragte sie.
„Also manchmal…!", verdrehte Winona die Augen. „Möglichkeit Nummer eins…"
Sie langte mit der Hand unter den Beutel und hob den Boden nach oben. Der helle Fleck kam rasant näher.
„Und Möglichkeit Nummer zwei…"
Diesmal nahm Winona ihr den Beutel aus der Hand und stülpte ihn um. Ein Büschel zusammengebundener blonder Haare fiel heraus, welches das Ravenclaw-Mädchen gedankenschnell auffing und Toireasa reichte.
„Elegante Lösungen sind einfach", meinte Winona mit leicht überheblichem Grinsen.
„Du hast gut reden", maulte Toireasa und wurde rot. „Mich treiben diese Briefe langsam in den Wahnsinn."
Von ihren eigenen Worten erschrocken, schaute sie kurz zu Tarsuinn, der jedoch glücklicherweise völlig unbeteiligt Tikki streichelte.
„Ist das der Beutel, den deine Mutter in der Kristallkugelvision hatte?", fragte Winona, jetzt deutlich mitfühlender.
„Er sieht genauso aus."
„Im Grunde kann der Übersender aber nicht wissen, dass du das weißt, oder?"
„Nicht, solange du nichts weitererzählt hast."
„Hab mich gehütet. Bei Geheimnissen werden die Probleme immer größer, je mehr Leute davon wissen."
„Es ist so…", Toireasa suchte das richtige Wort, „…so seltsam. Ich hab inzwischen Träume, wo ich sie in der Entfernung sehe, sie mit mir spricht, aber wenn ich auf sie zu laufe, verschwindet sie einfach. Löst sich einfach auf. Wenn ich doch nur einen Beweis hätte."
„Selbst wenn sie vor dir stünde, wäre es kein Beweis", merkte Winona sanft an und Toireasas Hand wurde tröstend getätschelt. „Mach dir lieber keine so großen Hoffnungen."
„Ich weiß, ich weiß", murmelte sie. „Ich bin nicht vollkommen blöd. Dieser Beutel gehörte vielleicht meiner Mutter, aber er könnte mir auch von ihrem Mörder oder sonst wem geschickt worden sein."
Winona entgegnete erst mal nichts. Im Stadion wurde zu laut gejubelt.
„Wer hat gewonnen?", fragte Toireasa.
„Gryffindor", murmelte Tarsuinn abwesend.
„Und wer hat den Hauspokal gewonnen?", fragte sie schnell, in der Hoffnung er würde weitersprechen. Doch wieder mal vergeblich. Der Funke verlosch, noch bevor ein Feuer entzündet wurde. Sie tröstete sich mit der Hoffnung, dass Tarsuinn einfach nicht das Offensichtliche aussprechen wollte. Rot-goldene Fahnen wurden geschwenkt, während sich die grünen senkten.
„Na ja, damit ist klar: Du schläfst heut in Tarsuinns Badezimmer", stellte Winona sarkastisch fest und starrte dabei wieder durch das Fernglas. „Und wenn ich das richtig sehe, sicherlich für die nächsten paar Tage!"
„Ich kann's verkraften", entgegnete Toireasa.
Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Wenn sie die nächsten drei Tage schlief, dann überall, doch niemals in Tarsuinns Bad. Krach war eine Sache, aber das gequälte Stöhnen, die ängstlichen Schreie und die einzelnen Worte, die er manchmal sprach, eine andere. Seine Träume waren so fast greifbar. Sie erinnerte sich daran, wie relativ ruhig doch sein Schlaf gewesen war, bevor er seine Magie wiederbekommen hatte. Vielleicht wäre er wirklich besser dran gewesen, ein Muggel zu bleiben.
Toireasa schüttelte diesen Gedanken wieder ab.
Wäre alles so geblieben, wären Rica und Tarsuinn jetzt tot, tot unglücklich oder eventuell auch nur tot. In seinem Leben schien es nur Extreme zu geben. Entweder er sprühte vor Leben – oder war nur eine leere Hülle.
Toireasa betastete vorsichtig ihr blaues Auge. Ja, manchmal versprühte Tarsuinn wirklich zu viel Leben, besonders sein Ellenbogen, wenn er nicht schlafen wollte. Sie wusste bis jetzt nicht, wie er es geschafft hatte, seinen Arm freizubekommen. Na, wenigstens benutzte er nie seinen Zauberstab.
Sie schaute mit verquollenen Augen auf die Uhr. Gleich war es vorbei. Sie stand auf, nutzte den Vorteil ihres momentanen Schlafraums und klatschte sich ein paar Hände kalten Wassers ins Gesicht. Sie beschloss, heute am Nachmittag zu schlafen und dafür die Hausaufgaben über Nacht zu machen. Außerdem musste sie anfangen, für die Prüfungen zu lernen. Ihre Großeltern hatten ihr zwar geschrieben, die Zensuren der zweiten Klasse wären recht unwichtig und sie wären sehr stolz auf sie, weil sie Tarsuinn half, aber ihr innerer Trotz wollte nicht zulassen, dass sie schlechter als Regina oder Vivian abschnitt. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, wie sehr sie es inzwischen hasste, deren arroganten Gesichter zu sehen. Es war Dumbledores Idee gewesen, Tarsuinn wieder am Unterricht teilnehmen zu lassen und die Slytherins um Regina hatten diese Gelegenheit nur zu gern angenommen. Frustriert von dem verlorenen Endspiel, nutzten sie jede sich bietende Gelegenheit ohne Lehrer, um sich über ihn lustig zu machen, ohne es jemals zu wagen, Tarsuinn nahe zu kommen oder ihn gar anzugreifen.
In dieser Beziehung fand Toireasa Dumbledores Idee ziemlich dämlich. Tarsuinns Augen wurden mehr als einmal am Tag fast schwarz und jedes Mal zog sie heimlich ihren Zauberstab ohne wirklich zu glauben, sie könne etwas verhindern.
Andererseits gab es jedoch auch gute Momente. Zum Beispiel, als sich am Sonntag Alec und Cassandra sich zu ihnen gesellt hatten. Einfach so, aber die beiden waren die Nervosität in Person gewesen. Es war im Grunde eine seltsame Situation gewesen. Cassandra und Alec hatten durchaus Recht mit ihrer Furcht vor Tarsuinn gehabt und trotzdem waren sie es, die sich schuldig fühlten. Nun gut, sie sahen den Jungen auch nur, wenn er gerade pflegeleicht war. Toireasa wusste, es waren Mitleid und die Gemeinheiten der Slytherins, die diese Veränderung hervorgerufen hatten – zusammen mit ein wenig Neugier. In Toireasas Augen ein Fortschritt und ein Punkt für Dumbledore, wobei es vor allem Winona schwer gefallen war, dies zu akzeptieren. Es war nur Tarsuinns silbernen Augen zu verdanken gewesen, dass das Ravenclaw-Mädchen keinen Vortrag über Freundschaft und Verrat gehalten hatte.
Auch die silbernen Augen kamen jetzt öfter vor, doch inzwischen war es für Toireasa immer ein gutes Zeichen. Wenn es geschah, dann, weil irgendetwas Lustiges oder Rührendes passierte – oder wenn er sich in der Nähe des Verbotenen Waldes aufhielt.
Ein lauter Schrei erklang im Nebenzimmer und dann war Ruhe. Toireasa hatte sich inzwischen gewaschen und angekleidet. Sie wartete ein paar Sekunden, öffnete die Tür und erstarrte zunächst überrascht. Tarsuinn war diesmal nicht in seiner Ecke, sondern hatte sich nur aufgerichtet und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf etwas, das nur er sah.
„Alles in Ordnung?", vergaß Toireasa, dass es besser für sie war, am Anfang den Mund zu halten. Sie ging halb in Deckung, zum Glück unnötigerweise.
„Toireasa!"
Noch nie hatte sie ihren Namen so verzweifelt ausgesprochen gehört. Zwei Arme streckten sich ihr entgegen. Ohne an ihre Gesundheit zu denken, lief sie zu ihm. Sie hatte keine Ahnung, was diesmal anders war, aber sie schwankte zwischen Panik und Hoffnung. Hoffnung, weil er sich gleich nach dem Aufwachen an sie erinnerte und Panik, weil er sich so verzweifelt an sie klammerte. Sie hatte ihn schon einmal so gesehen und das war, als er dank eines Schlafmittels zu lange schlafen musste.
„Ich brauch den Trunk des Friedens", flüsterte Tarsuinn.
„Das geht nicht!", entgegnete Toireasa sanft und versuchte sich dabei ein wenig zu bewegen, damit sie etwas mehr Luft bekam, so fest hielt er sie. „Es ist nicht gut für dich."
„Der Narr will, dass ich Dumbledore und die Familien der Krankenpfleger töte", schluchzte er. „Ich will nicht."
„Dann tu es nicht!", flüsterte Toireasa. Sie hatte keine Ahnung, worüber er sprach, jedoch klang es nicht sonderlich gut.
„Er verspricht mir, mich danach in Ruhe zu lassen", sagte er und es schüttelte ihn spürbar. „Und er hasst dich jetzt auch."
„Glaubst du, jemand der dich zwingen will Menschen zu töten, würde sein Wort halten?"
„Aber sie haben ihm doch so wehgetan."
„Die Familien doch nicht", beschwor sie ihn und strich ihm über das schweißnasse Haar. „Hör auf dein Gewissen, Tarsuinn."
„Es versteckt sich immer", entgegnete er und unter seinen Tränen lachte er rau.
Sie hielt ihn noch eine Weile und dann spürte sie, wie er irgendwie auszukühlen schien. Wie die Kraft schwand, mit der er sie umarmte. Es war, als würde er jeden Morgen neben ihr sterben. Langsam verstand sie immer besser, warum er lieber die Kontrolle über sein Leben aufgab, als dass er seinem Dämon das Feld überließ.
