- Kapitel 26 -

Neue Lebenskraft

Menschen hätten Fragt Viels Zustand als deprimiert beschrieben. Sie selbst dachte nicht in solch komplizierten Worten. Fragt Viel selbst hätte gesagt, sie wäre geplagt von einem Hunger, den keine Schlange stillen konnte. Selbst die wärmende Sonne half da kaum.

„Junges?", fragte sie vorsichtig.

Er lag auf einer Decke mitten in der Sonne. Langhaar und Treu, inzwischen hatte sich War Böse diesen Namen verdient, waren bei etwas, was die Zweibeiner Prüfung nannten. Dies bedeutete nicht, dass sie jetzt allein auf ihr Junges achten musste, aber es waren keine Menschen, denen Fragt Viel vorbehaltlos vertraute.

Die Hände des Jungen begannen Fragt Viel zu streicheln, doch das Gefühl des Hungers dämpfte es nur wenig. Kein liebevolles Kraulen hinter den Ohren, kein neckisches Kitzeln am Bauchfell oder gar ein kleiner Kampf. Nur eine übervorsichtige Berührung an ihrem Rückenfell. Es sättigte einfach nicht.

Sie kletterte auf seinen Brustkorb und drängte mit ihrem Kopf gegen den seinen. Er sollte aufwachen! Sie wollte ihr Junges wiederhaben. Und sie wollte dem die Kehle aufschlitzen, der sie in der Maske des Kaltäugigen betäubt hatte. Sie hatte sofort gewusst, dass der nicht der echte war, doch sie war für einen Moment so verwirrt gewesen, dass sie zu spät reagiert hatte. Fragt Viel hatte von den Verwandlungskünsten der Zweibeiner bisher nichts gewusst. Aussehen, Körpergeruch und Stimme hatten genau gestimmt. Nur der Kleidung hatte ein anderes Aroma angehaftet.

Sanft stupste sie seine Nase an, kitzelte ihn mit der Zunge in den Ohren – nichts! Krank vor Sehnsucht legte sie sich auf seinen Brustkorb. Sie wartete, bis Langhaar und Treu zurück waren, dann nutzte sie die Gelegenheit, um die Augen zu schließen.

„Wie ist es bei dir gelaufen?", fragte Langhaar. „Ich glaub, ich hab alle Daten bei den Internationalen Zaubererversammlungen verwechselt."

„Die wusste ich noch, aber hatten wir jemals was über die Göttinger Vorschläge?", erwiderte Treu.

„Erst vor zwei Wochen, aber da bist du laut eigener Aussage ja eingeschlafen. Ich hab dir doch die Mitschrift gegeben."

„Tja – da muss ich die wohl übersehen haben. Na egal. Ist eh nur Geschichte gewesen."

„Als ob der Rest bisher besser gelaufen wäre. Ich hatte fast den Eindruck, Snape hatte Mitleid mit mir."

„Wohl eher mit den verschwendeten Zutaten."

„Damit hast du höchstwahrscheinlich eher Recht. Ein Glück, dass es nicht um ZAGs oder was Wichtiges ging. Für Bestanden hat es sicher gereicht."

„Onkel Filius hat mir bedeutet, dass es für uns beide dieses Jahr völlig egal ist, wie wir abschneiden", merkte Treu an. „Wir bekommen mindestens ein Bestanden, solange wir uns überhaupt Mühe geben."

„In Kräuterkunde stellt das eine eindeutige Verbesserung für dich dar"; lachte Langhaar.

Fragt Viel fielen die Augen zu.

Sie erwachte, weil ihr Milch eingeflößt wurde. Verwundert schaute sie sich um, denn sie war sich nicht bewusst, wie sie in die Höhle von Riesengroß gelangt war.

„Bist du also aufgewacht", brummte der Zweibeiner freundlich.

„Wie…?", fragte sie und schaute sich um. Hinter den durchsichtigen Wänden schien der Mond seine Herrschaft angetreten zu haben.

„Fragst dich sicher, wie du herkommst?", sagte Riesengroß, obwohl sie bezweifelte, dass er sie verstanden hatte. „Beim Menschen würde man sagen, bist zusammengebrochen. Tarsuinn hat ziemlichen Ärger gemacht, als er das abends merkte, aber es geht ihm wieder gut. Hat sich die letzt'n Tage wieder beruhigt."

Fragt Viel wollte sich aufrappeln und zu ihrem Jungen, konnte sich aber nicht aus einer warmen, angenehm riechenden Decke wickeln. Zwei große Hände hielten sie zusätzlich, aber sehr behutsam, fest.

„Bleib hier. Es ist Nacht und die Schlosstüren sind verschlossen."

Sie gab den Versuch auf und schaute sich um. In der hinteren Ecke lag das große, geflügelte Irgendwas. Fragt Viel wusste, dass er sich Herrscher nannte und dass er sie als Beute betrachtete. Sie mochte das ganz und gar nicht.

Eine Schale mit einem aufgeschlagenen Ei und etwas rohem Fleisch wurde vor ihr abgestellt.

„Komm, von Milch allein wird niemand satt. Du musst was essen."

Es gelang ihr diesmal, sich aus der Decke zu befreien, und vorsichtig schnüffelte sie an der Nahrung.

„Die Beute gehört mir!", krächzte Herrscher.

Sie beachtete ihn nicht. Er war vielleicht stark, stolz und ehrfurchtgebietend, aber nicht sonderlich helle, denn sonst hätte er längst mitbekommen, dass es Menschen gab, die ihn reißen wollten. Fragt Viel wusste, dass dies Treu überhaupt nicht freute und soweit sie verstand, wollte man Herrscher nicht jagen und wegen seines Fleisches töten, sondern nur, weil er war, was er war. Das kam ihr sehr falsch vor. Von Herrscher konnten ganze Familien leben oder ein Rudel Gestreifte besänftigt werden. Ihn einfach nur zu töten, zeugte nicht von Respekt für das Leben. Aber damit hatten die Zweibeiner schon immer ihre Probleme gehabt.

Sie schleckte das Ei auf und da ihr Magen noch immer grummelte, machte sie sich auch noch über das Fleisch her.

„Meins!", beharrte Herrscher erneut.

„Du hast dafür bald keine Verwendung mehr!", erwiderte Fragt Viel genervt. „Wäre Verschwendung."

Sie riss einen Fleischfetzen los.

„Hast doch gerade bekommen, Schnäbelchen", sagte Riesengroß. Dann warf er Herrscher ein totes Wesen zu, das wie eine schlanke Ausgabe von Fragt Viel aussah.

Das große, geflügelte Wesen fing den Kadaver und verschlang ihn mit einem Biss.

„Auch du wirst so enden!", versprach er danach.

„Wenn du einen Rat von mir willst…", sagte Fragt Viel und schwankte zwischen Mitleid und Zorn, „…dann folge dem Menschen, der dich von hier wegbringen will."

„Wer bist du, um mir zu drohen?", entgegnete er, bauschte seine Flügel und hob den Kopf.

Auch Fragt Viel richtete sich auf.

„Ich bin eine Ältere!", erklärte sie stolz. „Selbst ein Schafhirn wie du…"

Sie ließ die Beleidigung einen Augenblick einsickern.

„…sollte begreifen, was das zu bedeuten hat. Hör auf meinen Rat!"

Riesengroß beschützt mich und du bist keine Ältere!", widersprach er und schaute sie hochschnäblig an.

Riesengroß ist nicht der Gebieter über die Herde der Zweibeiner!", fauchte Fragt Viel frustriert über so viel Dickköpfigkeit. Herrscher hatte etwas von einem Großen Grauen. Die glaubten auch, ein Ältester müsse groß, stark und einer von ihrem Volk sein. „Denk an meinen Rat, folge denen, die dich wegbringen!"

Mit überheblichem Blick drehte Herrscher sich zur Seite und Fragt Viel seufzte nur. Sie hatte es versucht, mehr konnte sie für Treu nicht tun.

Riesengroß ging zu Herrscher und kratzte ihn über der Nase.

„Ja, das magst du", brummte der Zweibeiner, während Herrscher die Berührung offensichtlich genoss. „Ach, wenn ich doch nur mehr für dich tun könnte! Wie gern würd ich dich fliegen lassen, bevor sie morgen herkomm'n. Aber dann sperren sie mich wieder in Askaban ein und davor hab ich so große Angst. Dort is es so dunkel und ich hab die ganze Zeit meinen Vater sterben sehen. Das kann ich nich ertragen. Aber es wird ganz schnell geh'n. Das versprech ich. Wirst es nich mal merken."

Fragt Viel sah, wie Wasser aus den Augen von Riesengroß lief. Meist ein schlechtes Zeichen, wie sie wusste. Doch es war offensichtlich, dass Herrscher nichts von den Worten verstand.

„Ein wenig höher!", sagte er wohlig knurrend.

„Hündchen!", murmelte Fragt Viel abfällig und bedauerte es Augenblicke später. Eine große, glitschige Zunge leckte über ihr Fell.

„Du warst eigentlich nicht gemeint."

Der Hund des Zweibeins schaute sie treudoof an. Er war ganz normal und deshalb verstand er Fragt Viels Worte in der richtigen Sprache nicht. Aber er war lieb, hatte eine gute Nase und die paar Befehle, die er kannte, befolgte er auch.

„Aus!", forderte sie. „Hundeplatz!"

Er zog ab.

Sie legte sich auf die Decke und ließ die Nahrung ihre Wirkung tun. Wie hatte sie vergessen können zu essen? Warum hatte sie sich benommen, als wäre ihr Junges schon tot? So konnte sie ihm doch nicht helfen! Schließlich war es ihre Schuld, dass er diese Flüssigkeit genommen hatte, die ihn hatte ruhig schlafen lassen. Es hatte sie so gefreut, ihn mit einem Lächeln schlafen zu sehen und dabei an ihn gekuschelt sein zu können. Seine Träume waren wunderschön gewesen. Tikki erinnerte sich gern an sie, wenn sie schlief. Ein lautes Scharchen ließ Tikki verschlafen den Kopf heben.

Die Träume von Riesengroß waren ganz sicher nicht angenehm. Der Zweibeiner lag inzwischen in einem großen, ständig knarrenden Bett, schnarchte wie ein Großer Grauer und drehte sich ständig hin und her.

Fragt Viel hatte Hunger, wie sie ihn seit Monaten nicht mehr gespürt hatte.

Sie machte ein wenig Krach, doch Riesengroß schlief unbeeindruckt wie ein Felsen weiter. Also stöberte sie durch die Hütte, auf der Suche nach etwas Essbarem. Sie fand ein paar Kekse, doch diese fielen nicht in diese Kategorie. Ihre Kiefer waren einfach nicht stark genug, um auch nur eine Ecke herauszubrechen. Hätte sie irgendwo Wasser oder Milch in einem Glas gesehen, sie wäre verzweifelt genug gewesen, um zu testen, ob man die Dinger aufweichen konnte. So aber…

Sie hörte ein Rascheln und das Trippeln von kleinen Füssen. Ihren Ohren folgend, sprang sie auf einen Stuhl und von da auf einen Tisch. Da, wo sie eben den steinharten Keks abgelegt hatte, sah sie die unvorsichtigste – und abgehärmteste – Ratte, seit sie denken konnte. Die scharfen Zähne des Nagers schafften das, was Fragt Viels Raubtierzähnen nicht möglich war.

Die Ratte sah schwach, krank und fast so nervös wie Zittrig aus.

Fragt Viel kannte ihren Auftrag. Ihr Volk war geboren, um Giftschlangen und Nager zu jagen. Besonders dann, wenn sie krank, alt und schwach waren. Es brauchte nur einen Sprung und einen Biss – leider gab es hier einige Regeln zu beachten.

„Heh, du!", sagte sie laut und fixierte die erschrocken herumfahrende Ratte mit ihrem Blick. „Kannst du antworten?"

Während sie auf die Antwort wartete, zog sie scharf die Luft ein. Von der Ratte ging kein Geruch nach Zweibeiner aus. Das war schon mal ein gutes Zeichen für ihren Magen. Anscheinend gehörte sie zu niemandem. Wenn jetzt auch noch keine Antwort erfolgte…

Die Ratte wollte weglaufen. Erfreut sprang Fragt Viel und verfehlte ihre Beute nur knapp. Es begann eine kleine Jagd durch die Höhle.

Seltsamerweise schien die Ratte keinen Bau zu haben, zu dem sie flüchten konnte. Das war untypisch. Dafür war sie eine sehr schnelle und bewegliche Beute, die zu überraschenden Zügen in der Lage war. Vorsichtshalber rief ihr Fragt Viel noch ein paar Mal zu, sie solle antworten, doch da keine kam und sie selbst das Jagdfieber gepackt hatte, nahm sie auf ihre Zweifel keine Rücksicht. Sie tobten gerade über ein oberes Küchenbrett, als Fragt Viel zum letzten Sprung ansetzte. Doch bevor sie den tat, sprang ihre Beute in eine metallene Kanne.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Fragt Viel war nun hungrig und frustriert. Die Ratte fauchte sie aus dem Gefäß an und sie musste feststellen, dass ihr Kopf zu groß war, um ihn hineinzustecken.

„Letzte Chance!", sagte sie noch einmal zur Vorsicht. „Antworte oder werde meine Mahlzeit."

Die Ratte fauchte aggressiv und quietschte gleichzeitig ängstlich und sehr laut. Fragt Viel schubste die Kanne vom Brett und sprang dem laut scheppernden Gegenstand hinterher. Sie hoffte, dass ihre Beute herausgeschleudert wurde. Leider umsonst. Beinahe hätte sie den Schwanz erwischt, der einen Augenblick herausragte, aber ihre Zähne schnappten einen Moment zu spät zu.

Doch Fragt Viel gab noch nicht auf. Sie war nicht so dumm ihre Pfoten da hineinzustecken, das sollte man nur tun, wenn man die passenden Krallen hatte, aber dafür begann sie, die Kanne durch die Gegend zu rollen und zu drehen. Wenn sie Hände gehabt hätte, sie hätte das blöde Ding einfach auf den Kopf stellen können. So aber hoffte sie, die Ratte würde irgendwann in Panik einen Fehler machen.

„Jetzt reicht es aber langsam", polterte Riesengroß.

Fragt Viel hielt kurz inne, versperrte aber die Öffnung der Kanne.

„Was denn?", fragte sie in der Richtigen Sprache. „Ich hab Hunger und halte deine Wohnung sauber. Was willst du mehr?"

„Hunger?", verstand Riesengroß nur und Fragt Viel war zumindest davon beeindruckt, dass er das Wichtigste verstanden hatte. „Warum sagst du das nich einfach, bevor ich schlafen geh?"

Er nahm Fragt Viel und die Kanne auf, stellte die Kanne wieder an ihren Platz und setzte Fragt Viel auf den Tisch.

„Moment!", bat der große Zweibeiner, holte ein Ei aus einem Schrank und stellte es ihr in einer flachen Schale hin. Sie beeilte sich mit Fressen und schaffte es rechtzeitig, bevor Riesengroß wieder im Bett war.

„Hunger!", rief sie ihm zu.

Das Spiel spielten sie noch zwei Mal. Die Ratte in der Kanne hatte sie längst vergessen. Rohe Eier schmeckten viel besser als ein halb verhungertes, zähes, altes Nagetier.

Morgen würde sie zu ihrem Jungen gehen und beginnen, ihn sich zurückzuholen. Er gehörte ihr und Halbgesicht – nicht irgendeinem Traum!