Fürchte nicht, was du suchst...
Die letzten Tage des Schuljahres nach den Prüfungen, sonst eher Zeit der Langweile und des ungeduldigen Wartens auf die Ferien, waren diesmal angefüllt mit wilden Spekulationen und Theorien. Sirius Black war gefangen worden und wieder entflohen. Professor Snape hatte zufällig verraten, dass Professor Lupin ein Werwolf war. Seidenschnabel verschwand ohne eine Spur, bevor der Henker seine Arbeit an ihm verrichten konnte. Harry Potter, Hermine Granger und Ron Weasley waren zur fraglichen Zeit im Krankenflügel gewesen und die Dementoren waren abgezogen worden, obwohl Black immer noch auf freiem Fuß war.
Durch die Schule waren Gerüchte und Geschichten geschwirrt, als hätten sie eine feste Konsistenz.
Selbst jetzt im Hogwarts-Express verstummten sie nicht, sondern waren wie ein Wispern im Takt der Schienenschwellen. Nur in Toireasas Abteil ging es nicht sonderlich laut zu.
Luna las aufmerksam den Quibbler. Merton studierte eine Muggelsportzeitung, um bei seinen Muggelfreunden mitreden zu können, wenn es um das Muggelspiel namens Fußball ging. Winona schien zu schlafen und Toireasa spielte mit einer recht aufgeweckten Tikki.
Alle versuchten sie Tarsuinn zu ignorieren, der anscheinend daran interessiert war, sie in den Wahnsinn zu treiben. Er spielte nun seit Tagen mit seinem falschen Zauberstab, den Professor Lupin ihm zum Abschied repariert zurückgegeben hatte. Ein nur schwaches Dankeschön, wie der Lehrer traurig gesagt hatte. Er konnte nicht wissen, was er damit anrichtete, denn den ganzen Tag lang ließ Tarsuinn den falschen Zauberstab durch seine Finger rotieren.
Ohne – eine – einzige – Pause!
Höchstens wechselte er mal die Hand – aber wenn, dann fließend. Es machte jeden irre, der auch nur fünf Minuten zusah.
Tikki gab ihr Bestes, um Toireasa davon abzulenken. Im Moment hatte sich die sture kleine Lady in Toireasas Nimmervollen Beutel verbissen, der inzwischen normalerweise an ihrem Gürtel hing, und wollte ihn einfach nicht hergeben. Natürlich hätte Toireasa den Beutel samt Tikki hochheben können, aber es machte einfach mehr Spaß, darum zu kämpfen. Außerdem war es interessant zu sehen, dass sie sich wie ein Hund benehmen konnte.
Tikki benahm sich sowieso ganz anders, seit sie Zeit bei Hagrid verbracht hatte. Sie schimpfte wieder mit Tarsuinn, wenn er etwas nicht tat, was er tun sollte, zwickte ihn auch ab und an, wenn sie es für nötig hielt, und tobte mit ihm, auch wenn er daran nicht teilnahm. Es schien fast so, als versuchte Tikki nun für sie beide zu leben. Ab und an nahm sie Tarsuinn sogar den falschen Zauberstab weg, wofür ihr alle immer sehr dankbar waren. Weder Toireasa noch Winona getrauten sich das, denn sie konnten nicht unterscheiden, ob er nicht aus Versehen doch seinen Echten verwendete. Einen Fehler wollten sie dabei nicht riskieren.
„Toireasa", sagte Luna abwesend, ohne von ihrer Zeitung aufzusehen. „Ich hab das Gefühl, da will jemand was von dir."
Toireasa schaute auf und ließ ihren Beutel überrascht los. Der gegnerischen Kraft beraubt, fiel Tikki samt Beutel vom Sitz. Alle, bis auf Toireasa und Tarsuinn, lachten kurz und herzhaft.
Sie selbst schaute starr – und sicher auch ein wenig feindselig – auf Aidan, der draußen vor der Tür des Abteils stand.
„Du solltest nicht zulassen, dass er hier reinkommt", sagte Winona leise und nickte Richtung Tarsuinn. Seine Augen waren fast schwarz und in seinen Händen rotierten jetzt zwei Zauberstäbe. „Am besten, du schickst ihn weg, bevor er dir wieder wehtut."
„Ich schau mal, was er will!", erwiderte Toireasa und stand entschlossen auf.
„Bleib da, wo wir dich sehen können", murmelte Merton und Toireasa hatte den Eindruck, seine Zeitung war jetzt weniger Lesestoff, als die Möglichkeit etwas dahinter zu verbergen.
Als sie das Abteil verließ, drehte sich Aidan zum Fenster, stützte sich auf die Haltestange und starrte hinaus. Sie trat neben ihn.
„Und?", fragte sie hart und schaute betont nach rechts und links. „Keine Unterstützung heute?"
„Ich wollte allein mit dir sprechen!", entgegnete er erstaunlich leise. „Mal ohne diesen ganzen Mist drumherum."
„Ich brauch mich meiner Freunde nicht zu schämen", erklärte sie.
Er kommentierte das nicht, was sie für erstaunlich hielt. Keine Bemerkung zu Merton, nichts zu Tarsuinn und auch keine Verteidigung gegen den indirekten Angriff auf Regina und Co.
„Wieder ein Versuch, mich auf die richtige Seite zu ziehen?", fragte Toireasa ätzend.
„Nein", sagte er nur.
„Was dann?"
„Ich will dich bitten, Frieden zu schließen", sagte er leise. „Mit mir und Mum. Bitte!"
Sie runzelte die Stirn.
„Das hatten wir schon mal. Ich flehe nicht um Verzeihung."
„Darum geht es gar nicht!", hob er zornig die Stimme, und beruhigte sich aber sofort wieder. „Bitte sag nichts mehr gegen Mum."
„Was meinst du damit?", verstand Toireasa nicht.
„Du darfst nicht mehr behaupten, sie hätte schlimme Sachen gemacht. Vorgestern hat das Ministerium mit Auroren unser Haus durchsucht und sie haben Mum die ganze Nacht über verhört."
„Damit habe ich nichts zu tun!", sagte Toireasa ernst.
„Das wollte ich auch nicht andeuten", entgegnete er. „Ich wollt nur sagen, bitte rede nicht schlecht von ihr. Vielleicht hat sie im Krieg wirklich Sachen getan, die nicht astrein waren, aber sie wollte sicher…"
„Ich habe ihr nie irgendwas vom Krieg vorgeworfen!", unterbrach Toireasa. „Ich hab dir gesagt, was los ist, und du hast mir einen Fluch auf den Hals gehetzt."
„Was du erzählst ist unmöglich. Denk doch darüber nach. Es widerspricht den Regeln der Magie."
„Die Magie kann man nicht in Regeln zwängen", entgegnete Toireasa überzeugt. „Was mit dir passiert ist, ist Realität. Du solltest die Veränderung selbst bemerkt haben."
Er atmete tief durch, offensichtlich um Beherrschung bemüht.
„Ich merke, ich kann dir das nicht ausreden, aber du solltest niemanden beschuldigen, wenn du es nicht beweisen kannst. Nimm mir nicht Mum, nur weil du eine Theorie hast. Du hast es doch sicher auch Dumbledore erzählt. Wenn er dir geglaubt hätte, dann hätte er doch sicher etwas unternommen, oder? Aber nichts."
„Und warum waren die vom Ministerium dann bei euch?"
„Keine Ahnung. Mum schreibt, sie hätten vor allem das alte Gerümpel auf dem Dachboden und im Keller durchwühlt und nen Haufen seltsamer Fragen gestellt. Sie vermutete nun, sie werden auch dich befragen."
„Du bittest mich, nur Nettes zu sagen?"
„Das würde dir keiner glauben. Nein. Bitte erzähle nur von den Sachen, die wirklich passiert sind. Sag ihnen, dass Mum dich verstoßen hat. Es ist wahr und glaub mir, sie weiß, dass sie Mist gebaut hat. Aber bitte, nimm sie mir nicht weg, nur weil du sauer auf sie bist."
Nachdenklich schaute Toireasa Aidan an. Es war jetzt überdeutlich, dass er Angst hatte. Ein wenig verwunderte sie das. Was Toireasa von Pádraigín Davian wusste, konnte diese gar nicht nach Askaban bringen. Professor Dumbledore hatte erst in diesem Jahr ganz vorsichtig die Gesetze eingebracht, die die Handlungen ihrer Ex-Stiefmutter illegal machten. Selbst wenn also Toireasa die Wahrheit über Aidans Zauberkraft beweisen konnte, würde dies wahrscheinlich nur eine moralische Ächtung zur Folge haben. Wenn überhaupt!
Etwas anderes Negatives fiel Toireasa aber in Bezug auf Aidans Mutter nicht ein.
„Wirst du mich nächstes Jahr in Ruhe lassen?", fragte Toireasa.
„Alles! Was du willst."
„Gut. Sollte man mich fragen, werde ich nur sagen, was ich beweisen kann", entschloss sie Toireasa. „Aber ich werde nicht für euch lügen."
„Das verlange ich gar nicht", entgegnete Aidan und klang dankbar, ging aber nicht davon.
Für Toireasa war damit aber alles gesagt. Sie wandte sich ab.
„Warte!", sagte er hektisch und ergriff sie am Arm.
Sie schaute kalt auf seine Finger und er ließ sie sofort los, als wäre sie dort siedend heiß.
„Was?", fragte sie drohend. Durech die Tür des Zugabteils konnte sie sehen, dass Mertons Augen fest auf Aidan geheftet waren.
„Können wir nicht versuchen wieder miteinander auszukommen?", fragte er verlegen. „Wie früher?"
„Du meinst wie Bruder und Schwester?"
„Ja."
Ihre Lippen zuckten abfällig.
„Der Bruder, den ich hatte, hätte niemals Schwächere gequält, nur weil eine johlende Meute ihn dazu anfeuert", sagte sie kalt. „Seit du eine kontrollierbarere Zauberkraft besitzt, bist du ein richtig arrogantes Arschloch geworden."
„Und du verrätst dein Blut!", verlor er für einen Moment die Beherrschung.
„Meine Mutter war eine Ravenclaw und sie hat Dad von einem typischen Slytherin in einen Menschen verwandelt", erklärte sie laut. „Und darauf bin ich stolz! Meine Ma und mein Dad hatten nicht sonderlich viel mit deiner Mutter gemeinsam. Ich verrate meine Familie nicht!"
„Wenn du dich da mal nicht irrst", erwiderte Aidan und stürmte wutschnaubend davon.
Zorniges Blut pulsierte in Toireasas Schläfen. Die Tür eines Nachbarabteils ging auf und ein älterer Schüler schaute neugierig nach, wer sich denn da so laut unterhielt.
„Irgendwas verloren?", blaffte Toireasa den Jungen an, der sich daraufhin wieder in sein Abteil zurückzog.
Dann drehte sie sich wieder dem Fenster zu und versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. Sie wollte ein wenig allein sein und da der Gang gerade leer war, war dies der beste Ort im Zug. In Hogwarts wären dafür die Grotte der gebrochenen Herzen oder das Mädchenklo in Frage gekommen, aber Zugklos hatten irgendwie nicht dieselbe Anziehungskraft der Einsamkeit.
Toireasa merkte, dass sie zumindest in Sachen einsame Rückzugsmöglichkeiten durch ihr Einzelzimmer stark verwöhnt war. Sie ging in ihren Schlafraum und hatte ihre Privatsphäre. Na gut. In diesem Jahr war dem dank Dumbledores schwarzer Steine nicht so gewesen, aber als die Dementoren abgezogen worden waren, hatten sie diese zurückgeben können. War schon angenehm zu wissen, dass der Direktor nicht zuhören konnte, obwohl sie zugeben musste, dass sie selten bis nie an die Steine gedacht hatte. Im Grunde hatte sie darauf vertraut, dass Professor Dumbledore nur dann lauschen würde, wenn Dementoren in der Nähe waren.
Sie drehte sich um und beschloss, der Sache eine positive Seite abzugewinnen – das Ministerium trat Aidans Mutter auf die Füße und Toireasa war nicht mal schuld daran.
Mit einem aufgesetzten Lächeln ging sie wieder ins Abteil und war dankbar, als niemand etwas fragte. Nur Luna reichte ihr ungefragt einen Teil ihrer Zeitung.
So verbrachte sie den Rest der Zugfahrt mit abstrusen Theorien und Berichten, denen es im Allgemeinen am Bezug zur Realität mangelte. Witzig fand sie nur das Kreuzworträtsel am Schluss, für das es genau zwei Lösungen gab, die Luna beide gefunden hatte. Bei Idiot mit fünf Buchstaben hatte Luna den allseits bekannten Zauberer Dumbe eingetragen, bekannt für die Erfindung des Bumerang-Fluches (er lebte nicht lang genug, um seinen Ruhm zu genießen). Neben Dumbe stand jedoch in wunderbarer Eintracht Fudge, der sich die Buchstaben u und e mit dem verrückten Zauberer teilte.
Irgendwann erreichten sie endlich London und Toireasa gab den Quibbler an Luna zurück.
„Gute Arbeit beim Kreuzworträtsel!", lobte Toireasa augenzwinkernd.
Luna lächelte breit.
„Dad kann die nie lösen", erklärte sie. „Er nimmt die Rätsel nur auf, weil ich sie gut finde."
„Und wer schreibt die?"
„Keine Ahnung. Sie kommen mit einer unbekannten Eule und sind kostenlos. Dad hat mal gefragt, ob nicht der Name des Schreibers drunterstehen sollte, doch wir haben keine Antwort bekommen."
„Gibt es diese Rätsel immer?"
„Ja, aber selten ist die Lösung so einfach. Letztes Mal musste man alle Anfangsbuchstaben im Uhrzeigersinn von außen nach innen lesen und dann stand da: Wer dieses Rätsel lösen konnte, arbeitetet ganz sicher nicht fürs Ministerium!
Toireasa kicherte.
„Sehen wir uns zur Quidditch-WM?", fragte sie das Mädchen.
„Ich denke schon", erwiderte sie erstaunlich fröhlich. „Dad hat Pressekarten für fast alle Spiele bekommen. Sogar fürs Endspiel."
„Und du, Merton?", fragte Winona. „Bist du auch da?"
Der Junge zog ein halb glückliches, halb unglückliches Gesicht.
„Mein Dad meinte, er hätte eine Überraschung für mich, was den Urlaub angeht. Aber ich denke, ich weiß, dass wir in die USA zur Fußball-WM fahren. Glaub nicht, dass ich mich da mal für ein paar Tage verdrücken kann, weil das sicher eine Menge gekostet hat. Und selbst wenn wir pünktlich zurück wären, meine Mutter würde mir was husten. Allein lässt die mich sicher nicht weg."
„Aber wir wären doch dabei!", fand Winona.
„Nehmt es meiner Mum nicht übel, aber sie steht der ganzen Zauberei etwas misstrauisch gegenüber. Als Professor Sprout und mein Cousin vor zwei Jahren bei uns auftauchten, um zu erklären, was ich bin, hatte sie danach eine ziemliche Glaubenskrise. Na ja – und laut ihrem letzten Brief scheint meine Schwester Sarah auch ein Kandidat für Hogwarts zu werden."
„Wie viele Geschwister hast du überhaupt?", fragte Toireasa, als sie aus dem Zug stiegen.
„Drei jüngere Schwestern!", sagte Merton und verdrehte grinsend die Augen. „Was glaubst du, warum ich so gut mit Mädchen auskomme und Hogwarts trotzdem Urlaub für mich ist. Ach, da sind ja die kleinen Monster!"
Er winkte freudig über eine Menge Köpfe hinweg. Sekunden später rannten zwei Mädchen – vielleicht acht und zehn Jahre alt – den Jungen fast über den Haufen.
„Merton, Merton. Ich hab ein Feuer gelöscht. Einfach, weil ich es wollte", rief das jüngere der beiden Mädchen und umarmte ihren Bruder.
„Und seitdem nervt sie uns alle damit", lachte die andere freudestrahlend. „Komm, Mum und Dad warten da drüben."
„Moment, ihr zwei Hübschen", formulierte Merton viel netter als zuvor und wandte sich an Toireasa und die anderen. „Schöne Ferien euch allen und, Tarsuinn…", er beugte sich zu dem stillen Ravenclaw, „…im nächsten Schuljahr schauen wir mal, ob Snapes Haare so viel Fett enthalten, dass sie brennen können, okay?"
Tarsuinn antwortete nicht, doch Toireasa glaubte für einen Moment, einen silbernen und dunklen Glanz in seinen Augen zu entdecken. Dass sich beide Seiten mal einig waren, warf ein recht schlechtes Licht auf Toireasas Hauslehrer.
Merton wurde lachend von seinen beiden Schwestern zu seinen Eltern gezogen. Toireasa erhaschte einen kurzen Blick auf die Muggel und musste lächeln. Es war offensichtlich, dass Mertons Familie nicht sonderlich reich war, die Kleidung war selbst für Muggel sehr einfach, aber sie schienen trotzdem glücklich. Einzig dem kleinen Mädchen, das auf den Schultern ihres Vaters saß, schien der Trubel ein wenig zu viel.
„Ich muss auch los!", verabschiedete sich nun Luna. „Da ist Dad. Schöne Ferien und passt auf Tarsuinn auf."
Luna entschwebte.
„Siehst du einen von unseren Leuten?", fragte Winona und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Haben deine Großeltern nicht geschrieben, sie würden uns abholen und dann zu meinen Eltern bringen?"
„Ich erinnere mich, das auch so gelesen zu haben", stimmte Toireasa zu. „Na egal, vielleicht sind sie ein wenig spät und im Zweifelsfall finden wir uns auch so. Komm bitte mit, Tarsuinn."
Sie warteten ein wenig, bis sich der Trubel auf dem Bahnsteig ein wenig gelichtet hatte, dann nahmen sie ihr Gepäck und Tarsuinn – Tikki ritt auf seiner Schulter – und gingen durch die Absperrung in den Muggelbahnhof.
„Wer von euch ist Toireasa Keary?", begrüßte sie eine Frau, flankiert von einer weiteren Frau und einem Mann, kaum, dass sie die andere Seite erreicht hatten. Sie sahen aus wie Muggel, standen aber genau vor der Absperrung, die Muggel normalerweise ignorierten.
„Wer will das wissen?", fragte Winona und warf Toireasa einen bedeutungsvollen Blick zu.
Rückzug, sagten ihre Augen deutlich. Doch leider war das keine Möglichkeit.
„Ich bin Aurorin", erklärte die Frau, als wäre dies das Selbstverständlichste der Welt. „Die beiden sind vom Amt für minderjährige Zauberer. Es wird nicht lange dauern. Geht bitte auf Gleis 9 ¾ zurück."
„Nicht, solange ich Ihren Ausweis nicht gesehen habe", erklärte Winona trotzig. „Ansonsten machen wir hier einen Aufstand, den der halbe Bahnhof mitbekommt."
„Na, nicht so feindselig", lachte die Frau ohne Humor und zog einen Ausweis hervor. „Wir halten euch sicher nicht für Dunkle Hexen."
Toireasa schaute interessiert auf das glänzende Abzeichen.
Auror des Zaubereiministeriums, stand da über einem seltsam undefinierbaren Symbol und darunter: Kann fast alles! Darf fast alles!
„Und jetzt den Daumen auf das Abzeichen!", forderte Winona unbeeindruckt.
„Ah", wieder zeigte die Frau ihr kaltes Lächeln. „Da kennt sich jemand aus. Schon mal gesehen?"
Die Frau legte ihren Daumen auf das Symbol, das einen kurzen Augenblick lang wie ein Regenbogen schimmerte.
„Gut, Sie sind Aurorin", gab Winona nach. „Und?"
„Bitte geht auf Gleis 9 ¾", sagte die Frau hinter der Aurorin mit einer sehr sanften Stimme. „Es wird nicht lange dauern und es ist nichts Schlimmes. Nur sehr wichtig."
Winona nickte Toireasa ernst zu und zuckte mit den Schultern. Sie konnten nicht viel tun, dass war ihnen beiden klar. Nicht, ohne noch mehr Misstrauen zu erzeugen.
Sie traten gleichzeitig ein paar Schritte zurück und zogen Tarsuinn mit. Tikki kletterte von seiner Schulter in die Kapuze und verschanzte sich da wachsam.
„Bring Tarsuinn zu einer Bank und warte", bat Toireasa Winona. „Wir können nicht riskieren…"
Die Leute vom Ministerium erschienen durch die Mauer.
Winona brachte Tarsuinn ein Stückchen fort und ließ ihn sich setzen, während Toireasa sich der Aurorin gegenüberstellte.
„Ich bin Toireasa Keary", sagte sie fest.
„Dachte ich es mir doch, dass ich da eine Darkcloud erkannt habe", sagte die Frau und warf einen undefinierbaren Blick auf Winona.
„Was ist mit dem Jungen?", fragte der Mann vom Ministerium und zog die Augen nachdenklich zusammen.
„Ihm ist sein Prüfungstrank misslungen", log Toireasa. „Madame Pomfrey glaubt, das gibt sich recht bald wieder."
Der Mann verzog mitleidig den Mund.
„Hoffentlich geht es ihm bald besser. Die Ferien zu verpassen…"
„Deshalb sind wir nicht hier", unterbrach die Aurorin und trat ganz nah an Toireasa heran. Sie war recht klein für eine erwachsene Frau, stellte Toireasa jetzt erst fest. Nase und Mund waren schmal und spitz, fast wie ein gefaltetes Papier und die haselnussbraunen Augen standen eng zusammen. Sie hatte etwas an sich, was einen an einen Habicht, aber auch an einen Maus erinnerte.
„Besitzt du etwas von deiner Mutter Samantha Keary?", fragte die Frau emotionslos. „Persönliche Gegenstände, Briefe oder Ähnliches?"
„Nicht viel", erklärte Toireasa und gab sich Mühe verwundert, aber auch ein wenig störrisch zu klingen. Sie war ein wenig überrascht, denn schließlich hatte sie Fragen über Pádraigín Davian erwartet. Was wollte denn eine Aurorin von ihrer Mutter?
„Gib es mir und ich muss deine Sachen durchsuchen!", forderte die Frau. In ihren Augen waren keine Emotionen zu sehen. Toireasa begriff, dass dies für die Aurorin nur ein Job war. Nichts Persönliches.
„Dürfen Sie das denn?", fragte Toireasa trotzdem. „Die Dinge gehören mir!"
„Wenn sie das wirklich tun, werden sie dir auch wieder zurückgegeben."
„Und warum wollen Sie mir das wegnehmen", erkundigte sich Toireasa weiter. Sie hoffte auf eine Antwort, die ihre innersten Wünsche bestätigte.
Jetzt zeigte die Aurorin zum ersten Mal eine Miene mit echten Gefühlen. Die Frau war genervt. Sie zog eine kleine Schriftrolle hervor und las vor.
Im Auftrag des Ministeriums und mit Genehmigung von Amelia Bones, Vorsitzende der Abteilung für Magische Strafverfolgung, ergeht hiermit die Anweisung, alle Anwesen und Personen zu durchsuchen, die direkt oder indirekt mit den Diebstählen von vertraulichen Ministeriumsunterlagen in Verbindung stehen. Dazu gehören auch Personen, die Informationen haben und/oder direkt oder indirekt betroffen sein könnten.
Konkret sind folgende Personen und ihre Heimstatt benannt:
Pádraigín Davian
Baethan Davian
Aidan Davian
Risteárd Davian
Eran Holt
Katrin Holt
Samuel Keary
Caitlin Keary
Toireasa Keary
Gezeichnet:
Amelia Bones
„Zufrieden?", fragte die Aurorin.
„Darf ich sehen?"
„Natürlich!"
Toireasa las das offiziell aussehende Schriftstück noch einmal selbst durch. Dann griff sie in die Tasche und reichte der Aurorin das Bild ihrer Mutter, das sie von dem anderen Ministeriumstypen erhalten hatte.
„Das ist alles?", fragte diese, nachdem ein paar untätige Sekunden vergangen waren.
„Alles andere hat meine ehemalige Stiefmutter behalten. Fragen Sie die", erwiderte Toireasa und versuchte, nicht an den Beutel zu denken.
„Ich glaube dir nicht", sagte die Frau nur.
„Ist aber wahr", log sie dreist.
„Wir werden sehen und ich hab nicht viel Zeit."
Die Aurorin zog ihren Zauberstab und ehe es sich Toireasa versah, leerten Zauber ihre Taschen, ihre Halskette flog davon, ihr Geldbeutel, ihr Zauberstab. Alles, außer ihrer Kleidung.
Die Aurorin schaute sich jeden einzelnen Gegenstand an – sogar das gebrauchte Taschentuch – und gab dann die Sachen Toireasa wieder zurück. Sogar das Bild von ihrer Mutter.
Toireasa musste all ihre Selbstbeherrschung aufbringen, um sich von ihrem Erstaunen nichts anmerken zu lassen. Wo war ihr Nimmervoller Beutel geblieben?
„Mach deinen Koffer auf", forderte die Aurorin. „Oder muss ich das machen?"
Widerstand war zwecklos. Sie tat frustriert und öffnete das Vorhängeschloss.
Es war schon ein wenig entwürdigend, wie die Frau ihre Sachen durchsuchte. Zwar schmiss sie nichts auf den Boden, aber Toireasa fand es trotzdem nicht gut, wenn ihre Wäsche an einem öffentlichen Platz durch die Luft schwebte.
„Du willst mir weiß machen,…", sagte die Aurorin nach der zweiten gründlichen magischen Durchsuchung, „…dass du nichts anderes von deiner Mutter hast, als dieses einzelne Foto?"
„Ja. Meine Großeltern haben noch ein paar Bilder, aber die meisten sollte meine ehemalige Stiefmutter haben, falls sie diese nicht verbrannt hat. Dieses Bild hier, habe ich auch nur, weil es mir einer vom Ministerium gegeben hat."
„Wer?", fragte die Aurorin und ihre eng liegenden Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Namen haben sie nicht genannt, aber sie sagten, sie wären von einer Abteilung die irgendwie intern im Ministerium ermittelt."
„Ein netter junger Kerl und ein bärbeißiger Alter?"
„Ja. Kennen Sie sie?"
„Tut nichts zur Sache", wehrte die Frau ab und wandte sich nachdenklich von Toireasa ab. „Hast du eventuell deinen Freunden etwas gegeben?"
Ihr Zauberstab war schnell und wieder sammelte die Aurorin mit ihren Zaubern eine Menge Gegenstände ein. Diesmal jedoch von Tarsuinn und Winona. Tikki fauchte und schien kurz davor anzugreifen.
Auch Tarsuinn reagierte und zwar so schnell, wie Toireasa es tagsüber seit Monaten nicht bei ihm gesehen hatte. Mit einer kaum sichtbaren Bewegung fing er seine Zauberstäbe aus der Luft, bevor diese aus seiner Reichweite fliegen konnten, und steckte sie wieder ein.
„Könnte es sein, dass es ein Schnelligkeitstrank war, der da schief ging?", fragte die Aurorin – anscheinend ein klein wenig beeindruckt.
„Wenn wir das nur wüssten", entgegnete Winona leicht zornig und trat zwischen die Erwachsenen und Tarsuinn. „Geben Sie mir meinen Zauberstab zurück. Sofort!"
„Wozu? Darfst ihn doch in den Ferien sowieso nicht verwenden", sagte die Aurorin, ließ jedoch auch Winona ihre Sachen nach kurzer Musterung wieder zukommen.
Einen kurzen Moment machte Toireasa sich Sorgen, als die Frau Tarsuinns Messer aus der Scheide ziehen wollte, doch in diesem Augenblick kam jemand schnell durch die Absperrung gelaufen.
Mrs Darkcloud war ziemlich außer Atem und auch ein wenig zornig. Sie zögerte keinen Moment.
„Das ist eine Unverschämtheit", sagte sie bestimmt und fixierte die Aurorin böse. „Den Großeltern nicht zu gestatten die Kinder abzuholen und ihnen auch noch zu verbieten eine Nachricht an uns zu schicken. Wie tief muss man sinken, Wren?"
„Zumindest muss man die Zulassungsprüfung bestehen, Fenella", entgegnete die Aurorin.
„Mag sein", meinte Winonas Mutter. „Was macht das Singleleben?"
„Glücklich, frei und gut bezahlt. Die Kleine da ist garantiert deine Jüngste."
„Erstaunlich, wenigstens erkennst du Intelligenz, wenn du sie siehst – schön dich mal wiederzusehen, Wren!"
Zur Überraschung aller umarmten sich Winonas Mutter und die Aurorin.
„Ich wusste nicht, dass du wieder im Lande bist", sagte Fenella vorwurfsvoll, aber freundschaftlich. „Du hättest uns besuchen sollen."
„Die Arbeit!", erklärte die Aurorin kurz und ihr Gesicht war jetzt vollkommen offen. Sie wirkte jetzt wie ein normaler Mensch. „Entweder war ich zu müde oder es war einfach zu spät. Aber da wir gerade bei der Arbeit sind – hier, eure Sachen zurück. Damit habt ihr es hinter euch, Kinder. Ihr könnt nach Hause und ich muss leider auch weiter. Wir sehen uns, Fenella!"
„Wie wäre es mit Samstag?", fragte Winonas Mutter schnell.
„Keine Chance. Die Sache mit Black und den Dementoren hat für ziemlich schlechte Publicity gesorgt und das müssen wir im Moment ausbaden. Ich meld mich aber demnächst bei dir. Versprochen!"
Dann verschwand die Aurorin zusammen mit ihren beiden Begleitern vom Ministerium durch die Absperrung.
Fenella nutzte den Moment um zuerst ihre Tochter, dann Toireasa und zuletzt – ganz vorsichtig – auch Tarsuinn zu umarmen.
„Ihr müsst entschuldigen", sagte die Frau. „Aber ich hab eben erst durch Zufall erfahren, Toireasa, dass bei deinen Großeltern gerade eine Hausdurchsuchung stattfindet und man sie nicht weglässt, bis diese vorbei ist. Im Moment strotzt das Ministerium nur so vor Aktionismus."
„Was sucht das Ministerium bei meinen Großeltern, Fenella?", fragte Toireasa besorgt.
„Ach, die jagen nur Schatten und Geister", winkte Winonas Mutter ab. „Irgendwer beschuldigt scheinbar wahllos und anonym Familien, die Jagd nach Black ist ein riesiger Reinfall, es gehen Gerüchte um, dass die Dementoren nicht so vertrauenswürdig sind, wie es das Ministerium gern behauptet und der Tagesprophet – und da allen voran Rita Kimmkorn – unterstellt Fudge Inkompetenz in allen Belangen. Also versucht der Zaubereiminister, sich als harter und konsequenter Führer zu präsentieren, der allen Hinweisen nachgeht. Was dabei rauskommt, habt ihr ja mitbekommen. Du musst dir also keine Sorgen um deine Großeltern machen, Toireasa. Das beruhigt sich wieder. Das Sommerloch wird dafür sorgen. Unsere Wohnung haben sie damals dreimal durchsucht! Beim letzten Mal haben wir mit den Ministeriumsleuten zusammen Tee getrunken. Bei deinen Großeltern wird es kaum anders sein."
„Aber du weißt nicht warum, oder?", schluckte Toireasa schwer.
„Ach, Mädchen", sagte Fenella und zog Toireasa zu sich heran. „Wenn ich daran denke, bei wem alles schon eine Hausdurchsuchung durchgeführt wurde, und von denen ist keiner in Askaban gelandet. Ich bin mir sicher, heute Abend werden wir alle an einem Tisch sitzen und darüber lachen. Glaub mir! Wo zum Teufel ist denn meine Tochter?"
„Ich bin hier, Ma", rief Winona und kam gerade aus dem Express geklettert. Toireasa hatte nicht gemerkt, wie das Mädchen sich davongeschlichen hatte. „Beim Wiedereinräumen von Tarsuinns Sachen ist mir aufgefallen, dass da ein paar Dinge fehlen. Ich dachte, er hat sie vielleicht im Zug vergessen."
„Und?"
„Gefunden!", verkündete Winona und hielt Toireasas Nimmervollen Beutel in die Luft. „Ich pack's in seinen Rucksack."
„Gut, dann lasst uns endlich nach Hause gehen", sagte Fenella. „Patrick wollte kochen, also gehen wir sicher heute Abend essen. Kommst du, Tarsuinn? Rica wartet."
Es stellte sich heraus, dass Fenella Recht gehabt hatte. Toireasas Großeltern kamen am Abend in die Wohnung der Darkclouds – und sie gingen in einem Muggel-Restaurant essen.
Genau wie Winonas Mutter spielten ihre Großeltern die Durchsuchung als Bagatelle herunter. Mehr noch, sie machten sich darüber lustig.
Leider war das kein Auftakt für wirklich fröhliche Ferien. Sich mit Tarsuinn zu beschäftigen kostete sehr viel Zeit und es drückte allen aufs Gemüt. Toireasa schlief nur selten bei ihren Großeltern, die sich darüber jedoch nie beschwerten.
Jeden Tag versuchten sie, etwas mit dem Jungen zu unternehmen. Irgendetwas, was eine Reaktion provozierte, wobei sie dabei immer aufpassen mussten, dass kein Muggel es sehen konnte.
Etwas Entspannung gab es da nur, wenn sie Zauberer-Orte besuchten.
Winona, Toireasa, Tarsuinn und Rica saßen zusammen vor Fortescues Eissalon und machten sich keine Gedanken über unbeabsichtigte Zauberei. Sie hatten andere Probleme.
„Meinst du wirklich, wir sollten es heute machen?", fragte Toireasa zweifelnd.
„Heute ist es am günstigsten. Ma und Dad arbeiten und sie haben gesagt, wir sollen uns hier ein Eis gönnen", sagte Winona. „Schau doch nur, wie gut es Tarsuinn geht."
Damit hatte das Mädchen durchaus Recht. Tarsuinn hatte eine riesige Eisportion mit Sahne und Früchten vor sich stehen und löffelte diese ohne irgendwelche Hilfe ganz alleine in sich hinein. Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht wirkte ein wenig entrückt. Nur manchmal musste man seine Wangen mit einem Taschentuch von Sahne und Eisresten reinigen.
„Wenn wir das schon früher gewusst hätten", murmelte Winona. „Er wirkt richtig glücklich."
„Mag sein, aber das hat er mit dem Trunk des Friedens auch", flüsterte Toireasa.
„Das kannst du nicht vergleichen!", widersprach Winona.
„Sag ich ja auch nicht", zweifelte Toireasa.
„Es war deine Idee", bemerkte ihre Freundin richtig.
„Und wenn ihr Recht habt, auch die von Tikki", fügte Rica hinzu, die bisher eher still ihr Eis genossen hatte. „Ich hab mich immer auf sie verlassen und das mit der Kristallkugel würde einige seltsame Dinge erklären, die ich mit ihr erlebt habe. Nicht wahr, Tikki?"
Als würde sie erst jetzt bemerken, dass von ihr geredet wurde, zog Tikki ihre Schnauze aus Tarsuinns Eisbecher. Weiße Sahne klebte auf ihrer Nase, welche jedoch schnell durch eine Zunge entfernt wurde. Sie gab ein unschuldiges und fragendes Pfeifen von sich.
„Ach, tu nicht so!", sagte Rica vorwurfsvoll. „Du hast deine Ohren doch überall!"
Tikki schien zu beschließen, dass die Wahl zwischen Vorwürfen und Eis einfach war und begann wieder, Tarsuinn ungefragt beim Essen zu helfen.
„Also, ein wenig eklig finde ich das schon", sagte Winona und schaute auf das kleine Wesen.
Toireasa zuckte nur mit den Schultern. In ihren Augen hatte Tikki extrem ausgefeilte Tischmanieren – wenn sie es denn wollte.
„Du solltest zu Gringotts gehen und einfach fragen", nahm Rica den eigentlichen Grund des Gespräches wieder auf. „Es ist doch nichts Verbotenes und gefährlich ist es auch nicht. Warum machst du dir also Sorgen?"
„Weil ich dann nicht mehr sagen kann, ich wüsste von nichts", entgegnete Toireasa und schaute zweifelnd zu der Zaubererbank hinüber.
„Ich denke eher, du hast Angst vor dem, was du finden könntest. Zum Beispiel einen Beweis, dass deine Mutter wirklich tot ist", fuhr Rica gnadenlos fort und durchschaute Toireasas Gedanken damit nur zu gut.
Dass Rica von der Sache wusste, war nicht von Toireasa beabsichtigt gewesen. Leider hatte ihr Tarsuinn eines Morgens im Beisein von Rica gesagt, dass er hoffe, dass Toireasas Mutter wirklich noch lebe. Er hatte nett sein wollen, doch seine Schwester war jemand, der solche Informationen zu hinterfragen pflegte und fast nie auf Ausreden hereinfiel.
„Und was ist mit dem Ministerium?", fragte Toireasa.
„Vielleicht wäre es gut, wenn sie davon erfahren", erklärte Rica entschieden. „So wie ich das sehe, ist es unwahrscheinlich, dass es deine Mutter ist. Sieh doch mal die Fakten. Sie wird keines Verbrechens beschuldigt, aber hält sich trotzdem versteckt. Sie sagt, dass sie in Gefahr ist, bringt dich aber in eben diese. Das sollte eine Mutter nicht machen!"
„Aber sie hat nur mich!"
„Und deine Großeltern zählen nicht? Immerhin sind das ihre Eltern, beziehungsweise ihre Schwiegereltern!"
Darauf wusste Toireasa nichts zu antworten.
„Schau nach, ob es dieses Verlies wirklich gibt", redete Rica eindringlich weiter. „Und dann erzähl alles deinen Großeltern, Toireasa! Ansonsten mache ich das."
„Das würdest du nicht tun", widersprach Toireasa. „Wenn stimmt, was Tarsuinn erzählt hat, dann hast du immer selbst entschieden, was richtig ist und was nicht."
„Hätte ich Eltern gehabt, dann hätte ich liebend gern die Verantwortung abgegeben", schüttelte Rica den Kopf. „Das ist nämlich das Beste am Kindsein. Man hat die Verantwortung nur für kleine, meist unbedeutende Dinge. Du solltest dieses Privileg nutzen, solange es geht."
„Aber wenn ich es meinen Großeltern überlasse, dann erfahre ich auch nicht alles", versuchte es Toireasa noch einmal.
„Deshalb solltest du jetzt einfach da rein gehen, nimm zur Sicherheit Winona mit, und dann siehst du doch das Geheimnis. Dann wird es für deine Großeltern schwer werden, dich auszuschließen."
„Meinst du wirklich?"
„Ja. Es macht keinen Sinn immer nur auf Briefe von jemand Unbekanntem zu warten, wenn man selbst etwas herausfinden kann. Und zumindest bei Gringotts seid ihr höchstwahrscheinlich sicher, oder?"
„Bei Gringotts schon", gab Toireasa zu. Wenn es etwas gab, wofür die Bank der Kobolde bekannt war, dann für Sicherheit.
„Schade, dass Ginnys Bruder gerade in Griechenland unterwegs ist", murmelte sie und stand dann auf.
„Okay, ich tu es!", erklärte sie entschieden.
„Ich komme mit", grinste Winona.
„Tarsuinn, Tikki und ich warten hier, als ob wir von nichts wüssten", erklärte Rica. „Ich bestelle mir am besten noch einen dieser Cappuccinos, deren Schaumkrone mit jedem Schluck wieder nachwächst."
„Und dann kannst du wieder nicht schlafen", kommentierte Winona im besten Fenella-Darkcloud-Tonfall und zog Toireasa dann zu Gringotts hinüber.
„Nun zier dich nicht so", meckerte Winona dabei. „Bist du denn gar nicht neugierig?"
„Viel zu sehr", murmelte Toireasa.
„Dann bring es hinter dich. Wahrscheinlich lässt die Ungewissheit dich so schlecht schlafen."
„Ich schlaf gar nicht schlecht", behauptete Toireasa.
„Pah!", meinte Winona abfällig. „Wenn es nicht strafbare Folgen haben könnte, hätte ich letzte Nacht mit einem Kopfkissen für Ruhe gesorgt. Du hast nach deiner Ma gerufen und dass sie nicht weglaufen soll!"
„Ich rede nicht im Schlaf!"
„Tust du wohl!"
„Tu ich ni…"
„Was wollt ihr Kinder hier!", unterbrach ein unfreundlicher Kobold ihren Streit, der hinter einem hohen Pult saß.
„Wir, ähem Toireasa hier, will ihr Verlies öffnen lassen", entgegnete Winona schnell.
„Das meiner Mutter, um genau zu sein", ergänzte Toireasa.
„Dann sollte Ihre Mutter das Verlies auch öffnen", urteilte der Kobold.
„Das geht nicht. Sie ist verstorben", erklärte sie geduldig.
„Eine Erbschaftsangelegenheit also", brummte der Kobold, nicht viel interessierter. „Der Schlüssel ist vorhanden?"
„Nein!"
„Wie lautet die Nummer des Verlieses?"
„1138."
Der Kobold schlug ein Buch auf und blätterte durch die Seiten. Dann blieb sein Finger auf einer Stelle liegen.
„Name des verstorbenen Inhabers?"
„Samantha Keary."
„Ihr Name?"
„Toireasa Keary."
„Sie stehen hier nicht als erbberechtigt."
„Ach, Moment", sie kramte in ihren Taschen. „Hier, das Testament."
Der Kobold studierte sorgfältig das Pergament.
„Ihre Hand – bitte."
Toireasa hielt ihm die erbetene Hand hin.
„Nicht zucken", sagte er und ehe es sich Toireasa versah, stach er mit einer kleinen Nadel in ihren Daumen. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, doch der Kobold hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest.
„Schon vorbei!", sagte er und drückte ihren Daumen gegen das Pergament. „Bitte hier warten."
Er verschwand hinter seinem Pult.
„Ein effizientes Gespräch!", murmelte Winona ironisch. „Das Bitte klang, als hätte er es auswendig lernen müssen und wisse bis heute nicht, wozu es dient."
„Vorsicht", flüsterte Toireasa dem anderen Mädchen ins Ohr. „Kobolde haben sehr gute Ohren."
„Im Flüstern sind wir doch inzwischen wahre Weltmeister. Wer uns jetzt noch hört, lauscht absichtlich."
„Es ist unhöflich."
„Das war der Kobold auch."
„Was völlig normal bei ihnen ist."
„Dann werden sie gar nicht merken, wenn man mit ihnen auch so spricht."
Gegen diese Logik konnte man nicht wirklich argumentieren und Winona war anzusehen, dass sie ihren kleinen Sieg über Toireasa genoss.
„Das Verlies mit der Nummer 1138 wird auf Sie umgeschrieben, Toireasa Keary", verkündete der Kobold, als er nach über einer halben Stunde zurückkam. „Ein neues Schloss wird morgen eingebaut und Sie können sich übermorgen den neuen Schlüssel abholen. Wollen Sie jetzt Ihr Verlies inspizieren?"
„Ja, gern."
„Dann folgen Sie mir jetzt. Ich bringe…"
Ein aufgeregtes Pfeifen ließ Toireasa herumfahren. Sie sah, wie Tikki gerade durch die Beine eines Zauberers schlüpfte, der die Tür zu Gringotts geöffnet hatte. Eine alte Hexe schrie erschrocken auf: „Ein Wiesel, ein Wiesel." Dabei versuchte sie, mit ihrem Hut nach Tikki zu schlagen. Das bedeutete, dass sie dem grauen Blitz hinterher lief, denn Tikki ignorierte die Hexe völlig.
„Kommen Sie endlich!", sagte der Kobold, doch Toireasa hörte nur mit halbem Ohr hin.
Es war für sie kein Problem zu erkennen, was Tikki ausdrücken wollte. Toireasas Verstand weigerte sich nur einige Sekunden lang zu akzeptieren, was ihr unmöglich schien.
Dann rannte sie los.
„Aber das Verlies…?", rief der Kobold hinter ihnen.
„Wir kommen später darauf zurück", nahm sich Winona noch Zeit, dann hörte Toireasa ihre Schritte hinter sich auf den Marmorboden trommeln.
Kaum dass Tikki sie kommen sah, drehte sie auch schon wieder um, wich dem Hut der Hexe aus indem sie über deren Schulter sprang, und sprintete durch die Tür. Der Zauberer am Eingang hatte diesen offen gehalten und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er verwundert oder amüsiert sein sollte. Toireasa lief an ihm vorbei nach draußen und sofort zum Eissalon hinüber. Sie sah schon von weitem, dass zwei Stühle, die besetzt sein sollten, leer waren.
Den Blick fest auf Tikki geheftet, rannte sie die Winkelgasse entlang. Sie war am Rande einer Panik. Egal, was passiert war – und es musste etwas Schlimmes sein – weder Rica noch Tarsuinn sollten dabei allein sein.
Einige Menschen in der Gasse schimpften, Toireasa rannte eine Hexe halb über den Haufen und für einen Augenblick fürchtete sie schon, es ginge in die Nokturngasse, doch dann huschte Tikki durch eine Katzenklappe in einen schmalen Hausflur. Toireasa folgte ohne Rücksicht auf die Haustür, die sie halb mit der Klinke und halb mit der Schulter aufstieß. Winona folgte nur wenige Schritte hinter ihr.
Im Flur war es dunkel und drückend. Tikki, die bisher recht laut und schnell gewesen war, pfiff sehr leise und schlich sich fast unhörbar zu einer Kellertreppe. Ihr Verhalten ließ Toireasa den Zauberstab ziehen.
„Sollten wir Hilfe holen?", fragte sie Winona leise.
„Bei der Geschwindigkeit, mit der wir Zauberer reisen können? Nein!", flüsterte Winona. „Was immer passiert ist, wir müssen schnell sein."
Und damit konnte Winona erneut Recht haben. Aber hatte sie nicht auch zu dem Besuch bei in Gringotts geraten? Nur leider war ihre Logik nicht von der Hand zu weisen. Wenn bei Muggeln jemand verschwand, dann schaffte er innerhalb von fünf Minuten nur ein paar Kilometer, bei Zauberern konnten da schon Kontinente oder wenigstens Länder dazwischen liegen.
Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, also schlichen sie Tikki hinterher.
„Zauber!", zischte Winona angespannt und deutete auf ihre Schuhe.
Es war Toireasa peinlich, dass sie diese Erinnerung brauchte, doch dann verzauberte sie ihre eigenen Schuhe, damit es keine Schrittgeräusche gab. Seltsam, in Hogwarts dachte sie immer daran.
Die Treppe führte immer tiefer, sie zählte inzwischen die dritte Kelleretage, als Tikki in einen Gang hineinlief, vor einer Tür stehen blieb und sich klein machte. Ein seltsamer, kaum zu hörender Warnton kam aus ihrer Schnauze. Toireasa fröstelte leicht. So weit unter der Erde spürte man nichts von der warmen Sonne draußen, die zum Eisessen verführte.
Hinter der Tür erklang gedämpft eine männliche Stimme.
„Lasst den Muggelabfall hier!", sagte ein Mann befehlend. „Die ist nutzlos! Wir brauchten sie nur, damit sie dem Jungen sagt, er soll mitkommen."
Die Antwort war zu leise, um sie zu verstehen.
„Nein, wir nehmen ihn mit!", sagte die männliche Stimme. Toireasa kam sie vage bekannt vor, jedoch war sie durch die Tür stark verzerrt. Aber es klang nicht so, als hätte sie jetzt die Zeit darüber nachzudenken.
Toireasa stieß Winona leicht an.
„Alohomora und Expelliarmus!", flüsterte sie. „Auf alles was sich bewegt, okay? Egal, ob es auch Rica oder Tarsuinn erwischt. Und dann raus hier."
„Verstanden. Schnell sein, den Schaden maximieren, abhauen, überleben."
Toireasa atmete vor Aufregung schwer. Sie spürte das Blut durch ihren Körper rasen, hatte furchtbare Angst und fühlte sich an das Krankenhaus in Irland erinnert. Das hier war jetzt wieder echt. Damals waren es am Anfang nur Muggel gewesen, doch jetzt wollte sie mit ihren rudimentären Kenntnissen einen erwachsenen Zauberer attackieren. Überraschung war ihr einziger wirklicher Vorteil.
Sie sahen sich kurz an, atmeten synchron tief durch, zählten lautlos bis drei und dann öffnete Toireasa die Tür mit dem Zauber.
Danach ging alles zu schnell, um es bewusst zu erfassen.
Zunächst ließ Winona mehrere Entwaffnungszauber durch den dunklen Kellerraum zischen, auf welchen Schatten auch immer. Tikki stürmte zwischen ihren Beinen in den Raum und Toireasa feuerte ein Expelliarmus auf eine schnell herumfahrende Gestalt. Sie sah einen Zauberstab davonfliegen und wollte schon frohlocken, als plötzlich das Leben in Zeitlupe voranzuschreiten schien. Der fliegende Zauberstab brauchte eine Ewigkeit um herunterzufallen, Tikki schien mitten in einem Sprung umdrehen zu wollen und eine kalte Welle durchfuhr Toireasas Glieder. Sie konnte Rica am Boden liegen sehen, Tarsuinn, der unbeweglich vor einer Wand stand, und einen gebeugten alten Zauberer. Doch obwohl Toireasa diesen Mann von ihrem Halloween-Ausflug her wiedererkannte, so war er doch nicht das Schrecklichste im Raum. Ein Schatten, den sie für einen Haufen alter Lumpen gehalten hatte, erhob sich schwebend und die Präsenz eines Dementors lähmte ihren Geist und ihre Glieder.
Sie spürte nicht mehr, wie sie zusammenbrach und das Einzige, was sie neben der Stimme ihres Vaters noch mitbekam, war ein eiskalter Hauch und die Stimme des alten Mannes.
„Die nehmen wir auch mit! Als Druckmittel und als Dank für eure Mühen!"
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