- Kapitel 28 -
...sondern was du finden könntest!
Tarsuinn wusste zum einen, dass er träumte, zum anderen aber auch, dass dem nicht so war.
Langsam richtete er sich auf.
Er konnte sehen! Was schon mal für die Traumtheorie sprach. Aber es war auch ruhig, geradezu friedlich. Ein Zustand, den er niemals mit Sehen in Verbindung gebracht hätte. Die Geister an Halloween zählten dabei nicht, denn die waren auch eher unruhig – statt friedlich – tot.
Neben Tarsuinn wimmerte jemand und seine Augen fanden eine zitternde Gestalt, die unter einem Umhang am Boden lag.
„Ich hasse dich!", sagte Tarsuinn und trat einmal mit dem Fuß gegen das verängstigte Wesen.
„Narr!"
Die einzige Reaktion darauf war, dass sich die Gestalt unter dem Umhang wie ein Fötus zusammenrollte. Er wollte noch einmal zutreten, verkniff es sich dann aber doch. Das brachte überhaupt nichts.
Hinter Tarsuinn schnaubte es und etwas stieß sanft gegen seinen Kopf. Er drehte sich um und legte dann den Kopf in den Nacken. Vor ihm stand das Große Einhorn. Jedoch stark, jung und wunderschön. Kein Alter, keine Trauer lagen mehr in dem Blick des Wesens.
„Ich kenne dich", sagte Tarsuinn ehrfurchtsvoll. „Du bist hier und auch hier."
Dabei fasste er sich an die Stelle seiner Stirn, an der ihn das Horn des Großen Einhorns damals berührt hatte, und die andere Hand legte er auf seinen Bauch.
„Wie kann ich dir dafür danken?", fragte er.
Das Einhorn legte sich vor ihm auf die Seite und senkte beschämt den Kopf. Tarsuinn hatte keine Ahnung, was das sollte.
„Was ist los?", fragte er verwundert.
Das Einhorn hob wieder den Kopf – es war selbst jetzt noch fast genauso hoch wie Tarsuinn – und schaute ihm in die Augen. Für einen Moment verlor er sich in der Tiefe dieses uralten Blickes, doch dann zuckte er zurück. Erinnerungen, die er für einen Traum gehalten hatte, traten in seinen Geist und ließen ihn das Einhorn fürchten. Es hatte ihn zusammen mit dem Narren dazu gedrängt, Bilder und Zauberer zu töten. Beide hatten sie seine Wut geschürt und seinen Zorn benutzt, damit er tat, wozu sie nicht fähig waren. Der eine aus purer Freude am bloßen Zerstören, der andere, um sich für die Morde an den Einhörnern zu rächen.
Erneut senkte das Einhorn den Kopf und ein trauriges Lied erklang. Ein Lied, das Tarsuinn mehr mit dem Herzen als mit den Ohren hörte. Es erweichte seine Seele und die Angst, die er Sekunden zuvor noch gespürt hatte, schwand. Er erinnerte sich jetzt auch an den Zauberer in den Bildern. Wie dieser sich mit seinen Morden an einem Dutzend Einhörnern gerühmt hatte, wie er über den Blutsverräter Professor Dumbledore geflucht hatte und dass irgendwann eine Zeit kommen würde, wo seine Dienste wieder gewürdigt würden.
Tarsuinn war genauso wütend gewesen wie das Einhorn, nur nicht so blind. Trotzdem – er hätte nicht so schnell nachgeben dürfen.
„Es war auch meine Schuld", sagte er leise und umarmte das riesige Tier.
Doch es wollte mehr.
„Ich verzeihe dir auch!", versicherte Tarsuinn deshalb.
Wieder war es nicht ganz zufrieden.
„Ja, auch mir, wenn du meinst, dass es nötig ist", lächelte er und streichelte das weiche Fell. Es erinnerte ihn an die Haut auf Lunas Wangen.
„Wo sind wir hier eigentlich?", fragte er nach einer Weile. „Das ist doch nicht die Realität. Du bist tot, ich bin blind und der Narr existiert nur in meinen Träumen!"
Das Lied änderte sich ein wenig, ohne dass Tarsuinn wirklich verstand. Es klang wie eine komplizierte Erklärung, aber die Nuancen waren einfach zu kompliziert zu erfassen.
„Ist auch egal", sagte er. „So gefällt es mir."
Wieder veränderte sich das Lied und diesmal war ein Tadel nicht zu überhören.
„Du klingst wie Rica, wenn sie sagt, ich hätte Pflichten zu erledigen und dürfe mich nicht drücken. Ist ja schon gut. Und was jetzt?"
Zur Antwort packte ihn das Große Einhorn sanft am Kragen und setzte ihn auf den Rücken. Dann stand es vorsichtig auf. Es war ein Einfaches für Tarsuinn das Gleichgewicht zu halten, es bedurfte nur eines Gedankens.
Neugierig ließ er sich von dem Einhorn davontragen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er außer dem Einhorn und dem Narren nichts sah, doch das änderte sich mit jedem Schritt. Sie ritten über einen schwarzen Fluss, kamen an einer Weide vorbei, die sich in einen Tiger mit Eisenzähnen verwandelte, schauten Dumbledore zu, wie er den Narren befreite und nach St Mungos brachte, beobachteten wie die Pfleger und der Dementor diesen dann quälten.
Tarsuinn war noch nie wirklich ein Beobachter dieser Träume gewesen, doch es bereitete ihm einige Sorgen, dass er keinerlei Emotionen dabei empfand. Er hatte dies so oft erlebt, dass reines Zuschauen kein Fitzelchen Grauen mehr in ihm erzeugen konnte.
Irgendwann hatten sie dann die Träume hinter sich gelassen und durchquerten Erinnerungen, die vor allem aus kurzen Gesprächsfetzen bestanden. Ab und an zog mal ein Geist vorbei oder auch die Gesichter von Rica, Ryu-san, Mishari-chan und Luna. Hier wäre er gern geblieben, aber das Einhorn hielt nicht an. Stattdessen brachte es Tarsuinn in einen leeren, kugelförmigen Raum, der von Geräuschen erfüllt war und in dessen Mitte eine leuchtende Gestalt stand.
Tarsuinn sprang vom Rücken des Einhorns, welches umgehend davon trabte.
Da es keinen anderen Weg zu geben schien, trat Tarsuinn näher an die leuchtende Gestalt heran. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er einen Jungen ohne Gesicht, der genauso groß wie er war und aus dessen Fingern, Ohren, Nase und Mund kleine rote Äderchen traten, die wiederum mit der Wand verbunden waren.
„Da bist du ja endlich!", sagte der leuchtende Junge. „Dachte schon, du ertränkst dich auf ewig in Angst!"
„Wer bist du?", fragte Tarsuinn erstaunt. Die Stimme kam ihm sehr bekannt vor.
„Wer wohl! Ich bin du. Oder – genau genommen – ich bin ein Teil von dir."
„Du hast gar kein Gesicht", murmelte Tarsuinn.
„Du auch nicht", entgegnete der andere Teil Tarsuinns. „Wenn du unser Gesicht immer nur wäschst, ist das kein Wunder!"
„Warum hast du dann nicht nachgefühlt?", fragte er, die Schuld von sich weg schiebend.
„Weil das hier normalerweise nicht meine Aufgabe ist", entgegnete der leuchtende Tarsuinn. „Mein Job sind normalerweise nur so nen paar Instinkthandlungen oder mal eine Eingebung. Ich bin auch der Schalter, der deine Gefühle ausknipst, wenn es mal ernst wird. Aber ich bin ganz sicher nicht dazu da, dann auch noch deinen Verstand und die Logik zu spielen, nur weil du dich verziehst und vor einem Narren fürchtest! Wo ist der überhaupt?"
„Er fürchtet sich."
„Gut, dann kannst du mir ja wieder bei der Steuerung dieses Dings hier helfen."
Die Finger und die von ihnen abgehenden Äderchen schoben sich Tarsuinn entgegen.
„Was ist das?", fragte er und wich zurück.
„Dumme Frage! Das bist auch du. Zumindest ist es deine Vorstellung von der Steuerung deines Körpers. Ich hab noch nicht herausgefunden, wie alles funktioniert, aber immer, wenn du mal zwischenzeitlich hier warst, ging es nachher immer besser. Wenn du also bitte jetzt könntest…"
„Was muss ich tun?", fragte Tarsuinn.
„Oh Mann, und ich dachte, der Logikteil wäre bei dir verblieben", stöhnte der leuchtende Tarsuinn. „Ich bin Teil von dir, du bist Teil von mir. Gemeinsam sind wir ein Ganzes, nur leider sind wir getrennt. Was bedeutet, nichts funktioniert hier wirklich."
„Anscheinend bist du auch der gemeine Sarkasmus von mir", entgegnete Tarsuinn und schaute zweifelnd auf die unzähligen Äderchen. „Was erwartet mich Schlimmes?"
„Wenn ich das wüsste, bräuchte ich nicht deine Hilfe. Du hast fast deinen gesamten Erfahrungsschatz mitgenommen und ohne den, nutzt mir das Sprachzentrum kein Stück weiter. Als Instinkt kann ich dir jedoch sagen, dass du, und zwei Stimmen die du magst, in Gefahr sind und du hungrig bist. So nen Eis ist zwar klasse, aber so richtig satt macht das Zeug nicht."
Einen Moment herrschte Stille.
„Mmh, Eis", sagten Tarsuinn und sein leuchtendes Ich gleichzeitig.
„Ich schätze, wegen der zwei Stimmen hat das Einhorn mich hierher gebracht", vermutete Tarsuinn.
„Ja, die haben sich in letzter Zeit recht häufig hier oben eingemischt."
Zweifelnd schaute Tarsuinn sich selbst an.
„Ähem, und wie bekommen wir das mit dem ein Ganzes werden hin?", fragte er zweifelnd.
„Bin ich etwa deine Schwester? Denk dir was aus. Wahrscheinlich ist es ganz einfach. Ähem – vielleicht solltest du nicht verkehrt herum in mich hineintreten."
Als Tarsuinn diesmal die Augen öffnete, blieb alles dunkel. Er hörte seinen Atem, wie er die Lungen dehnte, spürte das Blut in seinen Adern – und fror erbärmlich.
Warum zum Teufel trug er mitten im Winter nur ein T-Shirt und eine dünne Jeans auf seiner Haut?
Doch es war nicht nur die Kälte, die ihn frösteln ließ. Von seinem Bauch her breitete sich ein Gefühl aus, welches nur als arktisch beschrieben werden konnte. Überall, wohin er mit dem Geschenk des Einhorns schaute, war es, als würde er eine Eisschicht fühlen.
Er stand in einem Raum.
Wie in Hogwarts, wusste er auch hier genau, wo sich die Wände befanden, wo eine Tür war und dass er die Decke nicht einmal mit einem Sprung erreichen konnte. Doch wo Hogwarts durchdrungen war von der ungezügelten Lebensfreude von unzähligen Schülergenerationen, so strahlten ihm hier Tod und Verzweiflung entgegen. Und Wut. Wo immer er auch war, das Gebäude war wütend auf das, was es war.
Ohne sich zu rühren, forschte er weiter. Seine Ohren fingen Laute des Unglücks auf. Schreie, deren Stimmen schon abgenutzt waren und nur noch als Flüstern die Lippen verließen, ein leises: Lasst mich doch sterben und verschiedene, hilflose Flüche.
Ihm kam langsam der Gedanke, dass sein Instinkt ihm vorsätzlich nicht alles gesagt hatte.
Es roch modrig und doch auch ein wenig salzig-frisch, wie es in der Nähe eines Meeres üblich war.
Dann glitt ein Schatten über seine Seele. Es war, als würden kalte, schleimige und verdorbene Hände nach seinem Herzen tasten und ohne richtig zu wissen wie, nahm er das Geschenk des Einhornes und schlug damit zu. Vor der Tür spürte er so etwas wie ein schmerzerfülltes Zusammenzucken.
Jetzt wusste Tarsuinn, in wessen Gesellschaft er sich momentan befand. Genervt verdrehte er die Augen. Es mochte ja sein, dass die Übernahme der Kontrolle in dieser Situation wichtig sein konnte, aber er konnte sich trotzdem viel bessere Gelegenheiten vorstellen. Warum nicht beim Essen oder einer Schneeballschlacht? Auch ein netter Abend an einem warmen Kamin, während es draußen schneite, wäre völlig okay. Aber warum bei so was? Wobei er sich fragte, wie, bei den unzähligen Vornamen Dumbledores, er von Hogwarts hierher gekommen war? Eben noch hatte er ein paar nervige Bilder verfeuert, danach – so hoffte er – war alles nur ein verrückter Traum gewesen. Das redete er sich zumindest ein, denn er wollte nicht wahrhaben, dass er Rica wehgetan haben könnte. Oder Toireasa, oder Winona oder Dumbledore. Er war sich da nicht so sicher.
Schwere Schritte näherten sich.
Tu so, als wäre niemand zu Hause, riet ihm sein Instinkt.
„Ihr könnt jetzt gehen!", sagte ein Mann und trotz des Vorsatzes, seinem Instinkt zu vertrauen, fuhr Tarsuinn zusammen. Das war der Mann, der für die Dementoren und Sir Oliver an Halloween einen hilflosen Muggel als Opfer besorgt hatte.
Reiß dich zusammen, sonst sind wir das Opfer, zischte sein Instinkt. Für Panik bin ich zuständig und die wäre jetzt völlig fehl am Platz.
„Ich sagte, ihr könnt gehen. Ich werde es schon erledigen, wenn die Zeit gekommen ist", sagte der Mann.
Die Antwort bekam Tarsuinn nicht mit.
„Ihr hattet euren Muggel für diesen Monat schon."
Wieder einen Moment Stille.
„Gut, die beiden Mädchen bekommt ihr morgen garantiert. Niemand wird sie hier vermuten."
Dies schien die Dementoren zufrieden zu stellen, während Tarsuinn jede Regung seinerseits mit Macht unterdrücken musste. Bei den Mädchen fielen ihm drei Namen ein, die besonders in Frage kamen.
Die düsteren Schatten, die auf seiner Seele lasteten, zogen sich ein Stück weit zurück und er hörte, wie ein altes Schloss geöffnet und danach wieder verschlossen wurde.
Er war nicht mehr allein im Raum. Die Präsenz des alten Zauberers stellte keine Verbesserung dar. Der Mann umrundete Tarsuinn mit leicht humpelndem Schritt und blieb in seinem Rücken stehen.
„Wer bist du?", flüsterte der Zauberer in sein Ohr.
Tarsuinn blieb ganz ruhig, dachte an Ryu-san und schälte in Gedanken Kartoffeln.
„Wie zauberst du?"
…
„Warum fürchten dich die Dementoren?"
…
„Warum wollen sie dich tot sehen?"
…
„Warum will dich Sir Oliver besitzen?"
…
Tarsuinn hatte Zeit. Er wusste zwar nicht, ob die zwei Stimmen die er mochte, diese Zeit hatten, aber daran konnte er jetzt nichts ändern.
Der alte Zauberer schien es leider auch nicht überstürzen zu wollen.
„Weißt du, Kleiner, im Endeffekt hängt es von dir ab, was passiert. Ich kann dich und deine kleinen Freundinnen den Dementoren übergeben oder Sir Oliver. Beide Seiten zahlen hervorragend. Alternativ könnte ich dich natürlich gehen lassen, wenn du mir deine Geheimnisse verrätst und ein wenig Geld zukommen lässt. Du bist nicht arm, wie ich gehört habe."
„Du bist ein ganz Schweigsamer, was? Na, das ist nicht meine Schuld. Dieser Sir Oliver ist eine echt trübe Nuss, wenn es um das Einschätzen von Kindern geht. Erst meinte er, wenn wir das Einhorn verletzen und mit dieser uralten Formel in einen Becher verwandeln, dann würdest du angerannt kommen – Pustekuchen. Dann versuchten wir es mit dem Muggel, den wir ja auch zur Bestechung der Dementoren brauchten, damit sie mich ans Schloss ranließen. Du warst auch da, doch weder wir, noch die Dementoren, haben dich bemerkt. Als dann eure Show vor dem Tor losging, habe ich euch beobachtet und mir so meine Gedanken gemacht. Dass du ein Bedlam bist, wurde mir später klar, was jedoch nicht die Furcht der Dementoren vor dir erklärte."
Der Zauberer legte eine lauernde Pause ein.
„Kein Kommentar? Nun – ich bin auch von allein darauf gekommen, dass es etwas mit den Einhörnern zu tun hat. Du fühlst, wenn man sie quält, und das schmerzt dich dann selbst, nicht wahr? Deshalb hätte ich auch darauf gewettet, dass Sir Oliver dich mit seinem zweiten Plan erwischen würde. Also hab ich dich in dieses spezielle Zimmer schicken lassen, nachdem ich dachte, ich hätte dein Tierchen umgelegt. Das Vieh ist deutlich widerstandsfähiger, als ich dachte."
Dies war der Moment, in dem der Mann Tarsuinn beinahe erwischt hätte. Glücklicherweise stand er noch immer in Tarsuinns Rücken, sonst hätte er ein verräterisches Zwinkern sehen können.
„Aber was machst du? Statt dem Mann eine auf die Nase zu geben, der der Lehrer des Einhornjägers war, hast du deine Zerstörungswut an dem Zimmer ausgelebt. Trotzdem dachte ich, wir hätten dich, als diese Muggel dich in den Wald trug. Doch dann tauchte die gesamte Einhornherde auf und diese Mistviecher haben sich gebärdet wie wild, wenn man ihnen zu nahe kam, und sind gleich in Gruppen über mich hergefallen. Wenn ich hier fertig bin, werd ich diese Mistviecher ausrotten!"
Den letzten Satz hatte der Zauberer lauernd ausgesprochen, aber allein der Tonfall hatte Tarsuinn vorgewarnt und so blieb er unbeweglich.
„Ich weiß, was immer mit dir passiert ist, du hast ab und an helle Momente. Deine Schulkameraden erzählen sich so Einiges und deshalb vermute ich, du verstehst was ich sage. Ich werde dich jetzt etwas fragen und du wirst mir irgendwie antworten. Wenn nicht, gehe ich zu den Dementoren und sag ihnen, sie sollen sich eines der beiden Mädchen raussuchen und ihr den Kuss geben.
Also – ich habe hier deinen Zauberstab, doch der ist einfach nur ein Stück Holz. Trotzdem kannst du damit zaubern. Ich habe es gesehen. Das ist nicht einfach die wilde Magie eines Bedlam gewesen, sondern der Zauberstab war daran beteiligt. Wie geht das?"
Fieberhaft überlegte Tarsuinn, was er machen sollte. Der Mann machte keine Scherze und Skrupel schien er nicht zu kennen.
„Gut, wie du willst – Wachen!", rief der Zauberer und ging zur Tür.
Tarsuinn fasste langsam in seine versteckte Beintasche und zu seiner eigenen Überraschung zog er seinen echten Zauberstab hervor. Er richtete ihn auf den Zauberer – dann zögerte er. Es war wahrscheinlich, dass der Mann ihn die ganze Zeit im Auge behielt, denn er rief nicht noch einmal nach der Wache, obwohl diese nicht zu kommen schien. Sicher hatte er auch einen Zauberstab in der Hand. Dies gab Tarsuinn überhaupt keine echte Chance.
Oder doch! Er hatte eine.
Möglichst unbewegt hielt er den Stab in die Richtung des alten Zauberers.
„Ein zweiter Zauberstab also!", sagte der Mann kalt lachend. „Manchmal sind die Lösungen so einfach."
Er trat wieder näher, ein wenig seitlich, um aus der Richtung des Zauberstabes zu kommen. Tarsuinn folgte seiner Bewegung nicht.
„Gib ihn mir!", forderte der Mann. „Und ich tue deinen Freundinnen nichts."
Jede Regung wäre falsch gewesen. Tarsuinn hoffte, seine Anspannung spiegelte sich nicht in seinem Gesicht oder seiner Haltung wieder.
Dann…
Es krachte, fauchte, zischte – ein kurzer Schrei.
„Silencio", sagte Tarsuinn und so echt, wie sein Wunsch nach Stille diesmal war, so effektiv war der Zauber. Er hörte nicht mal, wie ein Körper gegen eine Wand schlug und zu Boden sackte. Da er nicht wusste, wie effektiv das war – was auch immer – schickte er dem Stillezauber auch noch ein Expelliarmus und ein Stupor hinterher, obwohl er den zweiten Zauber noch nie hinbekommen hatte.
Da jedoch keine Gegenwehr erfolgte, ging er erst mal davon aus, dass der Zauberer bewusstlos war. Tot war der Mann nicht, das konnte Tarsuinn deutlich spüren. Langsam tastete er sich zu der bewegungslosen Gestalt, nur um auf dem Weg dahin kurz zu erstarren. Sein Schuh war gegen einen hölzernen Gegenstand gestoßen, der danach ein wenig über den Boden rollte.
Ein Glück, dass wir nicht barfuß sind, sagte sein Instinkt ungefragt. Oder kannst du inzwischen Feuer löschen?
„Klappe!", murmelte Tarsuinn. Noch eine Stimme in seinem Kopf war mehr, als er ertragen konnte – auch wenn es seine eigene war.
Mit Hilfe von Taschentuch (das seltsamerweise nach Vanille roch) und Schuh, nahm er den Zauberstab an sich. Zauberer waren recht hilflose Wesen ohne ihre Stäbe. Wenn sie alt waren besonders, auch wenn sie manche Dinge auch ohne deren Hilfe magisch bewerkstelligen konnten. Zu richtig gefährlichen Dingen waren sie jedoch nicht fähig. Man durfte sich nur nicht überraschen lassen. Er konnte nur hoffen, dass ein dreizehnjähriger Junge kräftemäßig gegen einen alten Mann bestehen konnte. Im Zweifelsfall konnte er ihn ja mit dem Zauberstab berühren. Für einen Moment dachte er daran, dass es wahrscheinlich das Beste für ihn und seine Sicherheit war, wenn dieser Mann starb.
Es war ganz einfach. So einfach.
Er schreckte vor seinem Gedankengang zurück.
Das war falsch! Er durfte nicht aus Angst vor zukünftigen Möglichkeiten einen Menschen töten. Rica würde ihn nie wieder in den Arm nehmen.
Er warf das Taschentuch mit dem fremden Zauberstab beiseite, steckte seinen eigenen Stab ein und ging dann das Risiko ein, den Mann zu berühren. Im Moment hätte er einiges für Sehkraft gegeben. Es zog sich anscheinend ewig hin, ehe er feststellte, dass der Zauberer keinen Gürtel, sondern Hosenträger trug. Er beschloss, niemals jemandem davon zu erzählen.
Sorgsam und straff fesselte er dem Zauberer zunächst die Arme, dann die Beine. Danach zog er dem Mann die Socken aus und knebelte ihn damit. Strafe musste einfach sein. Als Letztes noch den Umhang um den Kopf gewickelt, ein Atemloch für die Nase hineingeschnitten und er fühlte sich halbwegs sicher. Erst dann holte er sich sein Taschentuch mit dem Zauberstab zurück. Wer wusste schon, wozu dies gut sein konnte?
Ein wenig machte er sich schon Sorgen, was die Dementoren mit dem Zauberer machen würden. Er war trotz allem der Ansicht, dass niemand Askaban verdiente, doch wusste er nicht, wie er den Zauberer schützen und gleichzeitig sich und zwei seiner Freundinnen in Sicherheit bringen sollte. Da war seine Wahl klar.
Aber zunächst musste er hier raus. Erst wollte er die Tür mit einem Zauber öffnen, doch dann fiel ihm ein, dass er hier höchstwahrscheinlich in einem Gefängnis für Zauberer war. Man hatte das Schloss sicher gegen Magie abgesichert. Noch einmal wandte er sich dem Zauberer zu und durchforstete jetzt dessen Taschen. Er nahm alles mit, obwohl er bei den meisten Sachen nicht wusste, wozu sie dienten. Schließlich fand er ein Schlüsselbund und einen einzelnen Schlüssel, sowie zwei weitere Zauberstäbe, an denen er sich furchtbar die Finger verbrannte. Damit das nicht noch mal vorkam, wickelte er noch einmal den Umhang vom Kopf des Zauberers, schnitt die Kapuze ab, benutzte sie als Beutel für die gesammelten Dinge und sorgte dann mit dem Umhang wieder dafür, dass der Zauberer nichts sehen konnte, falls er aufwachte.
Ob man den falschen Schlüssel versuchen durfte? Er hatte keine Ahnung, aber zunächst versuchte er es mit Logik. Was in diesem Fall gar nicht so schwer war.
Für sein Zuhause brauchte man einen Schlüssel für die Eingangstür, einen für den Briefkasten (für eventuelle Muggelpost), für seinen Privattruhe, den Safe, den Keller, den Dachboden, möglichen Reisekoffer…je nachdem, wie misstrauisch man war. Aber selbst Tarsuinn besaß fünf Schlüssel. Also fiel das Schlüsselbund schon mal weg und es musste einfach der einzelne Schlüssel sein. Wer gab schon einem Besucher alle Schlüssel zum Gefängnis, wenn er nur in einen einzigen Raum musste?
Eine richtige Annahme, wie schon der erste Versuch bestätigte. Er schlich hinaus, hörte sich um und schloss hinter sich ab. Der Gang war leer, soweit er das abschätzen konnte.
Doch was jetzt?
Hinsetzen und meditieren, um auf seine Gefühle zu lauschen, klang zwar in irgendwelchen Filmen toll, aber funktionierte sicher nur, wenn man auch wusste, wie man diese Gefühle interpretieren musste. Im Moment hatte er nur eine ungefähre Richtung, in der er Leben spürte. Leider waren da auch die meisten Dementoren. War wohl gerade Essenszeit. Seine Uhr hatte er leider nicht am Handgelenk, um das bestätigen zu können.
Doch wie sollte er dahin gelangen ohne entdeckt zu werden? Dementoren spürten Leben und ernährten sich von glücklichen Gefühlen. Andererseits hatte er es schon einmal geschafft, sich vor ihnen zu verbergen, einfach nur, weil er es gewollt hatte. Professor Dumbledore hatte gesagt, es wäre seine Hoffnung, mit der er den Dementoren entgegentreten konnte. Er bezweifelte das. Zumindest war es nicht nur Hoffnung allein, denn damals an Halloween war es einfach blankes Entsetzen gewesen, das er empfunden hatte…
…und die Hoffnung nicht entdeckt zu werden.
Vielleicht war doch was an der Sache mit der Hoffnung dran. Nur – was sollte er damit anfangen. Die Lösung, die ihm in den Sinn kam, war absolut irre. Unsicher schlich er durch die Gänge und vermied die Nähe zu jedem Dementor. Dann stand er plötzlich auf einer Art Balkon und hörte das Meer, das verführerisch nach Freiheit klang.
Er verschnaufte und genoss es für einen Augenblick ein wenig durchatmen zu können. Dabei rieb er sich seine schmerzenden Knochen. Das Gefängnis war bei weitem nicht so kooperativ wie Hogwarts und da Tikki nicht bei ihm war, hatte er einige unangenehme Begegnungen mit Treppen, Balken und Ecken gehabt.
„Ich hätte nicht gedacht…", sagte ein Mann.
Tarsuinn sprang zur Seite, stieß gegen eine Mauer, zog seinen Zauberstab und machte sich ganz klein. Er versuchte auf die Stimme zu zielen.
„Heh – keine Panik, Kleiner. Ich bring dich hier weg. Keine Sorge."
„Wer sind Sie?", fragte Tarsuinn, der sich wunderte noch nicht geschockt worden zu sein.
„Erinnerst dich nicht mehr, nee?", antwortete der Mann amüsiert. „Bin dir was schuldig und als ich sah, wie dieser alte Sack von Söldner dich wegbrachte, hab ich gedacht, steck ich dir ein Findmich zu. Konnte ja unmöglich einen Krieg in der Winkelgasse anfangen. Hab aber auch nicht damit gerechnet, dass es dich nach Askaban verschlägt und – nimm's mir nicht übel – aber da rein konnt ich beim besten Will'n nicht."
„Ich kenne Sie nicht", sagte Tarsuinn und spürte, wie sein Herz wieder anfing zu schlagen. Es schien für eine halbe Minute ausgesetzt zu haben.
„Eine Spende für einen Ausgebrannten", sagte der Mann. „Gib Unglücklichen einen Knut und das Glück wird dich begleiten. Erinnerst du dich jetzt?"
„Das ist ewig her", sagte Tarsuinn und erinnerte sich düster an Panik und ein Goldstück.
„Und ich hab es nicht vergessen", sagte der Mann. „Komm, der Alte Jack bringt dich hier weg."
„Das geht nicht", schüttelte Tarsuinn entschieden den Kopf. „Meine Freunde sind da irgendwo."
„Das ist Askaban, Junge, und mein Besen trägt nur zwei", entgegnete der Alte Jack zweifelnd. „Lass uns abhauen und Hilfe holen."
„Können Sie nicht Apparieren? Ein Flug dauert eventuell zu lange."
„Konnte ich noch nie."
„Dann holen Sie Hilfe und ich hol die beiden."
„Das ist Selbstmord, Junge. Wie willst du an den Dementoren vorbeikommen?"
„Sie können mich nur sehen, wenn ich es will", behauptete Tarsuinn fest, obwohl er sich dessen nicht wirklich sicher war. Er fürchtete, der Alte Jack könnte ihn einfach so gegen seinen Willen mitnehmen.
„Selbst wenn das stimmt, was ist mit deinen Freunden?"
„Ich kann auch sie schützen, das hab ich schon einmal gemacht. Fliegen Sie ruhig."
„Der Alte Jack würde sich was schämen, wenn er ein Kind hier allein lassen würde", sagte der Zauberer entschieden. „Kannst du auch mich schützen?"
„Ähem, ich denke schon."
„Dann los, holen wir deine Freunde."
Tarsuinn wagte nicht zu protestieren. Die plötzliche Hilfe kam so überraschend, dass er nicht mal Zeit für Misstrauen hatte. Das kam erst später, weit unten im Gefängnis.
„Wie sind Sie überhaupt hierher gekommen?"
„Auf meinem Besen", erwiderte Jack, der sich wieder einmal ausruhen musste. Der Alte Jack schien bester Laune zu sein, auch wenn er kaum zehn Stufen ohne eine Pause schaffte.
„Ich meinte, wie konnten Sie so einfach in ein Gefängnis kommen?"
„Ach, das ist einfach. Die Dementoren sind in der schieren Menge jedem Zauberer so überlegen, dass die Sicherheitszauber des Gefängnisses kaum gepflegt werden. Wer bringt hier auch schon die Konzentration für gute Arbeit auf? Hab mich also nur am Rand aufgehalten und darauf geachtet, dass ich abhaue, sobald auch nur ein Dementor in meine Nähe kam."
„Und warum riskieren Sie Ihr Leben für mich? Es war doch nur ein Goldstück."
„Ach, Kleiner. Ein Goldstück im rechten Moment des Lebens kann alles verändern. Für mich brachte es Glück, Hoffnung und Frieden. Ich kaufte einen gebrauchten Zauberstab, reinigte meine Kleidung und fühlte mich zum ersten Mal seit zwanzig Jahren gut genug, um meine Tochter zu besuchen und sie um Verzeihung, statt um Geld zu bitten. Ich habe meine Enkel und sogar zwei Ururenkel kennen gelernt. Einer ist sogar nach mir benannt."
„Sie sollten zurückgehen", sagte Tarsuinn und fühlte sich schuldig. „Ich weiß nicht wirklich, ob ich Sie beschützen kann."
„Ich hab volles Vertrauen, Kleiner", lachte der Alte leise und kam ächzend wieder auf die Beine. „Ich fühle mich für diese Umgebung viel zu gut, als dass es normal sein könnte."
„Sie sind mir nicht wirklich eine Hilfe", gab Tarsuinn zu.
„Wart es ab. Der Alte Jack hat einige Tricks auf Lager. Na – bist du endlich ausgeruht?"
Tarsuinn schnaubte amüsiert. Er musste zugeben, Jack war ihm eigentlich doch eine große Hilfe. Nicht mehr allein zu sein, hatte seiner Hoffnung neue Nahrung gegeben.
Eine Treppe, zwei Gänge und drei Pausen später erreichten sie die Ebene, auf der Tarsuinn Leben, aber auch viele Schatten spürte. Er tastete nach dem Alten Jack und zog dessen Ohr an seinen Mund heran.
„Wir müssen direkt an den Dementoren vorbei", flüsterte er. „Keine Deckung. Wir müssen absolut leise sein."
„Dafür hab ich den richtigen Zauber", entgegnete Jack auf die gleiche Weise und Sekunden später machte Tarsuinn kein Geräusch mehr, obwohl er selbst alles hören konnte. Ein wenig ängstlich griff Tarsuinn sich Jacks Hand und zog ihn in den Gang. Er war wieder mal fast froh, nichts sehen zu müssen, als sie direkt an zwei Wache stehenden Dementoren vorbeigingen.
Ich habe riesige Hoffnung. Mit meiner Hoffnung könnte man die Welt ernähren und alles Böse tilgen. Kein Dementor ist mir gewachsen, Jack ist der größte Zauberer aller Zeiten und das Einhorn ist ein Teil von mir. Niemand kann uns was. Außer uns am…
„Heh, Süßer! Opi! Lasst mich raus", flüsterte eine einschmeichelnde Stimme an einer Stelle ohne Dementorwachen. „Ich hab nichts getan und kann euch bezahlen."
Wieder musste Tarsuinn daran denken, dass eigentlich niemand Askaban verdiente.
„Das ist Bellatrix Lestrange", flüsterte ihm Jack ins Ohr. „Die sitzt hier völlig zu Recht."
„Was hat sie getan?", erkundigte sich Tarsuinn.
„Hat die Longbottoms in den Wahnsinn gefoltert. Wollte Du-weißt-sicher-wen wiederfinden."
„Gehen wir weiter", entschied Tarsuinn.
„Ich werde schreien", drohte die Frau namens Lestrange.
„Das bezweifle ich, Silencio!", flüsterte Jack und es war wieder still.
„Danke", murmelte Tarsuinn.
Es blieb nicht die einzige dieser Begegnungen. Wann immer kein Dementor in der Nähe war, sorgte Jack für Ruhe. Meist ließ er gar nicht mehr als das erste Wort zu.
Dann plötzlich spürte er ein vertrautes Gefühl.
„Ich weiß, wo sie sind", flüsterte er Jack zu.
„Eigentlich ging ich davon aus, du wüsstest das schon die ganze Zeit", murmelte Jack. „Aber, heh, das ist keine Beschwerde. Nicht bei dem Rückweg."
Langsam glaubte Tarsuinn, der Alte Jack war mehr als ein wenig durchgeknallt. Na ja – bei der Umgebung.
Sie gingen eine letzte Treppe hinunter. Hier unten war es noch kälter und vor allem recht feucht, aber dafür gab es keine anderen Gefangenen. Er blieb vor einer Tür stehen.
„Da rein? Ich zaubere sie auf", bot Jack an. Tarsuinn schüttelte den Kopf.
„Schutzzauber", flüsterte er warnend.
„Und was nun? Ich könnte einen Dietrich improvisieren."
„Jetzt brauchen wir Zeit", sagte Tarsuinn und ließ seine Hand über Schloss und Tür gleiten.
„Du denkst, du kannst den Fluch brechen? Bist du dafür nicht ein wenig zu jung?"
„Ich kann es nur versuchen und drauf hoffen, dass die Schutzflüche hier wirklich selten erneuert werden", entgegnete Tarsuinn unsicher.
„Mmh. Ich werd versuchen dich zu schützen, falls es schief geht. Aber defensive Zauber waren nie wirklich mein Ding."
Tarsuinn legte vorsichtig die Hand auf das Schloss und wünschte sich Bill herbei, damit dieser ihm half. Das hier war ganz anders, als das Pfefferkuchenhaus bei Gringotts. Die Magie hier war mächtiger und deutlich grobschlächtiger. Schon ein kleines Stück davon abzuzweigen, tat seinen empfindlichen Fingern sehr weh. Trotzdem fehlten ihm hier Zeit und Ruhe, den Fluch in ganz kleinen Stücken abzutragen.
Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen, während er sich verbissen auf seine Aufgabe konzentrierte und dabei nie vergaß, Hoffnung auszustrahlen. Lange Zeit arbeitete er so. Stetig, ohne zu große Hast, trug er den Fluch ab, so wie Bill es ihm beigebracht hatte. Einzig am Ende zögerte er. Die gesammelte Kraft in seiner Hand konnte sicher die halbe Tür wegsprengen, selbst wenn sie durch Zauber verstärkt war. Aber das würde zu laut sein. Einem Impuls folgend schloss er die Hand und ließ die Magie durch seinen Körper strömen. Für einen Moment war dies zu viel für ihn und Jacks Hände mussten ihn stützen, damit er nicht umfiel.
„Es tut so weh", rutschte es ihm heraus.
„Hat dir denn niemand beigebracht, dass du Fluchmagie nicht verändern darfst?", murmelte Jack und klang zum ersten Mal wirklich besorgt.
„Aber ich brauchte doch das", sagte Tarsuinn und öffnete wieder die Hand.
„Was ist das?"
„Das, was der Fluch wollte, um nicht ausgelöst zu werden."
„Eine Zylinder aus Gelee?"
Tarsuinn lächelte zaghaft.
„Ein Zylinder aus Rotz", grinste er und fühlte sich langsam wieder besser. „Den stecken wir jetzt ins Schloss, Sie lassen ihn anschwellen, härten ihn aus und dann können wir unseren eigenen passenden Schlüssel drehen."
„Das könnte sogar funktionieren", staunte der Alte Jack. „Lernt man so was heute in der Schule?"
„Eigentlich nicht", erklärte Tarsuinn ein wenig stolz. „Ich hab anscheinend nur das Talent, normale Zauber zu pervertieren."
„Nenn es lieber kreative Verwendung", riet Jack. „Und jetzt lass uns sehen, ob sich die Tür von deinem Rotz täuschen lässt."
Tarsuinn steckte den Zylinder ins Schloss und ließ dann den Alten Jack machen. Noch immer fühlte er sich nicht wohl dabei, den alten Mann bei sich zu haben, aber er musste zugeben, so locker und sicher wie Jack zauberte, war er eine große Hilfe. Ohne ihn hätte Tarsuinn versuchen müssen die Tür zu sprengen und das wäre sehr laut geworden.
„Gut", sagte Jack schließlich. „Versuch mal zu drehen und nimm's mir nicht übel, dass ich das nicht anfasse!"
„Solang man es nicht sieht, geht's", musste Tarsuinn lächeln und drehte an dem inzwischen gehärteten und vergrößerten Stück Rotz.
Es brauchte einiges an Kraft um den improvisierten Schlüssel zu drehen, doch es funktionierte. Schlosskunst war nicht gerade eine bedeutende Fertigkeit unter Zauberern, was ja angesichts ihrer Zauberkraft nicht sonderlich verwunderlich war. Wozu ein kompliziertes Schloss, wenn man es mit einfachster Magie der zweiten Klasse knacken konnte. Außer den Kobolden schienen sich fast alle eher auf Zauber und Flüche zum Schutz ihrer Besitztümer zu verlassen.
Er öffnete die Tür einen Spalt.
„Protego!", rief Jack hektisch und ein heftiger Fluch – er war so stark, dass Tarsuinn ihn kommen sah – wurde gegen die Wand geschleudert.
„Ala…", wollte eine krächzende Stimme schreien.
„Silencio!", unterbrach Jack schnell.
„Ähem, danke!", brachte Tarsuinn nur hervor. Er war vollkommen überrascht worden und hatte keine Ahnung, woher der Fluch gekommen war und wie er ihn ausgelöst hatte.
„Fühlt sich gut an nützlich zu sein", meinte Jack nur und schubste ihn leicht in die Zelle. „Kümmere dich um deine Freunde, ich pass hier draußen auf."
Einen Moment lang fragte Tarsuinn sich, ob es wirklich so klug war Jack zu vertrauen und ihn mit dem Schlüssel draußen zu lassen, während er in eine Gefängniszelle ging. Doch dann hörte er Toireasa und Winona leiden und seine Vorsicht war vergessen.
Während Winona nur in einer Ecke weinte, schien Toireasa in einer anderen Welt zu verweilen.
„Nicht weinen, Daddy!", bettelte sie immer wieder unter Tränen. „Ich war nicht böse, wirklich. Bitte sei nicht mehr traurig."
Tarsuinn ging zuerst zu ihr. Sie lag auf dem Boden, so dass er sich hinknien musste.
„Es ist nur ein Traum, Toireasa! Nur ein Traum", sagte er die Worte, mit denen er sich selbst immer zu beruhigen versuchte. Sanft berührte er sie. Es war immer ein peinlicher Moment, erst mal den Kopf durch Tasten finden zu müssen, ehe man ihn beruhigend streicheln konnte.
„Daddy, ich war wirklich nicht böse. Brauchst nicht weinen", murmelte Toireasa.
„Toireasa. Komm zu dir", drängte Tarsuinn. „Das sind alles nur böse Träume. Du kannst jetzt aufwachen. Ich schütze dich!"
„Tarsuinn?", fragte Winona aus ihrer Ecke. Das Mädchen klang deutlich weniger angeschlagen als Toireasa. „Bist du echt?"
„Ja", antwortete Tarsuinn. „Komm näher, dann geht es dir hoffentlich gleich besser."
Er hörte, wie Winona schnell herankrabbelte, und dann umarmte sie ihn heftig. Es tat fast weh, aber er beschwerte sich nicht. Da die Dementoren ihm nur Angst machten, konnte er gar nicht einschätzen, wie es den Mädchen gegenwärtig gehen musste.
„Wo sind wir hier?", fragte Winona. „Sind wir in…"
Sie schien die Wahrheit nicht aussprechen zu wollen.
„Genau", bestätigte Tarsuinn trotzdem. „Aber wir kommen hier raus. Jack hilft uns dabei."
„Wer ist Jack?", fragte Toireasa plötzlich und schniefte laut.
„Ich bin Jack!", erklärte dieser von der Tür her. „Kinder, seid ihr endlich so weit? Ich glaub, die Stillezauber sind nicht mehr wirksam und einige Gefangene randalieren."
Tarsuinn hob den Kopf. Jack hatte durchaus Recht. Über ihnen machten einige der Eingesperrten Krach und er konnte jetzt sehr deutlich die Aufregung der Dementoren spüren.
„Da durchzukommen sollte schwer fallen", murmelte Jack besorgt.
„Ich glaub, es gibt mehrere Weg hier raus", meinte Tarsuinn und versuchte den drei anderen Hoffnung zu vermitteln. „Toireasa, Winona. In dem Beutel hier müssten eure Zauberstäbe sein."
„Wo hast du die her?", fragte Winona, während sie den improvisierten Beutel öffnete. Das Mädchen klang schon viel zuversichtlicher.
„Ich bin dem Mann begegnet, der sie euch weggenommen hat", untertrieb Tarsuinn. „Er schläft jetzt eine Weile. Aber das ist egal. Sehen wir zu, dass wir einen Weg hier raus finden. Bist du bereit, Toireasa?"
„Ja, ich denke schon", erwiderte das Mädchen immer noch zittrig. „Wo sind Rica und Tikki?"
„Rica und Tikki?", ein Eiszapfen stach durch Tarsuinns Herz. Er hatte die ganze Zeit nie das Gefühl gehabt, sich um die beiden sorgen zu müssen. „Der Zauberer sprach nur von zwei Mädchen!"
„Solltet ihr von dem Mädchen sprechen, das die Hälfte ihres Gesichtes verbirgt, dann sei beruhigt, Kleiner. Sie wurde zurückgelassen. Ich hab sie gesehen."
„Und Tikki?", fragte Tarsuinn weiter.
„Ich hab niemand anderen weiter gesehen."
„Ein kleines Tier, das aussieht wie ein übergroßes Wiesel", half Toireasa aus.
„Ach, so was hab ich gesehen. Kam mir entgegen, als ich die Kellertreppe runter ging, um nach euch zu sehen."
„Dann holt Tikki sicher Hilfe und Rica kann ihnen sagen, was passiert ist", freute sich Winona.
„Ja, klar!", sagte Jack, doch Tarsuinns Ohren wussten, dass er dabei log. Aber wenigstens schienen Rica und Tikki in Sicherheit oder waren zumindest nicht hier.
„Wir sollten jetzt endlich los", drängte Tarsuinn erneut.
„Du führst, Kleiner", stimmte Jack sofort zu.
Es blieb Tarsuinn nichts weiter über, als dem nachzukommen. Das richtig Unangenehme an der Sache war nur, dass er sich wieder auf die Dementoren und das Gebäude konzentrieren musste.
Unter den Dementoren herrschte Aufregung. Tarsuinn hatte nicht den Eindruck, dass diese Wesen nach ihnen suchten, aber das ungewöhnliche Verhalten der Gefangenen schien sie zu verwirren. Anscheinend waren aufgeregte Gefangene ziemlich ungewöhnlich. Doch dies blieb nicht lange so. Tarsuinn hörte, wie mehr und mehr Insassen wieder leiser wurden.
„Ganz ruhig stehen bleiben", befahl Tarsuinn leise. Der sehr große Gang, in dem sie gerade waren, endete in einer T-Kreuzung und er spürte Dementoren von links näher kommen. Ängstlich hielt er den Atem an und konzentrierte sich auf seine Hoffnung. Es war nicht mehr weit zu einem Ausgang.
Tarsuinn schloss die Augen. Er war müde, hungrig, ihm war immer noch kalt und die Angst schien ein ständiger Begleiter zu sein. Langsam machten sich die Auswirkungen bemerkbar. Als die Dementoren dann geradeaus an ihnen vorbeigingen, konnte er ein Zittern nicht mehr unterdrücken. Seine Empfindungen für diesen Ort wurden immer stärker, unangenehmer und…
„Marie-Ann?", brach sich sein letztes Gefühl laut Bahn.
„Oh, Scheiße!", murmelte Winona und Tarsuinn musste ihr Recht geben. Der letzte Dementor stand im Gang vor ihnen und er spürte, wie die seltsamen, kalten Sinne des Wesens nach ihnen griffen. Und trotzdem fühlte sich diese spezielle Berührung vertraut an.
„Langsam zurück", flüsterte Tarsuinn. Er fühlte, wie die anderen Dementoren zurückkamen.
Dann blieb er selber wieder stehen. Auch in dem Gang hinter ihnen waren Dementoren im Anmarsch.
„Wir sind umzingelt", seufzte er und zu seiner Angst gesellte sich ein furchtbares Schuldgefühl. Die Dementoren nahmen Aufstellung, so dass sie die gesamte Gangbreite abdecken konnten. Tarsuinn war ratlos.
„Passt auf, Kinder", flüsterte Jack hektisch. „Bleibt ganz ruhig und bewegt euch nicht!"
„Was haben Sie vor!", fragte Tarsuinn besorgt.
„Etwas, worauf meine Enkel stolz sein können! Auf!"
Das Summen eines Besens war zu hören.
„Jack geht auf Reisen und diesmal ohne Jim und Johnny", rief Jack laut. „Ein letzter Ritt."
Dann zischte es und Jack donnerte laut und überzeugt: „Expecto Patronum!"
Tarsuinn wollte schreien, wollte Jack zurückhalten, doch Angst, Schuld und Verantwortung schnürten ihm die Kehle zu. Der alte Mann versuchte Tarsuinns Fehler zu korrigieren.
Nein! Sei ehrlich, Tarsuinn, schalt er sich selbst. Der Alte Jack opferte sich. Und indem er das tat, verpflichtete er Tarsuinn dazu, Winona und Toireasa am Leben zu erhalten, damit es nicht umsonst war.
„Ich werde die Welt von euch Missgeburten befreien", schrie Jack und knallte richtiggehend in die Dementoren hinein. Zusammen mit seinem zweiten Expecto Patronum und löste damit Tarsuinns Erstarrung. Er griff sich Winona und Toireasa, zog sie nah an die Wand, zwang die Mädchen sich hinzulegen und hielt ihnen die Augen zu. Ihm selbst blieb dieser Luxus verwehrt. Wie schon einmal sah und spürte er, wie wenig später Jack die Seele ausgesaugt wurde. Er spürte, wie Tränen seine Augen verließen und wie Hass und Hoffnungslosigkeit in ihm aufstiegen. Wenn er doch nur hätte wegsehen können! Aber leider gab es für das Geschenk des Einhorns keinen Ausschalter.
Und so sah er, wie ein gespenstisch leuchtender Jack an ihm vorbeischwebte und dabei so aussah, als würde er in einem Gefängnis hin und her gestoßen. Voll Horror sah er einen alten, gebrechlichen Mann mit Vollglatze, faltiger Haut und Unmengen von Altersflecken. Für Tarsuinn, der nur wenige Menschen von Angesicht zu Angesicht kannte, war es kein schöner Anblick und doch – er konnte nicht wirklich in Gesichtern lesen – wirkte Jack nicht traurig. Nur Angst schien er ein wenig zu haben.
Eine Minute später waren die drei Kinder wieder allein im Gang. Die Dementoren waren im wahrsten Sinne des Wortes über sie hinweggeschwebt und schienen vollkommen zufrieden zu sein, den Eindringling geschnappt zu haben. Fast als fürchtete er sich davor wieder Hoffnung zu haben, stand Tarsuinn auf. Links nichts, rechts nichts. Unter ihnen jedoch…
„Wir wollten doch in die andere Richtung", sagte Winona und hielt ihn am Arm fest.
„Ich kann nicht!", murmelte Tarsuinn.
„Tarsuinn, der alte Mann hat…"
„Ich weiß, was er getan hat und weshalb!", fuhr er sie unbeabsichtigt heftig an. „Das musst du mir nicht sagen!"
„Nicht so laut", bat sie. „Ich wollt doch nur sagen, wir sollten sein…die Chance nutzen. Bitte!"
„Ich kann nicht gehen!"
„Bitte, Tarsuinn!", bat jetzt auch Toireasa.
„Der Weg ist frei", entgegnete Tarsuinn abwesend. „Sie sind alle unten oder bei den Gefangenen. Ihr könnt schon mal vorgehen."
„Hier geht keiner allein!", sagte Winona fest.
„Ich werde den Dementoren nachgehen", sagte Tarsuinn.
„Warum zur Hölle?"
„Ich weiß es nicht."
Er konnte nur ahnen, dass die beiden Mädchen sich gerade ansahen.
„Ist es wichtig?", fragte Toireasa zögerlich.
„Sie meint: Ist es verdammt wichtig?", präzisierte Winona. „Wie damals die Sache mit der Geisterhütte. Mindestens!"
„Das kann ich nicht sagen."
„Dann sag uns, was mit dir ist?", forderte Winona. „Lass uns nicht im Regen stehen. Wir bleiben bei dir, also rede."
Tarsuinn schluckte und versuchte seine Gedanken von den Dementoren loszureißen.
„Sie ernähren sich von Glück", murmelte Tarsuinn. „Aber eine Seele saugt nur einer aus."
„Und? Wahrscheinlich ist die nicht teilbar."
„Glaubst du, ein Mensch der getötet wurde, empfindet Glück?"
„Vielleicht ernähren sie sich auch von anderen Dingen?"
„Und warum hatte dann der Dementor immer noch Hunger?"
Eine lange Pause folgte.
„Er hatte noch Hunger?", fragte Toireasa schließlich.
„Ja", bestätigte Tarsuinn einfach und seine Aufmerksamkeit schweifte schon wieder zu den Dementoren ab.
„Warum brauchen sie dann aber Seelen?", fragte Toireasa weiter.
„Ja, wozu?", murmelte Tarsuinn zur Antwort und ehe er es sich versah, machte er einige Schritte, um den Dementoren zu folgen.
„Wir sind Idioten", sagte Toireasa und lief hinter ihm her.
„Aber voll", meinte Winona und kam auch hinzu.
Sie schlichen wieder tiefer ins Gefängnis, doch diesmal weiter als zuvor. Bis hinunter zum felsigen Untergrund, in dem die Wände rau und wie natürlich gewachsen waren.
„Wir sind gleich da", murmelte Tarsuinn, als er die Dementoren wieder deutlich näher fühlte. „Wir müssen irgendwie – na ja – da lang."
„Das ist nur ein Loch", murmelte Winona. „Ich klettere voran."
„Ich brauch beim Klettern eure Hilfe", musste Tarsuinn eingestehen. „Ich kann kaum noch etwas außer den Dementoren spüren."
„Und du klappst bald zusammen", flüsterte Toireasa.
„Erst wenn ich die Zeit dazu habe", versprach er. „Und jetzt weiter."
Mit der Hilfe der beiden Mädchen schaffte er es das kleine Stück hinauf. Dann krabbelten sie etwa zwanzig Meter einen steinigen Spalt entlang, den ein Erwachsener niemals hätte bezwingen können, holten sich unzählige Abschürfungen und erreichten endlich das Ziel. Eine große Höhle voller Dementoren.
Sie befanden sich ein ganzes Stück über ihnen und es war recht laut hier. Ein Knistern und Knarren erfüllte die Höhle. Es war, als würden die Dementoren schnattern.
„Oh, mein Gott!", hauchte Toireasa neben ihm.
„Was?", fragte Tarsuinn. „Was seht ihr?"
„Die Schneeflocke", murmelte Toireasa entsetzt. „Das ist die Schneeflocke."
In einer sinnlosen Geste hob Tarsuinn den Kopf. Doch wurde er sofort wieder nach unten gedrückt.
„Bleib unten", zischte Winona in sein Ohr. „Ich beschreib es. Toireasas Schneeflocke ist ein drei Meter hoher Kristall, in dem unzählige Lichter umherschwirren. Die Dementoren stehen davor, als wäre es ein Altar oder so was. Einer steht direkt am Kristall und jetzt scheint er ihn zu küssen.
In Tarsuinns Kopf explodierte es. Es waren nicht Schmerzen im üblichen Sinne. Sein Gehirn versuchte einfach nur die unbekannten Reize zu verstehen – und gab dann auf. Egal, was die nächsten Minuten sonst noch geschah, Tarsuinn bekam es nur am Rande mit. Einzig an dem Vertrauen in die Hoffnung hielt er eisern fest.
Irgendwann kehrten seine Sinneswahrnehmungen zurück. Zuerst das Gehör.
„Bist du wach, Tarsuinn", fragte Winona seltsam laut.
Er nickte und merkte, dass ihm immer noch kalt war.
„Ich kann keine Dementoren fühlen", flüsterte Tarsuinn ängstlich.
„Das liegt daran, weil sie schon weg sind", antwortete das Mädchen. „Toireasa ist gerade runtergeklettert und schaut sich die Schneeflocke näher an."
„Sie darf sich nicht so weit entfernen", sagte Tarsuinn und fühlte plötzlich wieder Askaban und die Dementoren über ihnen.
„Ich konnte es ihr nicht ausreden und du warst halb weggetreten."
„Dann müssen wir runter zu ihr", entschied Tarsuinn.
„Hab ich mir schon gedacht. Komm, du musst dich nur an dem Seil runterhangeln."
„Woher haben wir zwei Seile?", fragte Tarsuinn verwirrt, während Winona seine Hände zu eben diesen führte und sie sich Hand über Hand dann langsam hinunterhangelten.
„Ist gezaubert", erklärte Winona nicht ohne Stolz. „Hat uns Professor Lupin beigebracht. Wir sollten aber nächstes Mal ein dickeres hinbekommen!"
„Wir sollten einfach nicht mehr in einen solchen Schlamassel geraten", kommentierte Tarsuinn. „Was in diesem Fall wohl meine Schuld ist."
„Quatsch! Wir hätten dich nicht mit Rica allein in der Winkelgasse lassen dürfen. Wir dachten, da könnte nichts passieren."
„Was haben wir in der Winkelgasse gemacht?", fragte Tarsuinn neugierig.
„Eis gegessen."
„Im Winter?"
„Ähem – wir haben inzwischen Sommer. Du hast einiges an Zeit versäumt."
„Das Gefühl hab ich langsam auch", brummte Tarsuinn. „Aber zumindest erklärt das die leichte Bekleidung. Aber ich will mich nicht beschweren, im Moment ist mir ziemlich warm."
„Das liegt an der Schneeflocke", sagte Toireasa.
„Woher kennst du sie?", fragte er neugierig. „Zumindest klang es vorhin so."
„Ich hab die in einer Kristallkugel gesehen", erklärte Toireasa. „Wozu dient sie?"
„Das…", und die Wahrheit erschien Tarsuinn plötzlich völlig logisch, „…ist ein Seelengefängnis."
„Wozu brauchen sie das?", fragte Toireasa weiter, als wenn er darauf die Antwort wissen müsste.
Er zuckte mit den Schultern, doch das nahmen ihm die Mädchen nicht ab.
„Du hast uns hier runter geführt!", sagte Toireasa. „Doch sicher nicht auf völlig blauen Dunst hin."
„Auch wenn es euer Vertrauen in mich erschüttert, ich habe nur an einige Dinge denken müssen und der Rest war Gefühl."
Keines der Mädchen sagte was und Tarsuinn spürte, wie ihn das verlegen machte. Sie erhofften sich Antworten von ihm – die ihm selbst zu verrückt vorkamen.
„Ihr erinnert euch sicher an Marie-Ann, oder? Nun – ich dachte vorhin, ich hätte Marie-Ann gefühlt, aber ich habe sie mit einem Dementor verwechselt."
„Wie konntest du dich so irren?", fragte Winona.
„Ich habe mich nicht geirrt", meinte Tarsuinn und war sich dabei wirklich sicher.
„Aber wie…?", begann Winona.
„Erinnert ihr euch, wie Marie-Ann meinte, nur ihr Körper wäre verflucht?", fragte Tarsuinn und seine Stimme versagte fast. „Verflucht, weil sie Einhornblut getrunken hat?"
Tarsuinn neigte leicht den Kopf, in dem Versuch eine Reaktion von den Mädchen aufzufangen. Nichts.
„Atmet ihr noch?", fragte er vorsichtig.
Erst jetzt kam das erwartete Keuchen.
„Ich würde jetzt liebend gern was Dummes sagen, wie: Das meinst du nicht ernst", sagte Winona betreten. „Aber du machst keine Scherze bei so was."
Sie ahnte gar nicht, wie sehr Tarsuinn sich etwas Lustiges in der momentanen Situation wünschte. Alles schien nur bedrückend zu sein und zu wissen, wer die Dementoren waren, machte ihn nicht gerade glücklicher.
„Aber warum sammeln die Dementoren Seelen?", erkundigte sich Toireasa noch einmal. Sie klang wie jemand, der versuchte, nicht an etwas Unangenehmes zu denken. Tarsuinn fand, dass sie sich nicht gerade das bessere Thema zur Ablenkung ausgesucht hatte.
„Egal warum!", nahm Winona ihm die Antwort ab. „Es kann nicht richtig sein!"
„Wir werden Professor Dumbledore davon erzählen", murmelte Toireasa.
„Wir sollten das jetzt beenden", entgegnete Winona energisch.
„Vielleicht können wir es mit einem Zauber versuchen", schlug Tarsuinn vor. „Haben wir schon was Passendes dran gehabt? Ich mein, ihr habt doch die letzten Monate…irgendwas?"
„Ich dachte an was anderes…", begann Winona.
„Könntest du es nicht versuchen, Tarsuinn?", fragte Toireasa hastig. „Einfach mit genug Wut oder so ähnlich?"
Tarsuinn hatte das starke Gefühl, dass ihm irgendeine wortlose Auseinandersetzung der Mädchen entging. Sie sprachen ihre Sätze zwar leise aus, aber die Vehemenz in ihren Stimmen machte ihm klar, dass sie etwas unausgesprochen ließen, das er nicht erfahren sollte.
„Ich bin mir sicher, es gibt nur einen…", versuchte es Winona erneut.
„Bitte lass es uns vorher anders versuchen", bat Toireasa jetzt.
„Ich bin mir sicher, du hast das nicht durch Zufall in der Kristallkugel zu sehen bekommen und ich denke, wir sollten Krach vermeiden", sagte Winona und klang jetzt fast, als würde sie einen Befehl aussprechen.
„Aber wenn er nur einmal funktioniert?", flehte Toireasa fast.
„Dann hättest du das Richtige getan!", entgegnete Winona eindringlich. „Zum Teufel, Toireasa. Das sind Seelen! Die meisten wahrscheinlich nicht unschuldig, aber wir wissen schon mal von einer, die nicht hierher gehört. Und außerdem darf man niemanden über den Tod hinaus quälen! Was ist da eine blöde Axt dagegen? Und außerdem kann uns bei der sicher jemand helfen. Hier aber sind wir allein und wenn es die Dementoren geschafft haben, dies hier geheim zu halten – selbst vor Dumbledore – dann haben wir vielleicht nur diese eine Chance, während uns dein Verlies nicht wegläuft."
Einen angespannten Moment herrschte Ruhe. Tarsuinn konnte Toireasas Unentschlossenheit richtiggehend spüren.
„Der Zauberer, der uns hierher brachte sagte, dass er den Dementoren jeden Monat jemanden gebracht hat, den niemand vermissen wird", sagte Tarsuinn eindringlich. „Und euch hatte er auch nur mitgenommen, um mich zu erpressen und um die Dementoren bezahlen zu können. Ich denke, es liegt auch in unserem Interesse, dieses Ding zu zerstören. Wenn du einen Weg dazu hast, dann bitte, Toireasa!"
„Bitte mich nicht darum", flüsterte Toireasa. „Es geht um die Verbindung zu meiner Mum."
„Deine Ma lebt oder ist tot", wandte Winona hart ein. „Ob nun mit oder ohne diesen Schlüssel. Für sie macht das keinen Unterschied. Aber für die Seelen hier und jetzt…"
„Du kannst nicht wissen, ob es für meine Mom einen Unterschied macht", widersprach Toireasa halbherzig.
„Sie hat dich nicht darum gebeten, die Axt zu holen. Niemand hat das. Im Grunde genommen waren wir doch nur neugierig. Was kann das Ding schon ändern? Es ist doch nur ne blöde Axt. Noch dazu viel zu groß, wenn du Recht hast. Was wollen wir mit dem Teil schon anfangen? Bäume fällen?"
„Sie muss wichtig sein", murmelte Toireasa verzweifelt.
„Dann ist sie da, wo sie im Augenblick ist, sicher und läuft uns nicht weg. Das hier ist jedoch vielleicht eine einmalige Chance. Die Dementoren sind weg und wir allein an ihrem anscheinend größten Schatz. Wir können ihnen so richtig dahin treten, wo es wehtut."
„Erinnere dich an Halloween", fügte Tarsuinn flüsternd hinzu. Inzwischen hatte er eine gewisse Vorstellung, worum es ging. Anscheinend glaubte Winona, dass Toireasas Kristallschlüssel hier helfen konnte, auch wenn ihm nicht ganz klar war, wie sie zu dieser Schlussfolgerung kam. Vielleicht sah die Schneeflocke dem Aufbewahrungsort der Axt sehr ähnlich oder war gar von der gleichen Art? Egal, das konnte er sowieso nicht einschätzen.
„Hier!", sagte Toireasa nach einem langen Moment. „Mach du's, Winona!"
„Okay", entgegnete Winona verständnisvoll klingend. „Geht mal lieber ein Stück zurück."
Tarsuinn wurde von Toireasa etwa zehn Schritte weggezogen.
„Was passiert gerade?", fragte er neugierig, doch dann war auch schon ein seltsames Knistern und Knacken zu hören.
„Der Kristall ändert seine Form und beginnt in allen Farben zu leuchten", murmelte Toireasa atemlos. So, wie sie sich anhörte, musste es ein beeindruckendes und auch ein beängstigendes Schauspiel sein.
Das Knistern verklang langsam und Stille kehrte ein. Aber nur für einen Augenblick. Dann plötzlich drangen dünne, ätherisch klingende Jubelschreie an sein Ohr. Zunächst noch leise, doch dann immer lauter. Vom Gehör her hätte Tarsuinn gewettet, die Stimmen würden in einem Tal, kilometerweit weg erklingen. Sein Gefühl sagte ihm etwas ganz anderes. Er spürte, wie Geisterhände ihn wie ein Windhauch berührten. Aber statt des üblichen Fröstelns, war ihm warm und wohlig zumute.
„Es war das Richtige", hörte er Toireasa glücklich murmeln.
„Hast du je daran gezweifelt?", lächelte Tarsuinn.
„Steht nicht rum wie die Ölgötzen!", fuhr Winona sie an und zerrte an Tarsuinns Hand. „Oder denkt ihr, dieses Konzert der Freude bleibt unbemerkt? Können die sich nicht einfach leise, still und heimlich verabschieden?"
„Entschuldige", sagte Toireasa halb abwesend. „Aber sah der eben nicht wie ein Wikinger aus?"
„Ist doch egal, wie er aussieht – er macht Krach und leuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Reißt euch beide endlich zusammen! Kapiert einfach, dass es einen Unterschied zwischen Seelen, Geistern und Gespenstern gibt. Seelen kapieren einfach nicht, was hier vorgeht und dass sie uns schaden. Sie verstehen uns auch nicht, weil sie ja eigentlich gar nicht hierher gehören. Und darum – werdet wieder klar!"
Zwar hörte Tarsuinn, was sie sagte, aber er realisierte es nicht wirklich. Sein durchfrorener Körper genoss die Wärme und sein Verstand den Frieden, die ihn durchdrangen.
Er bekam eine schallende Ohrfeige verpasst und kurz darauf klatschte es auch neben ihm.
„Und jetzt los!", kommandierte Winona und der wohlige Dunst verschwand etwas.
Die Wärme war nicht mehr so intensiv und dafür bemerkte er ein kaltes Gefühl im Bauch.
„Sie kommen herunter", warnte er Winona und folgte nun von sich aus ihrer Führung.
„Wo lang, Tarsuinn!", fragte sie hektisch.
„Nach links", wies er sie in einen Seitengang.
Sie rannten so schnell sie konnten. Zu schnell für Tarsuinn, der an der dritten Treppe stolperte und schmerzhaft auf die Stufen schlug.
„Wir müssen ihn in die Mitte nehmen", befahl Winona und Sekunden später zog eine weitere Hand an ihm.
„Wir müssen nach oben und dann links", presste Tarsuinn keuchend hervor und versuchte einen schmerzenden Fußknöchel zu ignorieren, der ihn am Auftreten hinderte. „Ich weiß nicht wie, aber sie folgen uns diesmal."
„Sie folgen nicht uns, sondern den Seelen, die uns begleiten", japste Toireasa.
Toireasa öffnete mit einem derart wuchtigen Alohomora eine Tür, dass diese – laut seinen Ohren – aus den Angeln flog und plötzlich umwehte frische Seeluft Tarsuinns Nase. Sie rannten über felsigen Boden und ein paar Mal war es nur der Kraft der Mädchen zu verdanken, dass er nicht noch einmal lang hinschlug. Jetzt, ohne die düstere Präsenz des Schlosses, fehlte ihm noch mehr die Orientierung.
„Oh, verflucht!", schrien beide Mädchen gleichzeitig auf und Tarsuinn wurde so stark zurückgerissen, dass er auf den Hosenboden fiel. Er riss seine Freundinnen mit um.
„Hatte ich eben das Gefühl, die Brandung genau unter mir zu hören?", fragte Tarsuinn, nachdem er sich ein wenig gefasst hatte.
„Eine Treppe die Klippe herunter ist eine verdam… hinterhältige Illusion", sagte Toireasa entsetzt. „Die wollen hier wirklich keinen lebend entkommen lassen!"
„Irgendwo muss es einen Weg hinunter geben", fasste sich wieder einmal Winona zuerst.
„Tarsuinn, rechts oder links die Klippe entlang?", fragte Toireasa. „Wo geht es runter zum Meer?"
„Ich hab keine Ahnung", entgegnete er.
„Egal, wir haben keine Zeit!", sagte Winona gedämpft. „Los!"
Tarsuinn wurde fast auf die Beine gerissen, dann ging es weiter. Winona bestimmte wieder die Richtung.
„Da ist die Treppe!", sagte Winona zwei Minuten später triumphierend.
Sie mobilisierten noch einmal ihre Kräfte zu einem letzten Sprint. Es konnte nicht mehr weit sein.
Ich bin völlig aus dem Training, dachte er keuchend und tröstete sich mit der Tatsache, dass die Mädchen noch fertiger klangen. Ich muss mich beherrschen, konzentrier…
„Stopp", rief er und stemmte sich verzweifelt gegen die Kraft seiner Freundinnen.
„Was!", schrie ihn Winona fast an.
„Still!", zischte er.
„Nur noch ein paar…", sagte Toireasa hoffnungsvoll.
„Still!", fuhr Tarsuinn auch sie an. „Dementoren warten auf der Treppe."
Alle drei verharrten sie und versuchten ihren schmerzenden Atem unter Kontrolle zu bringen. Es war schwer, unter diesen Umständen leise zu sein.
„Winona", flüsterte Toireasa, trotz seiner Anweisung. „Kannst du nicht etwas gegen die Seelen unternehmen?"
„Und was?", entgegnete das andere Mädchen.
„Keine Ahnung, du solltest doch aufgrund deiner Herkunft…"
„Ich bin nicht gut darin und ich mag es nicht."
„Versuch es! Ich hab meinen Schlüssel hergegeben, dann kannst du auch mal was Unangenehmes machen!"
Toireasa schien kurz davor zu schreien, weshalb Tarsuinn kräftig ihre Hand drückte. Er versuchte hoffnungsvoll zu bleiben, während Winona in einer unbekannten Sprache melodisch zu murmeln begann.
Tarsuinn verzichtete darauf zu erwähnen, sie solle sich beeilen, denn er konnte jetzt unzählige Dementoren spüren, die umherschwirrten. Er vermutete einfach, dass sie versuchten die Seelen zu fangen, die er selbst seltsamerweise nicht sehen konnte. Bis plötzlich…
Hallo, Kleiner.
Jack stand vor ihm. Aufrecht, kräftig und in einem warmen Licht schimmernd.
Bin gleich weg. Deine kleine Freundin ist echt überzeugend. Sie braucht nur mehr Übung und Liebe für ihr Schicksal. Aber egal, hör mir einfach zu. Mach dir keine Vorwürfe, Kleiner. Ich war alt und hab nur nach einem – wie die Jugend es heute nennt – coolen Abgang gesucht. Okay, ist nur ein sinnvoller rausgekommen, aber das mach ich dir nicht zum Vorwurf. Ich möchte dir nur einen letzten Rat geben: In ausweglosen Momenten ist es manchmal besser sich fallen zu lassen, als bis zum Schluss einen sinnlosen Kampf zu kämpfen. Und nun, leb wohl. Grüß meine Kinder, Enkel und Urenkel. Sag ihnen, sie können stolz auf mich sein und dass es mir jetzt, dank dir, besser geht als jemals zuvor.
Jack verschwand. Nichts blieb mehr von ihm zurück. Urplötzlich kehrte die erschöpfende Kälte zurück, die seit der Befreiung der Seelen gewichen war. Seine Zähne klapperten und um das zu unterdrücken, biss er sich auf die Unterlippe.
„Sie sind weg", murmelte Toireasa hoffnungsvoll. „Jetzt können die Dementoren uns nicht mehr sehen."
„Sie finden uns trotzdem", murmelte Tarsuinn. „Sie wissen, dass ich frei bin und kommen jetzt."
Es war eigentlich nicht seine Absicht, die Mädchen in Panik zu versetzen, aber es war sinnlos ihnen die Wahrheit vorzuenthalten, die sie gleich selbst erkennen würden. Die Dementoren kamen. Unzählige. Dicht beieinander bildeten sie einen großen Halbkreis, der sich langsam immer enger um die drei Kinder zusammenzog. Sie schwebten dabei so dicht über dem Boden, dass man nicht hoffen konnte, ihnen durch Hinlegen ausweichen zu können.
Tarsuinn war inzwischen schon über jede Angst hinaus. Die Dementoren erzeugten nur noch Mitleid und Abscheu in ihm, aber selbst das waren eher intellektuell erzeugte Gefühle. Im Grunde fühlte er – nichts. Zumindest nichts Negatives. Wie der Alte Jack zuvor, fürchtete er nicht mehr zu sterben, denn er hatte etwas Wichtiges vollbracht. Vielleicht war das seine Lebensbestimmung gewesen.
„Dieser alte Mann", sagte Toireasa fast fröhlich. „Wie lautete der Zauber, den er verwendet hat?"
„Expecto Patronum", entgegnete Tarsuinn. „Ist das ein guter Zauber?"
„Ich habe keine Ahnung. Versuchen wir es einfach", entgegnete Toireasa. „Okay, Winona? Tarsuinn?"
„Macht ihr", sagte er leichthin. „Ich probier was anderes."
Während die Mädchen versuchten mit dem unbekannten Zauber etwas zu bewirken, um die langsam näher kommenden Dementoren aufzuhalten – ohne irgendeinen Erfolg – versuchte Tarsuinn etwas Bewährtes. Vor den Toren von Hogwarts war es ihm schon einmal gelungen den Vormarsch von Dementoren zu verlangsamen. Das hier war nichts anderes, nur mit mehr Gegnern. Aber spielte das eine Rolle? Dementoren schwebten und damit waren sie windanfällig. Nicht sehr zwar, aber immerhin, und wenn Tarsuinn etwas konnte, dann waren es Windstöße und Wirbelstürme. Man konnte sagen, er beherrschte sie im Schlaf. Das nötige Gefühl war nicht schwer zu erzeugen. Angst vor Nähe kannte er und in Anwesenheit von Dementoren kam es wie von selbst. Windstöße schossen aus seinem Zauberstab, drängten einzelne Dementoren ein wenig zurück.
Jetzt musste er es nur schaffen die Spannung aufrechtzuerhalten, was sich als nicht gar so einfach herausstellten. Ein kurzer Stoß war einfach. Tarsuinn sammelte Energie, konzentrierte sich auf sein Gefühl und ließ sie dann in einem kurzen Impuls frei. Ein stetiger Strom der Energie jedoch erforderte mehr. Es war, als versuche man beständig auszuatmen und dabei gleichzeitig Luft zu holen – ein Ding der Unmöglichkeit. Also konzentrierte er sich darauf einen möglichst lang anhaltenden Zauber zu erzeugen, schnell so viel Magie wie möglich zu sammeln und dann weiterzumachen.
In seiner Vorstellung schubste er die Luft um sie herum an, erzeugte ein Chaos um einen Ort der Ruhe und wie bei einem Schwungrad, versuchte er mit leichten Schüben die Kraft des Windes immer weiter anzufachen.
Er fühlte, wie die Dementoren immer langsamer auf sie zukamen. Dank seines Sturms wussten sie zwar jetzt genau, wo sie suchen mussten, aber je näher sie kamen, desto mehr mussten diese grauenhaften Wesen gegen die Gewalt des Windes ankämpfen.
Toireasa und Winona versuchten inzwischen mit allen möglichen Zaubern und Flüchen die sie kannten irgendetwas zu bewirken, doch die Magie schien wirkungslos an den Dementoren abzuprallen. Am Ende beschränkten sich die Mädchen auf rote Funkenflüge in den Himmel, um vielleicht doch Hilfe herbeizurufen.
„Sie kommen nicht mehr näher!", freute sich Winona. „Klasse, Tarsuinn!"
„Das kann ich nicht mehr lange", sagte er und ignorierte das Gefühl, innerlich zu brennen. „Aber die Zeit reicht."
„Wofür?", fragte Toireasa.
„Zunächst einmal…!"
Er zog den Gefängnisschlüssel aus seiner Tasche und warf ihn die Klippe hinunter.
„Das wollt ich schon immer mal tun", grinste er dabei. Es war höchst unwahrscheinlich, dass die Mädchen begriffen, was er gerade tat. In einer sehr dunklen Ecke seines Herzens hoffte er, dass die Dementoren ihren Frust an jemanden Bestimmtem ausließen.
„Und jetzt Nummer zwei", sagte er lächelnd, zog ganz vorsichtig Winona an sich, tat so als würde er sie auf die Wange küssen, und flüsterte ihr dabei zu: „Hilf mir und die Füße voran."
Tarsuinn wusste, dass sie das im Moment nicht begriff, aber er war sich sicher, sie würde früh genug noch darauf kommen.
Dann wandte er sich an Toireasa.
„Ich denke, dafür ist nicht der richtige Augenblick", murmelte Toireasa verlegen.
„Wann, wenn nicht jetzt?", fragte er unschuldig und ergriff ihre Hand.
Im Grunde war es ihm ja selbst peinlich, doch im Moment sah er keine andere Möglichkeit. Wenn er mit Toireasa ringen musste, würde sicher seine Konzentration flöten gehen. Gegen ihr sanftes Widerstreben zog er sie näher und schlang seinen Arm um ihre Hüfte.
„Ich hab gar nicht vor, dich zu küssen", gestand er ihr und drehte sie ein wenig im Kreis, als würde er mit ihr tanzen.
„Nicht?", fragte sie und klang ein wenig – na ja – seltsam.
„Nun, vielleicht doch", gestand er. „Aber ich denke, es ist wichtiger, mich bei dir zu entschuldigen."
Tarsuinn beendete den Tanz so, dass Toireasa nun zwischen ihm und Winona stand. Hinter ihrem Rücken wedelte er hektisch mit der Hand. Winona begriff sofort und Tarsuinn fühlte, wie ein weiterer Arm sich um Toireasas Hüfte schlang.
„Was hast du vor, Tarsuinn?", fragte Toireasa ängstlich und das durchaus berechtigt. Sie stand nur noch ein oder zwei Schritte vom Rand der Klippe entfernt.
„Der Schlüssel ist ins Wasser gefallen", lächelte Tarsuinn sie aufmunternd an. „Vielleicht tun wir das ja auch."
„Nein!", schrie Toireasa in Panik auf und versuchte sich aus der doppelten Umklammerung zu befreien.
Lieber ertrinken, als durch die Dementoren sterben, dachte Tarsuinn bei sich. Toireasa mochte das vielleicht nicht so sehen, doch dafür hatte man schließlich Freunde. Gleichzeitig mit Winona machte er zwei Schritte nach vorn.
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