- Kapitel 29 -
Halte dein Versprechen!
Wenn Toireasa nicht vor Angst völlig starr gewesen wäre, sie hätte Tarsuinn geschlagen, als sie die Klippe heruntersprangen. Von ihrem subjektiven Zeitempfinden her, hätte sie alle Zeit der Welt dafür gehabt. Die Sekunden schienen sich zu einer Ewigkeit zu verlangsamen. Mit einer Klarheit, die nur von ihrem bevorstehenden Ende erzeugt werden konnte, sah sie das Wasser gegen die Felsen schlagen, hörte den Atem des Meeres und fühlte ihren Fall als unerträgliches Kribbeln im Magen. Wie konnte er ihr das antun? Es war ihr egal, wie sie starb – Hauptsache nicht ertrinken. Aber wie immer nahm er da keine Rücksicht. Und natürlich unterstützte Winona ihn dabei. Kurz bevor sie in der Brandung aufschlugen – und Toireasa wusste sehr gut, dass aus dieser Höhe das Wasser die Härte von Stein hatte – teilte sich die Oberfläche unter ihnen und dann tauchten sie nicht mit den Füßen voran ins Wasser ein, sondern das Meer schlug um sie herum zusammen. Jeder andere hätte es wohl eine sanfte Umarmung genannt, für Toireasa war es der Griff des Todes.
Voller Panik verlor sie die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Sie strampelte, schlug mit den Armen um sich, kam frei, tat ein paar Schwimmzüge – und wurde von kalten, groben und schmierigen Händen ergriffen, die sie in eine andere Richtung zogen. Ihre Arme wurden fest an die Seiten gedrückt, und ein großer Körper presste sich an sie. Sie spürte Lippen auf ihrem Mund. In Panik wurde ihr klar, dass ein Dementor ihr in die Tiefen des Wassers gefolgt sein musste und ihr jetzt die Seele entreißen wollte.
Genau die beiden Todesarten, die sie am meisten fürchtete – der Kuss des Dementors und Ertrinken. Danke, Tarsuinn!
Die Nase wurde ihr zugehalten und der Kopf in den Nacken gedrückt. Sie konnte nichts dagegen tun – ihr Mund öffnete sich...
...und lebensspendende Luft wurde in ihre Lungen gepresst.
Trotzdem wollte sie den Kopf wegdrehen. Die Lippen waren schmierig, geradezu widerwärtig, doch zwei Hände hielten ihren Kopf fest in Position. Sie riss die Augen auf und sah trotz der Dunkelheit zwei grüne Augen direkt vor sich leuchten. Das war kein Dementor, wurde ihr bewusst, während ein zweiter Schub Sauerstoff ihre Lungen erfreute.
In Toireasas Ohren knackte es. Anscheinend sanken sie immer tiefer. Sie bekämpfte ihre Panik so gut sie konnte. Der Gedanke, dass sie gerade die Rettung vor dem sicheren Ertrinken umklammerte, half ihr ein klein wenig dabei. Als ihr Widerstand erlahmte, spürte sie, wie die Umklammerung weniger fest und schmerzhaft wurde und auch ihr Kopf losgelassen wurde.
„Ruhig", flüsterte eine blubbernde Männerstimme. „Wir bringen dich in Sicherheit. Halt einfach still. Sirielle wird für dich atmen. Passe dich ihr an. Ich werde für euch schwimmen."
Erst jetzt spürte Toireasa, dass der Körper, der sich an sie presste, nur unzureichend bekleidet und eindeutig weiblich war und wenn das Wasser nicht so kalt gewesen wäre, ihr Kopf hätte geglüht.
Zwei Hände schoben sich von hinten unter ihre Achseln, dann spürte sie, wie sie mit delfinartigen Bewegungen gezogen wurde. Sie schloss die Augen wieder, denn das salzige Wasser schmerzte in ihnen, und konzentrierte sich auf das Bekämpfen ihrer Angst. Sie hoffte, dass Winona und Tarsuinn ähnliche Hilfe bekamen.
Einige Zeit verging, in der sie immer mehr fror und sich zu fragen begann, wann die Viertelstunde um war, die man brauchte, um im Ozean zu erfrieren. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihre Arme nun ihrerseits um die Frau schlang, die ihr die Luft spendete. Im Vergleich zum Wasser war deren Körper geradezu warm.
Der Atemrhythmus war recht langsam und reizte zu einem Husten. Ihre Gedanken wurden durch die Kälte immer träger und schweiften langsam ab.
War das ein Kuss? Sie hoffte nicht. Eine lebenserhaltene Maßnahme war das. Genau! Völlig unpersönlich und aus reiner Menschlichkeit. Vielleicht ekelte sich dieses Wesen – wahrscheinlich war es eine Meerfrau – genauso vor Toireasa, wie diese sich vor ihr.
„Gleich kannst du wieder normal atmen", sagte die Männerstimme von vorhin. „Und dich wärmen."
Der Meermann hatte nicht zu viel versprochen. Keine Minute später durchbrach ihr Kopf die Wasseroberfläche und endlich konnte sie wieder selbst atmen. Sie keuchte und hustete herzhaft. Neben ihr erging es der Meerfrau ähnlich. Sie hässlich zu nennen, wäre gemein gewesen. Schließlich verdankte Toireasa der Frau ihr Leben.
Sie gab die Meerfrau frei und griff zu einer Kante.
„Danke!", sagte Toireasa, sobald sie wieder einigermaßen atmen konnte.
Die Frau tauchte den Kopf unter Wasser und sagte dann etwas:
„Wir konnten den Sohn des Meeres und seine Freundinnen nicht ertrinken lassen", erklang es gedämpft. Dann tauchte sie weg.
„Wo warst du so lange?", fragte Winonas Stimme, eher erleichtert denn vorwurfsvoll.
Vier Hände ergriffen sie und sie wurde ins Trockene gezogen.
Es wirkte fast irreal, Tarsuinn und Winona am Leben zu sehen. Sie hatten seltsame grüne Umhänge um sich gelegt, die wie zusammengeknüpfter Seetang aussahen.
„Erst mal raus aus den nassen Klamotten!", kommandierte Winona und begann auch gleich damit, die Worte in die Tat umzusetzen, während Tarsuinn ihr sofort den Rücken zudrehte. Es war eine überflüssige, aber doch irgendwie nette Geste.
Sie schaute sich um. Der Raum, in dem sie sich befanden, war einfach eine große, fensterlose Halbkugel. Gut ein Viertel des Bodens war mit Wasser bedeckt. Nirgends war eine Tür oder ein anderer Ausgang zu sehen. Auf der trockenen Seite des Raumes gab es eine Bank, zwei Lagerstätten direkt auf dem Boden und eine Art Ofen, in dem ein Kristall warm glühte und über dem schon die Sachen von Tarsuinn und Winona hingen. Ihre eigene Kleidung wurde gerade hinzugefügt.
Toireasa bekam eine Art Handtuch gereicht, mit dem sie sich schnell trocken rieb. Gleich danach wurde ihr einer dieser Seetangumhänge um die Schultern gelegt.
„Ich fass es nicht, dass wir noch leben", murmelte Winona und strahlte über beide Ohren.
„Hast du was anderes erwartet?", fragte Tarsuinn und drehte sich herum. Sein Lächeln wirkte nicht wirklich überzeugend. Im Gegensatz zu Winona, die völlig aufgekratzt wirkte, machte er den Eindruck, als würde er sich erst jetzt gerade sämtlicher Grauen der vergangenen Stunden bewusst.
„Jetzt behaupte nur, du hättest das gewusst", lachte Winona und schaute zur Decke. „Oh, ihr Geister der Vorfahren. Ich schulde euch alten Knochen meinen Dank. Wir sind noch am Leben!"
Das Mädchen umarmte Toireasa, zog Tarsuinn hinzu und zwang sie in einen kleinen Freudentanz.
Auch auf Toireasas Lippen stellte sich nun ein Lächeln ein. Winona hatte Recht. Es war an der Zeit sich zu freuen. Sie konnte sehen, dass auch Tarsuinn sich Mühe gab.
„Entschuldigt", sagte eine gedämpfte Stimme und beendete den Freudentanz. Alle drei traten sie an den Wasserboden heran und konnten nun unter der Oberfläche einen Meermann schwimmen sehen. Was er sagte, war kaum zu verstehen. „Ihr müsst noch ein wenig hier bleiben. Askaban stört unsere Möglichkeiten, um dem Ministerium der Zauberer eine Nachricht zu schicken und Seepferde, wie auch Delfine, weigern sich hier zu schwimmen. Wir müssen also erst ein Stück zu Flossen zurücklegen."
„Können Sie nicht unseren Eltern oder Großeltern Bescheid geben?", fragte Toireasa besorgt. Auch wenn sie nach Askaban entführt worden waren, war es sicherlich schwer zu erklären, was sie da zu suchen gehabt hatten und wie sie entkommen konnten.
„Das ist nicht so einfach", antwortete der Meermensch und ein entschuldigendes Lächeln entblößte viele spitze und schief stehende Zähne. „Wir pflegen kaum Kontakte zu den Landbewohnern."
„Aber Professor Dumbledore kennen Sie doch?", fragte Tarsuinn. Er klang ein wenig wie Luna, wenn er so sprach. „Er wird helfen."
Jetzt wurde das Lächeln des Meermenschen geradezu beängstigend. Eine Art Rückenflosse richtete sich auf seinem Kopf auf und nahm eine leicht rötliche Färbung an.
„Wir sprechen lieber und schneller mit dem Großen Alten", sagte er erfreut und sehr respektvoll. „Wärmt euch, trinkt, esst, schlaft – in wenigen Stunden sind wir zurück."
Dann tauchte er wieder ab.
„Warum gehen wir nicht einfach?", fragte Toireasa verwirrt. „Wir könnten doch diese Muggel-Fernübertragungs-Sprachdinger nutzen, sobald wir in eine Ortschaft kommen."
„Du meinst Telefone", verdrehte Winona die Augen. „Ein Glück, dass ich dich zu Muggelkunde überreden konnte."
„Das beantwortet aber meine Frage nicht", maulte Toireasa angesichts des Vorwurfes. Sie wusste, dass diese Dinger Telefone hießen – schließlich verbrachte sie viel Zeit bei den Darkclouds – aber sie vergaß dieses ungewohnte Wort immer wieder.
„Was Winona dir nicht sagen will ist…", murmelte Tarsuinn halb abwesend und setzte sich wieder in die Nähe der warmen Kristalle, „…dass wir momentan wohl mehrere Meter unter Wasser in einer Art Taucherglocke sind. Ich schätze, so leben die Wassermenschen. Interessant, nicht wahr, Toireasa?"
Sie ging nicht auf diesen plumpen Versuch ein, sie mit interessanten Spekulationen von der Grundaussage abzulenken. Ihre Augen sahen voller Angst zu der jetzt sehr fragil wirkenden Wand.
„Nun dreh nicht durch", bat Winona und tätschelte vorsichtig Toireasas Hand. „Ich bin mir sicher, es hält schon seit Ewigkeiten."
„Das war nicht gerade hilfreich!", fand Toireasa. Plötzlich wirkten die Wände nicht mehr nur fragile, sondern auch noch alt. Sie musste sich hart ermahnen, damit sie den Eindruck einer sich senkenden Decke verdrängen konnte.
„Setzt dich ins Warme und versuch ruhig zu bleiben", ermahnte Winona sie. „Genauso, wie es Tarsuinn immer macht. Was er, genau genommen, gerade wieder macht."
Toireasa sah zu dem Jungen hinüber, der auf dem Boden saß, die Augen geschlossen hielt und sehr bewusst und tief atmete.
„Versuch's doch auch mal", meinte Winona leise. „Vielleicht hilft es dir ja auch."
„Dazu fehlt mir die Einstellung", entgegnete Toireasa zweifelnd. „Ich will mich gar nicht beruhigen."
Sie begann hektisch im Kreis zu gehen und die Wand mit den Händen zu prüfen.
War es dort etwa nass? Lief da ein Rinnsaal die Wand hinunter? Kamen diese seltsamen Geräusche von dem nachgebenden Wandmaterial? Wenn der rettende Weg doch nicht durch Wasser geführt hätte! Und die Luft schien auch immer schwerer zu atmen.
„Hör endlich auf damit!", fuhr Winona sie nach einigen Minuten an, packte Toireasa und zwang sie, sich auf den Boden neben Tarsuinn zu setzen. „Und jetzt reiß dich zusammen, klar? Wir können hier nicht raus, akzeptier das, und wenn wir raus schwimmen würden, dann würden wir entweder aufgrund des Druckunterschieds draufgehen oder nachher ertrinken, weil kein Land in der Nähe ist! Das hier ist der sicherste Ort auf Erden, an dem uns die Dementoren wahrscheinlich nicht finden können. Also – ganz ruhig! Entspann dich und sei froh, noch am Leben zu sein. Und versuch deine Angst unter Kontrolle zu bringen! Tarsuinn kommt mit viel Schlimmerem klar und ich bin sicher, du schaffst das auch."
Die dunklen Augen ihrer Freundin fingen Toireasas Blick auf und hielten ihn fest.
„Du bist stark, Toireasa!", sagte Winona eindringlich. „Wer mit Dementoren klar kommt, der bekommt auch jede andere Angst in den Griff."
„Ohne Tarsuinn…", wollte Toireasa widersprechen.
„Er ist hier. Ich bin hier", unterbrach Winona fest. „Dementoren oder Wasser. Mit uns beiden an deiner Seite musst du vor keinem von beiden Angst haben. Wir haben dir Schwimmen beigebracht, wir sind aus Askaban ausgebrochen und du bist bis hierher getaucht. Das alles konnte uns nichts anhaben und da willst du irgendeiner unbegründeten Angst nachgeben? Mach dir endlich klar, dass es nur eine Angst ist, die in deinem Kopf lebt. Wenn du das nicht in den Griff bekommst, dann wird sie dich umbringen, weil du im falschen Moment plötzlich nicht mehr denken kannst."
Toireasa starrte noch immer in die Augen ihrer Freundin. Sie sah genau die gleiche Furcht, die sie selbst verspürte, doch beherrscht und eher als eine Quelle für unbändigen Lebenswillen. Wie um es ihrer Freundin zu beweisen, holte Toireasa tief und ein wenig zittrig Luft.
„Und jetzt langsam ausatmen", sagte Winona und machte es ihr vor.
So atmeten sie synchron und immer langsamer und obwohl etwas in Toireasa zunächst nicht daran glauben wollte, so hatte sie doch ein wenig das Gefühl, der Kugelraum wäre wieder etwas größer geworden. Auch die Luft schien ihr plötzlich besser zu atmen und nicht mehr so stickig.
„Genau richtig", flüsterte Winona sanft und umarmte Toireasa. „Ich hab keine Lust, hier plötzlich die mit der alleinigen Verantwortung zu sein."
„Wieso allein?", presste sie sich, so mutig es ging, über die Lippen.
Winona nickte in Richtung Tarsuinn, auf dessen Gesicht wieder der allzu bekannte emotionslose Ausdruck getreten war.
„Ach, nö!", entfuhr es Toireasa.
„Ich bin okay", murmelte Tarsuinn auf eine Art, die alles andere vermuten ließ. Genauso hatte er auch gesagt, dass er sich alle Menschen blau wünschte.
„Sicher?", fragte Winona.
„Ja!", entgegnete er ohne große Regung. „Ich mach nur gerade jemandem klar, dass der Tag mir gehört und irgendwann auch die Nacht."
„Und was dauert das so lange?", fragte Winona weiter.
„Wir sind sehr unterschiedlicher Meinung. Das braucht ne Weile."
„Und wie klärt ihr das?"
„Unfreundlich", erklärte Tarsuinn und lächelte versonnen. „Sehr unfreundlich. Wir nutzen unsere Schwächen gegeneinander aus."
„Wer gewinnt?"
„Ich! Es gibt nur diesen möglichen Ausgang. Bin auch gleich fertig. Muss bloß noch mal nachtreten, damit der Sack sich das merkt."
Winona schaute Toireasa bedeutungsvoll an und machte dann mit der Hand einen Scheibenwischer in die Richtung des Jungen und grinste verschwörerisch. Die Erleichterung war dem Mädchen deutlich anzusehen. Auch Toireasa empfand so. Sie wusste nicht, was Tarsuinn wieder normal gemacht hatte, aber sie war froh, dass er nicht wieder in seine Apathie zurückgefallen war. Natürlich war er immer noch verrückt.
„Was machen wir jetzt?", fragte Toireasa.
„Abwarten und schauen", antwortete Winona aufmunternd und zog Toireasa wieder auf die Beine. „Der hübsche Meermann meinte was von Essen und Trinken. Hier muss also irgendwas zu finden sein. Ich wette, es hat was mit den Kristallen zu tun. Vielleicht…"
Ein Knall ertönte.
Toireasa, deren Nerven immer noch ziemlich angespannt waren, zuckte zurück, stieß sich den Kopf und verbrannte sich die Hand an einem der Kristalle. Aus einem Reflex heraus wollte sie ihren Zauberstab ziehen, doch der trocknete mit ihrem Umhang.
„Kein Grund zur Hektik", sagte die Stimme von Pádraigín Davian überheblich. „An einem ausgefallenen Ort habt ihr euch versteckt."
Fast wäre Toireasa froh über das Erscheinen ihrer ehemaligen Stiefmutter gewesen, wenn sich da nicht ein Zauberstab auf sie gerichtet hätte.
Toireasa schnappte nach Luft, wollte etwas sagen, doch da wäre nur irgendwelcher Stuss herausgekommen.
„Her mit der Axt!", forderte die Frau, die Toireasa einmal Mutter genannt hatte.
„Was?", sagte sie nun doch etwas Dummes.
„Die Axt!", erklärte Pádraigín Davian erneut. „Mit dem Beutel! Gib mir beides."
„Weshalb?", fragte Toireasa immer noch nicht ganz da. Sie war müde und es war ihr inzwischen einfach zu viel.
„Ihr wart bei Gringotts, also hast du die Axt."
„Wir haben nichts aus Gringotts herausgeholt", übernahm Winona energisch. „Hauen Sie ab! Bald ist Professor Dumbledore da."
„Misch dich nicht ein, kleine Wilde", sagte Pádraigín kühl. „Das hier geht nur mich und meine Tochter etwas an."
„Ich bin nicht deine Tochter!", fand Toireasa endlich ihre Sprachfähigkeit wieder, die über ein Wort hinausging.
„Das warst du acht Jahre lang!", entgegnete die Frau energisch. „Und dafür schuldest du mir etwas."
„Selbst wenn ich die Axt geholt hätte…", feuerte Toireasa zurück, „…dann würde ich sie dir nicht geben. Du hast doch nichts für mich getan!"
„Sie steht mir zu! Dein Vater hatte sie mir immer versprochen und ich brauche sie, um unsere Mission durchführen zu können."
„Von was für ner Mission redest du?", fragte Toireasa abwehrend. „Geld und Macht?"
„Ach, komm schon!", meinte Pádraigín leicht enttäuscht. „Willst du behaupten, du hättest in dem Verlies nichts gefunden, was erklärt, wozu diese Axt dient?"
„Wir sind nie bis dahin gekommen", erklärte Toireasa und langsam kam ihr Gehirn wieder auf Touren. „Erzähl mir doch worum es geht, dann geb ich sie dir vielleicht."
„Red doch keinen Unsinn. Ihr seid doch nur weggelaufen, weil ihr wusstet…", Pádraigín starrte Toireasa einen Moment verwirrt an. „Ihr habt wirklich keine Ahnung."
„Und – wir – haben – auch – diese – blöde – Axt – nicht", ergänzte Winona feindselig, holte den Beutel und schüttelte ihn aus.
Dies schien Pádraigín als Beweis zu genügen.
„Du wirst mir die Axt bringen, Toireasa", sagte die Frau jetzt einschmeichelnd.
„Warum sollte ich?"
„Weil es auch in deinem Interesse liegt und du es mir schuldest", sagte Pádraigín freundlich und ließ ihren Zauberstab sinken. „Glaub mir, du möchtest das auch, aber du bist noch zu jung, um diese Waffe benutzen zu können. Nicht nur du hast jemanden verloren, den du liebst. Aber man kann diese Personen rächen und dafür sorgen, dass es niemals wieder vorkommt. Niemand müsste mehr wie du eine Mutter verlieren."
„Lass meine Mutter aus dem Spiel!", fauchte Toireasa wütend.
„Warum sollte ich? Riesen haben sie getötet, genau wie meinen Bruder. Sie sind Bestien. Dein Vater wusste das und wir haben sie gemeinsam bekämpft. So habe ich ihn kennen gelernt. Ihn und seine Axt. Riesentod ist ihr Name. Sie machte ihn zum Erfolgreichsten von uns und er versprach sie mir, für den Fall, dass er sterben würde. Als es dann aber unerwarteterweise nicht auf einer Mission geschah, waren die Vorkehrungen nicht getroffen. Nicht einmal ein Testament hatte er hinterlassen. Die Axt gehört mir. Er hat sie mir versprochen und deshalb bitte ich dich, Toireasa, erfülle seinen Wunsch."
Noch nie hatte Toireasa Pádraigín Davian um irgendetwas bitten hören. Sie wusste ja, dass ihre ehemalige Stiefmutter eine Kampfgefährtin ihres Vaters gewesen war, aber sie hatte nicht geahnt, wie tief deren Hass auf die Riesen saß.
„Laut Ministerium haben Todesser meine Mutter getötet", sagte Toireasa zweifelnd.
„Todesser und Riesen. So zumindest steht es in den geheimen Akten des Ministeriums. Ich kann sie dir zeigen. Die Diplomaten sollen gerade mit den Riesen in Verhandlung gewesen sein, als diese angriffen und von Todessern aus dem Hinterhalt unterstützt wurden. Sie hatten überhaupt keine Chance und wurden regelrecht abgeschlachtet. Diese Bestien haben sie richtig zerfetzt. Vor allem als sie später merkten, dass ihr Geschenk – die Axt – falsch war."
„Ich verstehe nicht…?", sagte Toireasa.
„Tja, deine Mutter war vielleicht nicht die beste Schülerin, aber sie war durchaus nicht dumm. Sie hat den Job beim Ministerium deshalb bekommen, weil sie die Axt besaß und den Vorschlag machte, man könne die Riesen auf unsere Seite ziehen, wenn man den Biestern diese Waffe zum Geschenk machte. Doch es war Zeitverschwendung, besonders weil anscheinend jemand aus dem Ministerium sie verraten hat und mit Riesen nicht verhandelt werden kann. Wahrscheinlich hat deine Mutter so etwas befürchtete, denn sie hat nur ein Duplikat mitgenommen und so konnte dein Vater mit Riesentod dafür sorgen, dass sie etwas ruhiger in ihrem Grab liegt."
Bis zu diesem Moment hatte Toireasa geglaubt, sie hätte keinen Hass auf die Riesen in sich, da diese ja von den Todessern verführt worden waren, aber jetzt musste sie sich eingestehen – es stimmte einfach nicht. Ihr Verstand sagte: Nur bedingt schuldig. Ihr Herz jedoch hasste. Aber sie hasste auch Pádraigín Davian und das auch mit ihrem Verstand.
„Und meine Mutter zum Schein wieder auferstehen zu lassen, hat diese Ruhe sicher nicht gestört?", fragte Toireasa ätzend. „Ich würde dir lieber vor die Füße spucken, als dir irgendetwas zu geben, Stiefmutter. Die Riesen haben als Entschuldigung, dass sie dumm und primitiv sind und es einfach nicht besser wissen. Aber du tust schlimme Dinge, obwohl du weißt, wie schlecht es ist."
„Ach!", peitschte Pádraigíns Stimme richtig empört durch den Raum. „Was hab ich denn so Schlimmes getan!"
„Du hast Tarsuinn seine Zauberkraft nehmen lassen, nur weil du es nicht ertragen konntest, einen Squib als Sohn zu haben. Und nachdem das nicht mehr funktionierte, wurde jetzt einem anderen Menschen die Kraft genommen. Das ist widerlich."
„Er ist ein Bedlam und, wenn man es genau nimmt, sollte er froh darüber sein, denn dadurch lebt er noch. In Indien werden solche Kinder nämlich als von einem bösen Geist besessen angesehen und deshalb getötet. Er sollte dankbar sein. Außerdem ist das Ritual nicht illegal, wenn es einen der Verbrecherkaste trifft."
„Seltsam, soweit ich weiß, hat das niemand bei seiner Anhörung erwähnt", unterbrach Winona.
„Kein Wunder. Es ist auch kein Gesetz, sondern gelebte Tradition", entgegnete Pádraigín.
„Und er sollte wohl auch dankbar für die Alpträume und seine Blindheit sein, ja?", schrie Toireasa die Frau an.
„Gerade du solltest mir das nicht vorwerfen!", antwortete Pádraigín in der gleichen Lautstärke. „Ansonsten…"
„Das reicht jetzt aber!", unterbrach Tarsuinns Stimme leise, aber weil sie so kontrolliert war, hob sie sich deutlich von der allgemeinen Lautstärke ab.
Es wurde für einen Moment sehr ruhig in der Halbkugel.
„Das hat keinen Zweck", fuhr der Junge fort. „Wir haben die Axt nicht und wir haben den Kristallschlüssel nicht mehr, um sie zu holen. Wozu also diese ganzen Vorwürfe und die Brüllerei? Gehen Sie einfach, Mrs Davian. Und lassen Sie Toireasa in Frieden oder Sie bekommen Probleme."
Tarsuinn trat zwischen Toireasa und Pádraigín.
„Du magst mein Stieftöchterchen also sehr, kleiner Bedlam?", fragte Toireasas ehemalige Stiefmutter mit falscher Freundlichkeit und verwendete gleichzeitig die Beleidigung, die man für Zauberer mit dem Wilden Talent benutzte.
„Deutlich mehr als Sie", sagte Tarsuinn einfach. „Deshalb möchte ich, dass Sie gehen. Jetzt!"
„Das ist ja so lieb von dir", erwiderte Pádraigín zuckersüß. „Ich frage mich, ob du immer noch so empfindest, wenn ich dir jetzt sage dass Toireasa durch deine Augen sieht?"
Toireasa wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Das ist eine Lüge!", stammelte sie.
„Es ist keine Lüge", flüsterte Pádraigín in Tarsuinns Ohr und ihr Lächeln wurde ungemein breit, als sie an dem Jungen vorbei Toireasa anblickte. „Der Siegelrubin hat immer geleuchtet, wenn sie in der Nähe war, nicht wahr? Erinnerst du dich? Was sagst du jetzt, kleiner, verrückter, blinder Bedlam."
Verschwörerisch beugte sich Tarsuinn nach vorn und sagte dann doch so laut, dass es jeder hören konnte: „Und? Wann erzählen Sie mir die schlimme Neuigkeit?"
Toireasa sah, wie das Lächeln auf dem Gesicht von Pádraigín gefror.
„Ich denke, du hast nicht verstanden", sagte sie. „Ich meinte…"
„Ich weiß, was Sie meinten", fuhr Tarsuinn gelangweilt dazwischen. „Sie zeichnen sich nicht gerade durch Subtilität aus."
„Das kann nicht sein", brach es nun aus Toireasa heraus. Weder bei den Dementoren, noch hier unter Wasser hatte sie jemals ein solches Entsetzen gespürt. „Mein Dad hätte…"
„Was hätte er nicht?", sagte Pádraigín und lachte gekünstelt. „Er hat, Schätzchen. Du magst mich vielleicht hassen, aber mir verdankst du dein Leben und dein Augenlicht, ohne dass ich dies bisher je gegen dich verwendet hätte. Ich hab dir deinen Glauben an deinen Vater gelassen, weil er ein großartiger Mann war. Doch er war beileibe nicht der Gott, der niemals Mist baut."
„Du hast kein Recht, schlecht von ihm zu reden!"
„Hab ich nicht? Ich sag dir mal was, ich hab ihn länger gekannt als du und ihn auch geliebt. Trotzdem war er nie der Hellste und der Tod deiner Mutter hat ihn stark mitgenommen. Er ist mit uns gegen die Riesen gezogen und hat dich bei irgendwelchen Leuten zurückgelassen, wann immer er in den Kampf zog. Wir haben lange Zeit überhaupt nicht gewusst, dass du existierst. Erst, als sich so langsam eine Beziehung zwischen ihm und mir abzeichnete, hat er dich mir vorgestellt und ich war es dann auch, die schon am zweiten Tag erkannt hat, dass du am Sinnestod erkrankt warst. Ich habe dich zu einem Heiler gebracht, nicht er, denn er trank immer, um schlafen zu können, und wurde nicht wach. Du warst zwar blind, aber ich konnte dein Leben retten. Als dein Vater am nächsten Tag begriff, was geschehen war, drehte er fast durch und nur die Lösung Indien gab ihm den Mut weiterzumachen. Er war es, der die Gelegenheit ergriff und der für Aidan das Ritual bezahlte, als er erfuhr, dass man auch ihm helfen konnte. Danach hat er das Trinken aufgegeben und wurde zu dem fürsorglichen Vater, an den du dich erinnerst. Also mach du mir keine Vorhaltungen! Ich habe immer getan, was für die Familie das Beste war und du hast davon profitiert."
„Das ist alles nicht wahr", murmelte Toireasa und schaute hilfesuchend zu Winona. Doch als sie in deren Augen sah, gaben die Beine unter ihr langsam nach und sie setzte sich auf den Boden.
Das Mädchen wusste es und konnte es nicht verbergen!
„Und ich hatte so große Hoffnungen in dich gesetzt, Toireasa", setzte Pádraigín nach. „Aber es ist leider so, ein Keary-Bastard bleibt immer…"
Was Pádraigín Davian von Keary-Bastarden hielt, sollte Toireasa nie erfahren. Ihre ehemalige Stiefmutter hatte anscheinend eine Grenze überschritten. Wie ein verschwommener Blitz war Tarsuinn nach vorn gesprungen und rammte seinen Kopf in den Bauch der Frau. Dann trat er ihr auf den Fuß und riss den Kopf ruckartig unter das Kinn von Pádraigín. Es krachte laut. Pádraigín fiel völlig überrumpelt der Länge nach hin und Tarsuinn warf sich, die Ellenbogen voran, auf sie.
Winona war inzwischen zu den trocknenden Sachen gesprungen um an ihren Zauberstab zu kommen. Viel zu spät versuchte Toireasa es ihr nachzutun, aber es war sinnlos. Ein Disapparierknall ertönte und sie waren wieder nur zu dritt.
„Au!", fluchte Tarsuinn und rieb sich mit schmerzerfülltem Gesicht erst die Ellenbogen und danach den Hinterkopf.
„Hab ich ihr wenigstens den Kiefer gebrochen?", fragte er hoffnungsvoll. Seine Hand zeigte einige dünne Tropfen Blut. Er leckte daran und grinste dann. „Oh, eine Platzwunde. Das muss ihr einfach wehgetan haben, diese blöde…"
Toireasa hörte nicht mehr zu. Sie zog sich in eine Ecke zurück und weinte.
Winona hatte es gewusst und Tarsuinn hatte auch nicht überrascht geklungen. Sie wollte denken, dass alles, was Pádraigín Davian gesagt hatte, eine Lüge gewesen war, aber die Reaktion der beiden machte diese Hoffnung zunichte.
Das sind nicht mal meine Tränen, dachte sie verzweifelt. Ich bin nicht anders als Aidan.
„Wir machen das rückgängig, Tarsuinn", versprach sie heulend, als die Weinkrämpfe etwas nachließen. „Ich bin nicht wie Aidan und ganz bestimmt nicht wie meine Stiefmutter."
Sie spürte, wie mehrere Hände nach ihr tasteten und versuchte sich diesen zu entziehen, aber es gab keine Möglichkeit zu fliehen. Sie wurde umarmt.
„Ich möchte nur eines von dir", flüsterte Tarsuinn ihr ins Ohr. „Du hast mir einmal ein Versprechen gegeben. Halte es! Fühle dich niemals schuldig für etwas, das deine Stiefmutter getan hat."
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