Epilog (Zeit des Wandels)
Tarsuinn
Trösten war nicht unbedingt eine von Tarsuinns besten Fähigkeiten. Also hielt er lieber still Toireasas Hand und überließ Winona das Feld – die leider auch nicht wirklich souverän wirkte. Im Endeffekt waren sie alle drei nur müde, wobei Toireasa zusätzlich gerade noch eine Sinnkrise durchmachte. Genau das, was Tarsuinn immer befürchtet hatte. Er hatte mehr als einmal gehört, wie Toireasa mit und über ihren Bruder gesprochen hatte. Sie dabei einzubremsen hatte er nur halbherzig versucht und nun rächte sich das. Wenn doch nur Rica hier wäre!
Es plätscherte ein wenig im Wasser. Für Tarsuinn kein Grund zusammenzuzucken.
„Kommt Professor Dumbledore bald?", fragte er den im Wasser vermuteten Meermenschen.
„In Person", erwiderte die tiefe, aber sanfte Stimme des Professors. „Ich wollte euch nicht erschrecken und habe deshalb einen leiseren Weg gewählt. Eure Eltern, Rica und vor allem Tikki waren in großer Sorge."
Tarsuinn hörte keinen Wassertropfen zu Boden fallen, als Dumbledore in die Wohnglocke trat.
„Ich hoffe, es geht euch gut?", fragte der Direktor weiter und hockte sich vor ihnen hin. Wahrscheinlich sah er sie forschend an und versuchte ihre gegenwärtige Verfassung einzuschätzen. Unabhängig von der Antwort die sie jetzt geben würden.
„Relativ gut", meinte Winona und schien kaum die Energie für Freude zu haben. Nur ihr Sarkasmus war intakt. „Und wie geht es Ihnen, Professor. Schöne Ferien bisher?"
„Weiße Strände, blaues Meer und ein Klima, das den Knochen gut tut. Aber dies ist nichts gegen die Wärme des heimischen Atlantiks."
„Also, wir haben die Schnauze voll davon", gestand Winona ehrlich. „Bringen Sie uns bitte hier weg!"
„Dein Wunsch ist mir Befehl. Ich denke, ein Portschlüssel ist die beste, sicherste und schnellste…"
„Einen Moment bitte, Professor", unterbrach Tarsuinn bittend und krabbelte zum Wasser.
„Seid ihr da?", fragte er und tauchte seine Hand ins Wasser.
Sofort fühlte er die seltsam kalte Berührung. Zuerst an den Fingern und dann sogar an der Wange.
„Ja", sagte eine gedämpfte Stimme unter der Wasseroberfläche.
„Kennt ihr mich?", fragte Tarsuinn und folgte seinen Gefühlen ein Stück weiter. „Warum kommt mir hier alles so vertraut vor?"
„Weil du in einem unserer Gästeheime geboren wurdest."
„Und kennst du mich?", erkundigte er sich weiter. „Deine Hand, ich hab sie schon im See von Hogwarts berührt. Warst du wegen mir da?"
„Ich war nicht wegen dir, sondern für dich da und werde es auch weiterhin sein."
„Aber warum hast du nie mit mir gesprochen?"
„Ich glaubte, du willst mich nicht kennen", sagte der Meermann. Seine Stimme (schwer verzerrt und deshalb schlecht einschätzbar) war eine Mischung aus Schmerz, Zuneigung und Hoffnung.
„Ich wünschte, ich könnte mich an dich erinnern. Ehrlich", erklärte Tarsuinn.
Die Hand strich ihm über den Kopf.
„Ohne Haare warst du nicht so hässlich", sagte der Meermann amüsiert. „Wir sehen uns wieder, dann aber in einer freundlicheren Nachbarschaft."
„Ich werde Tarsuinn gern die Möglichkeit geben, euch auf einfache Weise zu besuchen", versprach Professor Dumbledore. „Aber zunächst ist es sicher besser, die Kinder fortzuschaffen."
„Einen Moment bitte!", rief Tarsuinn schnell, als die Hand wieder im Wasser verschwand. „Wie heißt du?"
„Ruf mich, wenn du dich wieder erinnerst", kam die freundlich klingende Antwort. „Aber such dir bitte ein sauberes Gewässer aus."
Dann schwamm der Meermensch weg. Tarsuinn konnte fühlen, wie das Wesen sich entfernte.
„Wissen Sie, wie er heißt, Professor?", versuchte er es sich einfach zu machen.
„Leider nein, Tarsuinn. Ich kann nicht jeden kennen", erwiderte der Professor nachsichtig. „Obwohl es aus irgendeinem mir völlig unerfindlichen Grund umgekehrt zu funktionieren scheint."
Zwei starke Hände hoben ihn auf seine Füße und etwas, das sich wie eine glitschige Schlingpflanze anfühlte, wurde ihm in die Hand gedrückt. Professor Dumbledore zählte bis drei, dann wurde Tarsuinn übel und sie waren woanders.
Das nächste, was er mitbekam, war, wie sein Name und die der Mädchen gerufen wurden und dann riss ihn eine Umarmung um. Oder war er schon vorher umgefallen? Es war egal. Ricas und Tikkis Berührungen waren das Schönste, was er sich im Moment vorstellen konnte.
„Es tut mir so Leid!", schluchzte Rica. „Ich konnte dieser Stimme nicht widerstehen und beschützen konnte ich dich auch nicht."
„Eigentlich wäre es meine Aufgabe gewesen, dich zu beschützen", versicherte Tarsuinn und erwiderte die Umarmung.
Fast rüde wurde er weggestoßen.
„Sag das noch mal!", forderte Rica atemlos.
„Es wäre meine Aufgabe…", begann er erschrocken, nur um plötzlich noch fester umklammert zu werden.
„Du bist wieder da!", jubelte Rica. „Mein Tarsuinn ist wieder da."
„Wenn du weiter drückst, hast du gleich zwei", murmelte er und konnte wieder lächeln.
„Oh, entschuldige", die Arme lösten sich wieder ein wenig und ein Moment verging. „Mein Gott, wie siehst du denn aus?"
Rica hob ihn wie ein kleines Kind hoch und setzte ihn auf das Sofa.
„Überall Wunden!", schimpfte Rica besorgt. „Warum sagst du denn nichts?"
„Ich fand es gut, wie es war", lächelte Tarsuinn mutig. „Außerdem bist du nicht gegen meinen Fuß gekommen."
Das hätte er wohl nicht sagen sollen.
Sein Fuß wurde vorsichtig hochgehoben und Rica schaute sich ihn an. Tarsuinn fand das blöd, denn eigentlich wollte er nur knuddeln. Wenigstens war Tikki der Ansicht, dass es so schlimm nicht sein konnte, und drängte sich mit lauten Liebesbekundungen an ihn. Mit seinen Händen versicherte er ihr, dass er sie noch immer vorbehaltlos liebte.
„Ich kümmere mich darum", bot eine bekannte männliche Stimme an. Tarsuinn erkannte Heiler Cutter wieder. Anscheinend war man hier auf das Schlimmste vorbereitet.
Erfahrene Finger ergriffen seinen Fuß und bewegten das Gelenk. Es tat ziemlich weh. Rica setzte sich inzwischen neben ihn und zog ihn an ihre Seite. Ihre Hand strich über seinen Kopf.
„Nur ein wenig das Gelenk verstaucht", erklärte Cutter nur Sekunden später. „Das haben wir gleich."
Einen Zauber und ein sanftes Prickeln später, schwand der Schmerz in seinem Gelenk auf fast nicht mehr wahrnehmbar.
„In einer Stunde ist das wieder voll belastbar. Noch andere Verletzungen?"
Tarsuinn schüttelte den Kopf.
„Und was ist mit den Schnitt- und Schürfwunden?", fragte Rica.
„Eine Desinfektions- und Heilsalbe darüber und es ist alles wieder in Ordnung", anscheinend war Cutter es gewohnt, überbesorgte Mütter nett abzubügeln. „Ich schau mal nach den Mädchen."
„Bist du sicher, dass alles gut ist?", fragte Rica leise.
Zur Antwort umarmte er sie vorsichtig, damit Tikki nicht zerdrückt wurde.
„Jetzt ist alles gut", flüsterte er ihr ins Ohr und für ihn selbst stimmte das auch. Im Hintergrund konnte er Toireasa weinen hören, während die Darkclouds sich vorbehaltlos freuen konnten.
Es dauerte mehr als zehn Minuten, ehe sich die Erwachsenen wieder etwas beruhigt hatten und es war Professor Dumbledore, der wieder etwas harte Realität zurückbrachte.
„Darf ich fragen, was passiert ist?", fragte er. „Ich war doch ein wenig überrascht, als mich die Botschaft der Meermenschen erreichte und wohin ich gerufen wurde."
„Ich glaube, das ist im Moment nicht so gut zu erklären", sagte Tarsuinn und dachte dabei vor allem an Cutter, der hier einfach nicht dazugehörte.
„Jaaa", dehnte auch Winona bedeutungsvoll. „Vielleicht nicht gerade jetzt."
„Oh, was seh ich da?", begriff der Heiler erstaunlich schnell. „Meine Schicht beginnt bald. Einen schönen guten Morgen und geht bald ins Bett. Dies gilt vor allem für die Kinder, aber ich glaube, auch die Erwachsenen hier im Raum brauchen Schlaf."
Der Mann ging und Tarsuinn entspannte sich ein wenig. Heiler Cutter hatte ihm, und wahrscheinlich auch Rica, zwar das Leben gerettet und war auch bei den Beurteilungen von Tarsuinns geistiger Gesundheit immer nett gewesen, aber er war auch ein Unbekannter.
Zum Glück war es Winona, die anschließend die Geschichte erzählte. Er hörte sehr aufmerksam zu, denn vieles davon – der Nimmervolle-Beutel, der letzte Brief, Gringotts – war auch für ihn neu. Die Stelle mit Toireasas Augen ließ Winona jedoch aus. Sie hielt sich an das Versprechen, das sie Tarsuinn einmal gegeben hatte.
Leider galt dies nicht für Toireasa. Kaum hatte Winona geendet…
„Du hast vergessen zu erwähnen, dass wir herausgefunden haben, wer sich jetzt mit Tarsuinns Augen ein gutes Leben macht", sagte Toireasa. Alle mochten den Hass in ihrer Stimme hören, aber nur Tarsuinn und Winona wussten, dass er auf das Mädchen selbst fokussiert war.
„Ich denke, das hat Zeit", meinte Tarsuinn.
„Nein, hat es nicht!", schrie ihn Toireasa richtig laut an. „Hör auf so nett zu mir zu sein! Ich kann sehen, weil du blind bist! Sei wütend, verdammt noch mal!"
„Dazu bin ich zu müde", erklärte Tarsuinn und versuchte weder mutig zu lächeln, noch mit den Schultern zu zucken. Das Mädchen sollte nicht denken, er würde das nicht mit dem nötigen Ernst angehen.
„Ich denke, damit hat Tarsuinn etwas sehr Richtiges gesagt", meinte Professor Dumbledore, bevor sich Toireasa weiter aufregen konnte. „Die Kinder sollten jetzt zu Bett gebracht werden und auf dem Weg dahin jede Menge Schokolade essen."
Trotz einiger halbherziger Proteste Winonas, fand sich Tarsuinn wenig später in seiner bruchsicheren Schlafhöhle bei den Darkclouds wieder. Es hatte nur eine schnelle Katzenwäsche gegeben und jetzt schmeckte die Schokolade, die Rica ihm alle zehn Sekunden in den Mund schob, nach Zahnpasta. Dazwischen streichelte sie ihn immer wieder.
„Ich bin so froh, dass euch nichts passiert ist", sagte sie leise.
Er wollte etwas dazu sagen, aber kaum dass er den Mund öffnete, schob Rica ein weiteres Stück Schokolade hinein.
„Stimmt es, was Toireasa wegen eurer Augen gesagt hat?"
Ein zweites Mal machte Tarsuinn nicht den Fehler den Mund zu öffnen. Er nickte nur und begleitete dies mit einem Lächeln.
„Es stört dich nicht sonderlich, oder?"
Kopfschütteln.
Tarsuinn bekam einen sanften Kuss auf die Stirn gedrückt.
„Ich weiß, es ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt…"
„Du konntest wirklich nichts dafür", sagte Tarsuinn so schnell wie möglich, damit ihm nicht noch mehr Schokolade den Mund verstopfte.
„Das meinte ich nicht", sagte Rica. „Das hatten wir schon abgehakt. Nein, etwas ganz anderes. Ich wollte dir das schon zu Weihnachten sagen, aber da war gerade alles so gut und ich war feige und…na ja…du solltest Medir nicht wie einen Fremden behandeln."
„Medir?", fragte Tarsuinn verwirrt.
„Heiler Cutter, meinte ich", korrigierte Rica sich verlegen.
„Ich habe ihn ganz normal behandelt", verteidigte sich Tarsuinn stirnrunzelnd und bekam das nächste Stück Schoko.
„Ich weiß ja. Aber so ganz normal ist das nun nicht mehr. Ich will damit sagen…ähem…und nur wenn du zustimmst…dann könnten wir zusammenziehen?"
„Häh?", rutschte es einem geistig momentan völlig überforderten Tarsuinn heraus. „Wir wohnen doch zusammen."
„Ich meine, dich, mich und Medir…zusammen…in einem Haus. Es ist groß und wir haben auch schon ein Zimmer für dich vorgesehen. Viel schöner als hier. Und wir wären nicht weit weg von Winona und Toireasa. Nur eine Viertelstunde mit dem Bus. Mit Garten, ein wenig abseits. Tikki würde es sicher gefallen. Eine voll eingerichtete Küche. Man kann unheimlich viel entdecken. Das Haus ist sehr groß!"
„Das sagtest du bereits", meinte Tarsuinn und langsam kam ihm ein Verdacht.
„Bitte versteh das nicht falsch", fuhr Rica fort. „Das hat nichts mit dir zu tun. Nicht, dass ich einen Heiler in der Nähe wissen will. Das waren alles nur Kratzer. Es ist allein meine Schuld und wenn du nicht willst, dann ziehen wir nicht um. Es ist nur so…"
„Du bist verliebt", unterbrach Tarsuinn und in seinem Bauch machte sich ein seltsames Gefühl breit. Zum einen war da Ricas Liebe für ihn und jemand anderen, aber auch seine eigene selbstsüchtige Angst, dass Rica irgendwann mal nicht für ihn da sein würde. Er drängte seinen Egoismus zurück. Er musste den vorwurfsvollen Ton in seinen drei letzten Worten entkräften. „Ich freu mich für dich."
„Tust du das wirklich?", fragte sie, fast ein wenig überrascht klingend.
„Ehrlich!", versicherte er.
„Mmh."
Das konnte ja, aber auch nein bedeuten.
„Weiß er, wie schön du bist?", fragte Tarsuinn und legte ihr die Hand auf den Mund, bevor sie etwas dagegen sagen konnte. Leider hatte er keine Schokolade zur Hand.
„Du bist das schönste Wesen auf der Welt", betonte er fest und ließ seine Hand sanft über die Narben wandern. „Das hier ändert daran überhaupt nichts! Es spielt keine Rolle."
„Für dich vielleicht nicht…"
„Meine Meinung ist hier aber die einzige, die gilt und die etwas wert ist. Ich werde Cutter nur einigermaßen nett behandeln, wenn er sich meiner Meinung anschließt."
„Er hat mir etwas Ähnliches gesagt", gestand nun Rica verlegen ein.
Nun konnte Tarsuinn ein Lächeln nicht unterdrücken. Normalerweise machte Rica ihn verlegen, nicht umgekehrt.
„Und?", grinste er frech. „Habt ihr all die Sachen gemacht, von denen du mir letztes Jahr geschrieben hast?"
„Welche Sachen meinst…?", begann Rica und schien dann zu begreifen.
Tarsuinn griff schnell zu ihrem Ohr, nur um zu fühlen, wie es heiß zu glühen begann.
„Wie ist so die Praxis?", setzte er noch einen drauf.
„Irgendwie wie in den Büchern", fand Rica schließlich ihre Sprache wieder. „Aber doch ganz anders. Na ja, du wirst es ja in den nächsten paar Jahren selbst herausfinden."
Die Vorstellung war Tarsuinn ein wenig unangenehm, aber er überging dies schnell.
„Werde ich demnächst Onkel?", fragte er amüsiert weiter. Ihm war durchaus klar, dass Rica sicherlich vorgesorgt hatte.
„Wenn, dann war es sicher nicht beabsichtigt", antwortete Rica. „Aber um ehrlich zu sein, ich hab inzwischen ein- oder zweimal daran gedacht. Weißt du, ich hab mich ziemlich oft allein gefühlt, während du in Hogwarts deinen Spaß hattest. Es war so leer, ich hatte plötzlich keinen Lebensinhalt und…"
Rica musste die letzten Worte nicht aussprechen, er verstand, was sie ihm sagen wollte, und es beschämte ihn, dass er nicht von selbst daran gedacht hatte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, sie könnte einsam sein. Sie war für ihn eine selbstverständliche Konstante, ein Fels in der Brandung.
„Du wärst eine tolle Mutter", sagte er leise. „Das weiß ich aus Erfahrung."
„Danke", murmelte sie und umarmte ihn.
„Wir können auch zu Heiler Cutter ziehen", fügte Tarsuinn hinzu. „Auf Probe, okay? Ich werde ihn kontrollieren, beobachten und wenn…"
„Übertreib es nicht", lachte sie und gab ihm einen Nasenstüber plus Schokolade.
„Ich denke nur an die Lehren von Ryu-san: Die wahre Schönheit eines Menschen kann man weder mit den Augen, noch mit den Fingern sehen. Wenn Cutter…"
„Nenn ihn Medir."
„…deine Schönheit nicht sehen kann, dann verdient er dich nicht."
„Glaub mir, er ist ganz anders. Er schaut mich an, ohne diesen speziellen Blick. Selbst wenn ich mein Gesicht nicht verhüllt habe. Da ist kein Ekel, kein Schaudern, nichts. Nur Zuneigung", erklärte Rica verträumt und setzte dann noch energisch ein letztes Argument hinzu. „Tikki mag ihn und hat keine Bedenken geäußert."
„Ach, wirklich?", sagte Tarsuinn und hörte die Bestätigung seiner kleinen Freundin. „Na, dann ist ja alles entschieden. Wer sind wir, um unserem Familienoberhaupt zu widersprechen?"
Ein paar scharfe Zähne versenkten sich kurz und tadelnd, aber auch liebevoll, in seiner Hand.
„Wir sind niemand", lachte Rica gutmütig. „Aber ich denke, du solltest jetzt endlich schlafen."
„Ja, das sollte ich", gähnte Tarsuinn und hielt seine Schwester an der Hand fest. „Rica. Wenn ich nicht normal bin, wenn ich aufwache – bringt mich in die Nähe von Dementoren, ja?"
„Wieso?", fragte Rica entsetzt.
„Weil der Narr Angst vor den Dementoren hat", erklärte Tarsuinn ernst. „Sag das Professor Dumbledore. Er wird wissen, was ich meine."
„Ich weiß es zwar nicht, aber okay. Ich werd es tun", entgegnete Rica. „Du solltest es jedoch nicht so weit kommen lassen."
„Ich werde kämpfen", versprach Tarsuinn. „Aber gib mir bitte noch ein Stück Schokolade. Ich bin inzwischen richtig süchtig nach dem ekligen Geschmack von Zahnpasta und Schoko."
„Du hättest dir die Zähne nicht putzen sollen", sagte Rica und gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss.
„Und damit die ewigen Gesetze der kindlichen Unterwerfung brechen? Plaque, Parodontose und Zahnstein Tür und Tor öffnen? Solche Sachen darf man gar nicht erst einreißen lassen. Die Zahnpflege der Gegenwart ist die Schmerzvermeidung der Zukunft? Hat das denn alles keine Bedeutung mehr? Mein Weltbild bricht zusammen!"
Rica sagte zunächst zu seinen Ausführungen nichts. Dann stand sie langsam auf.
„Schlaf noch nicht ein", sagte sie dann leise. „Ich werde heute hier schlafen. Unter deinem Bett bei Tikki ist genug Platz."
Rica war immer da, wenn er sie brauchte – daran würde sich niemals etwas ändern.
„Steh auf, es ist noch nicht vorbei! Noch schläfst du", sagte eine kalte Stimme. Tarsuinn erhob sich und schaute sich um. Sein letzter Alptraum war bewegungslos eingefroren und bildete eine schaurige Schlachthausatmosphäre. Vor ihm stand der Narr.
„Gibst du auf?", fragte Tarsuinn und atmete tief durch, um seine Furcht zu vertreiben. „Du leidest doch unter diesen Träumen genau wie ich!"
„Leiden?", der Narr lachte. „Ich leide nicht, ich lerne. Nur scheinst du die Lektionen aus der Geschichte nicht zu begreifen."
„Welche Lektionen?", fauchte Tarsuinn. „Du versuchst doch nur mich fertig zu machen, damit du mich kontrollieren kannst."
„Aber nicht doch", entgegnete der Narr. „Ich will, dass du die Realität siehst. Du bist von Feinden umgeben. Sie missbrauchen dein Vertrauen, deine Gutmütigkeit, deine Selbstlosigkeit – sie werden immer auf dir herumtreten, dich schubsen. Und alles nur, weil wir keine Menschen im normalen Sinne sind."
„Du bist ein Wahnsinniger!", meinte Tarsuinn abfällig. „Ohne dich hätte ich selbst dieses Problem nicht."
„Ohne mich hätte dir die Kraft gefehlt, auch nur die Hälfte von dem durchzustehen, was dir passiert ist. Das, was du Wahnsinn nennst, ist eher eine irrationale Lebensenergie. Man kann unerschöpfliche Kraft daraus gewinnen."
„Ich werde dir nicht nachgeben", sagte Tarsuinn kalt. „Nicht noch einmal."
„Wart es ab. Es wird wieder Tage geben, an denen du zu schwach für die Welt bist, und dann wirst du froh sein, mich zu haben."
„Ich will nur, dass du verschwindest!", schrie Tarsuinn.
„Wenn ich könnte, würde ich gehen", sagte der Narr. „Du bist mir zu schwach. Ich werde dir also helfen, mich loszuwerden. Ich werde dir alles sagen, was du wissen willst, und dich des Nachts in Ruhe lassen. Du musst mir nur versprechen alles zu tun, um mich loszuwerden."
Tarsuinn neigte den Kopf. Er konnte die Haltung der schwarzen Gestalt nicht deuten, doch die Stimme war seltsam, irgendwie frustriert.
„Ich denke darüber nach", sagte Tarsuinn und trat näher. Die Gestalt vor ihm repräsentierte dieses Etwas, was man in seinen Kopf gepflanzt hatte. Es konnte durch seine Erinnerungen spazieren, seine Träume bestimmen, ihn mit Einflüsterungen manipulieren – aber das hier war noch immer sein Kopf.
„Zeig mir, was du willst!", flüsterte Tarsuinn und stieß seine Finger in den Kopf der Gestalt. Der Narr schrie, Tarsuinn schrie und die Gesichter toter Menschen und Tiere umringten sie. Irgendwann hielt Tarsuinn es nicht mehr aus und er zog seine Hand zurück.
„Du willst nur aus mir raus, weil ich dich daran hindere zu töten", schrie er den Narren an. „Du willst jeden töten, dem du innewohnst, und jeden, der dir begegnet, weil du eigentlich nur wieder in den hinein willst, der dich erschaffen hat."
„Und, was interessiert es dich?"
„Ich werde das nicht zulassen. Rica wusste damals, dass ihre Heilung einen Menschen töten wird und wollte deshalb alles versuchen, um deinen Meister zu entlarven. Ich werde genauso handeln. Ich werde dich in mir einsperren. Dein Erschaffer muss nur vor mir sterben und schon hörst du auf zu existieren."
„Sei dir da nicht so sicher!", widersprach der Narr drohend.
„Egal! Dann stirbst du halt, wenn ich sterbe. So oder so – ich werde alles tun, um meinen Kopf zu deinem Gefängnis zu machen."
„Du dreckiger kleiner Bedlam", flüsterte nun der Narr drohend. „Glaubst du etwa, du könntest gegen mich bestehen? Glaubst du ernsthaft, das heute Nacht wäre schon alles gewesen? Ich habe versucht dich etwas zu lehren – jetzt werde ich dich quälen, wenn du mich dazu zwingst. Entweder du hilfst mir oder ich werde nichts von dir übrig lassen."
„Versuch es", sagte Tarsuinn ruhig und spürte keine Angst mehr vor dem Narren. „Ich werde kämpfen und ich werde dich schlagen, denn ich bin nicht allein. Ich kann sie alle fühlen – Tikki, Rica, das Einhorn, die Darkclouds und sogar Toireasa."
„Wir werden sehen! Morgen Nacht beginnen wir."
Tarsuinn wühlte sich aus dem Bett und stand auf.
„Alles okay bei dir, Tarsuinn?", fragte Rica gähnend und kroch unter seinem Bett hervor. „Du hast gar nicht geschrien?"
„Ist nur eine Ausnahme", sagte Tarsuinn leichthin und versuchte unbesorgt zu klingen. „Hast du geschlafen, Rica?"
„Keine Sekunde, Kleiner", antwortete sie und strich ihm über den Kopf.
„Geht es euch gut?"
„Wir haben nichts abbekommen, wenn du das meinst", versicherte Rica. „Wobei ich mich frage, wie Tikki bei deinem Krach tatsächlich pennen konnte."
„Sie hat die Fähigkeit, Fakten zu ignorieren, die sie nicht wissen will", glaubte Tarsuinn darauf die Antwort zu kennen und streckte die Arme aus. Sofort wurde er von seiner kleinen Freundin in Beschlag genommen.
„Du hast viel Liebe bei ihr nachzuholen", kicherte Rica und schob ihn ins Bad. „Und ich eine Menge Schlaf. Macht bitte nicht so viel Krach. Den anderen im Haus sollte es ähnlich gehen."
„Alles klar!", versicherte er und ging mit Tikki im Arm ins Bad, um sich selbst und ihr eine intensive und lauwarme Dusche zu gönnen. Es hatte einen großen Vorteil, wenn man immer am frühesten wach war. Niemand machte einem das Bad streitig oder meckerte, wenn die Wasserschlacht zu sehr ausartete.
Natürlich war früh heute relativ, denn es war schon elf Uhr Vormittag. Nur weil alle nicht vor sechs ins Bett gekommen waren, herrschte im Haus noch Ruhe, als er in die Küche ging, um sich und Tikki etwas zu essen zu besorgen.
Irgendwer war in der Küche und schnarchte sehr zurückhaltend. Auf Zehenspitzen schlich er zum Kühlschrank und versuchte etwas Nahrhaftes zu ertasten.
„Finger weg von mir, Minderjähriger", schrie die Bierflasche, als er sie auf der Suche nach Milch berührte, und weckte damit die Person in der Küche.
„Was? Wo? Ich hab nicht, Schatz!", murmelte Samuel schlaftrunken.
„Es ist alles okay", sagte Tarsuinn mit bewusst leiser und gleichförmiger Stimme. „Schlaf ruhig weiter."
„Okay", nuschelte Samuel und Tarsuinn hörte den Kopf zurück auf den Tisch sinken. „Halt! Moment, gar nichts ist okay, kleiner Unruhestifter. Ich soll auf dich aufpassen. Jawohl. Mit so nem billigen Trick legst du Samuel Keary nicht rein."
„Es hätte beinahe geklappt", lachte Tarsuinn. „Tee, Kaffee, Rührei oder Croissants?"
„Alles!"
„Kommt sofort."
Tarsuinn kannte sich in der Küche der Darkclouds gut genug aus, um die gewünschten Speisen ohne Zeitverlust zuzubereiten. Einzig bei der Kaffeemaschine brauchte er eigentlich ein wenig Hilfe, die er von Samuel jedoch nicht erwarten konnte. Der Mann interessierte sich zwar sehr für nichtmagische Dinge, aber nur wenn sie Spaß machten oder zumindest gefährlich waren. Seiner Meinung nach war jede Mahlzeit, die nicht per Hand und Feuer zubereitet wurde, zumindest fragwürdig.
„Schlafen die anderen alle?", fragte Tarsuinn, sobald er und Tikki ein wenig gegessen hatten, das nicht so süß wie Schokolade schmeckte.
„Nicht wirklich", entgegnete Samuel trocken. „Dazu müssten sie erst mal in die Nähe ihrer Betten kommen."
„Und was machen sie gerade?"
„Na, eigentlich sollte ich dir das wahrscheinlich nicht sagen, aber es hat mir niemand verboten, also mach ich was ich will. Caitlin und Eran besuchen gerade unsere Schwiegertochter und ich kann mir vorstellen, dass dies eine Riesenwelle gibt. Aber mich wollten sie nicht dabei haben. Wahrscheinlich, weil sie meinen mäßigenden Einfluss fürchteten.
Katrin hat Toireasa nach Hause gebracht und passt da auf sie auf. Ich denke, sie ist wirklich am besten dafür geeignet.
Fenella hat sich Winona geschnappt und irgendwo in Sicherheit gebracht, wo die Geister ihrem Kind erst mal nicht schaden können, und Patrick wurde dazu verdonnert, einigen Leuten im Ministerium gehörig auf die Füße zu treten und ein wenig Lärm wegen der Dementoren zu machen.
Dumbledore hingegen wollte erst mal noch eine wichtige Sache zu Ende bringen, dann dem Zaubereiminister aufs Dach steigen, den Tintenklecksern vom Tagespropheten auf die Finger schauen und einen Zaubergamot einberufen. Letzteres halte ich zwar für Zeitverschwendung, weil die Wenigsten auf die Dementoren als Wache verzichten wollen, aber er versucht es wenigstens."
„Was ist mit den Daniels?", fragte Tarsuinn. „Wer sagt ihnen Bescheid?"
„Das hat Filius schon übernommen. Er ist vor drei Stunden hier aufgetaucht und gleich wieder weg."
„Ich würde auch gern die Daniels besuchen und ihnen alles erklären", gestand Tarsuinn ein, obwohl er einen Besuch fürchtete. Er hielt es für seine Pflicht.
„Das ist leider nicht drin", entgegnete Samuel entschieden. „Oder eher zum Glück. Aber du kannst einen Brief schreiben, wenn du unbedingt möchtest, und sobald sich die Wogen ein wenig geglättet haben, kann man auch mal einen Besuch ins Auge fassen. Eure Geschichte wird wahrscheinlich einiges an Widerspruch im Ministerium auslösen und das könnte Probleme mit der Familie geben."
„Warum sollte man uns nicht glauben?", fragte Tarsuinn verwundert. „Jack wurde die Seele geraubt, der Mann, der uns entführt hat, muss noch dort sein, ich könnte sie durch das gesamte Gefängnis führen, ohne den Weg raten zu müssen. Das muss doch überzeugend sein."
„Das Problem ist, man hat nur Jacks Leiche gefunden. Bis zur Halskrause abgefüllt mit Alkohol und in der Themse ertrunken. Keine Spuren von Gewalt oder dergleichen."
„Sonst nichts? Aber wir waren zu dritt."
„Und niemand wird drei Kindern glauben, dass sie einfach in Askaban hinein- und hinausspaziert sind. Selbst wenn man ihnen von deinen Fähigkeiten erzählt. Was nicht sein darf, wollen sie nicht sehen. Eher wahrscheinlich ist…"
Tarsuinn ging zum Küchenfenster und öffnete es. Eine Eule brauste herein und landete irgendwo bei Samuel.
„Wenn ich nicht gerade müde wäre, würde ich fragen, woher du das wusstest", meinte Samuel und schien sich um die Eule zu kümmern.
„Tikki sagte, ich soll das Fenster öffnen", erklärte Tarsuinn, aufgrund der nicht gestellten Frage.
„Oh, das Ministerium", ignorierte Samuel anscheinend seine Worte. „Deren Geschwindigkeit ist ja wieder mal sensationell. Mr McNamara…blablabla…einfinden im Ministerium…umgehend…sülz…Begleitung eines erwachsenen Zauberers…nicht in Schwierigkeiten bringen…Büro des Zaubereiministers…Portschlüsselbeiliegend…freundliche…wer's glaubt…Grüße…Kettenhund des Ministers."
„Das steht da nicht wirklich, oder?"
„Ich lese zwischen den Zeilen."
„Das kann ich auch manchmal."
„Aber nicht so umfangreich wie ich."
„Kommt drauf an. Gehen wir hin?", fragte Tarsuinn.
„Klang ziemlich ultimativ – die freundliche Bitte", brummte Samuel.
„Nicht zwischen den Zeilen."
„Wenn man geübt ist schon."
„Trotzdem. Gehen wir hin? Ich würde Rica gern schlafen lassen."
„Sie dürfte eh nicht mit. Die nehmen Muggel nicht für voll und wissen wahrscheinlich, dass Filius anderweitig unterwegs ist."
„Wissen die, dass du hier bist?"
„Wahrscheinlich."
„Sie scheinen keine hohe Meinung von dir zu haben."
„Das beruht auf Gegenseitigkeit."
„Was denkst du, Samuel?", fragte Tarsuinn. „Sollten wir hingehen oder ihnen einfach den Finger zeigen?"
Samuel lachte laut auf.
„Auch wenn ich es gern sehen würde – lieber nicht. Man mag von Fudge halten was man will, aber er ist kein schlechter Mensch."
„Er glaubt Kindern nicht, nur weil sie Kinder sind", widersprach Tarsuinn aus eigener leidvoller Erfahrung. „Er nimmt mich nicht für voll und hält mich für einen Verrückten."
„Und? Das passiert mir ständig", kicherte Samuel. „Aber im Gegensatz zu mir hast du die Chance, ihn von dir und deinen Worten zu überzeugen. Schau ihm nur fest in die Augen."
Das kann ich nicht, wollte Tarsuinn sagen, doch dann überlegte er sich, was dies für Samuel bedeuten könnte.
„Das bekomme ich hin", versprach er stattdessen und versuchte dabei zu lächeln. „Aber trotzdem wecke ich zuvor Rica und sag ihr Bescheid, damit sie sich keine Sorgen macht. Einen Zettel würde sie mir nachher sicher übel nehmen."
„Nach dem, was die letzten Tage passiert ist, sicher", stimmte Samuel zu.
Tarsuinn stand auf und ging zu Rica ins Zimmer. Seine Schwester schlief viel fester als sonst üblich und es reichte nicht, einfach ihre Wange zu berühren, um sie aufzuwecken. Als sie dann völlig übermüdet murmelte, sie wäre wach, teilte Tarsuinn ihr mit, was er vorhatte, obwohl er stark bezweifelte, dass sie auch nur einen kleinen Teil davon wirklich realisierte. Einzig seine Versicherung, Samuel würde ihn begleiten, schien bei ihr durchzudringen, denn in dem Moment fiel ihr Kopf wieder zurück ins Kopfkissen. Er rüttelte sie noch einmal sanft wach.
„Rica", sagte er eindringlich. „Rica, hör mir zu. Ich versteck meinen Zauberstab unter deiner Matratze. Pass auf, dass ihn niemand anfasst."
„Kla'", murmelte Rica undeutlich. „Niema' ans Höll'ndin' lass'n."
„Genau", grinste Tarsuinn und küsste ihre Wange. „Schlaf gut, Schwesterchen."
Das tat sie schon längst wieder. Er konnte nur vermuten, wie lange sie zuvor schon wach gewesen war, aber so wie sie sich benahm, mussten es mehr als nur vierundzwanzig Stunden sein. Vielleicht war es doch besser, ihr einen Zettel hinzulegen.
Als er wenig später zurück in die Wohnstube kam, erwartete ihn Samuel schon ein wenig ungeduldig.
„Können wir los?", fragte Tarsuinn, als wäre er es gewesen, der hatte warten müssen. Er nahm Tikki auf seine Schulter.
„Gleich. Nur noch das hier", entgegnete Samuel und ein dünnes Lederband wurde um seinen Hals gehängt. „Ist von Albus."
Tarsuinn fühlte kurz nach.
„Ah, der Dementorenalarm", brummte er nicht sonderlich überrascht, als seine Finger den kleinen, glatten Stein ertasteten. „Privatsphäre ade."
„Tut doch nicht weh", fand Samuel und schob Tarsuinn zur Tür hinaus. „Ist es für dich okay, wenn wir vorsichtshalber nicht den Portschlüssel zum Ministerium nehmen?"
„Ich weiß nicht mal genau, was ein Portschlüssel ist. Das ist doch so ein Ding, das Professor Dumbledore verwendet hat, um uns Heim zu bringen, oder?"
„Möchtest du wissen, wie der funktioniert?"
„Klar, wenn wir den Bus nehmen haben wir doch Zeit."
Und so erfuhr Tarsuinn – Samuel flüsterte ihm das alles nur ganz leise zu, damit es keiner der anderen Fahrgäste hören konnte – von dem Zauber, der einen Gegenstand dazu befähigte, Personen zwischen A und B und wieder zurück zu transportieren.
„Und warum haben wir das Ding nicht einfach benutzt?", fragte Tarsuinn, als sie den Bus verlassen hatten. Er war neugierig geworden und diese Art des Transportes klang irgendwie nicht so schmutzig wie das Flohnetzwerk.
„Weil jeder einen blöden Brief schreiben kann. Klar – ein Portschlüssel ist schwieriger, aber den kann man sich auch machen lassen. Das Problem bei den Dingern ist nur, es steht nicht drauf, wohin sie dich hinbringen. Wenn du also einen benutzen willst, mach ihn selbst oder nutze nur einen, dem du vertraust. Traust du dem Ministerium, Tarsuinn?"
„Kein Stück", antwortete er ohne ein Zögern.
„Genau – und deshalb gehen wir jetzt telefonieren. Wie war doch gleich die Telefonnummer für Magie?"
Die kannte Tarsuinn nicht, aber anscheinend war es eh nur eine rhetorische Frage gewesen, denn sie gingen wirklich in eine Telefonzellen und dort wählte Samuel umgehend eine fünfstellige Nummer. Sekunden und eine nette Frauenstimme später, standen sie im Ministerium für Zauberei, mit hässlichen Namens-Pin's an der Kleidung.
„Ich wollte nie wieder hierher kommen", gestand Tarsuinn leise ein.
„Wer will das schon?", klopfte ihm Samuel aufmunternd auf die Schultern. „Es gibt nichts Langweiligeres als hinter einem Schreibtisch zu versauern."
„Grund des Besuches", maulte eine gelangweilte, männliche Stimme, die den letzten Satz von Samuel einfach gehört haben musste – sofern sie nicht zuvor geschlafen hatte.
„Einladung des Zaubereiministers", erklärte Samuel.
„Sie wurden schon vor einer Stunde erwartet", brummte der Mann vorwurfsvoll.
„Die Muggelbusse sind nicht so schnell."
„Mir wurde gesagt, sie hätten einen autorisierten Portschlüssel erhalten."
„Ach, wirklich?", tat Samuel überrascht. „Muss ich übersehen haben. Sind wir jetzt zu spät? Sollen wir wieder gehen?"
„Mir wurde bedeutet, dass sie trotzdem empfangen werden", nörgelte der Mann. „Ich brauche kurz Ihre Zauberstäbe."
„Hab keinen dabei", verkündete Tarsuinn.
„Nicht? Accio Zauberstab", sagte der gelangweilte Mann. „Na ja – scheint zu stimmen."
„Wir dürfen in den Ferien ja nicht zaubern", erklärte Tarsuinn so naiv wie möglich klingend.
„Auch wahr", sagte der Mann. „Erle, zwölf Zoll, Drachenherzfaser, 44 Jahre in Benutzung. Stimmt das?"
„Korrekt. Können wir dann jetzt zum Minister?", fragte Samuel.
„Moment. Das Tier muss hier bleiben."
„Warum das?", fragte Tarsuinn.
„Man hat letzte Woche im inneren Trakt tote Ratten gefunden, die an den Grau-Tier-Pocken verstorben sind. Und da dein Tierchen so ziemlich grau ist, muss es wohl hier bleiben, bis die vom Magischen Seuchenkommando alles wieder freigeben."
„Wir müssen nicht reingehen", meinte Tarsuinn, dem der Gedanke sehr unangenehm war, ohne Tikki zu sein. In Askaban hatte er sie schmerzhaft vermisst.
„Egal, welchen Eindruck ich erweckt habe", flüsterte Samuel ihm daraufhin ins Ohr. „Man kann eine Einladung des Zaubereiministers nicht so einfach ablehnen. Verzögern ja, aber nicht versetzen."
„Ich werde auf das Tier aufpassen", versprach der gelangweilte Mann.
„Darf sie sich in diesem Raum…", Tarsuinn machte eine weit ausholende Armbewegung, „…frei bewegen?"
„Natürlich. Sie darf nur nicht an mir vorbei."
Nur widerstrebend beugte Tarsuinn sich der Notwendigkeit. Er brauchte einige Minuten, um auch Tikki davon zu überzeugen, und als sie dann den inneren Bereich betraten, verabschiedete sie ihn mit einem klagenden Laut, der so viel wie: Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst, bedeuten sollte.
Da das Ministerium der Zauberei keinen eigenen Charakter wie Hogwarts oder Askaban zu haben schien, musste Samuel ihn nun durch die Gänge führen, bis sie das Büro des Zaubereiministers erreichten – oder besser gesagt, sein Vorzimmer.
„Hat sich der liebe Junge doch noch eingefunden", begrüßte sie eine weibliche Stimme, deren Freundlichkeit so falsch war, dass Übelkeit in ihm aufstieg. Die Präsenz der Ersten Untersekretärin des Zaubereiministers – Madame Umbridge – jagte ihm Schauer über den Rücken. Die Frau erzeugte ein absolut mieses Gefühl in seinem Bauch.
Er lächelte breit.
„Madame Umbridge, es wäre schön, könnte ich Sie sehen", erklärte er und fühlte sich nicht einmal schlecht bei diesen Worten.
„Es freut mich auch, dir wieder zu begegnen", sagte Umbridge und wandte sich an Samuel.
„Ich bin Dolores Jane Umbridge, Erste Untersekretärin des Zaubereiministers. Und Sie müssen Mr McNamara sein. Erfreut, Sie kennen zu lernen."
„Ich freu mich zwar auch, Ihnen zu begegnen…", sagte Samuel so seriös, wie Tarsuinn ihn noch nie hatte reden hören, „…aber wir sind nicht verwandt. Mein Name ist Keary. Meine Enkelin und Tarsuinn hier sind befreundet und heute war es meine Aufgabe, auf die Kinder aufzupassen."
„Sie sind darüber informiert, was der momentane Schulleiter von Hogwarts dem Minister heute Morgen berichtete, Mr Keary?"
„Vollständig."
„Dann erwartet Sie der Zaubereiminister in seinem Büro", erklärte Umbridge gnädig. „Zunächst erst einmal allein! Du kannst dich da drüben hinsetzen, mein Lieber."
Ein beleidigtes Gesicht unterdrückend, ließ Tarsuinn sich zu einem Sessel führen und setzte sich. Er hörte noch, wie der Zaubereiminister Samuel überaus freundlich begrüßte, dann schloss sich die Tür und es war still. Leider nicht lange.
„Ich hörte, du warst krank", sagte Umbridge. „Geht es dir besser?"
„Ja", sagte er freundlich. „Es war nichts Ernstes."
„Nichts Ernstes hat dich ein halbes Jahr lang vom Unterricht ferngehalten?", erwiderte Umbridge ungläubig.
„Ich hab nicht gesagt, es wäre eine kurzfristige Sache gewesen."
„Und was war es?", forschte Umbridge einfach weiter.
„Das weiß ich nicht", log Tarsuinn und machte ein betretenes Gesicht, als würde er sich dafür schämen. „Da müssen Sie schon meine Schwester fragen."
„Weißt du, mein Lieber, warum sie dich nicht nach St Mungos gebracht hat? Dort hätte man sicher sehr gut für dich sorgen können."
Tarsuinn war nicht dumm genug, um die mögliche Falle zu übersehen.
„Ich war doch bei meiner Schwester gut aufgehoben und außerdem hat uns mindestens einmal die Woche ein Heiler von St Mungos besucht."
„Ah, Mr Cutter", sagte Umbridge. „Ein Junior-Heiler. Sicherlich sehr talentiert, aber seine Fähigkeiten liegen nicht unbedingt bei den Krankheiten des Geistes."
„Aber er hatte Erfolg, oder?", lächelte Tarsuinn, obwohl er lieber auf den Boden gespuckt hätte. Er spürte sehr genau, worauf die Fragen der Frau abzielten.
„Also sind deine schlechten Träume, die dich so quälten, verschwunden?", lauerte Umbridge.
„Meine Träume haben eine ganz andere Qualität angenommen", versicherte Tarsuinn wahrheitsgemäß und strahlte nun die Untersekretärin glücklich an. Wieder einmal fühlte er, wie viel Spaß es ihm machte, solche Leute über die Wahrheit in die Irre zu führen.
„Das freut mich für dich", sagte Umbridge.
„Danke sehr", erwiderte Tarsuinn. „Ich wollte Ihnen auch schon lange dafür danken, dass Sie mich damals haben bestehen lassen. Nach Hogwarts gehen zu dürfen, ist eine tolle Sache."
„Ja", meinte Umbridge und klang ein wenig säuerlich. „Nur schade, dass du die Prüfung dieses Jahr verpasst hast. Wer weiß, ob dich der Schulleiter für das nächste Jahr akzeptiert. Einige Schulräte haben gefordert dich auszuschließen, aber der Minister hat sich für dich eingesetzt und so wird Professor Dumbledore wohl keine andere Wahl bleiben, als dich auch im nächsten Jahr zum Unterricht zuzulassen."
„Dann werde ich mich wohl nachher auch beim Minister bedanken."
„Du wirst noch viel mehr Grund bekommen, dich zu bedanken", erklärte Umbridge leicht triumphierend. „Und statt ihm nur mit Worten zu danken, wäre es sicher hilfreich, wenn du stattdessen ein wenig Zurückhaltung an den Tag legst, wenn du von deinen Alpträumen erzählst."
„Welche Alpträume?", erkundigte sich Tarsuinn.
„Die, von denen du Professor Dumbledore erzählt hast. Er hat sich sehr darüber aufgeregt."
Tarsuinn fand es unmöglich, sich einen aufgeregten Dumbledore vorzustellen. Ob er vielleicht laut geworden war? Oder hatte der Professor einfach nur das Wort aufgeregt benutzt?
„Ich habe keine Alpträume, die auf Phantasie beruhen, Madame", erklärte Tarsuinn wahrheitsgemäß. „Jede unglaubliche Erinnerung in meinem Kopf beruht immer auf der Realität."
„Und da bist du dir ganz sicher, mein Lieber?", fragte Umbridge mit einer Mischung aus Spott und übertriebenem Mitleid. Es kostete ihn einiges an Überwindung, naiv und nett zu bleiben.
„Professor Dumbledore schien mir zu glauben", sagte Tarsuinn wie ein Junge, der diesen Glauben brauchte, um sich selbst sicher zu sein. Am liebsten hätte er ihr die Wahrheit vor die Füße gespuckt, aber irgendwie hielt er das für unklug. Sie schien irgendetwas zu wissen.
„Auch die großen Geister irren", orakelte Umbridge.
„Wenn Sie es sagen…", murmelte Tarsuinn und versank in Schweigen. Er hoffte, sie würde ihm mehr sagen, um ihn noch weiter von seiner Geschichte abzubringen. Leider schien Umbridge sich auf das Gesagte beschränken zu wollen.
Quälend langsam vergingen die nächsten dreißig Minuten. Tarsuinn beschäftigte sich während dieser Zeit mit den Gefühlen, die er spüren konnte. Es war hier durchaus interessant, wenn man mal gewisse kalte Dinge ausblendete. Bei seinen bisherigen Besuchen hier hatte er nie die Ruhe und die Zeit gefunden, sich mit dem Ministerium zu beschäftigen. Wie ein Geist durchstreifte sein Gefühl das Gebäude. Die meisten Menschen wären enttäuscht gewesen, wenn er ihnen erzählt hätte, wie wenig er wirklich von diesem Gefühl erfuhr. Rica hatte mal versucht ihm zu erklären, was sie so toll an einem Regenbogen fand. Er hatte es nicht verstanden und wusste nicht, was die Aufmerksamkeit wert sein sollte. Fließende Farben – interessant, ja (er wollte auch mal einen Regenbogen sehen) – aber konnte man damit wirklich eine halbe Stunde seines Lebens verbringen?
Angst, Geheimnisse, Verlangen, Gefahr, Liebe, verborgene Zuneigung, offener Hass – alles Gefühle, die auch in Hogwarts herumschwirrten. Doch hier waren sie viel erwachsener – nein, halt, falsch – sie waren ernster und fester, aber im Grunde genommen dieselben wie in der Schule. Das war eine seltsame Erkenntnis. Im Prinzip waren Erwachsene wie Kinder, deren Gefühle viel ausgehärteter waren – die guten wie die schlechten. Was das jedoch bedeutete, so weit konnte er noch nicht denken.
Die Tür zu dem Büro des Zaubereiministers öffnete sich.
„Ich bin mir sicher, Sie sehen die Vorteile in meinen Vorschlägen, Mr Keary, und können sie entsprechend vermitteln", sagte der Minister jovial. „Wir alle können nur durch Vertrauen und Ruhe gewinnen."
„Bis wir eines Tages nicht mehr wach werden", knurrte Samuel extrem unhöflich.
„Solange wir alle alt und grau zu diesem Zeitpunkt sind, habe ich nichts dagegen", versuchte der Minister so etwas wie einen Scherz. „Einen schönen Tag noch, Mr Keary."
Die Tür schloss sich wieder.
„Wir werden sehen", brummte Samuel. „Komm, Tarsuinn, wir gehen."
„Sie sollten sich bemühen, die Großzügigkeit des Ministers zu erkennen", forderte Umbridge, welche die Worte gehört hatte, empört.
„Großzügigkeit kennt keine Gegenleistung", entgegnete Samuel angewidert. „Das war nur ein Geschäft! Nichts, was Dankbarkeit erfordert."
Noch nie hatte Tarsuinn Samuel so erlebt wie heute. Der ältere Mann war immer ein Quell für Frohsinn und Unfug. Er konnte sich kindlicher benehmen als jeder Zehnjährige und das tat er eigentlich immer, wenn Kinder in der Nähe waren. Doch im Moment war er eher in einer Stimmung, die besser zu Snape gepasst hätte.
Tarsuinn musste fast laufen, um an der Hand von Samuel nicht hinterher geschleift zu werden.
„Wo ist Caitlin, wenn man sie braucht?", brummelte Samuel dabei vor sich hin. „Das ist nicht mein Ding. Ich hätte ihm seine Amnestie in den Rachen schieben sollen. Dieser…"
„Samuel?", fragte Tarsuinn. „Was ist los? Ich dachte, ich soll dem Zaubereiminister von den Dementoren erzählen?"
„Daran war man aber nicht interessiert", erklärte Samuel und wurde ein wenig langsamer. „Es ging nur um Politik und leider muss ich sagen, ich glaub, jeder andere hätte dich besser vertreten als ich."
„Bei was?"
„Bei allem", meinte Samuel frustriert und schien sich dann zusammenzureißen. „Aber egal – ich sollte das Gute sehen und nicht meckern. Für dich ist es sicher das kleinere Übel, bei den guten Nachrichten."
„Und die wären?", erkundigte er sich neugierig.
„Lass uns erst einmal schauen, ob die Gerüchte wahr sind. Am besten gleich, okay?"
„Was für Gerüchte?"
„Sehen wir, wenn wir da sind. Ich möchte nicht, dass du nachher enttäuscht bist, falls es nicht stimmt."
„An Enttäuschungen bin ich gewöhnt."
„Da bin ich mir nicht…"
In diesem Moment erreichten sie die Eingangshalle. Tikki lief ihm entgegen und…
…verabschiedete sich von ihm traurig mit: Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst!
Tarsuinn ging in die Hocke und runzelte verwirrt die Stirn.
„Blödes Mistvieh!", rief eine kalte Stimme. „Lacerare!"
Ein heller Blitz erblühte vor seinen Augen, Tikki gab einen seltsamen Laut von sich und dann endete ihr Lauf.
In Panik stolperte er vorwärts, um zu seiner kleinen Freundin zu kommen. Er fand Tikki auf der Seite liegend. Sie atmete nicht mehr und eine Wunde, die ihren Körper fast halbiert hatte, benetzte seine Hände.
Über ihn zog ein Zauber hinweg und traf irgendjemanden.
„Was zum Teufel soll das!", brüllte Samuel wütend.
„Zauberstäbe runter!", fauchte der Wächter.
„Dafür wirst du büßen!", schrie der Mann, der Tikki getroffen hatte. Niemand schien sich um Tarsuinn zu kümmern. Die Wut, die sich in ihm aufbaute, schien alle Grenzen sprengen zu wollen. Er zog den kleinen, blutenden Tierkörper auf seine Knie – und stutzte.
Er konnte Tikki sehen! Nicht wirklich sie, aber ein silbernes Abbild von ihr. Das kleine Herz pumpte noch Blut, aber er konnte noch immer kein Leben spüren – kein bisschen – so als wäre sie gar nicht hier.
Er rollte sich über ihr zusammen und verbarg sein Gesicht. Drei Zauberer schrien sich über ihn hinweg an, während er versuchte zu erfassen, was nicht stimmte. Tikki hatte ihn mit denselben Lauten begrüßt, mit denen sie ihn verabschiedet hatte, Samuel war richtig wütend, der Mann mit dem tödlichen Zauber eher frustriert und der Pförtner klang, als würde er bedauern hier sein zu müssen. Im Hintergrund des Ganzen, hörte er über den ganzen Krach hinweg eine Frau leise einen stetigen Zauber sprechen.
„Ich hab den Auftrag jedes Ungeziefer zu töten, das in das Ministerium eindringt und darin nichts zu suchen hat", schrie der Angreifer.
„Sie haben genau gesehen, dass sie zu uns gehört!", fauchte Samuel zurück. „Dafür wird mal zur Abwechslung Ihr Kopf rollen, Macnair."
„Ich sagte: Zauberstäbe runter", versuchte der Pförtner sich unsicher Gehör zu verschaffen.
Tarsuinn drückte sein Gesicht in die silberne Gestalt, verbarg ein triumphierendes Lächeln – und begann zu weinen. Das war gar nicht so einfach. Wie machten das Mädchen nur? Dachten sie an etwas Trauriges oder nur an das, was sie wollten? Erinnerungen an Winona und Toireasa halfen da wenig, die weinten nur, wenn sie wirklich unglücklich waren. In dieser Beziehung waren sie entweder unnormal oder aber er ließ sich eben von einem Vorurteil leiten. Er fühlte, wie sein Grinsen breiter wurde. So ging das nicht. Er drängte die Gedanken zurück und begann an sein Einhorn zu denken, was er seit Monaten vermieden hatte.
Wenige Sekunden später vergoss er echte Tränen, während Samuel kurz davor schien, ein wenig zu viel Dampf abzulassen.
„Das reicht! Genug", sagte eine autoritäre, weibliche Stimme. Die silberne Tikki und ihr Gewicht auf seinen Beinen verschwand. Seine Hände waren plötzlich wieder trocken. „Danke für Ihre Mitarbeit, Mr Macnair. Ich denke, das war dann alles."
„Dieses Schauspiel hätte nicht mal meine Großmutter überzeugt", meinte Macnair abfällig. „Die übergroße Ratte wirklich umzubringen, wäre ein echter Test gewesen."
„Dies war nicht an Ihnen zu entscheiden", erwiderte die Frau. „Ich bin zufrieden mit dem, was ich gesehen habe, und werde entsprechend berichten. Bitte entschuldigen Sie, was geschehen ist, Mr Keary. Mr McNamara, Ihrem Tier geht es gut, bitte machen Sie sich keine Sorgen. Hören Sie!"
Ein aufgeregtes Pfeifen war zu hören, dann stürzte Tikki – diesmal die echte – auf ihn zu. Sie sprang in seine Arme und ließ sich von ihm knuddeln. Die Freude, die er dabei empfand, musste er nicht spielen.
„Das war nur ein verfluchter Test?", platzte es aus Samuel heraus. „Was bilden Sie sich ein, was Sie hier tun?"
„Meinen Job im Auftrag des Ministeriums, Mr Keary", erklärte die Frau kühl. „Es war eine faire Versuchsumgebung und ich bin sehr froh, dass der Junge den Provokationstest bestanden hat – er hat fast kein Aggressionspotential gezeigt. Was man von Ihnen nicht behaupten kann, Mr Keary. Und was Macnair angeht, so denke ich, werde ich mal ein ernstes Wörtchen mit seinen Vorgesetzten sprechen müssen. Ich hab das Gefühl, er entwickelt ein wenig zu viel Liebe für seinen Job als Henker. Auf Wiedersehen. Nichts für ungut, Junge."
Irgendwer klopfte Tarsuinn auf den runden Rücken. Er achtete nicht darauf, sondern versuchte seine Tränen gründlich abzutrocknen und so auszusehen wie jemand, der zwischen Leid und froher Erleichterung hin und her gerissen war.
„Alles okay, Tarsuinn?", fragte Samuel besorgt.
„Ja", schniefte er. „Geht schon wieder. Ich möchte nur hier raus."
„Keine Widerrede von mir. Flohnetzwerk?"
„Geht es noch schneller?"
„Nicht für dich. Winkelgasse, kurz ein Eis und dann dahin, wohin uns das Gerücht führt?"
„Okay!"
Eis in Fortescues Eissalon war immer und in jeder Lebenslage gut.
Kaum waren sie in der Winkelgasse angelangt, entspannte sich Tarsuinn sichtlich und da sie gerade allein im Flohnetzwerkbahnhof waren, gönnte er seinem Mundwerk auch kurz Auslauf.
„Was für Wichser!", murmelte er und streckte den Rücken durch, dann erst erinnerte er sich an Samuel. „Ich meine die vom Ministerium."
„Das hab ich mir schon fast gedacht", kommentierte Samuel und auch er klang wieder ein wenig fröhlicher. „Weißt du, was es mit diesem Provokationstest auf sich hatte?"
„Ja, aber davon darf ich gar nichts wissen", erklärte Tarsuinn und versuchte mit einem Auge zu zwinkern.
„Ich verstehe. So in etwa", sagte Samuel leise. „Nachher?"
„Genau. Aber jetzt das versprochene Eis. Tikki nimmt Mango, Sahne, Vanille, kein Eis."
„Und du?"
„Dasselbe, nur mit Schoko-, Bananensplit und Eis."
Der Eisbecher, den Tarsuinn dann im Eissalon von Samuel bekam, war riesengroß und mehr als ein Mittagessen. Er machte sich einen Spaß daraus, alles bis auf die Früchte durch einen dünnen Strohhalm zu schlürfen, was eine Menge unanständigen Krach erzeugte. Das Schöne war, Samuel verbot es ihm nicht, sondern machte lachend mit, und so versuchten sie sich gegenseitig zu übertrumpfen. Einzig Tikki beschwerte sich über den Krach, was aber bei Tarsuinn nur zu Gelächter führte. Als sie einmal nicht aufpasste, schmierte er ihr ein wenig Sahne zwischen die Ohren. Das mochte sie gar nicht, weil sie da nicht mit der Zunge hinkam.
„Das passiert mit Spielverderberinnen", neckte er sie und machte dann doch die Sauerei wieder weg, als sie ihm ein paar blutige Ohrläppchen androhte.
„Wohin gehen wir jetzt?", fragte er Samuel, als ihm das Eis langsam zu den Ohren herauskam.
Sein Bauch war so voll, dass er sich leicht nach außen wölbte und seine Wangen waren eine einzige klebrige Fläche.
„Erst mal waschen und dann ins St Mungos Hospital", erwiderte der Angesprochene. Fast umgehend verflüchtigte sich Tarsuinns gute Laune, die das Eis und das Bestehen des Tests ausgelöst hatten.
„Was wollen wir da?", fragte er kühl. „Ich will da nicht hin und Rica würde mich nie zwingen."
„Wer redet denn von dir und zwingen?", entgegnete Samuel und erzeugte einen langsamen Wasserstrahl aus seinem Zauberstab, mit dem Tarsuinn Hände und Gesicht reinigen konnte. „Wir besuchen in St Mungos jemanden."
„Wen?"
„Das werden wir sehen."
„Ich mag keine Geheimnisse", murrte Tarsuinn.
„Dafür hast du aber selbst sehr viele", meinte Samuel und klang dabei nicht vorwurfsvoll.
Tarsuinn war kurz versucht zu fragen, was denn Samuel davon hielt, dass seine Enkelin die Augen eines anderen benutzte. Aber das ließ er lieber. Er wollte, dass dies einfach vergessen wurde, und da war es sicher nicht sinnvoll, neugierig zu sein.
Via Flohnetzwerk ging es ins St Mungos und Tarsuinn fragte sich ein wenig, warum er sich gewaschen hatte. Wahrscheinlich, um Platz für die Asche zu schaffen. Eine leicht hektische Krankenschwester empfing sie in einer fremden Sprache.
„Entschuldigung?", fragte Samuel, der offensichtlich wie Tarsuinn nichts verstanden hatte.
„Oh, sind Sie nicht die Besucher aus Amazonien, die sich eine schwere Grippe geholt haben?", erkundigte sich die Schwester verwirrt. „Es hieß, sie würden sofort hierher…"
Hinter ihnen im Kamin prasselte es kurz.
„Ah, da sind sie ja", fuhr die Schwester erleichtert fort. „Buenos Dias."
Dann begann sie auf die Neuankömmlinge einzureden.
Tarsuinn folgte Tikkis Anweisungen und ging Samuel hinterher. Sie betraten einen Fahrstuhl, fuhren einige Etagen nach oben und gingen dann einige lange Gänge entlang. Ob magisch oder nicht, alle Krankenhäuser rochen gleich und hatten eine bedrückende Atmosphäre. Hierher kamen Menschen in der Hoffung auf Heilung – und für so manche war es das letzte Gebäude, was sie je sahen. Hier war auch der Narr vollends durchgedreht. Glücklicherweise auf einer anderen Station, irgendwo tief unten.
„Da drüben ist Rica", sagte Tarsuinn erstaunt und deutete in einen Gang, den Samuel gerade passiert hatte. „Es klingt wenigstens nach ihr."
„Kann schon sein", meinte Samuel. „Schauen wir einfach. Die Richtung stimmt."
Sie gingen den Gang entlang und wenige Momente später bestätigte sich Tarsuinns Gehör. Sie stand in einem Raum und ihre Stimme schien emotional etwas mitgenommen.
„….und ich hätte nicht geglaubt, dass ihr…Tarsuinn!"
Er wurde hochgehoben, im Kreis gedreht und abgeküsst. Tarsuinn wusste nicht, wie ihm geschah. Er war doch nur wenige Stunden unterwegs gewesen?
„Du wirst es nicht glauben", flüsterte Rica ihm glücklich ins Ohr.
„Und was?", fragte er und hatte einen kurzen Hoffnungsblitz von Augenlicht, das nicht Toireasas Blindheit bedeutete. Oder vielleicht konnte man ja Ricas Gesicht doch heilen?
Vorsichtig wurde er wieder abgesetzt und Rica schlang ihren Arm um seine Hüfte. Tikki – die während der stürmischen Umarmung abgesprungen war – sprang wieder auf Tarsuinns Schulter und machte ein fragendes Geräusch.
„Tarsuinn", sagte Rica feierlich. „Dies hier sind unsere Ma und unser Dad. Tante Glenn und Professor Dumbledore haben sie gefunden und mit unserem Geld freigekauft. Ma, Dad! Dies ist euer Sohn Tarsuinn."
In diesem Moment hätte man Tarsuinn sagen können, die Welt würde einstürzen, es hätte ihn nicht berührt. Alles hatte er erwartet, nur so etwas nicht.
Und das Schlimme war, er spürte keine Freude darüber, sondern nur Verwirrung. Im Gegensatz zu Rica hatte er sich niemals wirklich seine Eltern zurückgewünscht. Rica hatte ihm immer vollkommen gereicht, um glücklich zu sein. Aber er hatte auch nicht die Verantwortung für ein kleines Kind tragen müssen, genauso, wie ihm Erinnerungen und Gefühle in dieser Sache fehlten.
„Ich muss mich bei Tante Glenn und Professor Dumbledore bedanken", sagte Rica aufgeregt. „Sie sind gerade bei Medir. Ich bin gleich zurück. Ihr könnt euch ja inzwischen schon mal bekannt machen."
„Das passt gut – ich muss eh alle sprechen", sagte Samuel und ging gemeinsam mit Rica davon.
Tarsuinn blieb allein mit Tikki zurück. Er rührte sich nicht.
„Komm bitte her, mein Junge", sagt eine schwache, weibliche Stimme. „Lass dich ansehen."
Im ersten Moment waren Tarsuinns Beine wie fest verwurzelt – dann rannte er, Tikki auf seiner Schulter festhaltend, weg.
Erst als er St Mungos längst verlassen hatte und eine Weile durch London gelaufen war, bekam er sich wieder ein wenig unter Kontrolle. Ihm wurde klar, wie kindisch und unüberlegt er gerade gehandelt hatte. Was nutzte es wegzulaufen? Er wollte ja nicht vor Rica flüchten. Und wenn er bei ihr blieb, dann musste er wohl mit diesen Menschen, die seine Eltern sein sollten, auskommen.
Abrupt drehte er sich um, überraschte damit Tikkis Voraussicht und knallte in jemanden, der direkt hinter ihm ging.
„Pardon", murmelte Tarsuinn, wich ein Stück zurück und weil er einen Zaubererumhang fühlte, wollte er aus einem Impuls heraus losrennen.
„Lauf nicht weg, Tarsuinn", rief ihm eine Frau nach.
„Tante Glenn?", blieb er stehen und dann lief er auf die Frau zu und warf sich ihr in die Arme.
„Was hast du denn, Tarsuinn?", fragte Tante Glenn besorgt. „Warum läufst du weg? Rica macht sich Sorgen. So kurz nach deinem letzten Ausflug haben wir schon an das Schlimmste gedacht."
„Ich will nicht, dass sich etwas ändert", drückte sich Tarsuinn an die Frau. „Ich will bei Rica bleiben. Ich will nicht zu irgendwelchen fremden Menschen. Ich gehöre ihnen nicht. Rica ist meine Familie, ihr vertraue ich, aber die…die kenne ich nicht!"
„Und warum versuchst du nicht erst einmal sie kennen zu lernen?", fragte Tante Glenn sanft.
„Ich…ich weiß nicht", stotterte Tarsuinn verlegen.
„Ein Versuch kann doch nicht schaden", fuhr sie vernünftig fort. „Deine Eltern haben viel durchgemacht und müssen noch eine Weile in St Mungos bleiben. Auch für sie ist es ein Schock wieder Kinder zu haben, schließlich hat man ihnen schon vor Jahren gesagt, ihr wärt beide gestorben. Gib ihnen eine Chance. Ich wette, sie wissen selbst nicht, was sie sagen sollen. Immerhin haben sie plötzlich eine erwachsene Tochter und einen fast erwachsenen Sohn."
„Aber ich muss nicht mit ihnen unter einem Dach wohnen, wenn ich nicht will, oder?", erkundigte Tarsuinn sich besorgt.
„Offiziell ist Rica für dich verantwortlich."
„Aber wenn es doch wirklich meine Eltern…?"
„Es gibt einige spezielle – na ja – Besonderheiten, die dich von ihnen unabhängig machen, solltet ihr wirklich Probleme bekommen. Hab keine Angst!"
„Was sind das für Besonderheiten, Tante Glenn?"
„Komm und hör sie dir an", lud sie ihn ein. „Du hast doch keine Angst, nicht wahr?"
„Mehr als vor jedem Dementor", gab Tarsuinn leise zu.
„Ach, komm schon. Sieh es doch mal positiv! Vielleicht hast du die tollsten Eltern der Welt und wirst es nie erfahren, weil du Angst hast es herauszufinden."
„Und was wenn nicht?"
„Dann finden wir schon einen Weg. Kommt Zeit, kommt Rat. Du darfst keine Angst vor Veränderungen haben. Und nun komm – die anderen machen sich Sorgen."
Sanft wurde Tarsuinn aus der Umarmung geschoben. Hand in Hand gingen sie zurück zum Krankenhaus.
Gloria (ein Abschnitt voller Hauselfen)
Die kleine Szene vor Glorias Augen amüsierte sie mehr, als sie es eigentlich sollte. Das Leben hatte doch einen recht eigenartigen Sinn für Humor. Da hatte sie nur ein wenig den Jungen beobachten wollen, nachdem er sein Gespräch beim Zaubereiminister gehabt hatte, und dann das. Köstliche Ironie.
Für einen Moment schwankte sie zwischen verfolgen oder es gut sein lassen, dann entschloss sie sich für das Zweite. Einige Dinge bedurften wohl einer neuen Herangehensweise. Sie ging in einen einsamen Hausflur, brachte mit ihrem Zauberstab mögliche Muggelgeräte zu einem Aussetzer und disapparierte nach Hause. Sie würde Heather und Decan benachrichtigen müssen, dass sie heute nicht mehr ins Büro kommen würde.
„Mylady", rief Cindy, ihre Hauselfe. „Wir haben nicht mit Eurer Anwesenheit gerechnet. Bitte entschuldigt. Wenn Ihr wünscht, können wir Euch in zehn Minuten ein Mittagessen bereiten."
„Danke, aber nein, Cindy", entgegnete sie freundlich. „Ich möchte nichts essen. Nur kurz nach Caradoc schauen."
„Er ist bei Lucy in guten Händen", versicherte Cindy.
„Ich weiß", sagte Gloria lächelnd.
Sie ging ins Babyzimmer, wo sie von einem stehenden Baby laut quietschend und brabbelnd begrüßt wurde. Der Kleine stand in seinem Kinderbettchen und hielt sich krampfhaft am Rand fest. Er konnte noch nicht laufen, aber wenn er sich irgendwo festklammerte, dann konnte er schon stehen. Gloria hatte die letzten Tage recht häufig mit ihrem Zauberstab Dinge reparieren müssen, denn Tischdecken eigneten sich eher weniger als solider Halt.
„Na, mein Süßer", begrüßte sie ihr Baby und herzte ihn. „Willst du schon wieder nicht dein Mittagsschläfchen machen? Hallo, Lucy."
„Mylady", die Elfe verbeugte sich, bis ihre Stirn fast die Knie berührte. „Ich hab…ich fürchtete…Cindy meinte, es ist besser…"
„Schon gut, Lucy", unterbrach Gloria und kniete sich mit Caradoc im Arm neben die Elfe. Vorsichtig richtete sie den Oberkörper des zierlichen Wesens auf. Die Narben im Gesicht der kleinen Elfe taten ihr weh, denn sie wusste, es war allein Glorias Schuld, dass sie dort waren. Auch wenn sie nicht hatte ahnen können, wie schlimm es im Heim der Lerauxs wirklich zuging. Sie hatte nie begriffen, wann es wirklich geschehen war, dass sie Elfen nicht mehr nur als Dienstboten und Besitz ansah. Schlimmer noch, sie fühlte sich inzwischen für diese naiven Wesen in ihrem Haushalt verantwortlich und mochte sie.
„Ich bin sehr zufrieden mit deiner Arbeit, Lucy. Du kümmerst dich gut um Caradoc. Er mag dich sehr. Es würde mich sehr freuen, wenn du einwilligst, dies heute und in Zukunft als deine Hauptaufgabe anzusehen."
„Wie Ihr befehlt", entgegnete die Elfe und wollte sich wieder verbeugen.
„Nein, Lucy", hielt Gloria sie zurück. „Schau mich an. Dies ist kein Befehl. Das kann er nicht sein. Ich frage dich, willst du für mein Kind sorgen? Ob ich da bin oder nicht. Ob ich dir den Befehl gab oder nicht. Du musst es wollen! Nur so kann ich ihn dir wirklich anvertrauen."
„Ich möchte Euch dienen…"
„Lucy", mit der Hand hob sie das Kinn der Elfe an, welche leicht zurückzuckte. „Ich kann nicht wiedergutmachen, was ich dir angetan habe. Keine Entschuldigung der Welt kann das. Aber ich lege dir mein Kind in die Arme, so viel Vertrauen hab ich in dich."
„Meine Mutter…"
„Deiner Mutter fehlt etwas, was du einst besessen hast und das noch immer in dir ist – Selbstvertrauen, Stolz und Mut."
„Ich habe davon nichts mehr", flüsterte Lucy.
„Doch, ganz sicher", beharrte Gloria.
„Nein."
„Verstell dich nicht."
„Ich verstell mich nicht", wurde Lucy ein wenig lauter.
„Du kennst keine Angst."
„Sie haben doch dafür gesorgt, dass ich Angst kenne!", fauchte Lucy plötzlich laut und schüttelte Glorias Hand ab. „Man hat Zigaretten auf meiner Haut ausgedrückt, mit Gerten nach mir geschlagen, mich getreten und hungern lassen. Nach nur einer Woche hatte ich Angst vor jedem Schatten. Ich hab Sie gehasst. Ich hab davon geträumt, Sie zu töten. Nach zwei Monaten habe ich dann begriffen, wie gut es mir bei Ihnen gegangen war und dass ich das alles für meinen dummen Stolz geopfert habe. Ich habe mich nach Ihnen gesehnt und Sie gehasst. Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben, als Sie plötzlich auftauchten und alles…ich…Nie wieder werde ich das aufs Spiel setzen! Ich…"
Caradoc hatte zu weinen begonnen.
Lucy, die sich, ohne es zu merken, in Rage geredet hatte, wich plötzlich erschrocken zurück, drehte sich um und begann zu zittern und zu weinen.
Genau, was Gloria erwartet hatte.
Wie ein kleines Kind zog sie Lucy an sich und wartete geduldig darauf, dass sich Caradoc und die Elfe beruhigten. Allein die Reaktion ihres Babys zeigte ihr, wie eng die Bindung zwischen Lucy und ihm schon war. Sie konnte nur staunen, wie gut sich ihr Meister mit Elfen auskannte. Er hatte ihr empfohlen, eine Elfe dazu zu bewegen ihr Kind quasi zu adoptieren. Seiner Meinung nach gab es keinen besseren Schutz auf der Welt. Ihre Macht und das Einfühlungsvermögen wog ihre Naivität bei weitem auf und keine menschliche Amme der Welt konnte so treu sein, wenn der Bindungszauber und der Wille der Elfe das Gleiche wollten.
Dass Glorias Wahl dabei auf Lucy gefallen war, hatte aber selbst ihren Meister verwundert und sie fragte sich schon seit einiger Zeit, ob ihr Gewissen noch ihr Untertan oder sie Untertan ihres Gewissens war. Moralische Überlegungen waren inzwischen ein normaler Teil ihres Lebens.
Als Ausgleich für diese Schwäche hatte sie jedoch inzwischen eine Gelassenheit erreicht, die sie fast alles mit Gleichmut ertragen ließ. Zum Beispiel fand ihr altes Ich es eklig, von einer heulenden Elfe und einem sabbernden Baby die Kleidung verschmutzt zu bekommen. Ihr neues Ich sagte ihr jedoch einfach, sie solle nachher den Reinigungszauber nicht vergessen. Der Zauber reichte völlig. Die Kleidung zu wechseln, so wie sie es sich früher immer eingebildet hatte, war nicht nötig.
„Wieder gut?", fragte sie, nachdem Lucy still geworden war.
„Ja", sagte die Elfe leise.
„Also ich hab eben jemand sehr Mutigen gehört", sagte Gloria, ohne Lucy loszulassen. „Du nicht auch?"
„Jemand sehr Dummes", korrigierte Lucy, was Gloria ein Lächeln entlockte. Das klang wie ein kleiner Anfang.
„Das sehe ich anders", meinte Gloria nur. „Aber vielleicht habe ich dich zu sehr bedrängt. Denk darüber nach, Lucy, und sag mir morgen, was du möchtest. Einverstanden?"
„Wie Ihr wün…"
„Wie du wünschst", unterbrach Gloria ernst. „Denk nur daran, was du wünschst. Wenn du eine andere Familie – deiner Wahl – wünschst, dann werde ich dich gehen lassen. Wenn du denkst, dass du in Freiheit deine Wahl treffen möchtest, dann werde ich deinem Wunsch entsprechen. Es wird deine Entscheidung sein. Das ist mein Geschenk und meine Entschuldigung für dich."
„Aber wenn ich die falsche Entscheidung treffe?", murmelte Lucy ängstlich.
„Das ist die Gefahr, wenn man Entscheidungen trifft. Du wirst dich schon daran gewöhnen."
Gloria ließ Lucy los und drückte ihr Caradoc in die Arme.
„Ich werde heute voraussichtlich lange unterwegs sein. Lass ihn heute noch ein wenig in den Garten, damit er ein wenig frische Luft bekommt, ja?"
„Ja, Mylady."
„Gut. Ich wünsche euch viel Spaß."
Sie gab Caradoc noch einen Schmatz auf die Wange und erhob sich dann um zu gehen.
„Mylady?", fragte Lucy leise und sah Gloria mit ihren großen Augen an.
„Ja?"
„Wäre es nicht gut, wenn Euer Sohn ein wenig mit anderen Kindern spielen könnte?"
„Ich nehme ihn doch recht oft mit ins Waisenhaus oder meinst du etwas anderes?"
„Ja, Mylady. Ich meinte, er sollte andere Babys in seinem Alter kennen lernen und mit ihnen spielen. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn er denkt, die Welt besteht nur aus seinen Eltern, älteren Muggelkindern und Hauselfen."
Für einen perplexen Moment schaute Gloria auf die kleine Hauselfe. Diese Einmischung in die Erziehung ihres Kindes hatte sie eigentlich nicht gewollt – aber hatte sie Lucy nicht eben genau darum gebeten?
„Ein wirklich interessanter Vorschlag", sagte Gloria deshalb vorsichtig. „Wir sprechen darüber, wenn du dich entschieden hast, Lucy."
Dann ging Gloria aus dem Raum und sobald die Tür geschlossen war, reinigte sie ihre Bluse mit dem Zauberstab. Sie war sich sehr sicher, wie Lucy sich entscheiden würde. Das hatte die letzte Frage der Elfe bewiesen. Damit hatte sie entweder den besten Bodyguard der Welt erschaffen oder aber den Bock zum Gärtner gemacht.
„Cindy!", sagte sie auf dem Weg in den Innenhof.
Neben ihr erschien die gute Seele ihres Haushaltes.
„Ja, Mylady?"
„Geh bitte ins Ministerium und richte Heather und Decan aus, ich werde heute nicht mehr ins Büro kommen können. Sie sollen alle Termine verschieben und sich dann frei nehmen. Ich muss mit einem möglichen Mandanten sprechen."
„Es wird so geschehen, Mylady."
„Und berichte meinem Mann, er braucht nicht mit dem Abendessen warten. Ich werd es am Wochenende wieder gut machen."
„Natürlich, Mylady. Möchte Mylady vielleicht doch etwas zum Mittagessen?"
„Keine Zeit, Cindy."
In den Händen von Cindy erschien ein riesiges und in Folie eingepacktes Sandwich.
„Mit allem was ihr mögt, Mylady", versprach sie mit verlegenem Lächeln.
„Danke, Cindy. Sehr aufmerksam von dir", erwiderte Gloria. Nette Worte taten nicht weh und man bekam so viel mehr dafür zurück. Das erfreute Strahlen von Cindy sagte alles. Noch vor zwei Jahren wäre die Hauselfe nicht ohne Befehl auf diese Idee gekommen und hätte sich auch nicht so gefreut, als Gloria das Sandwich annahm.
Sie ließ eine glückliche Hauselfe hinter sich zurück. Loyalität konnte man nicht kaufen – aber sie war auch nicht teuer. Bevor sie endgültig ging, holte sie noch eine kleine Tasche.
Sie apparierte in die Nähe des Anwesens ihres Meisters, inmitten einer alten Industrieruine. Direkt neben einen kleinen Jungen, den die unzähligen Warnschilder über Einsturzgefahr überhaupt nicht zu stören schienen, jetzt aber voll Panik zu ihr aufschaute. Gloria veränderte seine Erinnerungen und fügte eine leichte und begründete Angst vor baufälligen Gebäuden hinzu. Manche Muggelkinder trieben sich wirklich an Orten herum, die zu gefährlich für sie waren.
Auf dem kurzen Fußmarsch zu dem geheimen Anwesen ihres Meisters, aß Gloria voll Appetit das Sandwich. Vielleicht sollte sie einen Stand damit in der Winkelgasse aufmachen? Bei Gott, sie könnte das Geld gut gebrauchen. Die Arbeit für ihren Meister hatte ihr noch keinen einzigen Knut eingebracht.
Sie zog unauffällig ihren Zauberstab, malte die nötigen Zeichen in die Luft und flüsterte „Aperire."
Nur für ihre Augen wurde aus der Investruine vor ihr ein barockes Anwesen. Aus ihrer Tasche holte sie einen Bauarbeiterhelm hervor und setzte ihn auf. Dann nahm sie ihren Schlüssel und schloss die Tür auf. Während Gloria durch eine massive Tür in das Gebäude trat, wusste sie, dass zufällig vorbeikommende Muggel eine Architektin sehen würden, die eine Gittertür aufschloss und mit interessiertem Blick zwischen in dem halbfertigen Gebäude verschwand.
„Guten Tag, Mylady", begrüßte sie Fidusy, der freie Hauself ihres Meisters. „Eine Erfrischung gefällig?"
„Auch dir einen Guten Tag", grüßte Gloria höflich. Ihr Meister hatte ihr eingeschärft auf keinen Fall den Hauself wie einen Bediensteten zu behandeln. „Und wenn du etwas kalten Tee anbieten kannst, wäre ich dir sehr dankbar."
„Kein Problem."
Ein Tablett mit einem gefüllten Glas erschien auf seiner Handfläche.
„Pfefferminztee, Raumtemperatur, ohne Zucker", erklärte er mit einer halben Verbeugung.
„Genau wie ich es mag", bestätigte sie.
„Ich weiß", entgegnete er hintergründig lächelnd. „Der Meister befindet sich bei Verhandlungen in der Bibliothek. Ich bin mir sicher, er würde Euch gern im Hintergrund wissen."
„Verstehe. Dank dir."
„Es ist mir ein Vergnügen zu helfen", meinte der Elf, verbeugte sich und verschwand. Bei allem Respekt für Mr Banefactor, Gloria konnte sich nicht vorstellen, einen richtig freien Elfen in ihren Diensten zu dulden. Auch wenn sie Lucy, Cindy und die anderen zu mehr Selbstständigkeit ermutigte, ohne die bindende Kraft des Zaubers fühlte sie sich nicht allzu wohl. Das indirekte Freiheitsangebot an Lucy hatte sie nur gegeben, weil sie nicht glaubte, dass die Hauselfe es nutzen würde, und weil sie die Reaktion darauf hatte sehen wollen. Lucy hatte geschaudert und das war Gloria mehr als recht gewesen.
Sie wandte ihre Schritte in die Richtung der Bibliothek. Natürlich nur die für die legalen Bücher, die mehr für Besucher gedacht war. Bevor sie den Raum jedoch durch eine kleine Seitentür betrat, änderte sie ihr Aussehen ein wenig ab und prüfte es in einem Spiegel. Gut. Eine junge, schöne Frau mit schlichten, langen und dunkelblonden Haaren lächelte sie an. Ihre zweite Identität.
Ohne zu klopfen betrat sie leise den Raum.
„…ich muss sagen, ich finde Ihre Bedingungen…", sagte eine grobschlächtige Stimme eben.
Ein zu der Stimme passender Mann saß in einem Sessel und paffte eine stinkende Zigarre. Obwohl er saß, überragte er den ihm gegenübersitzenden Mr Banefactor (natürlich in der Alten-Mann-Tarnung) um zwei Kopflängen und er schien doppelt so breit wie Gloria und so kräftig wie ein Stier zu sein. Er starrte sie mit einer recht unangenehmen Mischung aus Anzüglichkeit und Ablehnung an.
„Sie brauchen sich nicht zu unterbrechen, Mr Dudstone. Dies ist Miss Ancillia…"
„Ah, verstehe", polterte der Mann und zwinkerte verschwörerisch. „Sie haben sich einen sehr guten Geschmack erhalten, muss ich neidvoll anerkennen."
„Ancillia ist meine rechte Hand und später meine Nachfolgerin, Mr Dudstone", tadelte Banefactor sanft und nur Gloria schien den versteckten Eiszapfen darin zu bemerken. Der Preis war sicher eben gestiegen.
„Na, da bin ich aber jetzt in die Scheiße getreten, nicht wahr?", bemerkte der Besucher rau. In Glorias Augen sank der Mann auf die Stufe eines Barbaren. „Entschuldigen Sie, Miss. Aber ich bin den Umgang mit Städterfrauen einfach nicht gewohnt."
„Dafür muss man sich nicht entschuldigen", nickte Gloria kurz zum Zeichen des Einverständnisses. „Aber ich wollte nicht unterbrechen. Sie wollten gerade etwas zu unseren Geschäftsbedingungen anmerken?"
Sie stellte sich schräg hinter den Sessel ihres Meisters.
„Ja, natürlich. Mr Banefactor, ich muss sagen, ich halte Ihren Preis und die Verpflichtungen für völlig übertrieben. Ich kauf doch nicht die Barschlampe, wenn ich nur ihre Titten sehen will."
„Wie kommen Sie darauf, dass es zu teuer wäre?", fragte ihr Meister neugierig.
„Über das Ritual meckere ich ja nicht", entgegnete Dudstone. „Der Preis scheint mir fair. Das Risiko ist hoch. Aber die laufenden Kosten auf Lebenszeit…Das kommt mir falsch vor."
„Es ist nur ein kleiner Beitrag, gemessen an Ihrem Einkommen und Vermögen. Nicht mal ein Prozent und es kommt fast ausschließlich dem Spender und dessen Betreuung zugute."
„Sehen Sie, Kumpel, und das verstehe ich nicht. Wenn ich Sie recht verstanden habe, nehmen wir nen Muggel, tauschen aus, was ausgetauscht werden soll, verändern sein Gedächtnis und der Fall ist erledigt. Er trägt doch keinen Schaden davon und merkt es nicht einmal. Dann kann er doch weiter für sich selbst sorgen."
„Ich werde jetzt nicht jeden Posten aufführen, der ansteht, Mr Dudstone, aber mit dem Ändern der Erinnerungen des Muggels ist es nicht getan. Man muss Familienbilder verändern, das Gedächtnis der Eltern, Freunde, zufällige Bekannte und immer ein Auge auf den Mann haben, denn, wie Sie sicher wissen, Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis sind nur schwerlich vollständig zu manipulieren. Dasselbe müssen wir auch mit deren Bekanntschaften machen."
„Dann nehmen Sie irgendeinen kontaktarmen Looser."
„Wir können nicht einfach irgendjemanden nehmen. Der Spender muss zu Ihnen passen und dazu auch noch die gewünschten Attribute aufweisen."
„Aber warum einem Muggel nachher Geld hinterherwerfen?", regte sich der Besucher auf.
„Dies ist Firmenpolitik", stellte Mr Banefactor fest. „Keine Diskussion. Wir kompensieren den Verlust des Muggels. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, dann suchen Sie sich jemand anderen, der eine Lösung anbieten kann. Es gibt genug Schwelltränke, Verwandlungszauber und dergleichen, um Ihr Problem zu lösen."
„Ich möchte ein permanentes Ergebnis", sagte Dudstone kühl. „Und Sie wissen genau, es gibt keinen anderen Anbieter dafür."
„Wohl wahr. Deshalb wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als den Bedingungen zuzustimmen."
Auf das Gesicht des Besuchers schlich sich ein verschlagenes Lächeln.
„Ich hätte natürlich auch eine andere Möglichkeit", sagte er überzeugt. „Was mir einen Rabatt geben sollte."
„Ach, Sie meinen, das was Sie herausgefunden zu haben glauben", lachte Glorias Meister amüsiert. „Bitte! Glauben Sie ernsthaft, Sie hätten das Geheimnis gelöst?"
„Ich bin hier, nicht wahr? Und bevor Sie auf dumme Gedanken kommen – eine Männer wissen, wo ich bin."
„Sind Sie sich da ganz sicher?", fragte Gloria und unterdrückte ein breites Grinsen. „Wo glauben Sie denn, wo Sie sind?"
„In Glasgow natürlich."
Ohne die Geste ihres Meisters abzuwarten, ließ Gloria einen der Fensterläden nach oben gleiten. Sie war selbst interessiert, was sie zu sehen bekommen würde.
„Schon mal in Berlin gewesen?", fragte sie nach einem kurzen Blick.
„Eine Illusion, weiter nichts."
„Sie werden auf Ihrem Nachhauseweg schon sehen", lächelte Gloria jetzt breit. „Ich hoffe, Sie können apparieren."
Langsam schlich sich eine leichte Unsicherheit in sein Gesicht, doch er versuchte es zu überspielen.
„War nur ein Gedankenspiel", sagte er. „Ich bin mir sicher, wir können uns gütlich einigen."
„Nun", sagte Glorias Meister vernünftig. „Wir können uns auch auf eine Einmalzahlung für – sagen wir einfach mal – fünfzig Jahre einigen. Alle darüber liegenden Jahre würden dann von uns abgedeckt."
„Dreißig!"
„Sie sind ein gesunder Mann Anfang vierzig, Mr Dudstone. Sie werden höchstwahrscheinlich noch hundert Jahre leben."
„Aber ich werd höchstens noch achtzig Jahre Verwendung dafür haben. Einigen wir uns also auf die Hälfte?"
„Vierzig Jahre?"
„Genau!"
„Ich denke, das kann ich akzeptieren, wenn Sie in grünen Kristallen aus Ihrer Mine bezahlen – zum Ersthandelspreis."
„Das würde Ihnen noch ein hübsches Sümmchen extra bringen!"
„Sie aber nichts extra kosten, weil Sie die Steine ja zu genau diesem Preis verkauft hätten."
„Da haben Sie natürlich Recht. Der aktuelle Preis liegt glaub ich bei 4,7 Galeonen pro Unze."
„4,62 heute Mittag", korrigierte Banefactor ruhig. „4,7 war vor drei Tagen."
„Ja, richtig. Ich kümmere mich momentan nicht so um das Tagesgeschäft."
„Sie sind ein viel beschäftigter Mann", meinte der Meister diplomatisch. „Verbleiben wir also so. Die Grundbezahlung, plus vierzig Jahressätze, alles zahlbar in grünen Kristallen zu 4,62 Galeonen pro Unze. Garantie für achtzig Jahre und…", Gloria konnte das Lächeln Banefactors vor ihrem inneren Auge sehen. „…obwohl Sie nicht selbst daran gedacht haben, inklusive einem Nachfolger für den Spender, da ja Muggel ein wenig kürzer leben als wir."
Ein wenig Genuss war schon dabei, als Gloria Dudstones Gesicht beobachtete und wie er begriff, dass sein Verhandlungspartner ihm eben einen vertraglichen Fallstrick aufgezeigt und entschärft hatte. Der Mann schaute ein wenig als wollte er sagen: Und was wird mich das kosten?
„Abgemacht?", sagte Dudstone, spuckte in die Hand und reichte sie Mr Banefactor. Der schlug ohne zu zögern ein.
„Abgemacht!"
„Wann kann ich damit rechnen?"
„Wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir einen passenden Spender gefunden haben. Erfahrungsgemäß dauert dies um die zwei Monate. Manchmal länger, manchmal kürzer."
„Das ist durchaus akzeptabel, auch wenn mir schneller lieber wäre."
„Natürlich, aber schließlich haben Sie ganz besondere Anforderungen. Sie wollen doch nichts Minderwertiges, nicht wahr?"
„Nein. Ganz sicher nicht."
„Das hätte ich auch nicht von Ihnen erwartet."
Mr Banefactor erhob sich mühsam und geleitete Dudstone hinaus, während er Gloria bedeutete zu warten. Als er wenig später wieder zurückkam, ging er aufrecht und von seinem Alter war nichts mehr zu sehen.
„Wo haben Sie ihn hingehen lassen?", fragte Gloria neugierig.
„Nach Madrid."
„Und was wollte er von uns? Ein Hirn?"
Ihr Meister lachte laut auf.
„Nein. Obwohl er eines gebraucht hätte. Aber du hast es natürlich sofort bemerkt."
„Ja. Hätte er das Geld zu drei Prozent angelegt, könnte er die monatlichen Raten von den Zinsen bezahlen und würde noch etwas übrig behalten. Dank des günstigen Preises bei den Kristallen machen wir also einen ziemlich hohen Gewinn, wenn auch relativ langfristig."
„Nun – im Grunde ist es nur der Anfang vom Geschäft hier in England."
„Wissen Sie, das ist eine Sache, die ich nicht verstehe. Nach den neuen Gesetzen, die jetzt alle in Kraft sind, ist es völlig illegal was wir machen und auch für jeden Kunden von uns, ob hier oder im Ausland. Ich habe geholfen, diese Gesetze wasserdicht zu machen!"
„Natürlich und was hat das bewirkt?"
„Dass man uns und all unsere Kunden verurteilen kann."
„Und? Komm schon Gloria, eine reiche Frau wie du..."
„Ich bin nicht reich."
„Du hast nur nie darum gebeten."
„Ja, ich weiß. Ich wollte es allein schaffen und so auch keine ungewollte Aufmerksamkeit erregen. Wenn man Geld hat, ist man versucht es auszugeben."
„Aber als reiche Frau mit einer erfolgreichen Firma, kannst du es dir doch leisten. Schließlich wurde doch erst gestern der jährliche Überschuss an die einzige Anteilseignerin ausgezahlt."
„Was für eine Firma?"
„Aber Gloria. Deine Trading Company. Ich hab sie doch in deinem Namen im letzten Sommer gekauft. Sie hat unglaubliche Gewinne gemacht", seine Augen blitzten voller Schalk. „Wer konnte auch ahnen, dass diese kleine Firma noch einen Vertrag aus der Vorkolonialzeit besitzt, der ihr unbeschränkten Handel aller Güter aus Indien erlaubt, selbst wenn dieses ein Handelsverbot ausgesprochen hat. Tja, und somit wurde diese kleine Firma zum einzigen Lieferanten dieser nun seltenen Güter und trotz der so schwierigen Beschaffung hat die großzügige Anteilseignerin beschlossen, nur einen minimalen Preisanstieg zu fordern, um die Unkosten zu decken."
Gloria stand fast der Mund offen.
„Sie meinen, die Indian Trading Company ist die Trading Company, die Sie für mich gekauft haben?"
„Natürlich."
„Und nur durch den Fall mit den McNamaras…"
„…bist du zu einer reichen Frau geworden."
„Man könnte mir Befangenheit vorwerfen."
„Du hast verteidigt und nicht die Anklage geführt. Das ist nicht illegal."
„Aber verwerflich in vielen Augen."
„Glaub mir, die meisten würden dich eher bewundern. Aber keine Sorge, wir werden es nicht bekannt geben. Du hast eine große Erbschaft bekommen."
„Hab ich?"
„Ja. Eine alte Dame, Ruth Nomen. Kennst du sie?"
„Noch nie von ihr gehört."
„Kein Wunder. Sie ist die Frau des Großcousins deiner Großmutter mütterlicherseits gewesen. Sie starb bettelarm und ohne direkte Nachkommen. Man wird jedoch ein Verlies in Gringotts finden, das einmal ihrem Mann gehörte und da es kein Testament gibt, fällt das Erbe an die einzigen noch lebenden Familienmitglieder Gloria und Caradoc Kondagion. Was für ein Glücksfall, nicht wahr?"
„Wie ist denn das Gold in das Verlies gekommen?", fragte Gloria beeindruckt.
„Der Nachlaßverwalter ist ein alter Freund von uns", lächelte Banefactor. „Er hat das Verlies inspiziert, um die Vermögenswerte festzustellen, und die Kobolde und ihre Sicherheitsvorkehrungen sind sich sehr sicher, dass er nichts aus dem Verlies entfernt hat. Heute Nachmittag hat er dir dann das Testament verlesen und dir den Schlüssel gegeben", ihr Meister reichte Gloria ein Schriftstück und einen Schlüssel. „Mein herzlichstes Beileid, Gloria."
„Ist es viel?", fragte Gloria ein wenig von der Rolle.
„Deutlich fünfstellig", freute sich Mr Banefactor über ihr Erstaunen. „Und das nur dieses Jahr. Wir können nur hoffen, dass die Handelsblockade noch eine Weile bestehen bleibt, wobei wir uns dann im nächsten Jahr einen anderen Weg überlegen müssen."
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll?", murmelte Gloria überwältigt.
„Ein Danke reicht völlig."
„Dann, danke. Für alles!"
„Ich dachte mir, es ist an der Zeit", lachte er. „Aber was hast du gelernt?"
„Dass man den Markt manipulieren kann."
„Und?"
Gloria musste einen Moment nachdenken. Sie war keine Wirtschafterin. Sie kannte sich mit Gesetzen aus, aber nicht unbedingt mit Ökonomie. Außer, dass sie ganz gut darin war zu sparen, wo es dem Image nicht schadete.
„Angebot und Nachfrage?", benutzte sie die Schlagworte, die wohl jeder kannte.
„Richtig. Und weiter? Denk an die Company"
„Wenn das Angebot knapp ist, steigen die Preise."
„Nicht ganz richtig. Die Preise steigen auch schon, wenn der Kunde glaubt, dass das Angebot knapp ist."
„Und indem wir den Transfer illegal gemacht haben…"
„…haben wir die Preise nach oben getrieben."
„Aber wenn es billiger ist, kann sich doch die Masse…", begann Gloria.
„Möchtest du, dass wir unser Geschäft für die Masse führen, Gloria?", fragte Banefactor ernst.
„Nein", sagte sie und senkte den Kopf. Allein die Vorstellung machte ihr Angst.
„Ich habe diesen Fehler in Indien gemacht, Gloria. Dort ist der Transfer nicht illegal, solange es Muggel trifft, und was ist geschehen? Fast jeder kann es sich leisten, die Hemmschwelle ist gering, niemand schämt sich – und niemand ist erpressbar. Der einzige Grund, dass es nicht allgemein bekannt ist, ist, dass ich jeden Transfer rückgängig machen kann und es eine Schande ist einzugestehen, dass man nicht selbst schon perfekt ist. Aber hier, Gloria…?"
„Haben wir es teuer und risikoreich gemacht. Nur Zauberer und Hexen, die es wirklich nötig haben, kommen zu uns und wenn sie kommen, werden sie jeden Preis zahlen oder – wenn sie das nicht können – für uns arbeiten."
„Ich sehe, langsam begreifst du", freute sich Banefactor. „Ich habe dafür gesorgt, dass nur eine Elite uns sucht, es aus eigenem Antrieb geheim hält und uns als Werkzeug dient. Und dadurch, dass wir es so begrenzen und trotzdem lukrativ bleiben, können wir die Spender einzig aus den Leuten rekrutieren, die es wirklich verdient haben. Schwerverbrecher, Kinderschläger und Hausierer."
„Ja – vor allem diese Typen, die Samstag früh immer an meiner Wohnungstür klingeln. Ich versteh das nicht. Ich hab sie schon hundertmal verflucht, aber sie kommen immer wieder."
„Ich weiß. Ich hebe den Fluch immer wieder auf – das formt den Charakter."
Für einen Moment schaute sie ihn distanziert an, dann mussten sie beide plötzlich laut lachen.
„Das haben Sie nicht wirklich gemacht", prustete Gloria.
„Oh, doch", kam zwinkernd die Antwort.
„Und ich dachte schon, es wären Hexen und Zauberer, die sich einen grausamen Spaß mit mir erlaubten."
„Nicht doch…"
Fidusy erschien zwischen ihnen und verbeugte sich vor Banefactor.
„Entschuldigung, Meister", sagte der Hauself. „Ein Mann namens Lachlan Mehr-musst-du-nicht-wissen ist auf dem Weg hierher. Ich ließ ihn ein, denn Ihr hattet ihn ja auch losgeschickt, Meister."
„Dank dir, Fidusy", sagte Banefactor.
Der Hauself verschwand wieder. Keine Minute später klopfte es an der Tür und ein recht junger Mann erschien. An seiner Hand schleifte er eine dünne und halb benommene Elfe hinter sich her."
„Mr Banefactor?", sagte der Mann höflich und verbeugte sich angemessen. Er warf Gloria einen unsicheren Blick zu. „Ich hab sie gefunden."
„Danke sehr, Lachlan. Das war sehr freundlich von dir. Darf ich fragen, wo du sie gefunden hast?"
„In Askaban, Sir", entgegnete der Mann. „Sie versteckte sich in einem Loch. Es war nicht einfach, sie dort und aus Askaban herauszubekommen."
„Warum dies?"
„Die Dementoren waren irgendwie sehr aufgeregt und wütend. Sie hätten mich beinahe nicht passieren lassen, obwohl ich ein Auror bin. Um ehrlich zu sein, ohne den Patronus-Zauber bin ich mir nicht sicher, was passiert wäre."
„Hast du eine Ahnung, weshalb sie so aufgebracht waren?"
„Nein. Obwohl es schon verwunderlich ist, dass heute Morgen neben mir noch drei andere Auroren Askaban kontrollieren sollten. Ich hab die Elfe nur dank dem Zufall und Ihrem Smaragd gefunden."
„Was sollten vier Auroren in Askaban?", fragte Gloria.
Lachlan schaute kurz zu Mr Banefactor, so als würde er wissen wollen, ob diese Frau Fragen stellen durfte.
„Ancillia! Meine rechte Hand und Nachfolgerin", erklärte Mr Banefactor kurz.
„Nun, wir waren dort, um sämtliche Insassen zu überprüfen und danach sagte man uns, wir sollten unter das Gefängnis in die Höhlen und nach einem Kristall suchen. Aber alles war, wie es sein sollte."
„Dann ist es ja gut", meinte Glorias Meister ruhig. „Ich danke dir, Lachlan. Ich denke, ich werde die vereinbarte Zeit für diesen Dienst verdoppeln. Askaban ist keine Erfahrung an die ich dachte, als ich dich losschickte."
„Ich danke Euch, Sir", verbeugte sich Lachlan noch einmal höflich.
„Du darfst jetzt gehen. Einen schönen Tag noch und herzlichen Dank."
„Ich habe zu danken. Sir. Ma'am. Guten Abend."
Der junge Mann verließ den Raum, wobei er die Elfe zurück ließ, die wie in Trance einfach nur dastand und in den Raum schielte.
Mr Banefactor nahm die Elfe auf, setzte sie auf seine Knie, gab ihr eine riesige Tafel Schokolade in die Hand und schob ihr diese dann in den Mund. Die Elfe begann mechanisch daran zu lutschen.
Mr Banefactor ließ ihr Zeit. Erst als sie ihre Umwelt wieder wahrzunehmen schien, begann er vorsichtig zu fragen.
„Was hast du denn in Askaban gemacht, Patsy?"
„Auftrag des Meisters ausgeführt, Meister. Patsy hat auf kleinen Meister aufgepasst."
„Tarsuinn McNamara war in Askaban?"
„Ja. Patsy wollte ihn beschützen, aber…"
Die Hauselfe schüttelte sich.
„Es tut mir Leid, Meister. Ich weiß nicht, was mit kleinem Meister geschehen ist. Vielleicht ist kleiner Meister tot und alles ist Patsys Schuld."
Große Tränen liefen dem kleinen Wesen die Wangen herunter. Die Elfe biss sich schluchzend auf die Zunge.
„Ihm geht es gut", warf Gloria ein. „Ich hab ihn vor ein paar Stunden gesehen. Er ist im Übrigen wieder völlig normal."
„Oh, das freut Patsy sehr", erklärte die Elfe und dies schien mehr zu helfen als die Schokolade.
„Er ist wieder normal?", fragte Banefactor erfreut.
„Definitiv."
„Wieso?"
„Keine Ahnung. Er kam heute mit jemandem ins Ministerium und nach dem Provokationstest ging er ein Eis essen."
„Noch bevor er seine Eltern getroffen hat?"
„Anscheinend."
„Das ist überraschend", murmelte Banefactor und wandte sich dann wieder an Patsy. „Erzähl mir, was passiert ist. Du warst lange nicht hier."
Daraufhin erzählte die kleine Elfe stockend ihre Geschichte. Wie die Schwester des Jungen bezaubert worden und dann dem Entführer gefolgt war. Wie sie versucht hatte den Entführer aufzuhalten, aber genau in diesem Augenblick von zwei Mädchen betäubt wurde. Wie sie danach einfach nach Askaban teleportiert war und zusammenbrach.
„Warum bist du denn überhaupt dorthin gegangen?", fragte Banefactor, nachdem die Elfe geendet hatte.
„Patsy wollte nicht schon wieder den kleinen Meister verlieren und beweisen wie unnütz und ungeschickt sie ist. Patsy hatte Angst, dass kleiner Meister ohne Einhörner schutzlos sein würde."
„Was haben die Einhörner damit zu tun?", fragte Banefactor und war plötzlich aschfahl im Gesicht. Eine Veränderung, die selbst der Elfe aufzufallen schien.
„Meister, ist Euch nicht gut?"
„Alles bestens, Patsy. Bitte beantworte meine Frage."
Für einen kurzen Moment schien die Elfe sich weigern zu wollen, dann senkte sie den Kopf.
„Als Patsy ihn das erste Mal verlor, da sagte seine Freundin Patsy, dass er im Wald wäre und die Einhörner ihn beschützen, weil sie ihn lieben."
Die Gestalt ihres Meisters glitt zurück und veränderte sich zu seiner normalen, grausigen Gestalt. Diesen Grad der Unkonzentriertheit hatte Gloria noch nie bei ihm erlebt.
„Meister, Ihr seht wirklich nicht gut aus. Patsy holt schnell Tee."
„Nein. Ist schon gut. Du hilfst mir mehr, wenn du hier bleibst."
„Ja, Meister."
„Gut, Patsy. Erinnere dich. Hast du jemals den Zauberstab des Jungen gesehen?"
„Ja, Meister."
„Welche Farbe hatte er?"
„Schwarz."
Banefactor dachte einen kurzen Moment nach.
„War es schwarzes Holz oder nur schwarze Farbe?"
„Farbe."
„Hast du den Stab jemals berührt?"
„Nein, er hat ihn nie in seinen Sachen gelassen und immer mit ins Bett genommen."
„Hast du jemals gesehen, dass den Zauberstab irgendwer anders berührt hat und wenn auch nur mit der Fingerspitze?"
„Nein."
Wieder versank Banefactor in kurzem Schweigen. Seine Augen waren entrückt und trotzdem fast fiebrig. Gloria konnte seine Gedanken rasen sehen.
Die Elfe auf seinem Knie biss in die Schokolade und schaute ihn groß und ein wenig ängstlich an. Dann sprang sie herunter, kniete vor dem Meister hin und presste die Stirn gegen den Boden.
„Meister, Ihr fragtet Patsy einst, ob Patsy frei sein möchte. Patsy möchte jetzt frei sein."
Jetzt war es an Gloria erstaunt zu sein. Bisher war sie eher von Banefactors Reaktion verwirrt, doch jetzt machte sie sich Sorgen. Die Elfe wusste zwar fast nichts von dem, was ihr Meister tat, dennoch, wer wusste schon, was sie so nebenbei aufgeschnappt hatte?
Seltsamerweise war es die Bitte der Elfe, die ihren Meister wieder von seinen Gedanken ablenken konnte.
„Du möchtest frei sein, Patsy?", fragte Banefactor freundlich. „Oder möchtest du nur frei sein einen anderen Meister zu wählen?"
„Ihr habt es Patsy angeboten", bettelte die Elfe verzweifelt.
„Und ich habe das Angebot niemals zurückgezogen. Ich möchte nur, dass du mir vorher erklärst warum und mir versprichst, niemandem von deiner Zeit in meinen Diensten zu berichten."
„Patsy verspricht es", sagte die Elfe sofort.
„Und warum möchtest du meine Dienste verlassen?"
Die Elfe schluckte und schaute flehend zu ihrem Meister auf.
„Patsy liebt kleinen Meister sehr. Patsy möchte ihn für immer beschützen. Patsy ist glücklich in seiner Nähe."
„Und mich magst du nicht?"
„Meister war immer freundlich zu Patsy und nachsichtig und nett und…und…
„Aber?"
„Meister macht Patsy Angst", gestand die Elfe zitternd. „Meister ist verf…verändert. Nicht richtig. Patsy fürchtet um kleinen Meister, weil Meister interessiert ist."
„Und du möchtest ihn auch vor mir beschützen?"
„Patsy möchte nicht gegen Meister kämpfen, aber für kleinen Meister würde sie es."
Gloria glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Das hatte sie eben nicht wirklich aus dem Mund einer Hauselfe gehört.
„Es wird niemals nötig sein, Patsy", sagte Banefactor zu Glorias Überraschung stolz lächelnd. „Ich verspreche dir, ihm wird nie ein Leid von mir zugefügt werden. Ich werde dich jetzt freigeben."
Er wedelte einmal kurz mit dem Zauberstab und in seiner anderen Hand erschien eine Tasche, die wie für einen Elfen geschaffen schien.
„Hier drin ist Kleidung, die dich befreit, und ein wenig Geld für deinen Anfang, Patsy."
Banefactor hielt der Elfe die Tasche hin, welche sie mehr als nur zögerlich ergriff. Gloria glaubte einen blauen Schimmer um das kleine Wesen zu sehen, der von der Auflösung des Bindungszaubers stammen musste.
„Ich hoffe, er wird dich in seine Familie aufnehmen, Patsy", sagte Banefactor und klang dabei ehrlich. „Und jetzt, wo du frei bist, versprich mir eines: Beschütze den Jungen so gut du kannst."
„Mit allem was Patsy kann."
„Selbst wenn es dein Leben kosten sollte?"
„Patsy ging nach Askaban!", erklärte die Elfe voller Stolz und selbst in Glorias Vorstellung war dies eine verdammt gute Antwort. Ein wenig der Unterwürfigkeit von Patsy schien verschwunden, wenn auch noch immer Unsicherheit und ein ziemlicher Mangel an Selbstvertrauen aus ihren Augen strahlte.
„Gehabt Euch wohl, Mr Banefactor", sagte die Elfe und verbeugte sich tief vor ihrem ehemaligen Meister. „Patsy wird Euch immer in guter Erinnerung behalten."
„Du bist hier immer willkommen, solltest du oder dein kleiner Meister Hilfe brauchen."
„Ich werde daran denken", versprach die Elfe, schnippte mit dem Finger, verschwand – und erschien wieder an der Tür, gegen die sie in etwa einem Meter Höhe geprallt war. Mit hochrotem Kopf öffnete sie die Tür und dann hörte Gloria sie über den Gang davonlaufen.
„Fidusy", sagte Glorias Meister lächelnd in den Raum. „Bitte bring sie sicher nach Hogsmeade und rate ihr, in Hogwarts auf ihren neuen Meister zu warten."
Die Tür schloss sich wieder von alleine und es wurde still. Glorias Meister stand auf und schritt langsam im Raum auf und ab. Ihn jetzt zu stören war nicht sonderlich klug und so wartete sie, bis er bereit war aus seinen Gedanken wieder in die Realität zurückzukehren. Dies dauerte eine gute dreiviertel Stunde.
„Warum bist du hier, Gloria?", fragte er unvermittelt, so dass sie ein wenig zusammenzuckte. Sie hatte gerade gedanklich die Möglichkeit geprüft, was wäre, wenn Lucy auch die Freiheit wählen würde.
„Ach, das hab ich ja fast vergessen", murmelte Gloria halb abwesend. „Ich hab Glenndary gefunden."
„Schön, ich werde sofort veranlassen, dass man sie zu uns einlädt."
„Und ich vermute mal, das wollen Sie garantiert nicht", meinte Gloria und lächelte breit. Es war sehr schön auch mal diejenige zu sein, die die Informationen hatte.
„Warum?", fragte Banefactor und setzte sich endlich wieder.
„Weil ich sah, wie der kleine McNamara sie umarmt hat. Sie wirkten sehr vertraut miteinander. Zumindest war er deutlich netter zu ihr, als zu seinen Eltern."
„Das ändert natürlich einiges", sagte er und warf ihr einen ironischen Blick zu. „Weit mehr, als du vielleicht ahnst."
„Erklären Sie es mir."
„Warum nicht", lachte er. „Weißt du noch, worauf du Mrs Glenndary für mich damals angesetzt hast?"
Gloria musste nur kurz nachdenken.
„Auf diesen Mythos. Die Unberührbaren Zauberstäbe. Sie hat uns sehr viele Informationen verschafft."
„Ja, das hat sie. Aber inzwischen bin ich mir sicher, dass sie uns auch sehr viel vorenthalten hat. Vorausgesetzt, meine Theorie stimmt", er machte einen nachdenkliche Pause. „Sieh, Gloria, was ich seit Jahren suche, ist ein natürlicher Benutzer für einen dieser Unberührbaren Zauberstäbe. Es ging mir niemals wirklich um den Zauberstab – höchstens um ihn einem dieser natürlichen Benutzer geben zu können. Ich weiß, du glaubst, dass es weder das eine noch das andere gibt, aber ich bin davon überzeugt."
„Ich habe noch keinen Beweis gesehen, der mich eines Besseren belehren könnte."
„Ich schon", seine Augen blitzten schalkhaft. „Auf einer meiner Reisen – bevor ich den Fehler machte Grindelwald zu suchen – begegnete ich auf dem Balkan einem alten Mann mit einem silbernen Zauberstab. Er war der Leiter einer Schule, die sich Schule für höchste Magie nannte. Man konnte dort für eine astronomische Gebühr, und nach einer Aufnahmeprüfung, s Dinge erlernen, die weit über normales Schulwissen hinausgingen. Meine Eltern waren nicht arm und so konnte ich dort studieren. Ich hab dort Zauber und Tricks erlernt, die mir noch immer jeden Tag helfen. Doch am meisten beeindruckte mich dieser alte Zauberer, der mit seinem silbernen Zauberstab Dinge wie aus einer anderen Welt anstellen konnte. Dabei sah er immer wieder so überrascht über seine eigene Kunst aus, dass ich in meinem jugendlichen Leichtsinn glaubte, es wäre der Zauberstab und nicht der Mann, der all das zustande brachte.
Ich beschloss den Stab zu stehlen.
Drei Monate bereitete ich mich vor, knackte unzählige Schlösser, betäubte den alten Zauberer mit einem Trank und griff zu seinem Zauberstab. Aber sobald ich den Stab berührte, schleuderte mich eine unglaubliche Kraft gegen die Wand. Davon wachte der alte Zauberer trotz des Betäubungstrankes auf und bevor ich mich auch nur aufrappeln konnte, flog der Zauberstab in seine Hand und er gab mir eine magische Tracht Prügel, bei der kein Zweifel mehr bestand, wer der Meister der Magie war. Obwohl mir fast Hören und Sehen verging, fiel mir auf, dass er meinen herumliegenden Zauberstab nicht berührte, sondern mit dem Stiefel zu mir kickte, als er mich endlich gehen ließ."
Mr Banefactor lächelte, als wäre dies eine seiner schönsten Erinnerungen.
„Der Witz war, nach diesen Geschehnissen musste ich die Schule nicht verlassen, sondern wurde gar mit einem Sonderstatus bedacht. Nachher erfuhr ich, dass fast jedes Jahr ein Schüler versuchte, was ich versucht hatte und ich bis dahin am weitesten gekommen war. Am Ende meines zweiten Halbjahres rief er mich dann zu sich."
Glorias Meister wedelte kurz mit seinem Zauberstab. Es wurde dunkel im Raum und die Hälfte eines fremden Zimmers materialisierte in der Mitte der Bibliothek in voller Größe.
In zwei Sesseln saßen sich ein junger und ein alter Zauberer gegenüber. Beide hielten große Cognacschwenker in ihren Händen in denen eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte. Während der ältere Mann völlig entspannt schien, saß der jüngere ein wenig steif da. Interessiert betrachtete Gloria ihn. So also hatte Mr Banefactor in seiner Jugend ausgesehen. Groß, dunkeläugig und die schwarzen Haare mit viel Fett nach hinten gekämmt, war er nicht gerade kräftig, aber doch irgendwie gut aussehend. Er wirkte ein wenig exotisch, südländisch und seine Augen zeigten eine Tiefe, die sie wie einen dunklen Brunnen erscheinen ließen.
„Du fragst dich sicher, warum ich dich hergebeten habe, Silvio?", fragte der alte Zauberer freundlich. Die Falten um die Mundwinkel zeigten einen bartlosen Mann, der oft lächelte, während zwei Furchen auf der Stirn von Sorgen und Nachdenklichkeit zeugten.
„Ich bin mir sicher, Ihr werdet es mir erklären, Herr", erwiderte der junge Banefactor beherrscht.
„Oh, das werde ich und ich werde mich beeilen, schließlich willst du zurück zur Abschiedsparty."
„Eile ist nicht notwendig, Herr."
„Du hast keine Freunde dort, nicht wahr?"
„Nein, Herr."
„Auch das wird ein Thema sein. Doch trink. Du hast es dir verdient", sagte der alte Zauberer und lächelte hintergründig. „Oder fürchtest du, ich möchte dich vergiften?"
„Ich bin gut vorbereitet hierher gekommen, Herr", versicherte der junge Zauberer und nahm einen viel zu großen Schluck. Seine Augen begannen zu tränen.
„Gut, dann denke ich, ist es an der Zeit dich zu warnen, Silvio", fuhr der Alte noch immer lächelnd fort. „Du hast versucht, dich meines Zauberstabes zu bemächtigen. Du denkst vielleicht, dass dies dich beinahe getötet hätte, aber ich versichere dir, hättest du den Zauberstab nehmen können, du hättest den Raum nie lebend verlassen. Ja, Silvio, ich sehe es an deinen Augen, du willst ihn noch immer und ja, es ist möglich, doch der Preis, den du dafür zahlen musst, ist es nicht wert und es würde dich zu meinem Feind machen. Schau,…"
Der alte Mann holte seinen silbernen Zauberstab hervor und der junge Banefactor wurde ein wenig kleiner in seinem Sessel.
„…dies ist nur ein Werkzeug. Der meine ist der Dosenöffner für Links-, der deine für Rechtshänder. Könnten wir tauschen würden wir nicht mehr bewirken, als zuvor. Du hättest noch immer Schwierigkeiten mit Schildzaubern und ich könnte nicht apparieren."
„Bin ich hier, damit Sie mir das sagen konnten, Herr?"
„Nicht nur, Silvio. Ich möchte dir jetzt und hier einen Rat geben, denn du bist machtgierig, verschlossen und egozentrisch. Lass dies bleiben. Geh nach Hause. Such dir eine interessante Arbeit, Freunde und eine Frau. Zeuge unzählige Kinder. Werde ein Großvater, der seine Enkel verwöhnt und verzieht, wie es halt die Aufgabe von Großeltern ist. Dies wird dich glücklicher machen als alles andere. Nutze deine Fähigkeiten nicht zum Streben nach Macht und irgendwelchen Dingen, die nicht für dich gemacht sind."
„Sind Sie jetzt fertig, Herr?", fragte der junge Zauberer unverschämt und gelangweilt.
„Gleich. Ich werde dir jetzt eine sehr konkrete Warnung geben – nein, genauer gesagt ist es eine Drohung. Solltest du jemals einem Einhorn ein Leid zufügen, werde ich das erfahren und dich vernichten. Zu deinem eigenen Wohl! Ich werde nicht zögern. Ich werde kein Mitleid haben. Ich werde dir nehmen, was dir am wertvollsten ist. Vergeh dich an einem Einhorn und du gibst dich in meine Hand. Denk an diese Worte."
„Ich werde daran denken, Herr", sagte der junge Banefactor und es klang eher, wie: Ich werde entsprechende Vorkehrungen treffen.
„Da bin ich sicher, Silvio. Du glaubst immer alles vorhersagen und planen zu können. Doch das Leben hält sich nicht daran. Es geschehen seltsame Dinge, die niemand erwarten kann. Schau dir diesen Zauberstab an, schau ihn dir genau an!"
Gloria stand auf und ging näher an die Illusion heran. Genauso beugte sich auch der junge Zauberer vor.
„Dies, Silvio, ist ein Geschenk von einer Mutter an ihre Kinder. Kein Raub, kein Leid hat diesen Zauberstab erschaffen. Kein Baum gab einen Ast, kein Wesen starb dafür. Er wurde geschaffen mit Liebe für die eigenen Kinder, nicht für Mörder. Berühr ihn!"
„Das möchte ich nicht, Herr."
„Ich sagte: Berühr ihn!"
„Ich habe meine Lektion…"
„Berühr ihn!"
Selbst Gloria zuckte bei der plötzlichen Lautstärke und der Macht zusammen, obwohl dies nur eine Illusion war. Fasziniert sah sie zu, wie sich eine Hand ausstreckte, den Stab berührte…
Die Szene veränderte sich. Gloria stand plötzlich in einer wütenden Muggelmenge.
Tötet die Schlächterin.
Verbrennt die Hexe.
Solche und ähnliche Rufe hallten durch die Nacht. Die Menge stand mit Fackeln vor einem schlossähnlichen Haus und man versuchte mit einem improvisierten Rammbock die Eingangstür aufzubrechen.
„Schau dich um, Gloria", sagte die Stimme des alten Mr Banefactors.
Sie tat es und erblickte etwas abseits eine minimal jüngere Ausgabe des alten Zauberers aus der Erinnerung ihres Meisters.
„Schaut!", rief einer der Muggel. „Da ist sie."
Gloria drehte sich wieder herum und sah, wie eine Balkontür sich öffnete und eine wunderschöne, aber kalt blickende Frau im Morgenmantel erschien. Die Menge war plötzlich ganz ruhig. Eine Stille der Angst.
„Ihr Ungeziefer wagt es, mich des Nachts zu wecken und mich anzugreifen", fauchte die Frau. „Meine Strafe wird grausam sein und jetzt beginnen."
Sie zog einen Zauberstab hervor – er glänzte silbern im Mondlicht – und richtete ihn auf die Menge.
„Crucio", rief sie ohne mit der Wimper zu zucken und zielte offensichtlich auf ein kleines, bezopftes Mädchen, dessen Mutter sich sofort schützend dazwischen stellte. Doch kein Muggel schrie. Nur die Hexe auf dem Balkon wurde lauter.
„Stupor!"
Wieder nichts. Gloria schaute sich um und entdeckte den alten Zauberer, wie er einen ständigen Strom von Beschwörungen zu der Hexe hinaufschickte. Den silbernen Zauberstab im Ärmel verborgen.
Oben auf dem Balkon wurde die Frau immer nervöser. Die Muggel hatten wieder begonnen die Tür aufzurammen und erste Fackeln flogen Richtung Balkon und Fenster. Die verwirrte Hexe griff nach unten, holte einen Besen hervor, schwang sich auf ihn, hob ab und fiel schreiend in die Menge, als der Besen versagte.
Gloria war dankbar, dass die vielen Menschen vor ihr verbargen, was mit der Frau nun geschah. Nur ihre Schreie waren deutlich zu hören.
Ihre und die der Muggel.
Für die Leiden meiner Frau.
Sie hat mit diesem Crucio…
Die Szene verblasste und Gloria war wieder in der Bibliothek zurück. Noch einen kurzen Moment sah sie den alten und den jungen Zauberer und hörte noch eine paar Worte.
„Töte ein Einhorn, benutze einen solchen Zauberstab und du begibst dich in meine Hand, Silvio."
„Ich habe verstanden, Herr."
Dann endete die Illusion.
„Ich wünschte, ich hätte nicht nur auf seinen letzten Rat gehört", sagte Mr Banefactor leise.
„Und ich wünschte, ich hätte die Sache etwas ernster genommen", gestand Gloria.
„Damals wollte ich, dass du denkst, ich würde nur Mythen jagen."
„Aber was bedeutete das?"
„Dies kommt darauf an. Glaubst du, dass Mrs Glenndary den kleinen Tarsuinn wirklich mag?"
„Ich hatte den Eindruck."
„Dann solltest du dafür sorgen, dass sie eine freie Frau bleibt und dem Jungen helfen kann."
„Warum denken Sie, sie könnte McNamara helfen?"
„Weil ich glaube, dass sie es war, die ihm seinen Zauberstab gegeben hat. Einen silbernen, wie ich mir sicher bin."
„Und was bedeutet dies wiederum für uns?"
„Möglichkeiten, Gloria. Ungeahnte Möglichkeiten."
Toireasa
Schon seit zwei Tagen war Toireasas einwöchiger Hausarrest vorbei, die Uhr zeigte fast zwölf Uhr mittags und sie lag immer noch im Bett. Sie hatte auch heute nicht vor aufzustehen. Das lag nicht an dem Hausarrest, sie verdiente ihn und sie hatte jedem Wort Großmutter Caitlins zugestimmt, als sie Toireasa erklärte, warum sie alles gleich hätte erzählen sollen. Anscheinend war jedes Geschenk von ihrer Stiefmutter mit einem Auffindungszauber versehen gewesen, den jeder erwachsene Zauber problemlos hätte erkennen können. Nach dieser Enthüllung hatte sich Toireasa noch schlechter gefühlt und sie wollte niemanden mehr sehen. Die Stunden in Askaban hatten ihr viel Kraft geraubt und es war, als hätte man einen wichtigen Teil von ihr weggenommen. Aber die schlimmsten Verletzungen hatte ihr ihre ehemalige Stiefmutter zugefügt. Nicht mit ihren Lügen, sondern mit der Wahrheit. Sie hatte ihr den Vater aus ihrer Vorstellung genommen (die Erinnerungen war eh schon von Filius angekratzt) und durch einen noch schlechteren Menschen ersetzt. Sie hatte Toireasa zu einem Menschen gemacht, der nicht vollständig war und etwas besaß, was ihm nicht gehörte. Alle Spiegel in ihrem Zimmer hatte sie zerschlagen, die Rollläden waren heruntergezogen und meist hielt sie die Augen geschlossen.
Ein paar Mal war Großmutter Katrin bei ihr gewesen, hatte versucht Toireasa aufzumuntern und zu trösten, hatte ihr von Tarsuinns Eltern erzählt und wie gut es ihm ging – doch es hatte ihr nicht geholfen. Toireasa hatte nur gefragt, ob sich jemand darum kümmerte, dass Tarsuinn sein Augenlicht zurückbekam. Die Antwort war nein gewesen. Daraufhin hatte Toireasa einen Schreianfall bekommen, wobei sie jetzt nicht mehr wusste, was sie gesagt hatte. Warum begriff niemand, dass es ihr erst gut gehen würde, wenn der Fehler ihres Vaters korrigiert war? Dann würde sie ihm auch vergeben können.
Die Tür öffnete sich. Wahrscheinlich das Mittagessen. Toireasa hatte keine Lust auf ein weiteres verständnisvolles Gespräch und zog die Decke über den Kopf.
„Hallo, Toireasa", ließ die fröhliche Stimme Tarsuinns sie zusammenzucken. „Schönes Wetter draußen. Samuel will mit uns baden gehen. Kommst du mit?"
Wenn sie so tat, als würde sie schlafen, würde er sicher weggehen.
„Na, nicht wichtig. So schön ist das Wetter auch nicht", fuhr er fort und kam langsam näher.
Toireasa konnte nichts von Tikki hören, was bedeutete, er musste sich blind durch ihr unaufgeräumtes Zimmer tasten. Seine Hand berührte die Decke genau auf ihrem Hintern, wanderte das Bein hinunter und dann fühlte Toireasa, wie er sich auf das Bett setzte und ihre Füße ein wenig aus dem Weg schob.
Ansonsten tat er nichts. Die Zeit kroch quälend langsam dahin und unter ihrer Decke wurde es immer wärmer. Ein warmer Sommertag und zugedeckt sein, passte einfach nicht zusammen. Ein wenig verschwitzt, schob sie leise die Decke von ihrem Kopf und schaute zu dem Jungen. Er lag auf dem Rücken mit dem Oberkörper quer über ihrem Bett, die Beine hingen herunter auf den Fußboden und er schien an die Decke zu starren.
Sie drehte sich zur Seite und versuchte ihn wieder zu ignorieren. Doch das war nicht leicht. Der altertümliche Wecker auf dem Nachttisch zeigte an, dass schon über zwei Stunden ohne ein Wort vergangen waren und es fiel Toireasa immer schwerer den Mund zu halten. Sie hatte so viele Fragen an ihn und dass er sie jetzt nicht in Ruhe ließ, machte sie ein wenig zornig.
„Seit wann wusstest du es?", drangen die Worte aus ihr hervor, als hätten sie ein eigenes Leben.
Seine einzige Reaktion war zunächst nur, dass er die Augen schloss.
„Seit Dumbledore uns erklärte, was der Rubin wirklich ist", sagte er nach einigen Sekunden leise.
Sie versuchte sich an den genauen Wortlaut des Gespräches zu erinnern, versagte aber.
„Damals schon?"
„Yep."
Völlig unangebracht lächelte er bei der Erinnerung.
„Und du hast es Winona erzählt, mir aber nicht?"
„Winona hat es selbst herausgefunden. Sie wollte es dir erzählen, aber ich war dagegen."
„Sie hätte es mir trotzdem sagen sollen!"
„Sie musste mir versprechen die Klappe zu halten."
„Dann hättest du es mir sagen müssen!"
„Nein."
„Es geht mich genauso an wie dich selbst."
„Wenn du damit erwachsen umgehen könntest, würde ich dir zustimmen", lächelte er noch immer.
„Du hattest kein Recht für uns beide zu bestimmen."
„Mag sein. Du aber auch nicht."
„Doch, ich kann allein entscheiden, weil ich dich nicht schädige, sondern dir alles zurückgeben, was sowieso dir gehört."
„Toller Satz", meinte Tarsuinn ironisch. „Aber falsch."
„Da ist nichts falsch, das ist einfachste Logik! Du bekommst, was dir gehört!"
„Ich will es nicht. Der Verlust wäre zu groß."
„Hör auf so zu reden und hör auf an mich zu denken. Denk doch einmal nur, was es für dich bedeuten würde. Du könntest sehen. Deine Schwester, Hogwarts, den Ozean, einen Sonnenuntergang…"
„…eine blinde Toireasa."
„Denk nur an dich!", schrie Toireasa frustriert.
„Das tue ich", erwiderte er leise. „Das kannst du mir ruhig glauben."
Das verschlug Toireasa erst mal die Sprache.
„Aber du wünschst es dir doch…?", stammelte sie.
„Nicht zu jedem Preis", erklärte Tarsuinn.
„Du sollst nicht an mich denken!", forderte sie verzweifelt.
„Das tue ich nicht. Ich habe die ganze Zeit daran gedacht, wie es wäre sehen zu können, was ich verlieren würde – und wie schlimm es wäre dich zu sehen…"
Toireasa wollte ihn wieder anschreien.
„Halt die Klappe", fuhr er sie überraschend an. „Jetzt rede ich! Du denkst nur daran, dich wieder gut und rein zu fühlen. Aber so läuft das nicht. Begreif doch, ich liebe dich wie…wie eine Schwester. Wenn ich daran denke sehen zu können, dann macht es mich traurig, dass du dann blind bist. Ich könnte nicht glücklich sein. Und im Gegensatz zu mir, wärst du wirklich blind. Ich habe Tikki, mit der ich sprechen kann. Ich habe einen sechsten Sinn für Magie und Leben. Ich kann magische Bücher hören und normale Schrift mit den Fingern lesen. Ich habe einen Besen für Blinde. Und ich habe von dem großen Einhorn ein Geschenk bekommen, das ich nicht mal in Worte fassen kann. Ich bin nicht blind. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie man einen Blindenstock benutzt. Mit einem Blindenhund könnte ich nicht umgehen. Aber ich kann durch eine fremde Stadt gehen und werde mit niemandem zusammenstoßen. Und ich vermisse es nicht zu sehen, weil ich es nicht kenne.
Du hast gesagt, ich würde nur gewinnen und auch das ist falsch. All meine Sinne würden ihre Schärfe verlieren und eine meiner beiden besten Freundinnen würde blind durch die Welt wandeln. Weißt du, was ich mir immer gewünscht habe zu sehen? Dich beim Quidditch und wie ich ein Tor gegen dich werfe.
Außerdem würde ich die Großeltern verlieren, die sich mir eben erst geschenkt haben. Sieh es mal aus meinem Blickwinkel! Wenn wir unsere Augen zurücktauschen, verlierst du sehr viel, und ich mehr, als ich gewinne. Zusammen ist das für uns beide ein Scheißdeal! So, wie es momentan ist, ist es am besten. Nur dass ich meine Toireasa wiederhaben möchte, die mit uns Wasserbomben auf Jogger wirft, die mit zur Quidditch-WM kommt und mit der ich des Nachts durch die Große Halle fliegen kann."
In Toireasas Nase kribbelten die aufsteigenden Tränen.
„Ich könnte es lernen, so wie du", flüsterte sie.
„Es reicht doch, wenn ich es kann", meinte er und lächelte endlich wieder. „Aber vielleicht bringe ich es dir bei. Doch im Moment habe ich überhaupt keine Zeit dafür."
Toireasa konnte sich ein: „Warum?", nicht verkneifen. Sie wusste, er hatte es darauf angelegt, aber wie sollte man anders reagieren?
„Weil meine Ferien die brutale Folter sind", erklärte er und sah dabei so glücklich aus, dass man seine Worte nicht ernst nehmen konnte. „Wenn ich nächstes Schuljahr mit euch in dieselbe Klasse will, dann muss ich jetzt alles nachholen. Professor Lupin – ähem, Professor ist er eigentlich nicht mehr – gibt mir jeden Vormittag Unterricht und ich bezahle ihn mit Essen und Wolfsbanntrank so gut ich kann…"
„Wie geht's denn dem Professor?", unterbrach sie neugierig.
„Nicht wirklich gut. Es gibt ein neues Anti-Werwolfgesetz. Offiziell um die Verbreitung des Werwolffluches einzudämmen, weil diese armen Kreaturen selbst nicht verantwortungsbewusst genug sind und in der Allgemeinheit eine gefährliche Verharmlosung der Gefahren zu bemerken ist. Im Grunde ist es aber nichts weiter als eine Verdrängung sämtlicher Werwölfe aus dem Leben und ihren Berufen. Statt einfach jedem Werwolf kostenlos den Trank anzubieten, gibt es jetzt Vorschriften über die korrekte Beschaffenheit des Sicherheitskerkers, der nicht nur in dem Privatbereich liegen muss, sondern auch an der Arbeitsstelle. Außerdem muss jetzt jeder Werwolf bei seiner Einstellung angeben, dass er ein Werwolf ist und er darf jederzeit einfach so gekündigt werden. Desweiteren machen sie den Arbeitgeber für jede Verfehlung ihres angestellten Werwolfes verantwortlich, auch wenn er gar kein Wolf ist, wenn er Mist baut. Und von solchen sinnlosen und diskriminierenden Schutzmaßnahmen gibt es noch einige mehr. Im Endeffekt ist es nichts anderes als ein Berufsverbot, denn wer kann es sich schon leisten, für die Taten eines Werwolfes verantwortlich gemacht zu werden? Na ja – wenn Rica es sich leisten könnte, würde sie Lupin sicher auf ewig anstellen."
„Warum tut sie es nicht?", fragte Toireasa.
„Weil wir pleite sind und Schulden haben", meinte Tarsuinn fröhlich. „Wir haben unser ganzes Geld, und einiges geborgtes von deinen Großeltern, für die Freiheit von Dour und Nathana ausgegeben. Meine nächsten Schulbücher werden gebraucht und vom Ministerium bezahlt sein."
So langsam merkte Toireasa, wie viel sie die letzte Woche über verpasst hatte und wie sehr sie sich nach Informationen sehnte.
„Sind Dour und Nathana deine Eltern?", erkundigte sie sich.
„Anscheinend", erwiderte er ein wenig reserviert.
„Warum nennst du sie dann nicht Mum und Dad?"
„Wir lernen uns gerade erst kennen."
„Und? Wie läuft es damit?", drängte sie.
„Nicht so schlecht", gab er widerstrebend zu und musste dann doch wieder grinsen. „Sie scheinen ganz okay und – na ja – um ehrlich zu sein, hat es mir geholfen zu merken, dass sie ganz und gar nicht perfekt sind."
Interessiert richtete sich Toireasa noch ein Stück auf, um das Gesicht des Jungen genauer sehen zu können. Im Grunde durchlebte er gerade ihren Wunschtraum – und seine Gefühle schienen sehr zwiespältig dabei zu sein.
„Weißt du, dass ich eigentlich, beinahe und doch nicht McAllister mit Nachnamen heißen müsste?"
„Nein", starrte Toireasa ihn ein wenig verblüfft an.
„Ja. Das hat auch das Geheimnis mit dem Meermenschen gelöst", sagte er augenzwinkernd. „Dour, Nathana und Rica hießen vor meiner Geburt McAllister und – nett gesagt – sie waren alle drei Trickbetrüger. Obwohl man Rica sicher unterstellen kann, dass sie nicht wusste, was sie tat. Zumindest haben sie damals leider auch irgendwann den Falschen übers Ohr gehauen – einen heimlichen Todesser, der inzwischen aber tot ist – und mussten fliehen. Sie waren so schlau auszuwandern, aber ein magischer Sturm hat dann ihr Schiff versenkt. Dann – wahrscheinlich will Gott nicht, dass kleine Kinder und schwangere Frauen sterben – wurden sie von Meermenschen gerettet."
Seine Augen begannen zu strahlen.
„Ich wurde dort geboren, Toireasa. Unten, irgendwo im Meer. Meine Paten waren ein Meermenschen-Ehepaar, das zu fast der gleichen Zeit auch ein Kind bekommen hat. Wir haben da fast zwei Jahre gelebt und laut Nathana bin ich mit Begeisterung geschwommen und getaucht noch bevor ich laufen konnte. Sie haben mich kaum aus dem Wasser bekommen und offensichtlich habe ich geglaubt, ich wäre selbst ein Meermensch. Doch als sie erfuhren, dass der ganze Mist mit den Todessern erledigt war, wollten Dour und Nathana wieder an Land. Aber nicht zurück nach England. Sie wollten ein neues Leben anfangen und sie wollten Rica und mir einen unbelasteten Namen geben. Die Meermenschen hatten mich McNamara genannt und weil es so gut passte, nahmen auch sie den Namen an. Wär alles anders gelaufen, würde ich also McAllister heißen."
„Das ist eine coole Geschichte", gab Toireasa ehrlich beeindruckt zu.
„Find ich auch", bestätigte er stolz. „Blöd ist nur, dass uns dies jetzt daran hindert, dem Tagespropheten die Geschichte mit den Dementoren zu stecken. Das Ministerium weiß wer Dour und Nathana wirklich sind und man hat ihnen nur in Anerkenntnis der speziellen Leidensgeschichte eine Amnestie auf Bewährung gewährt. Desweiteren dürfen sie nicht die Erziehung eines Kindes übernehmen, solange sie nicht ihre Fähigkeit zu einem ehrbaren Leben bewiesen haben und müssen versuchen, alle durch die Betrügereien angerichteten Schäden wieder gutzumachen. Der Zaubereiminister persönlich hat Samuel gesagt, dass sie sich gezwungen sähen, diese Bewährung auszusetzen, wenn ich meine Phantasie nicht in den Griff bekomme. Außerdem müsste man sich ernsthaft fragen, ob meine Squib-Schwester geeignet genug wäre, um mit einem so instabilen Zauberer wie mir klarzukommen."
„Das ist fiese Erpressung", beschwerte sich Toireasa empört.
„Natürlich ist es das. Aber was sollen wir tun? Weißt du…", gestand er leise. „…das mit Dour und Nathana hat mir am Anfang richtig Angst gemacht, aber inzwischen bin ich gern bei ihnen zu Besuch. Erst jetzt ist mir eigentlich klar, warum du so gehofft hast, dass S.K…ich wünschte, es wäre wirklich…"
„Es sollte wohl nicht sein", murmelte Toireasa traurig und musste schwer schlucken.
„Was hältst du davon…?", meinte Tarsuinn plötzlich energisch. „Jetzt, wo sich deine Großeltern zu meinen gemacht haben, vielleicht könnten meine El…Dour und Nathana auch für dich da sein."
„Meine Großeltern haben was!", fragte Toireasa erstaunt.
„Na ja – eigentlich hat nur Samuel", meinte Tarsuinn beiläufig. „Er meinte gestern Abend plötzlich, dass ich ja zu einem gewissen Prozentsatz zur Familie gehöre und er mich deshalb adoptiert."
Ob er wusste, was er Toireasa damit antat, indem er wieder auf seine Augen anspielte? Sein Gesicht zumindest zeigte kein Schuldbewusstsein, sondern war ungewöhnlich weich und offen. Ein Ausdruck, den er kein einziges Mal gezeigt hatte, als er von seinen Eltern erzählt hatte.
„Was meint Tikki zu deinen Eltern?", lenkte Toireasa das Gespräch weg von den schmerzlichen Gedanken.
„Sie ist eifersüchtig", gestand Tarsuinn. „Aber im Grunde hat sie nichts gegen sie. Ich schätze, sie hatte Angst mich zu verlieren – obwohl die Gefahr niemals besteht!"
Jetzt war sein Gesicht wieder hart und Toireasa fragte sich plötzlich, ob es sein konnte, dass Tikki für Tarsuinn eine höhere Priorität hatte als jeder Mensch. Mit Ausnahme von Rica vielleicht. Sie wusste nicht, ob ihr es gefiel unter einem Tier zu rangieren, aber vielleicht war das mit der besonderen Abhängigkeit des Jungen zu erklären. Wahrscheinlich würde es ihr an seiner Stelle…
„Du hast bisher nicht gefragt, wie meine Eltern uns in Indien in Schwierigkeiten gebracht haben", unterbrach Tarsuinn ihre Gedanken.
„Ich dachte, du erzählst mir eh nur was ich wissen muss", ätzte Toireasa ein wenig, aber eigentlich hatte sie nur nicht daran denken wollen.
„Heh, das ist der Teil, bei dem ich ehrlich stolz auf Dour und Nathana bin. Den musst du dir einfach anhören, weil Dumbledore gesagt hat, dass es anscheinend stimmt. Dour und Nathana haben wirklich ein Geheimnis der indischen Zaubereiregierung verraten. Und zwar eine Zauberformel, die dafür sorgte, dass etwa fünfzig Prozent aller Muggel keine Kinder mehr bekommen können. Anscheinend waren einige Zauberer dort der Ansicht, dass zu viele Muggel relativ zum Land und der Anzahl der Zauberer heranwuchsen. Dour und Nathana haben die Spruchformel geklaut und an Zauberer und Hexen gegeben, die eine Gegenformel entwickelt haben. Dadurch schlug der Plan fehl und man wollte sich an den beiden rächen. An die Flucht kann sich Rica sogar vage erinnern. Sie wollten außer Landes flüchten, aber durch uns Kinder konnten sie nicht einfach disapparieren und so wurden wir geschnappt – mit den dir bekannten Folgen."
„Was haben sie mit deinen Eltern angestellt? Ich mein…du weißt schon."
„Oh", Tarsuinn schien die Frage nicht sonderlich zu stören. „Dour haben sie nichts direkt angetan. Aber damit hat er eigentlich Pech gehabt. Sie haben ihn in einer Mine arbeiten lassen. Seine Lunge ist ziemlich verätzt, sein Gehirn ist durch giftige Dämpfe geschädigt und seine Knochen sind so alt, wie von jemandem der doppelt so alt ist. Er hat manchmal heftige Zuckungen und verliert dabei die Kontrolle über seine linke Seite. Außerdem hustet er furchtbar. Nathana hingegen hat zwar mehr gelitten, aber jetzt geht es ihr viel besser. Man hat sie einer Großfamilie verkauft, ihr den linken Unterarm genommen und die sie als externen Antikörper benutzten. Sie…"
„Häh? Was meinst du damit?", fragte Toireasa schaudernd.
„Na ja – wenn irgendwer krank wurde, haben sie die Krankheit auf Nathana übertragen und die musste sie dann auskurieren. Sie musste alles von Malaria bis Drachenpocken durchmachen und manchmal auch Schlimmeres. Zumindest hat sie aber nun ihren Arm zurück, auch wenn sie ihn kaum benutzt. Sie ist einfach nicht mehr an ihn gewöhnt. Aber Medir meint, die Nachwirkungen werden sich über die Zeit abmildern, bei beiden."
„Wer ist Medir?", fragte Toireasa weiter und langsam überwältigte sie die Flut an Neuigkeiten.
„Ricas Lover", murmelte Tarsuinn und wurde ein wenig rot. „Wir wohnen jetzt bei ihm."
„Und?"
„Was und?"
„Wie ist es?"
„Anstrengend."
„Komm schon", drängte Toireasa. „Die ganze Zeit redest du wie ein Wasserschwall und jetzt lässt du dir jedes Wort aus der Nase ziehen?"
„Was soll ich denn sagen?", murmelte Tarsuinn. „Ich mag Medir. Er ist nett, hat mir das Leben gerettet und hatte dabei seine Hände tief in meinem Bauch. Sein Haus ist toll, seine Verwandtschaft okay und er liebt Rica wirklich. Aber…"
Er schauderte.
„Was?"
„Ich höre nachts zu viel", gestand er und wurde jetzt tiefrot.
Auch Toireasa, die nur minimale Kenntnisse ihr Eigen nannte, spürte diese Verlegenheit, die durch Unkenntnis und Neugier entstand.
„Rica versucht jeden Abend zwei Stunden lang mich mit echt hartem Selbstverteidigungstraining müde zu machen, damit ich als erstes schlafen gehe, aber das funktioniert meist nicht."
„Hast du schon versucht dir die Ohren zu verstopfen?", fragte Toireasa und lachte bemüht. „Außerdem musst du sicher deinen Raum verlassen, um sie hören zu können, oder? Zufall kann es also nicht sein, wenn du was mitbekommst!"
Konnte ein Kopf platzen, wenn zu viel Blut in ihn gepumpt wurde? Toireasa wusste es nicht, aber wenn Tarsuinn so weiter machte, würde sie es bald herausfinden.
„Egal!", meinte er nur und richtete sich von ihrem Bett auf. „Eigentlich bin ich ja nur hier, um dir das zu geben."
Er griff in einen kleinen Plastikbeutel, der unter ihrem Bett gelegen hatte, und zog einen seltsamen, bunten Gegenstand hervor.
„Schenk ich dir", sagte er lächelnd und reichte Toireasa dieses komische Ding. Es stellte sich als ziemlich schwer heraus.
„Was ist das?", fragte sie verwundert.
„Winona hat mir gesagt, du hättest Muggelkunde gewählt. Ich dachte, dies könnte dir gefallen. Man nennt das Wasserbazooka."
„Und was macht man damit?"
„Das!", entgegnete er, hielt unvermittelt auch so ein Gerät in der Hand und ein eiskalter Wasserstrahl klatschte ihr ins Gesicht. „Ach, ich sollte noch erwähnen, Samuel hat mit einem Zauber dafür gesorgt, dass das Wasser schön kalt bleibt und man viel seltener nachfüllen muss."
Ein weiterer Schuss aus Wasser ließ Toireasa quiekend unter der Bettdecke verschwinden. Dann versuchte sie sich zu wehren, nur kam aus ihrem Muggelgerät kein Wasser heraus.
„Das ist gemein!", beschwerte sie sich prustend. „Das funktioniert nicht."
„Muggelkunde Lektion eins!", lachte er und schob einen Schieber hin und her. Dann zielte er wieder auf Toireasa und drückte auf einen Knopf. Doch ab nun tat er dies nicht mehr ungestraft. Sie hatte begriffen und wenig später waren sie beide klatschnass und auch das Zimmer hatte einiges abbekommen. Es endete damit, dass Toireasa ihm seine Wasserbazooka entwand und sie herzhaft lachend nebeneinander auf dem Teppich lagen.
„Ich wette, Opa Samuel liebt diese Wasserdinger", kicherte Toireasa unbeherrscht und rang nach Luft.
„Ich hab ihn gestern erwischt, wie er Caitlin damit durch euren Garten gejagt hat", bestätigte Tarsuinn genauso lachend.
„Trotzdem war das eben gemein von dir", warf sie ihm gut gelaunt vor.
„Ich fand, du brauchst mal ein Dusche", entgegnete er verschmitzt. „Und dieser Ansicht ist meine Nase noch immer."
„Du weißt wirklich, was ein schönes Mädchen hören will", murmelte sie, roch aber selbst den Schweiß der letzten Tage.
Sein Lächeln verblasste ein wenig und ein wenig Unsicherheit schlich sich auf seine Züge.
„Ein schönes Mädchen hat für mich eine schöne Stimme, einen angenehmen Geruch und weiche Haut", flüsterte er.
Zunächst wollte Toireasa darauf schnippisch antworten, aber eine innere Stimme hielt sie zurück.
„Du hast aber mal gesagt, Rica würde schön aussehen", erinnerte sie ihn unsicher.
„Ich finde sie auch schön. Aber wenn man von Rica und den Geistern absieht, kenne ich nur die Gesichter von Mishari-chan, Luna und Winona. Und die finde ich auch schön. Nur – ich weiß gar nicht, was schön ist."
„Woher weißt du, wie Winona und Luna aussehen?", fragte Toireasa. Sie erinnerte sich, wie der Junge in seiner abwesenden Phase auf das verschlossene Ravenclaw-Mädchen reagiert hatte.
„Luna hat mir erlaubt ihr Gesicht zu lesen", erklärte er verlegen. „Im ersten Jahr. Auf der Abschlussparty. Wo ich noch dachte, es wäre mein letzter Tag in Hogwarts. Und Winona gestern, nachdem Fenella und sie mir einen Schutzgeist beschworen haben. Überraschung – er sieht wie ein Einhorn aus."
Eine lange Pause folgte. Warum hatte er niemals Toireasa nach ihrer Erlaubnis gefragt.
„Möchtest du…", begann sie.
„Dürfte ich vielleicht…", sagte Tarsuinn gleichzeitig.
Beide verstummten sie wieder.
„Du zuerst", bot sie an.
Tarsuinn war wieder rot geworden und sie selbst sah sicher nicht anders aus.
„Nun…ähem…Winona sagt…na ja…du wärst sehr hübsch und da wollte ich...dachte…"
Sie ergriff seine Hand und legte sie ganz vorsichtig auf ihr Gesicht.
Es war ein seltsames Gefühl, wie seine Fingerspitzen über ihre Haut glitten. Wie eine Liebkosung, nur fühlte es sich ganz anders an. Angenehmer und irgendwie gefährlicher. Ein wenig zitterte sie.
Erst als seine Hand an ihrem Hals die Abwärtsbewegung stoppte, wurde ihr bewusst, wie durchnässt ihr Pyjama war. Ein Junge, der hätte sehen können…
Es war zwar nicht viel zu sehen, aber man konnte inzwischen schon bemerken, dass Toireasas Körper sich veränderte. Ob Winona das Tarsuinn auch gesagt hatte? Sie presste die Lippen aufeinander. Was, wenn sie ihm erlaubte zu sehen? Sie hatte recht häufig William, Alec oder Merton dabei ertappt, wie sie älteren Mädchen auf den Busen geschaut hatten. Immer hatte sie die Augen verdreht und sich mit Winona darüber lustig gemacht, aber jetzt war da dieser Moment…
Tarsuinn zog seine Hand zurück.
„Danke! Du bist wirklich…", er schluckte schwer. „…wunderschön."
Dann verschwand langsam seine Verlegenheit und ein warmes Lächeln ergriff Besitz von seinem Gesicht.
„Was denkst du? Du duschst dich, ich mach was Leckeres zu essen und dann gehen wir mit den Bazookas deine Großeltern jagen."
„Klingt nach einem Vorschlag", meinte Toireasa, stand auf und war froh erst mal ein wenig Abstand zu ihm zu gewinnen.
Eine ausgiebige Dusche wusch dann sämtliche seltsamen Gefühle und schlechte Gedanken hinweg. Toireasa wusste zumindest die Gedanken würden wiederkommen, aber jetzt im Moment ließ sie das nicht zu. Trotz allem fühlte sie sich so gut, wie seit vielen Tagen nicht mehr. Allein Tarsuinn nicht mehr wie einen Zombie durch die Gegend wandeln zu sehen, machte sie froh.
Und dass er wieder als Koch agierte, machte die Sache noch besser. In der Küche erwartete Toireasa als Vorspeise Schokolade, als Hauptspeise Dessert und als Nachspeise kleine, in Honig und Mandeln gewälzte Kuchen. Wie immer jedoch hatte der Junge sich nicht überwinden können, etwas Englisches zuzubereiten. Dafür wurde Toireasa von Tikki stürmisch begrüßt, die heute jedoch auch ein wenig nervös wirkte und sich immer wieder aufmerksam umsah. Wenig später erfuhr Toireasa auch warum. Kaum war alles Geschirr aufgeräumt, gingen Toireasa und Tarsuinn auf die Jagd nach Opfern, was die kleine Mungodame mit einschloss. Doch sobald sie auf Toireasas Großeltern trafen, wurden die Jäger auch zu Gejagten. Wasserbazookas trafen auf Zauberstäbe und letztere zeigten sich als deutlich überlegen. Mit den Muggelgeräten konnte man nicht einmal um die Ecke schießen. Der Familiensitz der Holts war wenigstens recht groß und verwinkelt und man konnte sich gut verstecken. Trotzdem war Toireasa begeistert, als mitten im Spiel Filius auftauchte und aus Versehen von Samuel eingeweicht wurde, woraufhin sich ihr Pate auf die Seite der Kleinen schlug.
Natürlich konnte man dies nicht ewig spielen und da es irgendwann langweilig wurde, spielten sie ein altes Brettspiel, das Toireasa noch nicht kannte.
Im Grunde war es ganz einfach. Auf einem großen, schachbrettartigen Spielfeld kroch ein kleiner Glibberschleim über die einzelnen Felder. Am Anfang besaß Toireasa nur zwei Felder. Sobald der Schleim auf eines ihrer Felder kroch, musste man ihn mit einem Hammer plätten. Tat man das nicht oder erwischte ihn auf einem Feld, das einem gar nicht gehörte, sprang er einem ins Gesicht. Alles recht einfach, nur leider bekam man mit jeder Runde immer mehr Felder überall auf dem Brett zufällig verteilt. Desweiteren wurde auch der Schleim irgendwie glitschiger und gemeiner und wenn er einen zum fünften Mal erwischte, kroch er in den Nacken und man hatte verloren. Der Witz war, man bekam ihn erst los, wenn man die nächste Runde nicht auch verlor. Und das war überhaupt nicht einfach, denn dieses Glibberding rutschte einem immer im unpassendsten Augenblick das obere Rückgrat entlang. Es wurde viel gelacht und in einem unvergesslichen Moment wickelte sich der Schleim um Filius Kopf und furzte ein Kinderlied. Tarsuinn tat so, als würde er mit seinem Hammer versuchen, den Schleim zum Schweigen zu bringen. Viel zu früh musste der Junge nach Hause.
„Bleib doch noch", bat Toireasa.
„Geht nicht. Ich hab's Rica versprochen. Sie besteht auf dem Training."
„Kann ich nicht mitkommen, mitmachen?"
„Nein", lächelte er freudlos. „Das Training ist anstrengend geworden und – es tut mir Leid – ein Anfänger würde nur stören und sich wahrscheinlich auch verletzen."
„Aber ich denke, du darfst nur Thai-Chi-Chuan machen?", fragte Toireasa verwirrt.
„Das hat sich geändert", schüttelte er den Kopf. „Rica ist anscheinend jetzt der Ansicht, dass nicht die Welt vor mir, sondern ich vor der Welt beschützt werden muss. Und die einzige Sache, die sie glaubt für meinen Schutz tun zu können, ist praktische Selbstverteidigung."
„Aber bringt das was gegen Zauberstäbe?"
„Kommt darauf an wie nah man dran ist", gab er zu. „Aber ich werd Rica ganz bestimmt nicht darauf hinweisen. Zumindest lerne ich, mich zu ducken. Das solltest du auch mal versuchen. Du hast miese Reflexe für einen Torwart."
Mit einem frechen Grinsen trat er in den Kamin und warf das Flohpulver.
„Cutters Zuflucht", sagte er laut und deutlich und verschwand in grünen Flammen.
Für einen Moment fühlte Toireasa sich leer, doch dann wurde sie von ihren Großeltern und Filius wieder liebevoll in Beschlag genommen und ihre Liebe füllte Toireasas Seele mit Wärme. Es war gut, nicht allein zu sein.
Erst spät am Abend kehrte ein kleiner Teil der Dunkelheit zurück. Ihre Großeltern waren zu Bett gegangen und nur Toireasa (die mehr als ausgeschlafen war) und Filius waren noch wach. Still ließ sie den kleinen Glibberschleim über ihre Hände kriechen.
„Es wäre schön gewesen zu sehen, welche Spiele dein Vater noch entwickelt hätte", sagte Filius über die Stille hinweg. Toireasa ließ den Schleim fallen, als hätte sie sich verbrannt. Dann fegte sie das Ding auch noch vom Tisch.
„Deine Großeltern machen anscheinend wieder dieselben Fehler wie damals", sprach ihr Pate ungerührt weiter. „Sie denken, Zeit und Geduld würde dafür sorgen, dass du allein mit deiner Situation klar kommst."
„Ich komm damit auch alleine klar", entgegnete Toireasa fest.
„Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, dann weißt du, dass du jetzt nicht hier sitzen würdest, wenn dies wahr wäre."
„Ja, richtig. Aber jetzt…"
„…solltest du ein wenig über deine Eltern erfahren…"
„Ich weiß genug von meinem Vater."
„Nein! Du denkst, du weißt genug über deinen Vater, aber nicht einmal deine Großeltern wissen genug. Sie sind Eltern. Sie wollen nur das Gute in ihren Kindern sehen und dabei haben sie auch das Problem, dass sie ihre Kinder in einer sehr wichtigen Phase ihres Lebens nicht erleben."
„Wie meinst du das?", fragte Toireasa.
„Hogwarts. Es ist ein toller Ort, um erwachsen zu werden. Es ist der perfekte Ort um zu lernen und um ein selbstständiger Mensch zu werden – aber er trennt auch die Kinder von ihren Eltern und deren Einfluss. Im Guten wie im Schlechten. Bei dir war es zum Guten und auch bei deinem Vater. Er war am Ende ein guter Mensch."
„Wie kannst du denken, dass er ein guter Mensch war? Nach allem, was er getan hat."
„Weil ich deinen Vater kannte und das vielleicht besser als deine Großeltern. Sie kannten das Kind, ich den Heranwachsenden und deshalb weiß ich: Er war kein schlechter Mensch."
„Er hat Riesen – auch friedliche – getötet. Einem fremden Jungen Zauberkraft und Augenlicht nehmen lassen. Wer weiß, was er noch alles gemacht hat."
„Ach, Toireasa", seufzte Filius. „Man kann ein guter Mensch sein und doch alles im Leben falsch machen. Möchtest du vielleicht wissen, wie das sein kann?"
Toireasa nickte still.
„Gut, gut. Wo fange ich an?", sagte Filius ernst. „Am besten bei deiner Mutter. Wie du ja weißt, war sie schulisch nicht gerade die Hellste, wobei dies fast nur die Unterrichtsfächer betraf. Was sie jedoch auszeichnete, war eine gewisse Schläue und vor allem eine Art, die sie zu einem sehr beliebten Mädchen machte. Sie konnte mit einem Lächeln fast jeden um den Finger wickeln und das tat sie auch ziemlich berechnend. Man musste sie einfach lieben – oder man hasste sie von ganzem Herzen. Es gab Lehrer, die ihre Hausaufgaben besonders gründlich auf Abschreiben überprüften, denn wir wussten alle, dass sie meist den Klassenbesten dazu brachte, für sie zu arbeiten. Nachweisen konnten wir ihr dies aber nur genau drei Mal in den ganzen sieben Jahren. Ich hab dir ja schon von ihren Streichen und Anschlägen erzählt und wie viele davon schief gingen. Was ich nicht so genau erwähnt habe ist, wie harmlos all ihre Scherze waren. Nie tat sie etwas, was gefährliche Konsequenzen haben konnte. Ja, sie machte viele Fehler, aber nie kam jemand ernsthaft zu Schaden.
Dein Vater war ihr ähnlich, aber gerade in diesem Punkt ganz anders. Auch er wollte niemandem schaden, aber er durchdachte seine Pläne niemals richtig. So sperrte er einen Hufflepuff-Vertrauensschüler, der ihn zu Unrecht bestraft hatte, mit einem Verschlusszauber in eine Duschkabine ein und ließ das Wasser laufen, bis es die Kabine fast füllte. Danach – so war der Plan – sollte sich die Tür öffnen und den nackten Schüler auf den Gang spülen, sobald ein paar Mädchen vorbeikamen. So weit, so gut. Woran dein Vater nicht gedacht hatte war, dass der Junge nicht schwimmen konnte und beinahe ertrank. Trotzdem gab er nie seinen Fehler zu und ich hab erst nach der Schule von Samantha erfahren, dass er es wirklich gewesen war und deshalb große Schuldgefühle gehabt hatte. Er hatte heimlich versucht, es wieder gut zu machen.
Um ehrlich zu sein, als mir deine Mutter das nach ihrer Hochzeit erzählte, habe ihr das nicht geglaubt, aber inzwischen muss ich sagen: Es erklärte vieles, was danach geschah. Ich bin sicher, er gab sich die Schuld dafür, dass er zu Hause und in relativer Sicherheit Spiele entwickelte, während deine Mutter kämpfte und starb. Er wollte sicher Rache für ihren Tod, aber er wollte auch seine eingebildete Untätigkeit wieder gut machen. Anders kann ich mir seine tödliche Zielstrebigkeit nicht erklären. Doch gerade das war es wahrscheinlich auch, was dich erblinden ließ. Ich kann nur ahnen, wie er sich gefühlt haben muss, als ihm klar wurde, dass dies ohne wenn und aber sein Fehler war. Versuch zu verstehen, Toireasa, du warst sein einziges Kind, dass Einzige, was ihm wirklich von seiner Frau geblieben war – es muss verführerisch gewesen sein, alles wieder gut machen zu können."
„Indem man jemand anderem das Augenlicht nimmt? Er hatte kein Recht, dies zu entscheiden", flüsterte Toireasa.
„Natürlich nicht", beeilte Filius zu versichern. „Aber er war ein gebrochener Mann, als deine Mutter starb. Einen geliebten Menschen auf diese Art zu verlieren – ich kann nicht sagen, was das in einem anrichtet. Ich habe es zum Glück niemals erlebt. Aber ich weiß, was für ein glücklicher und fröhlicher Mann er geworden war, als er mit deiner Mutter zusammenkam. Kannst du mir sagen, wie du ihn in Erinnerung hast?"
Toireasa wollte nicht auf die Frage antworten. Ihre Erinnerungen waren vage, aber sie wusste, dass ihr Vater immer sehr liebevoll zu ihr gewesen war. Vielleicht sogar ein wenig überbesorgt. Was sich jedoch im Moment immer wieder in ihrem Kopf wiederholte, waren die Erinnerungen, die sie in der Nähe von Dementoren immer erleben musste. Sie konnte sich seit ihrem Besuch in Askaban an viel mehr erinnern. Wie ihr Vater mit versteinerter Mine in ihr Zimmer gekommen war, wie er angefangen hatte zu weinen, wie sie versuchte hatte ihn zu trösten, weil sie glaubte, sie wäre schuld. Es war die schlimmste Erinnerung ihres Lebens, denn ihr Vater hatte nichts gesagt, sondern sie nur voller Schmerz angesehen. Sie wusste nicht, was an diesem Abend wirklich geschehen war und die einzige Person, die vielleicht die Wahrheit kannte, war ihre Stiefmutter.
Bei dem Gedanken an Pádraigín Davian fühlte sich Toireasa seltsam zerrissen. Zum einen dachte sie wieder von ihr als Stiefmutter und zum anderen hasste sie die Frau jetzt richtig.
„Was passiert mit meiner Stiefmutter?", fragte Toireasa. „Sie hat mich belogen, bedroht und sicher ist sie es gewesen, die das Ministerium bestohlen hat."
„Das mag alles richtig sein,…", entgegnete Filius, nachdem er sie einen Augenblick nachdenklich angesehen hatte „…jedoch hat sie sich gut abgesichert. Als Eran und Caitlin sie vor einer Woche zur Rede stellen wollten, waren Ministeriumszauber anwesend. Unter sechs Augen hat Pádraigín dann gedroht, alle Verfehlungen deinem Vater und seiner Familie anzulasten, allgemein bekannt zu machen, was mit deinen Augen ist und sie könne auch bezeugen, dass Tarsuinn mit dem Mann weggegangen ist, der vor zwei Tagen tot an den Strand gespült worden ist."
„Aber das waren sicher die Dementoren!", entfuhr es Toireasa entsetzt über diese Kaltblütigkeit.
„Das wird wahrscheinlich auch so sein", widersprach Filius nicht. „Aber einer Leiche kann man nicht ansehen, ob man ihr zuvor die Seele ausgesaugt hatte oder ob ein Zauber sie ins Wasser stieß und ertränkte. Wenn niemand beweisen kann, was passiert ist, dann entscheiden Meinungen und es gibt sehr viele, die Tarsuinns Wildes Talent eher als Fluch sehen und ihm alles Schlechte zutrauen möchten."
„Pádraigín kann doch nicht einfach so davonkommen. Was ist mit den Leuten, die Tarsuinn und Rica so geschadet haben? Die ganze Transfersache! Was sollen wir dagegen tun?"
„Was wir können", erklärte Filius ernst. „Die Frage für dich sollte aber eher lauten, wie groß soll dein Anteil sein?"
„Ich versteh nicht?", sagte sie verwirrt.
„Toireasa, was glaubst du, kannst du ohne Augenlicht bewegen? Du willst es Tarsuinn zurückgeben, das ehrt dich, aber nützlicher bist du ihm und uns, wenn du sehen kannst."
Völlig perplex starrte Toireasa ihren Paten an. Eine solch berechnende Meinung hätte sie niemals von ihm erwartet.
„Starr mich nicht so an, als wäre ich eine Giftnatter", lachte Filius ein wenig gekünstelt. „Ich kann auch kaum glauben, dass ich dir das eben gesagt habe. Aber leider ist es die Wahrheit. Du fühlst dich Tarsuinn verpflichtet, doch wenn du blind bist, werden sich deine Möglichkeiten ihm zu helfen grundlegend ändern."
„Willst du damit sagen, ich wäre nutzlos?", fragte Toireasa verletzt.
„Nein. Ich möchte dir einfach nur sagen, dass du dann von einer aktiven Rolle absehen musst. Tarsuinn hat dir heute nicht erzählt, was in Askaban genau mit ihm passiert ist, oder?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Er wird es schon noch tun. Doch was du ja schon weißt ist, dass dieser Poltergeist hinter ihm her ist, die Dementoren ihn fürchten und dass da anscheinend noch jemand aus Indien ist, der ihm schaden möchte. Tarsuinn ist sich dem mehr bewusst, als er zeigt. Er würde dich nie in Gefahr bringen, wenn du hilflos bist."
Erst jetzt begriff Toireasa, dass Tarsuinn ihr vorhin das Selbe gesagt hatte – nur ein wenig indirekter. Darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Fehlte ihr auch der Sinn für Konsequenzen? Unwillkürlich dachte sie an ihren Traumtrank, mit dem sie die Ravenclaws damals hatte quälen wollen. Sie verdrängte die Erinnerung. Filius hatte Recht. Tarsuinn würde sie niemals mit in den Verbotenen Wald nehmen, wenn sie blind war. Selbst bei Erkundungstouren durch das Schloss, wäre sie eher eine Behinderung. Wahrscheinlich würden sie ab und an Toireasa trotzdem mitnehmen, aber sicher nicht, wenn es gefährlich werden konnte. Sie würde an der Hand gehen müssen, konnte niemandem helfen und würde im Weg stehen. Sie hatte den Jungen ein paar Mal hilflos erlebt und der Gedanke auf der anderen Seite zu stehen, wurde plötzlich unangenehm real.
„Sie würden mich immer zurücklassen", meinte sie niedergeschlagen.
„Das bezweifle ich doch stark", widersprach Filius zu ihrem Erstaunen. „Uns macht eher Sorgen, dass Tarsuinn dich trotzdem mitnehmen würde."
„Warum sollte er das tun?", fragte sie.
„Weil er anders ist, wenn es um Entscheidungen geht, Toireasa", erklärte ihr Pate ernst. „Hast du dich nie gefragt, warum Rica ihm gestattet hat, damals die Geisterhütte ein zweites Mal zu besuchen? Ja – ich weiß davon!"
Toireasa schüttelte den Kopf.
„Wenn Tarsuinn sagt, es ist etwas was er tun muss, dann glaubt Rica ihm das und stellt es nie in Frage. Stattdessen hilft sie ihm. Umgekehrt ist es genauso und ich denke, er würde dich auch so behandeln. Egal ob du blind bist oder nicht, wenn du ihm sagst: Ich kenne das Risiko und ich gehe mit, dann wird er dich mitnehmen, denn er geht davon aus, dass du weißt was du kannst und dich selbst am besten kennst. Ich vermute mal, auch das ist einer der Gründe, warum er nicht seine Augen zurück will. Nur so kann er dich und sich selbst vor einer solchen dummen Aktion bewahren."
„Aber die Augen gehören ihm", flüsterte Toireasa niedergeschlagen.
„Er hat deinen Großeltern gesagt, er hätte sie dir schon vor einem Jahr geschenkt", sagte Filius und streichelte tröstend ihren Arm. „Und dass er es nicht bereut. Tarsuinn meinte, dass Muggel auch Nieren oder gar die Augennetzhaut anderen Muggeln spenden."
„Tarsuinn ist jedoch nicht gefragt worden."
„Doch. Professor Dumbledore hat ihn vor einem Jahr gefragt. Vielleicht etwas zu spät…"
„Professor Dumbledore hat ihn gefragt?", platzte Toireasa dazwischen.
„Ja, ich dachte, das hat Tarsuinn dir erzählt. Bevor sie den Rubin zu Rica brachten."
„Darum hat er sich irgendwie gedrückt", nuschelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Aus seiner Sicht ist das wahrscheinlich unerheblich, Toireasa. Entscheidend für ihn ist, dass er sich freiwillig dazu entschieden hat, als er die Wahl hatte."
„Hat er diese Entscheidung nie bereut?", fragte Toireasa und wusste, dass diese Fragen eigentlich nur Tarsuinn beantworten konnte.
„Sicher nicht", schüttelte Filius überzeugt den Kopf. „Zum einen, weil jeder Rubin nur drei Siegel lösen kann und vielleicht gerade das Siegel für seine Augen Rica das Leben rettete."
„Und zum anderen?"
Filius schaute einen Moment sinnend vor sich hin.
„Ein seltsamer Satz von Professor Dumbledore. Nachdem er mir von Tarsuinns heimlichem Geschenk an dich erzählt hat, meinte er: Vielleicht war es auch die Ironie zu leben, weil er blind war, die ihn diese Entscheidung treffen ließ. Weißt du, worauf er sich bezogen haben könnte?"
Toireasa konnte nur den Kopf schütteln.
„Er erzählt mir nicht alles."
„Er erzählt dir mehr als den meisten anderen", Filius lachte jetzt ein echtes Lachen. „Ich weiß nicht, ob ich dich dafür bemitleiden oder beneiden soll."
„Ich weiß es auch nicht, Onkel Filius", gab Toireasa zu. „Ich weiß es auch nicht."
Sir Oliver
„Trink auch! Es wird dein Leben verändern und dir die Tür zu völlig neuen Möglichkeiten öffnen. Niemand wird es mehr wagen, dich als gering zu erachten."
Ein silberner Becher mit einer ebenso farbigen Flüssigkeit wurde zu Lippen geführt…
…weit entfernt im fernen London, begann ein Junge zu weinen und wusste nicht genau warum.
Hallo,
ich will hiermit alle Leser nur informieren, dass Band 3 der Geschichte nun auch hier bei online gegangen ist.
Sie heißt „Die Geheimnisse der Narren".
s/2575309/1/Die-Geheimnisse-der-Narren
Ihr werdet sie schon finden.
Viel Spaß hoffentlich auch weiterhin.
Rikki-Tikki-Tavi
