Kalt und
weiß glitzert der Schnee im Mondlicht. Die Wolken seines Atems
werden vom Wind davongetragen. Die stummen Grabsteine um ihn her
strahlen einen sonderbaren Frieden aus. Denn Tod bedeutet Frieden.
Frieden und keine Gedanken mehr. Vielleicht ist er deshalb hierher
gekommen. Um seinen Entschluss zu stärken. Seit Christine fort
ist, hat sein Leben keinen Inhalt und kein Ziel mehr. Alles ist
bedeutungslos ohne sie.Ein plötzliches Geräusch reißt
ihn aus seinen Gedanken. Ein lautes Seufzen und das Rascheln von
Stoff. Er fährt herum. Mitten auf dem Weg, vor einem kleinen,
verwitterten Grabstein entdeckt er einen Haufen schäbiger,
abgetragener Röcke, unter dem ein Paar durchgelaufener Stiefel
hervorschaut.
Lange steht er nur da und starrt. Der Wind spielt
mit den geflickten Kleidern, und hin und wieder bläst er eine
Strähne langen, schwarzbraunen Haares auf. Dann, ohne es
wirklich zu wollen, geht er zu dem Mädchen hinüber.
Sie
muss lange auf demselben Fleck ausgeharrt haben, ehe sie
zusammenbrach, denn der Wind und der Pulverschnee, den er von den
Bäumen fegt, haben ihre Spuren verwischt. Zögernd beugt er
sich über sie. Das schwarzbraune Haar umrahmt ein ausgemergeltes
Gesicht mit großen Augen und hohen Wangenknochen. Ihre Lippen
sind blaugefroren, das spitze Kinn darunter vom rauen Stoff ihres
Schals gerötet. Ein halbes Kind.
Er schnaubt.
So dünn
wie sie ist, liegt ihre letzte anständige Mahlzeit lange zurück.
Der Tod durch Erfrieren ist einer der Angenehmsten. Ab einem gewissen
Punkt spürt man die Kälte nicht mehr. Der Geist beginnt,
einem Wärme vorzugaukeln, wo keine ist. So murmelt er in
Gedanken vor sich hin, während er sich aufrichtet, und in
Richtung des nahen Friedhofstors davongeht. Auf halbem Weg bleibt er
stehen und dreht sich noch einmal nach ihr um.
Ein halbes
Kind...
Ach was.
"Ach was!" er spricht es laut aus
und seine Hände ballen sich zu Fäusten. Wen sollte es schon
kümmern, wenn sie hier erfriert, allein, auf dem Friedhof? Läge
sie dort, wenn es einen Unterschied machte, ob sie lebt oder nicht?
Macht überhaupt irgendetwas irgendeinen Unterschied? Das Leben
ist nicht mehr eine endliche Folge von Illusionen und Enttäuschungen,
und je eher es endet, desto besser ist es. Er tut ihr einen Gefallen,
wenn er sie einfach dort liegen lässt. Tote haben keinen Hunger.
Tote müssen nicht betteln. Außerdem soll man der Natur
nicht ins Handwerk pfuschen.
Entschlossen
wendet er sich ab und setzt seinen Weg fort. Doch schon nach wenigen
Schritten bleibt er wieder stehen. Wäre es denn ein solcher
Aufwand, seine Pläne um ein paar Tage zu verschieben? Wie lange
würde es schon dauern, sie aufzupäppeln? So jung wie sie
ist, wird sie sich schnell erholen. Er lacht bitter. Dann hätte
er auch jemanden, dem er seinen Besitz vermachen könnte. Und
wäre es nicht die trotzigste Ironie, wenn er, das Monster, der
Mörder, im letzten Akt seines Lebens einem armen einsamen
Mädchen ein Leben in Wohlstand schenkt?
Mit ihrem
schwarzbraunen Haar sieht sie Christine nicht im Geringsten
ähnlich...
Das
Erste was sie spürt, als sie erwacht, ist Wärme. Der
stechende Schmerz in ihren Gliedern ist verschwunden und einem sehr
angenehmen Gefühl gewichen. Ist es so, wenn man tot
ist?
Vorsichtig öffnet sie die Augen, verzieht das Gesicht
und seufzt enttäuscht. Nein, sie kann nicht tot sein, kein Gott
wäre so grausam, ihr diese Dunkelheit auch nach dem Sterben noch
aufzuzwingen. Also...Mit flinken Fingern erkundet sie ihre Umgebung,
sie findet eine sehr weiche Matratze und eine Daunendecke, die
unsagbar gut duftet. Sie kann sich nicht daran erinnern, wie lange es
her ist, dass sie in einem richtigen Bett geschlafen hat - ganz
allein. Aber wo ist sie und warum ist sie nicht mehr auf dem
Friedhof? Ihr Herzschlag beschleunigt sich plötzlich und pocht
nun so heftig, dass ihr jeder einzelne Schlag im Kopf dröhnt.
Sie reibt ihre schmerzenden Arme, die nun nicht mehr steif gefroren
sind. Verflucht, warum ist sie bloß hier? Vorsichtig richtet
sie sich auf und lauscht. Seltsame, fremde Geräusche... Es
klingt, als würde in einer großen Halle ein Feuer
prasseln.
Und da ist noch etwas: Sie ist nicht allein. Sie ist
nicht in ihrer Wohnung, sondern in einem fremden Haus und
irgendjemand muss sie hierher gebracht haben. Erschrocken fährt
ihre Hand an ihre Brust. Aber sie ist noch vollkommen bekleidet. Wer
auch immer sich ihrer angenommen hat, er scheint ihr nichts Böses
angetan zu haben... noch nicht. Jemand seufzt... ein schweres
Seufzen, in dem eine tiefe Traurigkeit liegt.
Sie ist
nicht so vermessen, zu glauben, dass derjenige sich Sorgen um sie
macht. Niemand sorgt sich um Félicie, solange sie etwas zu
Essen erbetteln kann. Ihre rechte Hand findet ihren Stock, den sie
nun wie eine Waffe mit beiden Händen umklammert hält. Beim
Aufstehen spürt sie den kalten Fußboden... es müssen
Steinplatten sein, denkt sie sich, als sie ihre steifen Beine zwingt,
sich zu bewegen.
Sie muss
wissen, wer sie vom Friedhof geholt hat und warum. Und sie muss
wissen, wer im Nebenzimmer so voller Trauer ist.Nach einer Weile
entdeckt sie eine Tür und öffnet sie. Im selben Augenblick
verstärken sich die Geräusche. Das Knistern des Feuers wird
lauter, so dass sie fast schon glaubt, dessen Wärme zu spüren.
Und obwohl das Schluchzen verstummt ist, weiß sie, dass die
Person sich nicht von ihrem Platz bewegt hat.
Leise
räuspert sie sich, während ihr ganzer Körper vor
Aufregung zu zittern beginnt.
"Wo bin ich?" ist die
erste Frage, die über ihre Lippen kommt.
Das leise
Klappern von Holz gegen Holz lässt ihn zusammenzucken. Er
braucht eine Sekunde, um sich zu erinnern... Ach ja, das Mädchen.
Hastig setzt er seine Maske ab und wischt sich das Gesicht trocken.
Natürlich; das erste, was sich offenbart, sind die Fehler, die
er gemacht hat. Er wird erst wieder gänzlich ungestört
sein, wenn das Mädchen gesund und munter die Straßen von
Paris hinunterhüpft! Obgleich ihm kein guter Grund einfällt,
warum er sie nicht sofort wieder vor die Tür setzten sollte,
wenn sie ihm zu lästig wird. Etwas anderes würde die
Menschheit ohnehin nicht von ihm erwarten.
Knurrend erhebt sich
Erik und geht zur Tür hinüber, um sich einem weiteren
erschrockenen, fragenden oder neugierigen Starren auf seine Maske zu
stellen.
"Sie sind in einem Haus, Mademoiselle." er gibt
sich keine Mühe, freundlich zu klingen "Können Sie das
nicht sehen?"
Wütend
über die Art des Fremden mit ihr zu reden, versteifen sich
Félicies Züge. Sie presst die Lippen fest aufeinander,
bis nur noch eine dünne weiße Linie bleibt. Warum hat er
sie überhaupt hierher gebracht, wenn er sie jetzt so behandelt?
Sollte er auf die Idee kommen, ihr Gewalt anzutun, wird sie sich
jedenfalls mit Händen und Füßen wehren! Auch wenn er,
seiner Stimme nach zu urteilen, viel größer und stärker
ist als sie.
Aufmerksam lauscht sie seinen Schritten, wie er ihr
immer näher kommt. Sie hört sein Atmen und sie spürt
überdeutlich, dass ihm ihre Anwesenheit ganz und gar nicht recht
ist. Was sie wieder zu der Frage zurückbringt, warum er sie
überhaupt mit sich genommen hat.
"Nein, das kann ich
nicht sehen." Ihre Stimme klingt merkwürdigerweise viel
stärker, als sie sich fühlt. "Warum haben Sie mich
hierher gebracht?" ergänzt sie etwas leiser.
Irritiert
verlangsamt Erik seine Schritte und bleibt schließlich ganz
stehen. Aus der Distanz beobachtet er, wie das Mädchen seinen
Kopf schief legt, beinahe wie Ayesha, wenn sie aufmerksam lauscht.
Und endlich versteht er. Sie ist blind. Interessant...
"Sie
sind auf dem Friedhof ohnmächtig geworden. Hätte ich Sie
liegen lassen, wären Sie erfroren." antwortet er kühl,
während er sich wieder in Bewegung setzt. "Jetzt sagen Sie
mir..." dicht vor ihr hält er wieder an und beugt sich
leicht vor, um ihn ihre trüben Augen zu starren "... soll
ich Sie zur Tür oder zu einem Frühstück führen?"
Sie spürt
seine Nähe, er steht unmittelbar vor ihr – und diese Nähe
ist ihr unheimlich, trotz seiner wunderschönen Stimme. Er
scheint ein eindrucksvoller Mann zu sein, geht es ihr durch den Kopf.
Und obwohl in seiner Stimme ablehnende Kälte liegt, muss er ein
guter Mensch sein, denn immerhin hat ihr das Leben gerettet. Sie
atmet seinen Geruch ein. Ein Seifengeruch, aber nicht stark genug, um
unangenehm zu sein; und er trägt ein neues Hemd, das noch
niemals gewaschen wurde. Ein vollkommen anderer Geruch, als der von
den Hemden ihres Vaters.
Ohne
Zweifel ist er reich, und dem seltsamen Nachhall aller Geräusche
nach zu urteilen, muss seine Wohnung riesig sein. Nur langsam kommt
sie zur Besinnung und runzelt die Stirn."Bitte hören Sie
auf mich so anzustarren, Monsieur! Meine toten Augen mögen für
Sie interessant sein, aber ich mag das Gefühl nicht, beobachtet
zu werden."
Ertappt
richtet Erik sich auf und tritt einen Schritt zurück. Gegen
seinen Willen liegt ihm eine Entschuldigung auf der Zunge, doch er
bleibt stumm. In seinem Haus wird er sich bei niemandem
entschuldigen. Erst recht nicht bei einer halbverhungerten
Straßengöre, die ohne sein Zutun längst beinhart
gefroren wäre. Ärgerlich faltet er die Arme vor der Brust
und heftet seinen Blick auf die Hand des Mädchens, die den
Blindenstock umklammert.
"Nun...?"
Sein
unausgesetztes Unbehagen stört Félicie, aber sie
beschließt, nicht weiter wegen ihres Hierseins nachzuhaken.
Irgendwie ist sie sich sicher, dass es sehr unangenehm werden kann,
wenn man die Geduld ihres Gastgebers übermäßig
strapaziert...
"Nun
sollte ich Ihnen wohl danken, dass Sie mich nicht haben erfrieren
lassen." Der wiedergewonnene körperliche Abstand zu ihm,
hat sie wieder entspannt.
Ein paar unsichere Schritte von ihm
entfernt tastet sie mit den Fingerspitzen die Wand in ihrem Rücken
ab. Stein... aber er fühlt sich nicht so hart und kalt an, wie
die Steinwände, die sie bisher berührt hat. Jemand muss ihn
mit viel Liebe bearbeitet haben. Und da hängt ein Wandteppich...
Nun ist sie vollkommen überzeugt: ihr Retter ist ein reicher
Mann. Vielleicht ein Graf oder etwas in der Art. Noch nie zuvor haben
ihre Finger ein solch kostbares Gewebe berührt.
Plötzlich
knurrt ihr Magen so laut, dass er es unmöglich überhören
kann, und sie erinnert sich daran, dass sie seit Tagen nichts mehr zu
essen bekommen hat. Zögernd dreht sie sich zu ihm um.
"Das
mit dem Frühstück, haben Sie das wirklich ernst
gemeint?"
Erik schnaubt.
"Warum sollte ich meine Zeit
damit vergeuden wollen, kleinen Mädchen falsche Hoffnungen zu
machen? Kommen Sie." Mit einem unzufriedenen Blick auf ihr
schmutziges geflicktes Kleid geht er an ihr vorbei durch die Tür.
Vielleicht sollte er sie doch erst baden lassen und ihr saubere
Kleider geben? Er will gar nicht wissen, welche Parasiten sie mit
sich herumträgt und nun in seinem sauberen Heim verteilt. Auch
riecht sie recht aufdringlich, und ihr ganzer jämmerlicher
Zustand erinnert ihn schmerzhaft an die Zeit, als er in diesem...
diesem Käfig leben musste.
Das
rhythmische Klappern ihres Blindenstocks sagt ihm, dass sie seinen
betont lauten Schritten folgt. So dreht er sich nicht nach ihr um,
als er erklärt: "Nach dem Frühstück werden Sie
sich waschen und frische Kleider anziehen."
Félicie
verkneift sich einen wütenden Kommentar, immerhin hat er ihr ein
Frühstück versprochen. Aber lange wird sie sich das nicht
gefallen lassen, soviel steht fest. Kann sie sich zusammenreißen,
bis sie gebadet hat? Der Gedanke an warmes, sauberes Wasser lockt
genauso stark wie das Essen. Wann hat sie zuletzt richtig gebadet?
Und er wird zweifelsohne ein großes Badezimmer haben.
Der
Duft des Frühstücks lenkt ihre Gedanken wieder vom Baden
fort. Dieser Hunger... Sie folgt den Schritten des Mannes, die vor
ihr her den Raum verlassen, um einen nächsten zu betreten. Auch
dieser Raum muss ein halber Palast sein, wenn sie nach dem Hall gehen
darf. Und da ist noch ein anderes Geräusch, das sie erst nicht
zuordnen kann. Noch jemand bewegt sich in diesem Raum. Sie bleibt
stehen, stützt sich auf ihren Stock und wartet. Es widerstrebt
ihr, den Raum ohne das Einverständnis ihres Gastgebers zu
erkunden, aber sie traut sich noch nicht, ihn um Erlaubnis zu bitten.
Stattdessen lauscht sie auf seine Schritte, und das andere Geräusch.
Dann lacht sie leise auf.
"Sie haben eine Katze!"
"Sie
heißt Ayesha." antwortet Erik. Und im Vorbeigehen nimmt er
seine krallenbewehrte Freundin auf den Arm. Zu deutlich ist ihm ihre
Reaktion auf Christine im Gedächtnis geblieben.Die Katze an
seine Schulter gepresst, hebt er die Servierhauben von den Schüsseln
auf dem Tisch.
"Sie
können wählen zwischen Rührei mit Speck und Crêpes
mit einer Sauce aus warmen Früchten." erklärt er, sich
dem Mädchen wieder zuwendend. "An Getränken kann ich
Ihnen Orangensaft, Milch und heiße Schokolade anbieten. Ich
rate Ihnen, langsam zu essen, Ihr Körper ist nicht an große
Mengen Nahrung gewöhnt, und Sie wollen sicher nicht gleich
wieder alles von sich geben. Ich werde Ihnen nun ein Bad einlassen
und Kleider für Sie bereitlegen. Warten Sie hier auf mich."
Damit verlässt er das Esszimmer wieder, bevor das Mädchen
noch etwas sagen kann.
Als er
fort ist, atmet sie erleichtert auf. Schade ist nur, dass er die
Katze mitgenommen hat, bevor sie Gelegenheit hatte, ihn zu fragen,
wie sie zu einem solch seltsamen Namen gekommen ist. Ayesha - sie hat
diesen Namen noch nie gehört. Ob ihr Gastgeber wohl die Welt
bereist hat? Sie kräuselt die Nase als ihr bewusst wird, dass
sie ihn bisher nicht einmal nach seinem Namen gefragt hat. Dann zuckt
sie gleichgültig mit den Schultern. Na und, er hat sich auch
nicht für ihren interessiert.
Sie seufzt. Das muss ein Traum
sein. Das Essen duftet verführerischer, als alles was sie den
letzten Jahren gerochen hat. Vorsichtig nähert sie sich dem
Tisch und fühlt sich mit einem Mal überglücklich. Es
ist, als wäre sie im Himmel. Noch nie hat sie solche
Köstlichkeiten vor sich stehen gehabt und durfte zwischen ihnen
wählen. Sie kann sich nicht einmal erinnern, ob sie überhaupt
jemals gewürztes Rührei mit Speck gegessen hat Das Wasser
läuft ihr bei den vielen Gerüchen im Mund zusammen, als sie
sich setzt. Ihre letzte warme Mahlzeit liegt noch viel länger
zurück als das letzte vertrocknete Stück Brot. Und sie kann
sich nicht daran erinnern, jemals zuvor solche Gewürze gerochen
oder gar geschmeckt zu haben. Zuhause war selbst der Gebrauch von
Salz und Pfeffer eine Verschwendung. Unschlüssig schnüffelt
sie.
"Crêpes oder Rührei... Rührei oder
Crêpes...", summt sie leise, bis sie sich dazu
entschließt, von jedem ein wenig zu versuchen. Wer weiß
schon, wann sie das nächste Mal die Gelegenheit hat, so gutes
Essen zu probieren.
Sie seufzte leise auf, als sie den ersten
Bissen Ei in den Mund schiebt. Es schmeckt einfach göttlich.
Erst als ihr Magen so voll ist, dass sie das Gefühl hat, beim
nächsten Bissen zu platzen, beginnt sie, sich über die
lange Abwesenheit ihres Gastgebers zu wundern. Sie lauscht in die
Stille... auch die Katze ist nicht zurückgekommen. Ihre Hände
legen sich zitternd auf die Tischplatte. Sie hasst es, allein
gelassen zu werden.
Mit einem
beinahe erschöpften Seufzen lässt er sich auf Christines
Bett fallen. Seine knochigen Hände kämmen durch Ayeshas
Fell, bis das Tier entnervt nach seiner Hand schnappt und von seinem
Schoß springt, um sich mit beleidigtem Ausdruck auf Christines
Toilettentisch zu putzen. Sein Blick streift wenig erfreut Christines
ehemals blütenweißes Kopfkissen, auf dem nun deutlich
Schmutz vom Gesicht des Mädchens zu sehen ist. Knurrend erhebt
er sich, um frisches Bettzeug aus Christines Wäschetruhe gleich
neben ihrem Schrank zu holen.
"Verflucht!"
seine Faust trifft die Schranktür. Warum kann er nicht aufhören,
an sie zu denken? Sie ist fort! Fort für immer! Und er wird auch
bald fort sein! Für immer! "Du hättest es längst
tun sollen." schimpft er leise mit sich selbst "Gleich
nachdem sie gegangen ist. Stattdessen..." wütend zerrt er
das schmutzige Laken von der Matratze "... stattdessen holst du
dir aus einer Laune heraus ein verlaustes Mädchen von der Straße
ins Haus!"
Als das
Rauschen des Wasserhahns in Christines geräumigem Bad
widerhallt, erlaubt er sich, laut zu werden.
"Du
hast ja nicht einmal den Mut, nach ihrem Namen zu fragen! Was wirst
du jetzt tun?... Hast du etwa gedacht, es würde dir besser gehen
wegen ihr? Hast du gedacht, sie würde auch nur für einen
Moment die Leere füllen? Hast du gedacht, dein Leben würde
dir nicht mehr so verschwendet vorkommen, wenn sie dir für ihre
Rettung dankbar ist?" Wenn ihr Name auch nur mit C beginnt, wird
er sie auf der Stelle vor die Tür setzen. Seufzend nimmt er
seine Maske ab und reibt sich die Augen.
"Gott,
ich brauche meine Nadel..."
Mithilfe
ihres Stockes gelangt sie aus dem Esszimmer in einen schmalen Gang.
Sie presst die Lippen aufeinander, als sie aus dem Zimmer vor ihr
seine Stimme und das Rauschen des Badewassers hört. Er scheint
wütend zu sein, auch wenn sie seine Worte nicht verstehen kann.
Ob sie der Grund dafür ist? Ob er es bereut, ihr geholfen zu
haben?
Seufzend nähert sie sich der Tür, lauscht und
klopft schließlich zaghaft.
"Monsieur?
Ist alles in Ordnung?"
Als er das
Bad verlässt, steht plötzlich das Mädchen vor ihm.Mit
einem erstickten Laut wendet er sich ab, um seine Maske wieder
aufzusetzen. Sei ganzer Körper erwartet einen Schrei, ein
Keuchen, Geräusche einer überhasteten Flucht vor ihm, dem
Monster. Doch nichts geschieht. Erst als er sich zaghaft wieder zu
ihr dreht, realisiert er, dass sie, wenn sie blind ist, auch sein
Gesicht nicht sehen kann. Erleichtert atmet er aus.
"Hatte
ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen im Esszimmer warten?" fährt
er dann das Mädchen an und steuert eilig auf die Tür zu. Er
spürt seinen Hunger nagen. Morphinhunger.
Félicie
runzelt die Stirn.
"Habe ich Sie erschreckt?" fragt sie
leise. Sie legt den Kopf schief und lauscht auf die Geräusche,
die sein Hemd bei jeder Bewegung macht. Er muss eine anmutige Art
haben, zu gehen, denkt sie. Doch gleichzeitig macht sie sein rasches
Atmen nervös. Vielleicht sollte sie sich besser vor ihm in Acht
nehmen.
"Sie haben mich nicht erschreckt." knurrt er das Mädchen über seine Schulter an. "Die Wanne ist voll. Ein sauberes Kleid liegt für Sie auf dem Bett." Und schon schließt er die Tür zu Christines Zimmer hinter sich.
Morphium.
Es ist erbärmlich, wenn ein Mann seines Kalibers wegen wenigen
Milligramm einer Substanz den Kopf verliert. Oder wegen einer
Berührung.Christine. Dieser eine Kuss war pures Glück, das
ihn wie ein Blitzschlag durchzuckte. Christine. Er kann immer noch
ihre Lippen spüren, ihre Hände. Christine Daaé...
Christine Chagny...Als die Droge durch seine Adern zirkuliert,
gleicht sich seine Gefühlslage etwas aus.
"Das
Mädchen hat dein Gesicht nicht gesehen. Es hat sich nichts
geändert." Langsam reibt er mit einer Hand über seinen
Nacken. "Sie hat keine Angst vor deinem Gesicht. Sie wird immer
noch mit dir sprechen, als wärest du genau so ein Mensch wie
sie." Mit einem Ruck erhebt er sich und tauscht seine Vollmaske
gegen eine bequemere, die seinen Mund frei lässt. Ihm ist nicht
wohl, als er seine Zimmertür aufschließt und auf den Flur
heraustritt. Doch er zwingt sich, vernünftig zu sein. Sie kann
ihn nicht sehen. Sie ist blind!"Sei nicht albern."Und
mit festen Schritten geht er ins Esszimmer hinüber, um die Reste
ihres Frühstücks abzuräumen.
Wütend
ballt sie die Hand zur Faust und schlägt damit gegen die
geschlossene Tür vor sich. Warum lässt er sie jetzt schon
wieder allein. Merkt er denn nicht dass sie seine Gesellschaft sucht?
Dass sie mit ihm reden möchte? Ihm danken will?Andererseits
versteht sie selbst nicht, warum sie sein Gehen plötzlich so
verärgert, wenn sie doch noch vor ein paar Minuten froh war,
dass er ihr nicht zu nahe gekommen ist. Er ist ihr unheimlich. Wieder
hört sie diese seltsamen Geräusche, ein Tröpfeln...
Sie
schüttelt den Kopf und stößt mit dem Stock gegen die
Tür vor sich. Sie ist wieder in dem Zimmer, in dem sie erwacht
ist, aber der Geruch sagt ihr, dass etwas anders ist... Langsam
tastet sie sich an der Wand entlang, schnüffelt... Ein Sekretär
steht vor ihr... sein Holz fühlt sich weich und gepflegt an.
Nicht zum ersten Mal fragt sie sich, ob sich der Mann ganz allein um
diese große Wohnung kümmert. Sie hält inne... Blumen,
irgendwo stehen Blumen. Sie kann sie genau riechen, es sind Rosen.
Ihre Hand nähert sich zaghaft dem Gegenstand, der diesen Duft
ausströmt. Doch obgleich sie die Vase nur sanft berührt
hat, verliert sie – scheinbar vollkommen überladen – das
Gleichgewicht und fällt laut scheppernd zu Boden. Félicie
beißt sich auf die Lippen. Wenn diese Vase nun sehr kostbar
war... Sie beginnt zu zittern.
In
Windeseile ist er in Christines Zimmer und starrt düster erst
auf die Scherben und die Überschwemmung, dann auf das vor Angst
blassen Mädchen.
"Würden Sie jetzt bitte einfach
ins Badezimmer gehen und sich waschen." presst er mit kaum
unterdrückter Wut hervor, die Hände zu Fäusten
geballt.
Sein Tonfall und ihr Bauchgefühl sagen ihr, dass es eindeutig besser wäre, zu tun, was er von ihr verlangt. Dennoch ist sie nicht in der Lage, sich zu rühren. Ängstlich wendet sie den Kopf zu ihm und schluckt schwer."Verzeihen Sie Monsieur... ich wollte das wirklich nicht... ich... Ich kann das aufräumen...", stottert sie hilflos und beugt sich langsam nach unten, um nach den nassen Tonscherben zu greifen. "War das ein Erinnerungsstück?"
"Nein! Gehen Sie einfach ins Bad und werden Sie Ihr Ungeziefer los!" Unsanft fasst er das Mädchen am Oberarm, schiebt sie ins Bad und knallt die Tür hinter ihr zu.Christine hat diese Vase geliebt. Sie hat sie aus ihrer eigenen Wohnung hierher gebracht, um sich heimischer zu fühlen. Sie war ein Hoffnungsschimmer, ein Symbol für Christines guten Willen. Und dieses unmögliche Straßengör hat sie zerbrochen! Mit Mühe unterdrückt der den Drang, gegen die Tür zu schlagen. Stattdessen knurrt er: "Wenn Sie fertig sind, nehmen Sie das Kleid vom Bett und verschwinden!"
Seine Augen brennen, als er neben der immer größer werdenden Wasserlache auf die Knie sinkt und die Scherben aufsammelt. Ein ungeheures Verlustgefühl bemächtigt sich seiner, als hätte mit der Vase auch noch der letzte Hauch Christines sein Haus verlassen.
Hinter
Félicies Augen und Schläfen beginnt es zu pochen. Sie ist
schon oft beleidigt worden und es macht ihr nichts mehr aus, wenn man
denkt sie habe Ungeziefer. Aber dass er sie so grob herumschubst,
geht wirklich zu weit. Woher hätte sie den wissen sollen, dass
diese verdammte Vase ein so wichtiger Gegenstand für ihn war!
Sie hat schon früh gelernt, sich nicht an Besitztümer zu
klammern, denn Besitz ist vergänglich und am Ende kann man froh
sein, wenn einem die Kleider am Leib bleiben. Sie presst die Lippen
fest aufeinander und versucht, die aufsteigenden Tränen zu
unterdrücken.
Für
ein paar Minuten nur hat sie sich wirklich glücklich gefühlt,
hat gedacht, ein guter Mensch habe sich ihrer angenommen und sie
vorübergehend aus dem Elend erlöst. Aber nun sind da nur
noch Wut und Angst. Das Bad ist ihr egal, das Kleid ist ihr egal. Es
wird ohnehin viel zu kostbar sein, als dass sie es da draußen
tragen könnte. Auf der Straße, wo sie hingehört. Ja,
sie gehört auf die Straße, er hat ihr gezeigt dass auch er
nichts anders in ihr sehen kann, als ein ungebildetes Straßenmädchen,
das bedauerlicherweise auch noch blind ist.Das Maunzen der Katze
lässt sie innehalten. Scheinbar hat sie sich bei dem Sturz der
Vase aus Angst hierher zurückgezogen. Langsam lässt sich
Félicie auf die Knie sinken und tastet nach dem Tier. Sie
spürt, dass es zögert, aber schließlich schmiegt es
sich an sie.
"Ist er zu dir auch so schrecklich gemein?"
fragt sie leise. Die Katze schnurrt wohlig und reibt den Kopf an
Félicies Bein. "Was habe ich denn gemacht? Es war doch
nur eine dumme Vase, und wahrscheinlich war sie auch noch hässlich,
habe ich Recht?" Nun steigen ihr doch noch Tränen in die
Augen, und sie kann den Klos in ihrem Hals nicht mehr bekämpfen.
Mit
klopfendem Herzen erhebt sie sich, wischt sich trotzig über das
Gesicht.
"Nun, Ayesha, es hat mich gefreut, deine
Bekanntschaft zu machen. Du scheinst die einzig Vernünftige in
diesem Haus zu sein. Aber ich bleibe hier nicht einmal mehr, um mir
mein Ungeziefer abzuwaschen!" Die letzten Worte sagt sie betont
laut, in der Hoffnung dass er sie hört.
Mit einem
Ruck öffnet sie die Tür.
"Ich
danke Ihnen für das Essen, Monsieur, aber ich werde keine Minute
länger hier bleiben. Sie hätten mich einfach sterben lassen
sollen als sie die Möglichkeit dazu hatten."
Trotzig
verlässt sie das Bad. Sie hört, dass Ayesha ihr folgt und
spürt wie sie sich weiter an ihrem Bein reibt. Sie legt den Kopf
schief und kann sich ein trauriges Lächeln nicht mehr
verkneifen, doch dann wird sie schnell wieder ernst.
Einen Großteil
der Scherben in der Hand schaut Erik einen Moment lang ruhig auf das
Mienenspiel seines Gastes.
Sie hat
den letzten Gegenstand zerstört, der auf dieser Welt noch einen
Wert für ihn hatte, den letzten unanzweifelbaren Beweis dafür,
dass Christine einmal Teil seines Lebens war. Doch auch jetzt, da er
seine Trauer als manifesten körperlichen Schmerz fühlen
kann, liegt die totale Kapitulation noch außerhalb seiner
Reichweite. Kein Tod für ihn, kein Frieden, keine Stille. Er hat
Angst, aufzugeben. In einer Geste schierer Frustration lässt er
die Scherben fallen und seufzt. "Ich beneide Sie um die
Leichtfertigkeit, mit der Sie von Ihrem eigenen Tod sprechen,
Mademoiselle." Beim Klang seiner Stimme löst sich Ayesha
von dem Mädchen, stolziert zu ihrem Herrn herüber und
steigt auf sein Knie, um ihren Kopf heftig schnurrend an seiner
Schulter zu reiben.
"Doch
ich werde Sie nicht gehen lassen, damit Sie sich wieder irgendwo in
den Schnee legen und all dies..." er stößt mit dem
Finger in den Scherbenhaufen "... umsonst gewesen ist. Ich habe
Sie gefunden und Ihr Leben gerettet, Mademoiselle, und ob es Ihnen
gefällt oder nicht: Ich bin jetzt für Sie verantwortlich."
Müde erhebt er sich vom Boden und schmiegt seine maskierte Wange
an Ayeshas warmen Körper, während er weiterspricht. "Sie
werden sich nicht umbringen und Sie werden nicht in Ihre Armut
zurückkehren. Entscheiden Sie selbst, ob Sie jetzt schreien und
toben oder ein warmes Bad nehmen wollen." Damit macht er sich
auf den Weg zur Tür.
Empört schürzt Félicie die
Lippen.
"Sie können mir nicht verbieten zu gehen, wenn ich
das will." stößt sie aus. Plötzlich vermisst sie
die Nähe der Katze. Ihr Magen zieht sich zusammen und sie presst
eine Hand auf den Bauch. "Noch vor ein paar Minuten wollten Sie
dass ich sofort verschwinde. Sie haben mir deutlich gezeigt wie egal
ich Ihnen bin. Den Teufel sind Sie für mich. Ich will jetzt
sofort gehen!" ruft sie aus. Dabei hat sie nach allem, was sie
von ihm bereits erlebt hat, schreckliche Angst, ihm so trotzig
gegenüber zu treten. Der Mann neigt zu Gewalt, wahrscheinlich
ist sie längst seine Gefangene. Sie hätte auf ihr ungutes
Gefühl beim Erwachen hören sollen.
Betont
langsam dreht sich Erik nach dem Mädchen um, und als er spricht,
liegt in seiner Stimme eine Mischung aus Kälte und bitterem
Spott.
"Wenn
Sie die Tür finden können, dürfen Sie gerne gehen."
Dann
verlässt er das Zimmer.
