Es
ist nicht so, als hätte sie es nicht versucht. Stundenlang, so
scheint es ihr, ist sie durch die Wohnung geirrt, hat mit ihren
Händen jede Wand abgetastet, zuerst vorsichtig, doch dann, am
Ende, hat sie hilflos gegen die Wände geschlagen. Da sind so
viele Türen, aber nicht eine einzige führt nach draußen.
Nicht einmal ein Fenster konnte sie finden... Ein Haus ohne Fenster!
Nun sitzt sie zusammengesunken auf dem Fußboden in ihrem
neuen Zimmer, dem Gefängnis, das er ihr zugewiesen hat.
Er hat die Scherben weggeräumt, aber seit er das Zimmer
verlassen hat, haben sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Und
sie legt auch keinen Wert mehr darauf. Sie hatte ihm danken wollen,
doch ihre Dankbarkeit ist längst verflogen. Alles, was sie nun
noch fühlt, ist Angst. Nicht einmal weinen kann sie, obwohl sie
es sich nun wünscht. Sie ist gefangen in einem Haus ohne Fenster
und er wird sie nicht gehen lassen. Und sie mag nicht darüber
nachdenken, was er nun mit ihr vorhat.
Vielleicht
wird sie sich hier verbarrikadieren, zu diesem Zimmer scheint nur
eine Tür zu führen, und wenn es ihr gelingt, sie zu
versperren, kann er ihr nicht zu nahe kommen. Sie wird vielleicht
verhungern, vielleicht findet sie auch irgendetwas... vielleicht eine
Schere, um sich ein größeres Leiden zu ersparen.
Jedenfalls wird sie es nicht zulassen, dass er sich an ihr
vergreift.Sie schleudert wütend ihren Stock von sich. Sie
wird ihn nicht mehr benötigen.
Mit zusammengepressten Lippen
denkt sie nach... wenn sie ihren Stock richtig unter den Türgriff
klemmt, wenn sie ihn gut verkantet, wird es ihm vielleicht nicht
gelingen, hier einzudringen. Auf den Knien robbt sie sich durch das
Zimmer, tastet, bis sie den Stock gefunden hat, und macht sich dann
mit zitternden Händen an die Arbeit.
Nachdem Erik die Scherben
entsorgt hatte, lauschte er eine Zeit lang, wie sie mit ihrem Stock
und ihren Händen die Wohnung absuchte. Als sie begann, vor Wut
und Angst zu auf die Wände einzuschlagen, erhob er sich von
seinem Platz auf der weinroten Chaiselongue und folgte ihr
geräuschlos, den Kopf schief gelegt, den Blick gebannt auf ihre
zitternden, rastlos nach einem Ausweg tastenden Hände gerichtet.
Erstaunt wird er sich nach einer Weile bewusst, dass ihn die
Verzweiflung des Mädchens nicht im Geringsten berührt. Er
beobachtet sie, wie er wachsende Kristalle und köchelnde
Chemikalien in seinem Labor beobachtet, interessiert, doch losgelöst.
Es erinnert ihn ein wenig an den Moment, als er Christine das Blut
von der Stirn wischte.
Erst das laute Klappern, mit dem ihr
Blindenstock vor seinen Füßen landet, reißt ihn aus
seinen Gedanken. Als das Mädchen dann wieder danach tastet,
tritt er einen Schritt zurück und schaut zu, wie sie erfolglos
versucht, die Tür zu verbarrikadieren.
"Mademoiselle,
Sie scheinen zu glauben, dass ich ein sehr sonderbares Verständnis
von Verantwortung habe." sagt er schließlich, und geht ins
Badezimmer hinüber, um das mittlerweile kalt gewordene Wasser
aus der Wanne zu lassen.
Erschrocken schreit sie auf und lässt
den Stock fallen. Er ist hier in ihrem Zimmer und sie hat ihn nicht
einmal gehört! Er ist die ganze Zeit über da gewesen und
hat sie beobachtet. Wäre ihre furchtbare Angst nicht, würde
sie ihn wütend anschreien. So presst sie sich nur noch fester
gegen die Tür.
"Wie ist das möglich? Wie kommen Sie
hierher, ohne dass ich Sie gehört habe?" stammelt sie mehr
an sich als an ihn gerichtet. Ihre zitternden Hände tasten nach
dem Türgriff in ihrem Rücken. Sie ist nicht abergläubisch,
aber in diesem Augenblick hat sie das Gefühl, es mit einem Geist
zu tun zu haben. "Wer sind Sie?"
Die Stimme des
Mädchens dringt nur gedämpft ins Bad, während sich der
Wasserspiegel in der Wanne geräuschlos senkt.
'Du bist
unglaublich. In der Tat. Vor deinem Gesicht soll sie sich nicht
fürchten, aber jede andere Form der Angst amüsiert dich? Du
bist nicht mehr in Persien, Erik! Und du hast sehr wohl ein
sonderbares Verständnis von Verantwortung! Hast du sie vor dem
Selbstmord gerettet, um sie gleich wieder dazu zu treiben? Komm zu
Sinnen! Sie ist kein Spielzeug, an dem du deine Wut auslassen
kannst!.. Oh, es hatte wirklich viele Gründe, dass Christine
dich verlassen hat!' Der letzte Gedanke presst ihm die Luft aus den
Lungen.
Hastig dreht er sich um und verlässt das Bad, um sich
einige Meter von dem Mädchen entfernt seufzend an die Wand zu
lehnen.
"Ich bin Erik." sagt er schließlich. "Und
wären Sie nicht so mit Ihrer Angst beschäftigt gewesen,
hätten Sie sicher gehört, dass ich Ihnen gefolgt bin, um
auf Sie Acht zu geben." ergänzt er fest, obgleich nicht
einmal Ayesha ihn hören kann, wenn er es nicht will. Dann kreuzt
er seine Arme vor der Brust und schluckt. "Wie - wie lautet Ihr
Name, Mademoiselle?"
Félicie spürt, wie sich
ihr Körper entspannt. Es scheint keine Gefahr mehr von dem Mann
auszugehen. Das wütende Grollen in seiner Stimme ist
verschwunden und er wirkt fast ängstlich
Aber warum zögert er, nach ihrem
Namen zufragen? Erneut spürt sie, wie eine ungeheure Wut
in ihr aufsteigt. Wahrscheinlich ist es ihm unangenehm, dass er ein
Straßenmädchen mit Namen ansprechen müsste, dass sie
dann nicht mehr bloß irgendjemand für ihn wäre. Und
was soll dieses Gerede von wegen ‚auf Sie Acht geben'? Ihr ganzes
Leben ist sie allein zurecht gekommen; sie ist nur blind, nicht
hilflos. Am liebsten würde sie ihm alldas an den Kopf
werfen. Doch sie beißt sich nur ärgerlich auf den Lippen
herum, um einen neuerlichen Ausbruch von ihm zu vermeiden. Wer weiß,
zu welchen Dingen er noch fähig ist, wenn er unbemerkt ihr
Zimmer betreten konnte.
„Mein Name ist Félicie,"
antwortet sie also spitz.
"Félicie..."
wiederholt Erik erleichtert. "Das ist ein sehr schöner
Name, wirklich, sehr schön."
Misstrauisch runzelt sie die Stirn.
Was soll das nun wieder? Zuerst behandelt er sie mit unverhohlener
Verachtung und gibt ihr deutlich zu verstehen, dass sie in seinen
Augen wertlos ist und nun… macht er ihr Komplimente...Was
ist das nur für ein Mensch? Wenn sie ihn doch nur einschätzen
könnte... wenigstens ein bisschen...Seufzend tastet sie nach dem
Blindenstock und umschließt ihn fest mit den Händen.
„Ich mag es nicht, wenn man mich so
erschreckt.", murmelt sie trotzig.
„Verzeihen Sie. Es lag nicht in
meiner Absicht."
Sie nickt langsam und beginnt, den
Blindenstock in ihren Händen zu drehen.
„Ihr Angebot mit dem Bad und dem
Kleid... gilt das noch?"
„Natürlich." Er stößt
sich von der Wand ab und geht zurück ins Badezimmer, um neues
Wasser einzulassen. "Das Kleid hat die Farbe von Moos mit einem
aufgestickten Rankenmuster in der Farbe eines sehr dunklen Himmels -
falls Ihnen das etwas sagt." erklärt er; dabei fällt
sein Blick auf Christines Nagelschere. Vielleicht sollte er diese aus
dem Zimmer entfernen, so wie den Brieföffner und die
Papierschere? "Sie sind zierlicher und kleiner als Chri..."
er stockt "... als es das Kleid verlangt, doch für zwei
oder drei Tage wird es gehen." Hastig wühlt er durch die
Schubladen von Christines Schreibtisch, bis er Brieföffner und
Schere gefunden hat. "Kommen Sie ins Esszimmer, wenn Sie fertig
sind." er wendet sich zum Gehen "Und bitte - machen -
machen Sie keine Dummheiten..."
'Gott, du kannst wirklich
nichts richtig machen, nicht wahr? Stotterst herum wie ein Idiot. Sag
es doch gleich laut, dass du ein schlechtes Gewissen hast, damit sie
anfangen kann, damit zu spielen!'
Sie will ihm erklären dass
Farben für sie keinerlei Bedeutung haben, aber der Geruch von
Moos etwas sehr schönes für sie ist... Es bedeutet, frei zu
sein, im Wald entlang spazieren und seine Probleme vergessen zu
können. Doch sie lässt es... warum sollte sie ihm ihre
intimsten Geheimnisse anvertrauen? Sie kennt ihn nicht, und so wie er
sich ihr gegenüber verhält, will er das wohl auch nicht so
schnell ändern.
Aber
wenn sie länger hier bleibt, wird er sich vielleicht auf sie
einlassen... was bleibt ihm übrig? Und er hat ja auch schon fast
damit angefangen. Er hat sich verraten. Seine Wut und Trauer scheinen
offensichtlich eine völlig normale Erklärung zu haben. Sie
seufzte erleichtert. Das Kleid hat einer Frau gehört, die ihm
offenbar sehr viel bedeutet hat. Chri...? Christelle?
Christine?
Vielleicht ist sie seine Frau gewesen, überlegt
sie, während sie sich ins Bad begibt und sich entkleidet. Ja, es
muss seine tote Frau sein, um die er trauert, und die Vase, die sie
umgestoßen hat, war ihre. Vielleicht ist sie erst vor wenigen
Tagen gestorben. Sie legt den Kopf schief und lauscht auf ein Atmen
oder das Rascheln von Stoff. Nichts… Er scheint tatsächlich
gegangen zu sein. Vorsichtig legt sie ihre Kleider ab und steigt in
das warme Badewasser.
Die Seife duftet angenehm. Sie atmet tief
ein. Rosen. Es erinnert sie an den Markt, über den sie einmal
mit ihrer Großmutter gegangen ist. Die alte Frau hat ihr alle
Blumen so lebendig beschrieben können. Bei dem Gedanken an sie,
treten Félicie Tränen in die Augen. Wäre ihre
Großmutter doch bloß nie gestorben. Vielleicht wäre
dann alles niemals passiert und sie wäre jetzt noch zu Hause.
Energisch wischt sie sich über die Augen. Keine Tränen
mehr! Nicht deshalb.
Erst
als das Wasser beinahe ganz kalt und ihre Haut vollkommen
verschrumpelt ist, steigt sie aus der Badewanne, jedoch nicht, ohne
vorher gelauscht zu haben, ob Erik nicht doch irgendwie wieder in das
Zimmer gelangt sein könnte.Sie hat sich schon lange
nicht mehr so wohl gefühlt, wie jetzt, wo in weiche, duftende
Handtücher gehüllt langsam zu ihrem Bett geht. Sie berührt
vorsichtig das Kleid... ein weicher Stoff. Er muss viel Geld
ausgegeben haben für dieses Kleid, überlegt sie. Diese Frau
hat ihm sicherlich sehr viel bedeutet. Ob er nach ihrem Verlust so
seltsam geworden ist? Sie erschauert. Besser sie denkt nicht weiter
darüber nach.
Dafür
fällt ihr nun, wo sie ihr Kleid anlegt, aus irgendeinem Grund
plötzlich ein, dass er sie für labil genug zu halten
scheint, um sich das Leben zu nehmen. Ärgerlich beißt sie
die Zähne zusammen. Sie muss ihn darauf ansprechen und ihm
erklären, dass die Sache auf dem Friedhof ein einziger schwacher
Moment war, den sie wirklich bereut. Und sie wird ihn fragen, was er
mit den zwei oder drei Tagen gemeint hat.
Er spielt Chopin,
etwas einfaches, das er nie für Christine gespielt hat. Dennoch
sieht er nur sie vor seinem inneren Auge.
Was willst du? Erik,
sag mir, was du willst...
Abrupt bricht er ab, und geht zu dem
Tisch hinüber, an dem Félicie ihr Abendessen verzehrt.
"Das Bad scheint Ihnen gut bekommen zu sein,
Mademoiselle."
Sie muss sich schwer beherrschen, um nicht mit
vollem Mund zu antworten und dabei das Essen über den Tisch zu
prusten. Bisher hat sie ihm nur schweigend zugehört, beeindruckt
von seinem Klavierspiel. Sie kennt niemanden, der ein Instrument
spielt, und noch weniger Menschen, die sich ein Klavier leisten
könnten.
"Oh ja." antwortet sie ihm, nachdem sie
das Essen mit einem kräftigen Schluck Wein heruntergespült
hat, "Das Bad war wirklich..." sie sucht nach den passenden
Worten, denn sie möchte ihm nicht wie das dreckige
Straßenmädchen vorkommen, für dass er sie hält.
"Ganz...", sie gibt seufzend auf, "Wunderbar." Sie
wischt sich den Mund an der Stoffserviette ab und legt die Hände
auf den Tisch. "Würden Sie mir eine Frage erlauben,
Monsieur Erik?"
Er mustert Félicie misstrauisch,
bevor er antwortet: "Das kommt ganz auf die Frage an."
Sie
seufzt. Wieso muss er immer so skeptisch sein? Was sollte sie ihm
schon anhaben können?
"Sie
haben eben von zwei bis drei Tagen gesprochen, die mir das Kleid
passen muss. Was hat das zu bedeuten?""Meine
Schneiderin wird zwei bis drei Tage benötigen, um Ihnen
zusätzliche Kleider zu fertigen." antwortet Erik
stirnrunzelnd. "Was hat Ihr Seufzen zu bedeuten? Ist Ihnen
unwohl?"
Félicie zögert kurz. Soll sie ihm sagen,
dass es sein Misstrauen ist, was sie so stört?
Dann
schüttelt sie den Kopf.
"Nichts... nur eine dumme
Angewohnheit..." Und eine noch dümmere Ausrede, denkt sie.
"Dürfte ich Sie vielleicht noch etwas fragen?"
"Natürlich."
"Ihre Wohnung... ist so groß
und äußerst ungewöhnlich... Sind Sie vielleicht ein
Graf?"
Erik lacht bitter.
"Nein. Nichts
dergleichen."
Betreten senkt Félicieden
Kopf.
"Ich wollte Ihnen damit nicht zu nahe treten."
sagt sie leise. "Aber die Art, wie Sie reden, Ihr Gang und Ihre
Wohnung... verzeihen Sie... das alles ist so... anmutig..."
Befremdet hebt er eine Augenbraue. Anmutig?
"Mademoiselle,
Adel geht nicht zwangsläufig mit Anmut einher. Oder mit guten
Manieren. Oder Charakter." Das letzte Wort spuckt er
voller Verachtung. Raoul de Chagny. Automatisch tastet seine
Hand nach der Narbe, die der Streifschuss dieses Schönlings auf
seinem Arm hinterlassen hat.
"Hören Sie Monsieur, ich
habe Ihnen nichts getan. Warum reagieren Sie also so fürchterlich
verbittert, wenn ich Ihnen eine Frage stelle?" fährt sie
ihn an. Sie ist aufgesprungen, stützt sich aber mit dem linken
Arm noch immer auf den Tisch. Sie kann sein neues Hemd riechen und
spürt die Wärme, die sein Körper ausstrahlt. Er muss
unmittelbar vor ihr stehen. "Aber wenn Sie mich ohnehin nicht
gehen lassen wollen, weil Sie mich für labil halten, können
Sie mir doch erzählen, was Sie so verärgert und bedrückt.",
fügt sie versöhnlicher hinzu.
Schweigend starrt Erik
für einen Moment auf Félicie herunter.
"Wollen
Sie damit sagen, dass Sie nicht die Absicht haben, sich das Leben zu
nehmen?" fragt er schließlich.
Félicie rümpft
die Nase und lässt sich wieder auf ihren Stuhl sinken.
"Das
auf dem Friedhof... das war... ein schwacher Moment, wenn Sie so
wollen. Ich komme normalerweise niemals auf solche Ideen."
"Und
warum kamen Sie an diesem Abend auf solche Ideen?"
Sie zuckt
mit den Schultern. Eigentlich hat sie wenig Lust ihm das alles zu
erzählen.
"Kennen Sie das nicht, wenn alles plötzlich
über einem zusammenbricht?" fragt sie dann. "Wenn man
das Gefühl hat, die ganze Welt ist gegen einen, man ist ganz
allein und keiner interessiert sich für dich? Alle, die es
wirklich gekümmert hat, wie es mir geht, sind tot!"
Erik
schweigt.
Ja... Warum wird ihm dies erst jetzt klar? Dass Félicie
sich ähnlich fühlen muss wie er? Bittere Scham steigt in
ihm auf. Scham dafür, dass er das Mädchen derartig schlecht
behandelt, dass er ihr Angst gemacht hat. Obwohl er doch hätte
wissen müssen, wie es ihr geht! Er hätte sich zu ihr legen
sollen, in den Schnee, die Augen schließen, einschlafen, für
immer...
"Ich kenne dieses Gefühl." murmelt er
schließlich und zieht sich von ihr zurück, um neben dem
Tisch auf und ab zu laufen. "Haben Sie Ihre ganze Familie
verloren?"
Sie schüttelt den Kopf und streicht sich
eine Strähne dunklen Haares hinter das Ohr.
"Nein",
antwortet sie, "Nur meine Großmutter... und meine Mutter
starb bei der Geburt meiner kleinen Schwester vor zwei Jahren."
Sie folgt ihm mit dem Kopf und spielt nachdenklich mit dem Stoff
ihres Kleides. "Haben Sie auch jemand lieben verloren?"
Er
kreuzt die Arme vor der Brust und senkt den Blick.
"Das habe
ich." antwortet er heiser.
Sie denkt eine ganze Weile nach,
bevor sie weiterspricht.
"War es Ihre Frau? Ist Ihre Frau
gestorben?"
"Hah! Meine Frau." er lacht bitter.
"Meine Frau... Nein... Nein..." das letzte Wort
krächzt er durch einen dünnen Schleier von Tränen.
Der
belegte Klang seiner Stimme macht sieneugierig, doch siezögert, nachzuhaken.
"Ich wollte Sie nicht an
unangenehme Dinge erinnern, Monsieur... Aber wenn Sie mir irgendwann
einmaldavon erzählen möchten, werde ich Ihnen gerne
zuhören."
Geräuschlos wendet er Félicie den
Rücken zu und setzt seine Maske ab, um sich die Augen zu reiben.
Als er sie wieder aufsetzt, räuspert er sich und fragt: "Sind
Sie von Geburt an blind?"
Sie schluckt schwer. Sein abrupter
Themenwechsel gefällt ihr überhaupt nicht. Er erinnert sie
an die vielen neugierig gaffenden Passanten, die das gleiche fragen,
bevor sie weitergehen, ohne ihr etwas Geld gegeben zu haben. Stumm
nickt sie.
"Es... es macht es nicht einfacher, nichts
anderes gekannt zu haben, nicht wahr?" Himmel, er sollte gehen,
bevor er sich dazu verleiten lässt, tatsächlich etwas von
sich preiszugeben.
Félicie zuckt mit den Schultern.
"Ich
weiß es nicht. Wenn Sie zum Beispiel von Farben sprechen, habe
ich keine Vorstellung davon. Aber ich weiß, wie Moos riecht,
spüre den Stoff des Kleides. Ich weiß, dass es schön
sein muss." Verdammt, warum erzählt sie ihm das alles jetzt
doch? Sie hatte sie so fest vorgenommen... Sie schluckt den Ärger
auf sich selbst herunter und zwingt sich zu einem matten Lächeln.
"Ich danke Ihnen, dass Sie das alles für mich tun."
"Oh, bitte, bedanken Sie sich nicht." wehrt Erik hastig
ab. "Wenn Sie dann jetzt mit dem Essen fertig sind, werde ich
abräumen und Ihre Maße für die Schneiderin
nehmen."
Sie nickt.
"Ja, ich bin fertig... "
Doch als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wird, zuckt sie zusammen
und wendet sich hastig zu ihm. "Sie nehmen meine Maße?"
"Ohne sie wird es der Schneiderin schwerlich möglich
sein, ein passendes Kleid für Sie zu nähen."
Schwach
will sie protestieren. Abgesehen von ihrem Vater, hat sie noch nie
ein Mann angefasst. Sie hat es nicht zugelassen, dass ihr jemand nahe
kommt, und seit ihre Großmutter gestorben ist, lässt sie
eigentlich auch an ihre Gefühle niemanden mehr nahe genug heran,
als dass er sie verletzen könnte.
"Kann die Schneiderin
das nicht tun?" fragte sie leise, "Und eigentlich brauche
ich gar kein Kleid... schon gar nicht auf meine Maße... das ist
viel zu teuer und die Kleider hier gehen doch genauso gut."
Gereizt
nimmt er Félicies Teller. Nicht einmal von seinem Gesicht muss
eine Frau wissen, damit ihr selbst die keuscheste Berührung
seiner Hand zuwider ist!
'Dunicha.' denkt er
angewidert.
"Natürlich kann die Schneiderin Ihre Maße
nehmen." knurrt er über seine Schulter. "Doch das
würde alles nur wesentlich komplizieren. Sie werden voll
bekleidet sein und ich werde Sie nicht berühren."
Erschrocken
über die spürbare Aggression in seiner Stimme fährt
sie zusammen.
"Monsieur, verzeihen Sie bitte... Das hat
nichts mit Ihnen zu tun... wirklich... es ist nur..." sie bricht
ab.
Natürlich. Es ist nur, dass sie zu viel Angst hat, es
zuzugeben.
"Nur was!"
"Ich habe gesagt,
dass es nicht an Ihnen liegt, reicht das nicht?" faucht sie nun
wütend zurück. Sie hat wenig Lust, einem Fremden ihre
Gefühle zu offenbaren
"Nun, ganz offensichtlich nehme
ich Ihre Lügen nicht klaglos hin!" Warum will er es hören?
Warum will er es auch aus Félicies Mund hören?
"Ich
lüge nicht, Monsieur!" Empört springt Félicie
auf. "Aber ich werde Ihnen meine persönlichen Ängste
was fremde Männer betrifft, ebenso wenig darlegen, wie Sie mir
von Ihren Sorgen erzählen wollen."
Der leere Teller
entgleitet seiner kraftlos gewordenen Hand und zerbricht scheppernd
auf den Steinfliesen.
Javert.
Langsam dreht er sich zu Félicie
um. Er keucht leise, als er sich an seine Angst erinnert, an diese
Berührung...
"Wer! Sagen Sie mir nur seinen
Namen und ich werde ihn töten!"
Hastig weicht sie vor
ihm zurück, so schnell und so weit es ihre Kenntnisse des Raumes
zulassen.
"Töten? Monsieur, ich verstehe nicht..."
stammelt sie ängstlich und drängt sich gegen eine kalte
Wand. Nun, eigentlich versteht sie schon, sie versteht, was er gesagt
hat, und alles ergibt nun einen Sinn... seine plötzliche
Aggressionen... So leicht wie ihm das Wort ‚töten' über
die Lippen kommt, muss er es schon einmal getan haben... vielleicht
auchhäufiger. Sie presst die Lippen fest aufeinander und
fürchtet seine Antwort.
"Wer immer sich auch an Ihnen
vergangen hat, verdient es nicht, weiterzuleben! Das meine ich mit
‚Töten'. Nun? Verraten Sie mir seinen Namen oder soll dieses
würdelose Schwein ungeschoren davonkommen?"
"Aber
mir hat doch niemand etwas angetan", jammert sie leise, während
ihr ganzer Körper nun vor Angst und Aufregung bebt. "Nicht...
nicht so... Bitte, Monsieur, reden Sie nicht so einfach darüber,
andere Menschen zu töten. Sie machen mir Angst!" Sie spürt
einen schweren Klos in ihrem Hals aufsteigen und unterdrückt ein
Schluchzen.
Er braucht einen Moment, um seine Wut wieder unter
Kontrolle zu bekommen.
"Verzeihen Sie." sagt er dann
steif, und wendet sich ab. "Ich wollte Sie nicht
erschrecken."
Als sich plötzlich die Katze an ihren
Beinen reibt, zuckt Félicie zusammen. Zitternd hebt sie Ayesha
hoch und drückt sie an sich.
"Haben Sie schon einmal
einen Menschen getötet, Monsieur Erik? Weil er Ihnen weh getan
hat?" fragte sie mit bebender Stimme.
Abwesend beginnt er,
die Scherben des Tellers aufzusammeln.
"Schon einmal..."
murmelt er kaum hörbar zu sich selbst.
Einmal... einmal hat
er es alsogetan... sie hat es wissen wollen, aber jetzt ist
sie noch viel ängstlicher.
"Dieses eine Mal... da hat
man Sie verletzt... das war Notwehr... nicht wahr?" fragt sie
beinahe flehend. ‚Bitte lass es Notwehr gewesen sein... bitte lass
es keine Frau gewesen sein', betet sie stumm. Wenn er die Frau
getötet hat, deren Kleider sie nun trägt, wenn das der
Grund für seine Traurigkeit ist... Sie schluckt schwer und ballt
die Hände hinter ihrem Rücken zu Fäusten um nicht vor
Angst die Beherrschung zu verlieren. Seine Stimme klingt nun viel
weiter weg... er scheint irgendetwas auf dem Boden zu tun, aber sie
ist zu keiner Bewegung fähig. Sie muss eine Antwort auf ihre
Frage haben.
"Dieses eine Mal war es Notwehr."
antwortet Erik langsam und stapelt eine weitere kleine Scherbe auf
den Haufen in seiner Hand. Dann schaut er zu ihr hinüber. "Ich
werde Ihnen nichts tun, Félicie. Seien Sie dessen versichert."
Als er sich erhebt, um eine Scherbe
aufzusammeln, die ein ganzes Stück weit über den Boden
geschlittert ist, befällt ihn ein Schwindel, und er lässt
sich hastig wieder in die Hocke herab.
'Verflucht!'
"Dieses
eine Mal, Erik? War es... war es die Frau?" Noch immer wagt sie
es nicht, zu ihm zu gehen. Zuerst muss sie wissen, ob es die Frau
war, der er etwas angetan hat. Wie soll sie keine Angst vor ihm
haben, wenn er solche Dinge sagt?
Gelobt sei der Fatalismus. Er
lacht angestrengt.
"Christine? Sie meinen Christine? Wenn ich
es recht bedenke, wäre es wohl für alle besser gewesen, ich
hätte es getan. Doch ich habe es nicht getan. Ich hätte ihr
nie..." er stockt "... niemals hätte ich sie verletzen
können."
Christine also, denkt sie. Und sie ist es nicht
die er getötet hat... Eher die Frau, die er geliebt
hat...
Zögerlich geht sie auf ihn zu. Er muss noch immer am
Boden hocken, so wie seine Stimme klingt. Sie beugte sich zu ihm, und
dann tastet sie sehr zögerlich nach seiner Hand.
"Wer
war es dann, Erik? Sagen Sie es mir? Warum haben Sie getötet?"
Erschrocken über Félicies Berührung zieht er
seine Hand an sich und rückt von ihr ab; immer noch verhindert
sein Kreislauf, dass er sich erhebt.
"Das wollen Sie nicht
wissen, Mademoiselle."
Erstaunt über seine abweisende
Reaktion weicht sie wieder zurück.
"Sonst hätte ich
nicht gefragt."
Mit plötzlichem Zorn starrt Erik in
ihre blinden Augen.
"Ich habe aus Notwehr getötet, ich
habe aus Spaß getötet, ich habe schnell getötet und
ich habe Menschen gefoltert, bis sie ihren Verletzungen erlagen. Sind
Sie nun zufrieden?" Er springt auf und taumelt zum Tisch
hinüber, wo er sich auf einen Stuhl fallen lässt. Wirre
Lichtpunkte tanzen hinter seinen geschlossenen Lidern. Er will nicht
sehen, was Félicie jetzt tut.
Eine ganze Zeit bewegt sie
sich nicht. Dann, sehr langsam, erhebt sie sich und verlässt
ohne ein weiteres Wort das Esszimmer.
Als die Tür hinter ihr
ins Schloss fällt, lehnt er sich erschöpft auf den Tisch
und vergräbt seine Stirn an seinem Arm.
"Ich hasse
dich." zischt er leise.
Seltsam, dass sie den Riegel
an der Tür bisher nicht bemerkt hatte. Nun ist sie froh darüber.
Froh, ihn vorschieben und Erik aussperren zu können.
Warum
hat er so wütend reagiert? Wollte er sie verletzen? Sie hatte
doch nur wissen wollen, ob das, was ihn belastet, ein Mord ist. Ein
Mord aus Notwehr... Doch nun weiß sie, dass sie sich im Haus
eines Mannes befindet, der viele Menschen getötet hat, auf
Weisen, die sie sich nicht einmal vorstellen will. Folter... Sie
hätte nicht fragen sollen. Dann hätte sie weiterhin in dem
Glauben leben können, dass ihr ein etwas überreizter Graf
aus reiner Nächstenliebe des Leben gerettet hat.
Aufgebracht
lässt sie sich auf das Bett fallen. Hat sie ihre Familie dafür
verlassen? Um bei einem verrückten mehrfachen Mörder
gefangen zu sein, der sie mit Essen und Kleidern überhäuft?
Und wie kann sie sich sicher sein, dass er sein Versprechen, ihr
nichts zu tun, halten wird?
Verzweifelt denkt sie an ihre Suche
nach dem Ausgang. Wenn sie ihn heute Mittag nicht gefunden hat, wird
sie ihn auch jetzt nicht finden. Es scheint, dass ihr in diesem Haus
nichts gelingt, was Erik nicht will.
Er ist ihr so verfluchtunheimlich... Enttäuscht denkt sie daran, dass sie für
die wenigen Minuten, in denen er auf dem Klavier für sie
spielte, in denen er voller Trauer war, beinahe so etwas wie
Sympathie für ihn empfand. Aber wie kann sie jemanden mögen,
der solche schrecklichenDinge getan hat?
Vielleicht ist
Christine nicht gestorben, vielleicht hat sie ihn wegen dieser Morde
verlassen? Oder aber, geht es ihr durch den Kopf, als sie an seinen
Ausbruch denkt, vielleicht war es etwas ganz anderes... Dieser eine
Mord aus Notwehr... Hat er ihn für sie begangen? War sie es, die
vergewaltigt wurde, und Erik hat sie gerächt? In ihren Gedanken
entsteht eine unmögliche Geschichte, und immer wieder ertappt
sie sich dabei, dass sie eine Möglichkeit sucht, Eriks Morde zu
rechtfertigen, sich selbst davon zu überzeugen, dass er nur
gemordet hat, um Christine zu rächen. Irgend jemand muss
Christine verletzt haben, und nur aus diesem Grund hat er gemordet.
Er hat nur aus gerechtem Zorn heraus solche Dinge getan. Dieser Mann,
der ihr das Leben gerettet, der ihr Kleider und Nahrung gegeben hat,
darf einfach kein skrupelloser Mörder sein! Und doch hat er
selbst zugegeben dass er einer ist...
Ich habe aus Spaß
getötet
Sie schließt die Augen, um ihre Tränen
zurückzuhalten. Was soll denn nun werden?
Er wird sie nicht
so schnell wieder gehen lassen. Jetzt nicht mehr, da sie weiß,
was er getan hat.
Sie will nach Hause... zurück in das
Zimmer, das sie sich mit Vater und Schwester teilen muss, zurück
in ihr altes vertrautes Leben, zu denen, die sie behandeln wie einen
halben Menschen, nur weil sie blind ist, dieaber wenigstens
noch nie einen Mord begangen haben. Ärgerlich schüttelt sie
den Kopf. Und erst hat sietatsächlich geglaubt, Erik
wäre anders als diese herzlosen Leute...
Falls sie ihr Zimmer irgendwann noch
einmal verlassen sollte, wird sie ihn fragen, warum er diese Morde
begangen hat. Er wird sie nicht mehr verletzen können, als er es
schon getan hat. Und sollte sie jemals den Verdacht haben müssen,
dass er bereit ist, sein Versprechen zu brechen, wird sie einen Weg
finden zu fliehen oder ihrem Leben in diesem Haus mit ihrer eigenen
Handein Ende zu setzen.
Sie muss eine ganze Weile geschlafen
haben, denn als sie erwacht, knurrt ihr Magen laut. Hunger ist ihr
alles andere als fremd, sie kann drei Tage ohne jede Nahrung
auskommen, wenn sie muss; aber ihr Magen hat sich anscheinend sehr
schnell an das gute Essen gewöhnt.
Sie schließt die Augen und
versucht an etwas anderes zu denken. Normalerweise hilft das immer.
Nichts… Ihr Magen rumort weiter.
"Verdammt", denkt sie
ärgerlich. Sie hat überhaupt keine Lust, das Zimmer zu
verlassen und womöglich noch ihm zu begegnen.
Langsam
tastet sie sich zu dem Nachttisch zu ihrer rechten. Manche Menschen
bewahren dort Kleinigkeiten auf, falls sie nachts Hunger überkommt.
Sie zieht die Schublade auf. Leer. Nichts außer ein paar
Krümeln, die sie mit den Fingerspitzen aufpickt und schnuppert.
Noch immer geht ein schwacher Duft von ihnen aus, beinahe wie der der
Seife. Jemand hat in dieser Schublade vertrocknete Rosen aufbewahrt,
und diese wenigen zerbröckelten Blätter sind alles, was
noch davon übrig geblieben ist.
Noch immer knurrt ihr Magen und wird
auch nicht leiser, obwohl sie die Hand fest darauf presst. Zögerlich
steht sie auf und geht im Zimmer auf und ab, erkundet den Schrank und
den Sekretär, der an der Wand steht. Sie findet ein paar
Frauenkleider und Umhänge in dem Schrank und auf dem Sekretär
Tinte und einige Bögen Papier. Ansonsten scheint dieses Zimmer
fast ganz leer zu sein.
Als ihr Bauch noch immer rebelliert,
gibt sie ärgerlich knurrend auf. Sie hat jetzt Hunger und muss
bloß wenige Schritte machen, um satt zu werden. Wer weiß,
wann sie diese Gelegenheit noch einmal bekommt. Sie legt ihr Ohr an
die Tür und lauscht. Stille... Er ist anscheinend nicht in der
Nähe... Vorsichtig schiebt sie den Riegel zurück und öffnet
die Tür. Irgendwo hört sie Ayesha, doch von Erik fehlt
immer noch jedes Geräusch. Gut so, denkt sie. Je später sie
ihm begegnet, umso besser. Sie könnte seine Gesellschaft jetzt
wirklichnicht ertragen.
So leise es ihr möglich ist,
geht sie durch die Gänge, um nach der Küche zu suchen. Sie
versucht, ihrer Nase zu folgen, findet aber trotz aller Anstrengung
keinen Geruch, der auf eine Küche deuten könnte.
Schließlich gibt sie mit einem erstickten Fluchen auf und
presst erneut die Hände gegen ihren Magen, um das Knurren zum
Schweigen zu bringen - vergebens. Es macht sie wütend, wieder
auf seine Hilfe angewiesen zu sein, und noch wütender, dass sie
es nicht schafft, auch nur einen einzigen Tag lang zu hungern, um ihm
aus dem Weg zu gehen.
"Erik! Kommen Sie und zeigen Sie mir,
wo ich Ihre Küche finde, sonst verhungere ich!" ruft sie
zornig in die Stille.
Mit weit geöffneten Augen liegt er
in seinem Sarg und starrt an die Decke.
Es hat eine halbe
Ewigkeit gedauert, bis sein Kreislauf zuließ, dass er sich in
sein Zimmer zurückzieht und die Tür hinter sich abschließt.
Nur mühsam konnte er den Drang unterdrücken, seine Stirn
gegen die Wand zu hämmern oder sich auf eine andere Art selbst
zu verletzen, um seinem Hass auf sich und sein Leben Ausdruck zu
verleihen. Ziellos ist er in seinem Zimmer auf und ab gelaufen, und
hat nacheinander zwei seiner Violinen am Kaminsims zerschlagen. Eine
leichte Überdosis Morphium konnte seine Unruhe und
Zerstörungswut schließlich abkühlen, doch an Schlaf
war und ist nicht zu denken.
Also liegt er da und starrt.
Seine
Gedanken haben sich schon vor Stunden geleert, dennoch herrscht in
seinem Kopf keine Stille.
Nur in seinem Zimmer ist es drückend
still. Die Uhr auf dem Kaminsims hat einen der Angriffe mit den
Violinen nicht überlebt.
Stöhnend legt er seine Hände
über die Augen.
'Ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr
ich sein. Geh weg, Erik. Lass mich allein.'
Der plötzliche
Klang von Félicies Stimme lässt ihn aufschrecken. Ruft
sie seinen Namen? Mühsam erhebt er sich und lauscht. Ja, sie
ruft ihn.
Er stöhnt leise und wuchtet
seine Beine über die Seitenwand des Sarges. Dann schleppt er
seinen von Müdigkeit tonnenschweren Körper zur Tür.
"Was wollen Sie?"
Sie gibt sich keine Mühe
ihren Ärger zu überspielen.
"Zeigen Sie mir wo ich
Ihre Küche finde. Ich habe Hunger!"
"Die Küche..."
er lehnt seine Schläfe an den Türrahmen. "Natürlich."
Für einen Moment schließt er die Augen und versucht, sich
aus seinem betäubten Zustand zu reißen, doch es gelingt
ihm nicht. Mit einer kurzen Kraftanstrengung stößt er sich
vom Türrahmen ab, dann geht er, eine Hand gegen die Wand
gestützt, langsam in Richtung Esszimmer. "Kommen Sie."
Félicie stutzt. Etwas stimmt nicht mit ihm. Vielleicht hat
sie ihn nur aus dem Tiefschlaf gerissen, aber vielleicht... Sie
erinnert sich wieder an die tiefe Traurigkeit, die sie bei ihm
gespürt hat, als sie ihm zum ersten Mal begegnet ist. Und als
sie sagte, er hätte sie auf dem Friedhof liegen lassen sollen,
da hat er erwidert, dass er sie darum beneidet...
Während sie
ihm nun folgt, konzentriert sie sich besonders auf den Klang seiner
unsicheren Schritte und seine Atmung. Sie hört ein seltsames
Schleifen an der Wand, das sie nicht zuordnen kann... Ihn darauf
anzusprechen, wagt sie jedoch vorerst nicht.
Als wären sie
schon immer da gewesen, ziehen die Bilder vor Eriks innerem Auge
vorbei: Er gibt Félicie die Katze und einen Brief an Jules,
mit der Anweisung, sie mit allem auszustatten, was sie je brauchen
könnte. Er rudert sie über den See. Danach versiegelt er
die Folterkammer und löscht alle Lichter im Haus; alle bis auf
einen Kerzenstummel. Schließlich legt er sich in den Sarg,
injiziert sich ohne zu denken eine Dosis Morphium nach der anderen,
und während er in einen endgültigen Schlaf hinüberdämmert,
verlischt auch das letzte Licht. Alles, was bleibt, sind Dunkelheit
und Vergessen.
"Félicie, wenn Sie gegessen haben, werde
ich Sie gehen lassen." erklärt er also ruhig.
Félicie
runzelt die Stirn und hält in ihrer Bewegung kurz inne. Hat er
das gerade tatsächlich gesagt? Sie beißt die Zähne
fest aufeinander, nun dann sollte sie glücklich sein... und
dankbar. Aber sie ist keines von beidem. Jedenfalls nicht
wirklich.
"Monsieur, das ist sehr nett...", sagt sie leise,
"Aber..." Aber was? Soll sie ihm etwa sagen, dass sie plötzlichAngst hat, ihn allein zu lassen, wegen den Dingen, die er gesagt
hat? Sie schüttelt den Gedanken ab und schweigt.
Erik hält unterdessen kurz mit
dem Gehen inne, um ihr antworten zu können."Seien Sie unbesorgt, Félicie.
Ich stehe zu meinem Wort. Sie werden nicht in Armut
zurückkehren."
‚Armut... verdammt... was juckt mich die
Armut', denkt sie aufgebracht, ich habe Angst dass du etwas
Dummes machst wenn ich fort bin'. Aber sie sagt nichts. Und das ist
es, was sie am meisten ärgert.
"Monsieur... ich möchte
nichts von Ihnen.", meint sie schließlich so sanft sie kann,
"Sie haben schon so viel für mich getan..."
‚Natürlich
will sie dein Geld nicht. Hast du vergessen, dass du ein
verabscheuungswürdiger Mörder bist? Hast du vergessen, was
Jules' Frau dir an den Kopf geworfen hat? An deinem Vermögen
klebt der Gestank von Tod und Verbrechen. Du kannst dich nicht
einfach so freikaufen.'
"Keine Widerrede.", er hält
Féliciedie Küchentür auf und lehnt sich dann
für einen Moment erschöpft an die Arbeitsplatte , "Sehen
Sie, eigentlich tue ich all dies nur für Ayesha. Sie braucht
einen Tapetenwechsel, aber ich möchte das Tier nicht meinem
Verwalter überlassen. Also werden Sie sich um Ayesha kümmern,
eine Wohnung mit Garten mieten, wo sie sich wohl fühlt, und ihr
ein Futter geben, das ihr zusagt... Als Entschädigung für
Ihre Mühe werden Sie ein monatliches Honorar bekommen, das Ihre
Lebenserhaltungskosten mehr als abdeckt... Doch nun lasse ich Sie in
Ruhe essen. Sie finden sich doch zurecht?"
Diese Wendung des
Gespräches gefällt Félicie ganz und gar nicht. Sie
nimmt am Tisch Platz und macht keine Anstalten, sich etwas zu essen
zu suchen.
„Erik, warum tun Sie das alles?" fragt sie mit
belegter Stimme. „Warum geben Sie mir Ayesha… Sie ist Ihre
Katze... sie fühlt sich bei Ihnen wohler als bei mir." Sie
sitzt ganz aufrecht, versteift sich bei dem Gedanken an das, was er
womöglich tun wird, und schüttelt schließlich
entschieden den Kopf. „Das alles klingt so als... als würden
Sie… Erik, Sie werden sich doch nichts antun, wenn ich nicht mehr
hier bin?" platzt es schließlich aus ihr heraus.
Langsam,
sich gegen ein kurzes Schwindelgefühl an der Arbeitsplatte
abstützend, geht Erik zur Tür zurück.
„Mademoiselle."
presst er schließlich hervor „Was ich in Ihrer Abwesenheit
tue oder lasse, geht Sie einen feuchten Kehricht an."
Aufgebracht
springt Félicie von ihrem Platz.
„Es geht mich
sehr wohl etwas an, Monsieur! Sie haben mir mein Leben gerettet und
ich werde nicht zulassen, dass Sie sich jetzt etwas antun! Ich stehe
in Ihrer Schuld und vielleicht ist das einzige, was ich für Sie
tun kann, Ihnen so einen Unsinn auszureden!"
Ergeben legt er
die Hand auf die Türklinke.
„Christine ist fort, Félicie."
sagt er dann leise „Sie konnte mich nicht lieben, weil ich bin, was
ich bin. Sie sind gefährlich naiv, wenn Sie glauben, mit Ihrem
vermeintlichen Mitgefühl irgend jemandem einen Gefallen zu tun.
Essen Sie jetzt in Ruhe, ich werde Sie in einer halben Stunde hier
abholen und zurück an die Oberfläche
bringen."
„Oberfläche?" Sie folgt ihm mit dem Kopf.
‚Natürlich, ein Haus ohne Fenster...', durchfährt es
sie plötzlich. Sie macht ein paar erstaunlich schnelle Schritte
auf ihn zu. „Ob ich Mitgefühl mit Ihnen habe oder nicht,
überlassen Sie bitte mir", fährt sie ihn dann an, „Sie
wollen sich von mir nicht helfen lassen? Schön. Aber vielleicht
möchten Sie, bevor Sie diesen Unsinn machen, noch ein paar Dinge
loswerden... mir von ihrer Christine erzählen... oder... oder
von den Sachen die Sie getan haben." Sie weiß nicht einmal,
warum Sie ihm das vorschlägt. Vielleicht möchte sie Zeit
gewinnen, vielleicht hofft sie auch, dass er, während er ihr
erzählt, zur Vernunft kommt. Sicher ist nur eines: sie wird
keine ruhige Minute mehr haben, wenn sie weiß, dass sich ein
Mensch, den sie alleingelassen hat, umgebracht hat.
Doch Erik
schüttelt nur den Kopf.
"Warum tun Sie das? Sie haben
Angst vor mir, Sie hassen mich, trotzdem wollen Sie mich daran
hindern, etwas zu tun, das ich schon vor sehr langer Zeit hätte
hinter mich bringen sollen. Warum, Félicie?"
Sie
zuckt mit den Schultern.
"Sie haben mir mein Leben gerettet,
jetzt versuche ich das gleiche bei Ihnen. Glauben Sie allen Ernstes,
ich könnte durch Ihre Tür gehen, wenn ich weiß, was
Sie vorhaben?"
"Dann sind Sie dumm, Félicie."
er lehnt seinen Kopf an die Tür "Ich könnte zuerst Sie
töten..."
Sie rührt sich nicht, reckt nur ihr Kinn
ein wenig herausfordernd vor.
"Dazu hätten Sie mich
nicht retten müssen."
Erik schnaubt.
"Erwarten
Sie allen ernstes ein logisches Verhalten von einem suizidalen
Massenmörder? Warum, frage ich noch einmal, wollen Sie etwas
verhindern, das Sie nicht verhindern können?... Nennen Sie mir
nur einen Grund, einen einzigen, warum ich mich weiter in dieser
Diskussion verausgaben oder von meinem Vorhaben Abstand nehmen
sollte."
Félicie schüttelt den Kopf. Wie soll sie
ihm einen Grund nennen, wenn ihr nicht einmal ein ihr selbsttriftig erscheinender einfällt? Und eigentlich ist das auch
gut so. Es sollte ihr vollkommen egal sein, was aus einem Mörder
wird, wenn er sie nur gehen lässt... Aber das ist es nicht.
"Ich
weiß nicht, warum Sie es nicht tun sollten.", gesteht sie
ihm verärgert, "Ich...Vielleicht bin ich einfachneugierig... vielleicht will ich wissen, warum Sie diese ganze
Morde begangen haben... oder wer Christine war... Vielleicht ist mir
das auch egal und ich will nur einfach zurückzahlen, was Sie mir
gegeben haben... Aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Sie
sich umbringen. Sie müssen mich wohl wirklich vorher töten!"
Sie beißt sich entsetzt über ihre eigenen Worte auf die
Lippen. Hätte sie bloß den Mund gehalten!
Erik zögert
kurz, doch dann macht er einen Schritt auf sie zu und legt seine
Hände auf ihre mageren Schultern.
„Nun ist es also an mir,
zu entscheiden, ob ich für immer durch Ihr Gewissen spuke, Sie
töte, oder Sie davon überzeuge, dass mein Tod gerechtfertig
ist?" Vorsichtig, fast zärtlich, schließen sich seine
Finger um ihren Hals. Ihre Schlagadern klopfen hektisch gegen seine
Handflächen, doch er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ein Teil von mir hatte gehofft, ich würde mich besser fühlen,
wenn ich Sie rette. Ein Teil von mir wollte Sie quälen, weil es
nicht funktioniert hat. Ein Teil von mir hatte daraufhin ein
schlechtes Gewissen..." Er lässt seine Hände wieder
sinken und tritt hastig zurück an die Tür. „Sie sind mir
nichts schuldig, Félicie. Ich habe den Tod verdient, im
positiven wie im negativen Sinne... Bestehen Sie immer noch darauf,
nur von einer Schneiderin vermessen zu werden?"
