Danke für die Review. Wir haben uns sehr drüber gefreut. Weiter geht's mit Kapitel 3 ;-)
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"Und
Sie fassen mich nicht an!" faucht Félicie wütend und
weicht einige Schritte zurück. Nur weil er sie vorerst bleiben
lässt, soll er sich bloß nicht einbilden, dass er ihr zu
nahe kommen darf. Er ist und bleibt ein fremder Mann und ein Mörder!
Sie kann sich nur zu gut an das Gefühl seiner Hände um
ihrem Hals erinnern und an das Gefühl, dass sie bei ihr
auslösten. Noch einmal wird sie ihn nun ganz bestimmt nicht an
sich heranlassen. Sie wird den Teufel tun und sich von ihm vermessen
lassen! Mit einer Geste der Resignation lässt Erik das Maßband
auf den Tisch fallen. "Dann
werden Sie zu einer Schneiderin gehen müssen. Allein.""Allein?"
Sie lässt ihre Schultern sinken und denkt einen Augenblick lang
nach. "Können Sie sie nicht hierher kommen lassen?"
"Mademoiselle,
wir befinden uns fünf Stockwerke unter der Erde."
Sie
schluckt, lehnt sich gegen die Wand in ihrem Rücken und ballt
die Hände zu Fäusten. Deshalb also gibt es keine Fenster?
Aber warum...
"Wie...
wo sind wir?"
"Unter
der Opéra Garnier." Er bezweifelt, dass Félicie
etwas mit dieser Information anzufangen weiß. Sie liest mit
Sicherheit keine Zeitung und Raoul hat sich vorbildlich dafür
eingesetzt, dass die Geschichte sofort unter den Teppich gekehrt
wurde.
Félicie
kräuselt die Nase und lässt sich langsam auf die
Chaiselongue neben ihr sinken.
"Wir
sind unter einer Oper? Aber... aber wie ist das möglich? Geht
das einfach so? Arbeiten Sie hier?" Ihre Hände zittern und
sie beginnt, den Saum ihres Kleides zu kneten. Ein Haus unter der
Erde… wie eine Grabkammer…
Erik
lacht, mit einer Spur echten Amüsements.
"Ja,
so könnte man es sehen. Ich bin ein Angestellter der Opéra
Garnier. Und nun... Werden Sie zur Schneiderin gehen, oder lassen Sie
sich von mir vermessen?"
Wie
ehrlich sein Lachen klingt, denkt sie. Trotz der unüberhörbaren
Bitterkeit, die es noch immer färbt... überhaupt nicht so
abfällig, wie ihr Vater oder die Menschen auf der Straße
lachen.
Aber
sie bleibt ernst und versteift sich wieder.
"Keines
von beidem... Ich... ich fürchte, keine Schneiderin würde
mich in ihre Nähstube lassen, so wie ich aussehen muss... Aber
Sie fassen mich auch nicht an!", setzt sie hastig nach.
Er
seufzt.
"Mademoiselle,
Ihr Kleid ist untadelig, nur ein paar Zentimeter zu groß. Sie
sind sauber, Sie haben ein gewinnendes Lächeln, und Sie werden
Jules an Ihrer Seite haben, wenn Sie darauf bestehen."
"Jules?"
entfährt es ihr überrascht. "Ist das ein Freund von
Ihnen?"
"Ja...
Ja, so etwas in der Art... Und er wird Ihnen sicher nicht zu nahe
kommen." ergänzt er bissig. "Also. Was ist nun?"
Trotzig
wirft Félicie den Kopf in den Nacken und zieht eine Schnute.
"Freund
hin oder her... ich gehe mit keinem fremden Mann irgendwohin!"
"Dann
werden Sie wohl alleine gehen oder sich von einem weniger fremden
Mann vermessen lassen müssen!"
Unschlüssig
spielt sie mit den Händen und seufzt tief.
"Gibt
es... haben Sie denn keine Freundin... oder... oder was ist mit Ihrer
Mutter?"
Er
spürt, wie sich sein Herzschlag verändert, von einem
leisen, leichten Klopfen hin zu einem lauten, angestrengten Hämmern.
Er stützt sich am Tisch ab und atmet tief durch.
"Meine
Mutter ist tot." presst er hervor. Doch der Satz hat nicht die
befreiende Wirkung, auf die er gehofft hatte. "Und mit einer
Freundin kann ich leider auch nicht mehr dienen."
"Oh
das... das tut mir leid.", sagt sie hastig und beißt sich
auf die Lippen. Es scheint, als würde sie bei ihm keinen
Fettnapf auslassen. "Das ist bestimmt sehr schlimm für Siegewesen... Als meine
Mutter gestorben ist..." Sie hält inne und presst die
Lippen fest aufeinander. Besser sie sagt nichts mehr, dann muss sie
sich nicht an schmerzliche Dinge erinnern.
Er
schnaubt.
"Für
meine Mutter war es sicher eine Erlösung. Sei wurde sehr
ihässlich/i
mit dem Alter. Und nun? Gehen Sie mit Jules, gehen Sie allein oder
lassen Sie sich von mir vermessen?"
"Ich
habe Ihnen doch gesagt, ich brauche kein neues Kleid. Ich glaube, ich
habe in meinem ganzen Leben kein neues Kleid besessen..." wirft
sie schwach ein. Hässlich? Wie kann man seine eigene Mutter als
hässlich bezeichnen? Sie legt den Kopf schief. "Was genau
verstehen Sie unter hässlich?"
Er
atmet noch einmal tief durch. Und noch einmal. Er schließt die
Augen.
"Mademoiselle,
ich werde Sie nicht tagelang in ein und dem selben Kleid herumlaufen
lassen." erklärt er dann fest.
Sie
zuckt mit den Schultern. Und wieder ist er einer ihrer Fragen
ausgewichen...
"Ich
bin daran gewöhnt und ich habe ja auch noch mein altes Kleid...
wenn wir das waschen, habe ich ein Kleid zum wechseln..."
"Ihr
altes Kleid ist nicht viel mehr als ein Haufen Flicken, Mademoiselle.
Ich geben Ihnen jetzt noch eine letzte Chance, sich zu entscheiden,
ehe es mit meiner Geduld endgültig vorbei ist: Gehen Sie mit
Jules, gehen Sie allein oder vermesse ich Sie?"
Félicie
schiebt die Unterlippe vor und runzelt die Stirn.
"Ich
lasse mich von keinem fremden Mann anfassen", beharrt sie
störrisch, "Aber alleine gehe ich auch nicht..."
"Das
bedeutet also, dass Sie mit Jules gehen wollen?"
"Nein!"
Langsam
richtet er sich auf und geht zu ihr herüber. In seiner Stimme
liegt eine kaum gezügelte Aggression.
"Mademoiselle,
erinnern Sie sich an das Gefühl meiner Hände um Ihren Hals?
Wollen Sie das wegen solch einer Lappalie noch einmal erleben oder
geben Sie mir jetzt eine eindeutige Antwort?"
Und
ob sie sich erinnert. Sie wird es wohl niemals mehr vergessen. Steif
steht sie auf und streckt beide Arme waagerecht vom Körper. Sie
wippt ungeduldig auf den Füßen auf und ab. "Nun, dann
beeilen Sie sich… aber kommen Sie mir nicht näher als Sie
müssen!" setzt sie tonlos hinzu.
Herablassend
schüttelt er den Kopf.
"Wenn
Sie dann bitte stillhalten würden..." Und sorgfältig
darauf achtend, nicht die Haut über dem Ausschnitt ihres Kleides
zu berühren, vermisst er sie. "Werden Sie auch so lange
brauchen, um sich für einen Stoff zu entscheiden?" fragt er
danach, immer noch äußerst gereizt.
Sie
weicht einen Schritt von ihm zurück und atmet erleichtert auf.
"Warum
soll ich mir denn einen Stoff aussuchen? Baumwolle oder Leinen... ich
verstehe nichts von solchen Dingen..." Sie zuckt mit den
Schultern und fährt über den Rock ihres Kleides. "Aber
der hier fühlt sich angenehm an... Was ist das?"
Erik
seufzt. Armut...
"Das
ist Brokat. Vor die Wahl gestellt, sollten Sie jedoch eher zu Seide
tendieren. Der Stoff fällt leichter, was einer zierlichen Person
wie Ihnen gut zu Gesicht steht."
Sie
zuckt desinteressiert mit den Schultern.
"Wenn
Sie das sagen... Woher haben Sie von so etwas überhaupt eine
Ahnung... ich glaube nicht, dass mein Vater wüsste, welche Maße
eine Schneiderin braucht, um ein Kleid zu nähen..."
"Bücher."
erklärt er kurz angebunden "Man kann es in Büchern
nachlesen."
Félicie
schüttelt den Kopf und dreht ihm den Rücken zu.
"Ich
nicht..."
Er
schweigt einen Moment.
"Ich
könnte Ihnen Bücher in Blindenschrift besorgen lassen."
schlägt er schließlich vor, lässt sich auf der
Chaiselongue nieder und schließt die Augen. Die Diskussion mit
Félicie hat ihn vollkommen erschöpft. Die Leere, von der
er eben noch abgelenkt war, kriecht langsam in sein Bewusstsein
zurück und drückt ihn nieder.
Félicie
beißt sich wütend auf die Lippen.
"Ich
kann nicht lesen... auch keine Blindenschrift. Wir hatten kein Geld
für Bücher, wissen Sie... und ich war auch auf keiner
Schule..."
"Ich
könnte es Ihnen beibringen." murmelt Erik, ein Gähnen
unterdrückend.
Erstaunt
dreht sie sich zu ihm. Sie lauscht, hört das prasselnde Feuer
und sein leises Atmen.
"Das
können Sie?" fragt sie ungläubig. Langsam lässt
sie sich mit gebührendem Abstand zu ihm auf der Chaiselongue
nieder und zwirbelt nachdenklich eine Haarsträhne. "Gibt es
irgendetwas, das Sie nicht können, Monsieur Erik?"
"Sie
meinen abgesehen von Lesen, ein Maßband halten und Menschen
ermorden?" fragt er sarkastisch. "Ich werde mich nun
zurückziehen und etwas ruhen." Er erhebt sich, wird jedoch
von einer Wolke flackernder Lichtpunkte begrüßt, die ihn
unsanft wieder auf die Chaiselongue sinken lässt.
'Verflucht...'
Alarmiert
springt Félicie auf.
"Was
haben Sie? Sind Sie krank?" Ist das vielleicht der wahre Grund
dafür, dass er sterben will? Weil er schwer krank ist?
"Krank?"
zögerlich rutscht er von der Chaise in eine Hocke auf dem Boden
davor, denn sein Kreislauf macht keine Anstalten, sich wieder zu
stabilisieren. "Ich bin nicht mehr der jüngste,
Mademoiselle. Aber es hat wohl eher nicht-körperliche Gründe.
Sie verstehen, ich bin nicht aus einer plötzlichen Laune heraus
auf die Idee gekommen, mich umbringen zu wollen."
Bisher
hat sich Féliciekeine Gedanken über
sein Alter gemacht. Seine Stimme klingt zwar nicht sehr jugendlich,
doch sie hätte nicht gedacht, dass er wirklich alt sein könnte.
Gespannt
lauscht sie auf seine Bewegungen, doch er verharrt weiter auf dem
Fußboden. Vorsichtig legt sie ihm eine Hand auf die Schulter.
"Das
habe ich mir gedacht... Und als ich Ihnen angeboten habe, mir alles
zu erzählen, habe ich das ernst gemeint. Vielleicht geht es
Ihnen besser, wenn Sie mir sagen, was Sie krank macht." Ihr Herz
schlägt ihr bis zum Hals. Selbst durch das Hemd spürt sie,
dass seine Schulter knochig und dürr ist, wie die eines
Menschen, der schon lange Zeit nicht mehr genuggegessen hat. Macht
das seine Krankheit... sein Kummer? Sie widersteht dem Drang, die
Hand von der Schulter zu nehmen und seine Arme zu berühren. Sie
weiß, dass er groß ist und dürr und alt. Dabei
sollte sie es fürs erste belassen. Nicht jeder Mensch möchte
von ihr angefasst werden.
Erik
unterdrückt den Impuls, vor Félicies Berührung zu
fliehen, und er ist viel zu müde, um das Mädchen dafür
anzufahren, dass es auf einmal so zutraulich ist.
"Vielleicht
haben Sie bemerkt," erklärt er leise "dass gerade das
Nachdenken über das, was mich belastet, solche akuten Zustände
auslöst."
‚Und
genau das willst du doch, Idiot. Du weißt, dass du deine
Feigheit nur am emotionalen Nullpunkt überwinden kannst...
Erzähl ihr von Christine. iJetzt/i!'
"Als
Christine noch bei mir war, war ich nicht so... ierbärmlich/i.
Doch es war... es war das einzig richtige, sie gehen zu lassen."
Seine Augen brennen, doch er wagt nicht, seine Maske abzunehmen,
solange Félicie in der Nähe ist. Er räuspert sich.
"Ich dachte, diese Gewissheit würde mir helfen."
Seine
Gedanken wandern zu dem Ausdruck in Christines Gesicht, als er ihre
Hand in Raouls legte. Trauer. Mitleid. Und unendliche Erleichterung.
Es war nicht einfach für sie, zu gehen, doch zu bleiben, war ihr
unmöglich. "Ich liebe sie mehr als alles auf der Welt. Doch
sie konnte mich nicht lieben. Niemand kann einen Mörder lieben.
Niemand kann einen Menschen lieben, der so..."
‚Der
so hässlich ist, wie ich. Sag es! Sag es ihr!'
Erschrocken
krümmt er sich zusammen und schirmt seinen Kopf mit einem Arm
gegen Félicie ab.
"Wenn
Sie mich jetzt alleine lassen könnten, wäre ich Ihnen sehr
dankbar."
‚iFeigling/i!'
Félicie
nimmt langsam ihre Hand von seiner Schulter und lauscht eine Weile in
den Raum. Doch da ist nichts mehr, außer seiner raschen Atmung,
dem Knacken des Feuers und Ayesha. Er schweigt jetzt. Schließlich
nickt sie und erhebt sich.
"Wenn
Sie mich brauchen, ich bin in meinem Zimmer...", sagt sie fast
unhörbar. So ein Unsinn... wieso sollte ausgerechnet er sie
brauchen? Niemand braucht sie.
Bevor
er noch etwas sagen kann, verlässt sie das Wohnzimmer.Als
Félicie gegangen ist, nimmt er seine Maske ab und reibt sich
die Augen.
Seit
er Christine verloren hat, befindet er sich in einem permanenten,
zermürbenden Ausnahmezustand. Eine ständige Müdigkeit
zieht ihn zu Boden und lähmt manchmal selbst seine Gefühle.
Er will nur noch schlafen; schlafen und nie wieder aufwachen.
Mit
einem zufriedenen Schnurren drängt sich Ayesha in die warme
Höhle, die sein zusammengesunkener Körper bildet.
"Ich
könnte dich in Madame Girys Obhut geben." murmelt er gegen
ihren warmen kleinen Kopf. "Nadir hasst alle Katzen, und Jules'
Frau und ihren Kindern vertraue ich dich keine Sekunde an... Ich
sollte auch Félicie nicht zu Jules bringen... Heute Nacht,
wenn sie schläft..." er stemmt sich auf die Chaiselongue "...
werde ich sie wegbringen."
Félicie
liegt in ihrem Bett und hat die Augen fest geschlossen, doch sie
findet keinen Schlaf. Angestrengt lauscht sie den Geräuschen um
sie herum. Und statt Träumen gehen ihr immer wieder Gedanken
durch den Kopf... Er hat so viele Dinge angedeutet und so wenig
tatsächlich erzählt, und sie hätte ihn noch viel mehr
fragen wollen.
Noch
nie zuvor hat sie jemand so offen bedroht – ihr sogar die Hände
um den Hals gelegt. Wenn er dasselbe bei Christine getan hat, dann
könnte sie fast verstehen... nein. Er hätte sie niemals
bedroht. Denn Christine hat er geliebt.
Félicie
erschauert bei dem Gedanken an seine Hände. Knochig und stark...
Viel kräftiger, als sie es ihm zugetraut hat – die Hände
eines Mörders. Aber sie wird nicht noch einmal zulassen, dass er
ihr so eine Angst macht. Jeder Mensch hat eine zweite Chance
verdient. Und wenn er lange bevor sie zu ihm kam, zuletzt gemordet
hat, dann hat er trotz seiner Drohungen vielleicht schon längst
sein altes Leben aufgegeben -
so hofft sie.
Wie
war Christine wohl zu ihm? Er hat gesagt, dass er nicht so erbärmlich
war, als sie bei ihm gewesen ist. Und sie hat ihn womöglich
verlassen, weil er diese schrecklichen Dinge getan hat. Er hat sie
gerächt, aber sie wollte es nicht. Nicht so. Félicie
schüttelte den Kopf. Unmöglich... wenn er seine Christine
so sehr geliebt hat, wie er sagte, dann wäre sie wohl auch in
der Lage gewesen, ihn von den Morden abzuhalten.
Vollkommen
bekleidet liegt sie auf dem Bett und versucht, an nichts mehr zu
denken, um einschlafen zu können. Sie hätte an Christines
Stelle alles versucht, um ihn am Töten zu hindern. Allein Eriks
Freundschaft wäre es ihrwert gewesen. Hier
in Eriks Haus fühlt sie sich zum ersten Mal wohl, weil niemand
sie dafür bemitleidet, dass sie nichts sieht. Und solange Erik
nicht plötzlich auf die Idee kommt, tatsächlich auf sie
acht zu geben, wird es ihr hier auch gefallen. Vielleicht wünscht
sie sich gerade deshalb,dass sie nun auch
etwas für Erik tun könnte.
Fünf
Stockwerke unter der Oper... sie war noch nie in so einem Gebäude...
vielleicht sollte sie Erik bitten, sie nach oben zu bringen und ihr
die Oper zu zeigen. Wenn er hier arbeitet, wird das sicherlich kein
Problem für ihn sein und könnte ihn von seinen bösen
Gedanken ablenken.
Als
er wieder erwacht, ist sein Nacken durch seine unbequeme, halb
sitzende Schlafhaltung völlig verspannt. Knurrend erhebt er
sich, reckt sich und bohrt dann seine Knöchel in den beinharten
Muskel. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass es mitten in der Nacht
ist. Träge geht er in die Küche hinüber, bereitet sich
ein Brot mit Butter zu und isst hastig. Wenn er Félicie
loswerden will, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt. Die Tür
ist geschlossen, doch sie hat den Riegel nicht vorgelegt, so dass er
Christines Zimmer ohne Probleme betreten kann. Leise beginnt er zu
singen, um zu verhindern dass sie aufwacht. Er sollte sie wohl
mitsamt der Decke hochnehmen, damit sie unterwegs nicht zu frieren
beginnt.
'Sie
würde dich jetzt anschreien, wenn sie könnte.' denkt er,
halb amüsiert, halb entnervt, während er seine Arme in die
Wärme unter ihren Leib schiebt und sie hochhebt. Plötzlich
schmiegt Félicie mit einem kleinen zufriedenen Laut ihren Kopf
an seine Schulter. Er erstarrt; und als das Mädchen Anstalten
macht, sich noch weiter auf seine Berührung einzulassen, legt er
sie eilig auf ihr Bett zurück und verlässt den Raum.
Mit
gerunzelter Stirn lässt er sich auf die Chaiselongue in seinem
Zimmer fallen.
Es
war wie damals bei Christine, als er ihre Lust mit seiner Musik
weckte. Diesmal war es keine Absicht, und er geht davon aus, dass
sich Félicie auf einer unschuldigen Ebene von seiner Stimme
angesprochen fühlte, doch diese Situation hätte in ihr die
gleiche Abscheu hervorgerufen, wie sie Christine damals empfunden
hat... Gott, er hätte sich nie dazu hinreißen lassen
dürfen, diese Musik für Christine zu spielen! Vielleicht
wäre sie dann jetzt noch hier! Er hätte ihr mehr Zeit
lassen sollen...
Er
legt seine Hand gegen seine Schulter, um Wärme zu spüren,
wo Christines Kopf lag, als er sie vor vielen Monaten in sein Haus
holte. Schockiert zuckt er zusammen, als er feststellt, dass diese
Erinnerung von der Erinnerung an Félicies Wärme überdeckt
wird.
Sie
erwacht, als es noch vollkommen still um sie herum ist. Sie fühlt
sich ausgeruht, als habe sie seit Ewigkeiten das erste Mal richtiggeschlafen.
Vielleicht, weil sie in dieser Nacht keine Alpträume gequält
haben.
Sie
springt aus dem Bett und geht mit raschen sicheren Schritten ins
Badezimmer. Mittlerweile kennt sie sich in den zwei Räumen so
gut aus, dass sie kaum noch nach der Wand tasten muss, um zu wissen,
wo sie ist.
Vielleicht
sollte sie heute Morgen das Frühstück machen, überlegt
sie. So mager wie Eriks Schulter war, scheint er nicht sehr häufig
für sich selbst zu kochen - obwohl sie noch nie etwas so
leckeres wie in seinem Haus gegessen hat.
Nachdem
sie ihre Morgentoilette beendet hat, geht sie in die Küche und
sucht die Schränke nach etwas ab, das sie in ein Frühstück
verwandeln könnte.
Erik
schaut auf, als Félicie das Esszimmer betritt und zielstrebig
den Weg zur Küche einschlägt. Auf ihrem Gesicht liegt ein
zufriedenes Lächeln, das sie erstaunlich hübsch erscheinen
lässt.
Er
geht ihr nach und beobachtet eine Weile, wie ihre Hände
geschickt und selbstbewusst die Küchenschränke
durchforschen.
"Haben
Sie... diese Nacht gut geträumt?" fragt er dann zögerlich.
Erschrocken
reißt sie die Hände zurück und dreht sich seiner
Stimme zu.
"Mon
dieu! Ich habe Sie nicht gehört", keucht sie. Als ihr
Herzschlag sich wieder beruhigt hat, zuckt sie mit den Schultern und
wendet sich schließlich wieder den Schränken zu.
"Eigentlich habe ich überhaupt nichts geträumt, aber das
ist gut so. Keine Träume heißt auch keine Alpträume."
Sie findet eine Schale mit Eiern und ein Stück Speck "Ist
Ihnen ein Omelette zum Frühstück recht?"
"Oh,
nun, ich habe vor kurzem erst gegessen... Aber ich nehme gern noch
etwas..." ergänzt er hastig, als er ihr enttäuschtes
Gesicht sieht. Vielleicht kann er so tun, als würde er essen? Er
fühlt sich nicht in der Stimmung, eine Diskussion mit Félicie
anzufangen. "Haben Sie oft Alpträume, Mademoiselle?"
Sie
findet eine Schüssel, in der sie die Eier und das Fleisch
verquirlt. Die ganze Zeit über ist sie sich seines
interessierten Blickes bewusst, aber sie ignoriert es.
"Wahrscheinlich
nicht häufiger als andere", weicht sie aus, "Vielleicht
liegt das ganz einfach daran, dass ich mich morgens eher an die
Alpträume erinnere, als an wirklich schöne." Sie gießt
den Inhalt in die heiße Pfanne, so sicher, als hätte sie
schon immer in dieser Küche gekocht. "Vielleicht wissen Sie,
was ich meine..."
Nachdenklich
lehnt er sich gegen die Tür.
"Wovon
handeln Ihre Träume? Von dem, was man Ihnen angetan hat?"
"Ach,
eigentlich... Angetan?" Sie zuckt mit den Schultern, während
sie angespannt dem Brutzeln des Eis lauscht, und die Pfanne vom Herd
nimmt, als es gestockt ist. "Ich glaube, jedes Kind bekommt, wenn
es unartig war, die eine oder andere Tracht Prügel... Ich bin da
überempfindlich... Und davon träume ich auch nicht. Eher
davon, dass Menschen verschwinden. Und manchmal... aber das ist
wirklich ganz selten... da träume ich, dass jemand stirbt..."
Sie lässt das Omelette geschickt auf einen Teller gleiten und
dreht sich zu ihm. "Können Sie etwa auch Träume deuten?"
"Ich
kann meine eigenen Träume deuten, doch Ihre...", er macht eine
entschuldigende Geste, "Träume sind nicht wie Tarotkarten. Die
Karten haben Regeln, eine feste Sprache, man legt sie mit einer
konkreten Frage im Kopf. Doch in Träumen mischen sich
Erinnerungen und sinnloses Zeug unter die bedeutungsvollen Bilder.
Und die Sprache dieser Bilder ist stets die Sprache des träumenden
Geistes, die nur der Träumer selbst spricht... Wer hat Sie
geschlagen? Ihre Mutter? Ihr Vater?"
Langsam
stellt sie den Teller vor ihm auf den Tisch und deutet darauf.
"Mein
Vater... Aber ich hatte es sicher verdient.", fügt sie hastig
hinzu.
Erik
durchquert die Küche, um eine Menühaube aus einem der
Schränke zu holen.
"Sie
haben Angst vor ihm, dennoch nehmen Sie ihn in Schutz." stellt er
fest "Ist er es, der in Ihren Träumen stirbt? Er hätte es
verdient. Wie kann er es wagen, seiner Tochter Gewalt anzutun!"
mit einem wütenden Scheppern stülpt er die Haube über
den Teller, damit das Omelette nicht kalt wird, während Félicie
ein zweites zubereitet.
Félicie
stellt ihren eigenen Teller auf den Tisch und setzt sich. ‚Wer
nimmt hier wen in Schutz?', denkt sie verärgert. Was weiß
er schon über ihren Vater und sie. Wenn er wüsste, was
wirklich geschehen ist… Lustlos stochert sie in ihrem Essen herum
und hält dann inne. "Mein Vater ist es nicht, der stirbt...
Das... das hört sich schrecklich an, aber es würde mir
nicht so nahe gehen, wenn ich davon träumen würde."
Erik
wirft Félicie einen kurzen Blick zu.
"Sie
müssen sich deswegen nicht schämen, wirklich nicht."
‚Ich
habe meine Mutter so oft in meinen Gedanken getötet...'
„Wer
stirbt in Ihren Träumen, Félicie?" Mit unsicheren
Bewegungen nimmt er eine Portion von dem Omelette und kaut
widerwillig darauf herum. Es schmeckt nicht schlecht, doch er hat
keinen Hunger und auch keinen Appetit mehr.
iMadeleine/i.
Allein der Gedanke an sie... Er verzieht das Gesicht.
Félicie
schüttelt den Kopf und legt die Gabel zur Seite.
"Niemand...
bestimmtes... Unterschiedlich..." weicht sie aus. Sie runzelt die
Stirn und räuspert sich. "Schmeckt es Ihnen nicht?"
"Oh,
nein, Sie kochen vorzüglich, nur... ich habe keinen rechten
Appetit." er schiebt seinen Teller von sich und lehnt sich auf dem
Stuhl zurück. "Lassen Sie uns von etwas erfreulicherem reden.
Ich habe Ihre Bestellungen an meine Schneiderin weitergeleitet, und
nun wüsste ich gern, welche Bücher ich für Sie
auftreiben soll."
Nachdem
sie sich eine Weile zurückgezogen hat, sitzt sie nun wieder auf
der Chaiselongue und lauscht dem prasselnden Feuer. Ayesha hat es
sich auf ihrem Schoß bequem gemacht, und Félicie lässt
ihre Hand durch ihr kurzes, glattes Fell gleiten.
"Sagen
Sie, Erik... Der Name Ayesha... woher kommt er?"
Er
hört auf, im Kamin herumzustochern und wendet sich Félicie
zu.
"Er
stammt aus dem arabischen Sprachraum und bedeutet 'lebendig'. Ich
fand sie mitten auf der Straße, in dem Winter, als halb Paris
dabei war, zu verhungern. Es ist ein wahres Wunder, dass niemand sie
gegessen hat."
Félicie
zuckt zusammen und verzeiht angwidert das Gesicht.
"Wer
sollte denn so eine schöne Katze essen?" Vorsichtig krault sie
das Tier im Nacken, verharrt eine Sekunde auf dem seltsam protzigen
Halsband mit den großen Steinen, bevor sie die Hände
sinken lässt. "Waren Sie schon einmal in Arabien?"
"In
Persien." antwortet er widerwillig. "Aber das ist schon sehr
lange her."
Interessiert
richtet sich Félicie auf.
"Sie
waren in Persien? Wie... wie ist es da?"
"Heiß."
"Bitte
erzählen Sie doch etwas von Persien! Ich bin doch niemals aus
Paris herausgekommen!"
Erik
seufzt.
"Es
ist ein Land voller Prinzen und Prinzessinnen. Jeder scheint mit dem
Schah verwandt zu sein. Das Land ist trocken, architektionisch
verarmt... grausam..."
"Das
klingt wie die Märchen, die mir meine Großmutter erzählt
hat... Prinzen... Was haben Sie in Persien gemacht?"
Er
wirft ihr einen langen, unbehaglichen Blick zu. Doch dann beginnt er,
ihr ruhig zu sagen, was sie hören muss, damit sie ihm verzeihen
kann, was er heute Nacht tun wird: "Ich habe einen Palast voller
Menschenfallen für den Schah entworfen und Folterkammern für
die Khanum erdacht. Vor allem aber waren meine Tage damit ausgefüllt,
in königlichem Auftrag politische Abweichler zu töten. Den
Schwager des Schahs allerdings habe ich aus eigenem Antrieb ins
Jenseits befördert, das heißt, befördern lassen. Ich
kam einige Minuten zu spät, um den icoup
de grace/i eigenhändig
auszuführen. Er war der einzige ehrenhafte Mann am Hof, und ich
habe seine Frau zur Witwe und seine Kinder zu Waisen gemacht."
Entnervt
runzelt Félicie die Stirn und seufzt. Muss er schon wieder
damit anfangen? Warum will er sie so zwanghaft davon überzeugen,
dass er den Tod verdient hat?
"Was
haben Sie wirklich in Persien getan? Sind Sie ein Architekt? Oder
sind Sie ein Mörder in Auftrag des Schahs? Was hat Sie dazu
gebracht, Menschen zu töten, die Sie nicht einmal kannten?"
Erik
blinzelt erstaunt. Es scheint, als habe er Félicie
unterschätzt - und als unterschätze Félicie ihn...
"Mademoiselle,
ich bin vieles." knurrt er also gereizt "Architekt, Künstler,
Erfinder, Mörder und Sadist. Und die Bedeutung dieser letzten
beiden Punkte scheinen Sie nicht verstehen zu wollen. An den Händen,
die sich heute um Ihren Hals legten, klebt mehr Blut als sich je
abwaschen ließe. Ein Menschenleben bedeutet mir wenig, ganz
gleich ob Ihres, meines, das von Mirza Taqui Khan oder das eines
beliebigen anderen, der zur falschen Zeit meinen Weg kreuzt. Der
einzige wertvolle Mensch auf diesem Planeten hat mein Leben wieder
verlassen, und ich sehe nicht ein, warum ich mich weiterschleppen
sollte! Momentan sind Sie nichts als ein leicht zu entfernendes
Hindernis für mich. Überdenken Sie dies, bevor Sie Ihren
kleinen Machtkampf mit mir fortsetzen." Damit erhebt er sich und
macht sich auf den Weg zur Tür.
Verärgert
beißt Félicie die Zähne zusammenJedes Mal, wenn er
ihr etwas näher kommen könnte, wenn er sich ihr öffnen
könnte, beginnt er, ihr von seinen Morden zu erzählen. Ob
er sie nur bedroht, um sie auf genügend Abstand zu halten...
damit er keinerlei Beziehung zu ihr aufbauen kann? Aber warum sollte
er das tun?
Traut
er ihr denn wirklich zu, dass sie ihn wirklich vom Selbstmord
abhalten könnte?
"Hören
Sie... nur weil Sie verlassen worden sind, haben Sie noch kein Recht,
mir mit ihren ständigen Morddrohungen Angst einzujagen. Sie
hatten oft genug die Möglichkeit, mich zu töten, und haben
sie nicht genutzt. Ich habe in der letzten Nacht mein Zimmer nicht
einmal verriegelt..." Sie schluckt schwer und geht dann an ihm
vorbei aus dem Wohnzimmer.
Irritiert
schaut Erik ihr nach.
"Mademoiselle,
ich..." setzt er an, doch die Worte bleiben in seiner Kehle
stecken, als er versteht, was gerade geschieht: Da geht Félicie,
blind, doch zielstrebig, mit zornig geballten Fäusten und der
schlichten Weigerung, sich vor ihm zu fürchten... Sie schüttelt
etwas einfach so aus dem Ärmel, das Christine trotz größter
Bemühung seinerseits nicht gelungen ist.
