Nachdenklich
spielen seine langen Finger mit dem Flacon voll Laudanum.
Sein Plan war,
Félicie die Droge beim Abendessen einzuflößen und
sie, derart betäubt, zu Nadir zu schaffen. Doch nun hat er
Zweifel. Der Ausweg 'Selbstmord' erscheint ihm plötzlich wieder
weit weg, fremd und... zu drastisch. Denn wie kann er vor der kalten
Leere seines Lebens kapitulieren, wenn es plötzlich gefüllt
ist mit jemandem, der sich weigert, sich vor ihm zu fürchten,
jemandem, der ihm stur Paroli bietet und ihn mit einer Beharrlichkeit
zu Machtkämpfen herausfordert, die ihn an die Khanum erinnern
würde, wenn Félicie sich dabei nicht so erstaunlich
infantil gebärden würde. Er macht sich keine Illusionen
darüber, dass sie aus Sympathie für ihn so handelt, die
Neugier und die Angst vor Schuldgefühlen, die sie ihm gestand,
scheinen ihm weitaus wahrscheinlichere Motive zu sein. Dennoch. Sie
hasst und fürchtet ihn nicht.
Mit einer
geschickten Bewegung lässt er den Flacon wieder in die Schublade
zurückspringen, aus der er ihn geholt hat. Dann sitzt er eine
Weile still da, und fragt sich, wofür er sich gerade überhaupt
entschieden hat.
Vielleicht dafür,
erst einmal nicht mehr über morgen nachzudenken.
Sie hat die Tür
nur angelehnt und als sie auf dem Bett liegt, hört sie, wie
Ayesha hereinkommt. Mit einem entschiedenen Sprung hüpft die
Katze zu Félicie aufs Bett und macht es sich auf ihrem Bauch
bequem. Félicie seufzt und lauscht. Erik scheint das Tier
nicht zu vermissen, denn die Wohnung bleibt still. Sie weiß
selbst nicht, woher sie den Mut nimmt, sich immer wieder gegen ihn zu
wehren. Langsam lässt sie ihre Hand über Ayeshas schlanken
Körper gleiten und schläft schließlich ein.
Der nächste
Tag findet ihn in erstaunlich guter Laune.
"Bon matin,
Jules." grüßt er seinen Diener, als er leise aus den
Kellern in die Dunkelheit eines noch sehr frühen Wintermorgens
hinaustritt.Der kleine
vollbeladene Mann zuckt erschrocken zusammen, doch dann verneigt er
sich ungeschickt und überreicht seine beiden voluminösen
Pakete.
"Monsieur,
ich konnte nur eines der Bücher auftreiben und das letzte Kleid
wird erst im Laufe des Tages fertig werden."
Erik nickt kurz
und wendet sich zum Gehen.
"Bringen Sie
es mir mit der nächsten regulären Lieferung."
"Sehr wohl,
Monsieur..." er zögert "Monsieur...?"
"Ja, Jules?"
"Ich... ich
wünsche Ihnen Glück."
Erstaunt mustert
Erik seinen verschüchterten Diener.
"Danke..."
murmelt er schließlich und verschwindet im Labyrinth unter der
Oper.
Als er Félicies
angelehnte Tür sieht, runzelt er die Stirn und fragt sich,
wieviel an ihrem Verhalten aus Mut und wieviel aus Dummheit
resultiert.
"Félicie?"
er klopft leise "Der Paketbote war da..."
Mit eiligen
Schritten verlässt sie das Bad und öffnet zaghaft die Tür.
Sie streckt nur den Kopf heraus.
"Hat er die
Kleider gebracht? Oh, Monsieur... ist vielleicht auch ein Stück
Stoff für mich dabei... oder hätten Sie vielleicht eines
für mich?" Sie spürt, dass sie bis zu den Haarwurzeln
errötet und wendet beschämt den Kopf von ihm. Das schöne
Kleid seiner Christine muss befleckt sein. Aber an ihre Monatsblutung
hat sie nun wirklich nicht gedacht, als sie vor drei oder vier Tagen
auf den Friedhof gegangen ist. Und nun ist sie in einer völlig
fremden Wohnung, krümmt sich förmlich vor Bauchkrämpfen
und muss einen Mann um Hilfe bitten.
Irritiert mustert
Erik Félicies knallrotes, verkniffenes Gesicht.
"Oh..."
murmelt er dann, als er sich an eine ähnliche Szene mit
Christine erinnert. Er räuspert sich. "Seien Sie ganz
ruhig. Sie können die Handtücher im Bad benutzen. Eine
Schere ist im..." er unterbricht sich, als ihm einfällt,
dass er die Schere aus dem Zimmer entfernt hat "Nähzeug,
eine Schere und ein Band bringe ich Ihnen. Auch etwas gegen die
Schmerzen. Warten Sie im Bad, ich werde die Sachen auf den
Schreibtisch legen."
Sie nickt dankbar
und will sich abwenden, doch dann...
"Monsieur?"
Sie wartet, bis er sich wieder zu ihr dreht und fährt dann mit
gesenktem Kopf fort. "Das Kleid... ich fürchte, das Kleid
ist verdorben..." Sie hält die Luft an und wartet auf
seinen Wutausbruch.
Doch Erik zuckt
nur mit den Schultern.
"Legen Sie es
aufs Bett, ich werde es dann entsorgen. Es hat Ihnen ja ohnehin nicht
gepasst."
'Und Christine hat
es nie getragen.' ergänzt er stumm.
"Aber mit den
neuen Kleidern geben Sie bitte etwas mehr acht... Kann ich sonst noch
etwas für Sie tun?"
Félicie
schüttelt stumm den Kopf und wendet sich ab, um ins Badezimmer
zu gehen. Seltsam, dass er so gelassen darauf reagiert hat, denkt sie
sich. Wo er doch bei der Vase völlig von Sinnen war. Sie kniet
sich auf den Läufer vor der Badewanne und lauscht dem Rauschen
des Wassers. Vielleicht hat sie sich getäuscht... vielleicht war
es nicht Christines Kleid sondern das seiner Mutter. Die scheint er
ja nicht gerade zu vermissen.
Als
sie in das heiße Bad steigt, wartet sie darauf, dass Erik im
Nebenzimmer das Nähzeug und die Bänder bereit legt.
Leise stellt Erik
das Tablett auf dem Schreibtisch ab und klopft dann kurz an die
Badezimmertür.
"Ich habe
Ihnen ein Schmerzmittel und einen entkrampfenden Tee zubereitet. Sie
sollten beides zusammen einnehmen, einen halben Löffel von dem
Schmerzmittel auf eine Tasse Tee, bis Sie eine Linderung Ihrer
Beschwerden feststellen... Wenn Sie möchten können wir
nachher etwas spazieren gehen... Falls Ihnen das auch hilft."
Er geht zum Bett
hinüber und hebt das Kleid auf. Dabei verbietet er sich, das
Blut zu betrachten, er weiß, es wäre Félicie nicht
recht. Dennoch ist es interessant. Für ihn ist Blut
gleichbedeutend mit Tod, doch hier ist Blut, das die Fähigkeit
beweist, Leben hervorzubringen.
Wie lange es wohl
dauert, bis Christine Raoul einen ersten Erben schenkt... Bei dem
Gedanken krampft sich seine Hand in den grünen Stoff des
Kleides.
Nachdem sich
Félicie auf dem Bett ausgeruht hat, bis der Tee und das
Schmerzmittel begonnen haben zu wirken, verlässt sie das Zimmer.
Immer wieder streichen ihre Hände bewundernd über den
feinen Seidenstoff ihres Kleides.
Sie findet Erik im
Wohnzimmer und wartet eine ganze Weile im Türrahmen, bis er sich
zu ihr umdreht.
"Monsieur?
Darf ich Sie um etwas bitten?"
Er legt sein Buch
beiseite.
"Natürlich."
Sie
tritt näher.
"Könnten
Sie mir wohl die Oper zeigen? Ich war noch nie in so einem
Gebäude..."
"Ich
kann Ihnen das Dach zeigen. Um die Oper selber zu besuchen, müssen
wir warten, bis das übliche Tagesgeschäft vorüber
ist."
"Das Dach."
wiederholt sie langsam und kann ihre Enttäuschung nicht
verbergen. "Aber... warum müssen wir warten? Ich dachte Sie
arbeiten hier..."
"Ich bin
inoffizieller künstlerischer Berater der Direktion und weder bei
ihr noch bei den sonstigen Mitarbeitern der Oper sonderlich beliebt."
antwortet er ausweichend.
Er ist nicht
ehrlich... Sie kann es spüren. Es ist die Art wie er spricht...
Félicie schüttelt den Gedanken ab und beschließt,
es vorerst dabei bewenden zu lassen.
"Wann
werden wir die Oper denn dann besuchen können?"
"Heute Nacht,
wenn Sie möchten. Die Vorstellung geht bis kurz vor elf Uhr, die
letzten Angehörigen der Ensembles sind um spätestens zwölf
Uhr aus dem Haus. Danach gehört die Oper mir und ich lade Sie
herzlich ein, Sie mit Ihren Händen zu erkunden..." er
richtet sich in seinem Sessel auf "Das Kleid steht Ihnen
übrigens sehr gut. Wollen Sie wissen, welche Farbe es hat?"
Sie rümpft
die Nase und schüttelt den Kopf.
"Es hat ein
helles Himmelblau und ist an den Säumen mit dunkelblauer
Stickerei abgesetzt. Es betont Ihren blassen Teint."
Sie kann sich ein
tiefes Seufzen nicht verkneifen.
"Monsieur,
darunter kann ich mir nichts vorstellen. Wie sieht dieses Blau aus?"
"Wie sieht
dieses Blau aus..." wiederholt er nachdenklich "Leicht..."
er hebt seine Hand und reibt seine Finger gegeneinander "Kühl...
frisch... Wie ein... Bachlauf... eine kühle Brise..."
Félicie
lächelt zufrieden.
"Das ist
schön. Der Stoff fühlt sich auch sehr angenehm an... Danke
sehr." Sie lässt sich auf die Chaiselongue sinken.
"Besuchen Sie niemals eine Vorstellung in der Oper?" fragt
sie dann unvermittelt.
"Nein. Nicht
mehr." antwortet Erik leise.
Sie stutzt. Noch
ein Teil in seinem Puzzle
"Dann
sind die Vorstellungen nicht mehr so gut?" fragt sie vorsichtig.
"Nein."
er erhebt sich und geht zum Bücherregal, um sein Buch mit einer
ruckartigen Bewegung wieder an seinen Platz zu räumen. "Die
einzige Sängerin, deren Stimme hörenswert war, hat Paris
wieder verlassen."
So wie er das
sagt, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Seine Mutter oder... Sie
senkt den Kopf.
"Diese...
diese Sängerin... das war Ihre Christine?"
Erik schließt
die Augen und atmet tief durch.
"Ja."
antwortet er schließlich.
Irgendwie sollte
sie das Thema ganz schnell wechseln, das spürt sie. An Christine
zu denken, macht ihn unglücklich und manchmal wütend. Sie
presst die Lippen aufeinander und denkt nach.
"Ich
habe noch nie eine Oper gehört... Und ich darf mich wirklich
dort umsehen?"
"Sie können
die ganze Nacht jeden Winkel erkunden, der Sie interessiert."
antwortet er, stößt sich vom Regal ab und tritt ein paar
Schritte zurück.
"Die
ganze Nacht? Gibt es denn niemanden, der auf das Gebäude achten
muss? Einen Nachtwächter?" erkundigt sie sich verwundert.
"Einen
schlafenden Nachtwächter." antwortet Erik beiläufig,
während seine Augen die Buchreihen mustern.
Sie legt den Kopf
schräg und lauscht.
"Suchen Sie
etwas?"
"'Die
Cameliendame', das Buch, das ich Ihnen in Brailleschrift habe
besorgen lassen. Ich suche meine Ausgabe..."
"Sie
wollen mir also wirklich das Lesen beibringen?" fragt sie
ungläubig. Bisher hat sie das Ganze nur für eine seiner
Launen gehalten. Eine Idee, die er gleich wieder verworfen hat. Und
nun? Nun fürchtet sie sich davor, sich so dumm anzustellen, dass
sie ihn enttäuscht.
"Da ist es
ja." er zieht das Buch aus dem Regal und bläst eine kleine
Wolke von Staub herunter. "Die Literatur gehört allen
Menschen, Félicie, auch Ihnen, und Sie sollten daran teilhaben
können. Außerdem bin ich selbst neugierig auf die
Funktionsweise der Blindenschrift."
"Glauben
Sie wirklich, dass ich so etwas lernen kann? Ich... ich war nicht
einmal auf einer Schule... alles was ich kann, ist ein wenig
kochen... und etwas Nähen..." sie zuckt hilflos mit den
Schultern "Mir hat noch niemand so etwas zugetraut..."
"Und
ganz offensichtlich sind Sie selbst Ihre größte
Zweiflerin." stellt Erik trocken fest. "Es liegt bei Ihnen,
Mademoiselle, ob sie es versuchen wollen oder nicht. Doch ich sehe
keinen Grund, warum Sie die Blindenschrift nicht meistern sollten."
Sie errötet
bis zu den Haarspitzen.
"Und
falls ich es doch nicht schaffe... würden Sie mir dann etwas
vorlesen? Oder bis ich es wirklich gut kann... Meine Großmutter
hat mir immer vorgelesen."
Erik erstarrt
kurz. Ist an jede noch so kleine Tätigkeit, jedes Wort, jedes
Bild, die schmerzhafte Erinnerung an Christine geknüpft? Er
sieht sie, wo immer er hinschaut, und selbst im Rascheln von Félicies
Kleid vermeint er, sie zu hören.
Plötzlich
empfindet er Wut.
"Ich
werde Ihnen mit Vergnügen vorlesen, Félicie."
antwortet er kurz. "Wollen Sie nun das Dach der Oper besuchen
oder etwas am See spazieren gehen?"
"See?
Gibt es vor der Oper einen See?"
"Nicht davor,
darunter." er geht zur Chaiselongue hinüber und lässt
sich – mit gebührendem Abstand zu Félicie – darauf
sinken. Das Buch weiter durchblätternd fährt er fort: "Man
stieß bei der Ausschachtung für das Fundament auf einen
Seitenarm der Seine. Die einzige Lösung dieses Problems sah ich
darin, das Wasser zu kanalisieren."
"Sie?"
Sie richtet sich auf und dreht sich zu ihm. "Ich dachte, Sie
wären künstlerischer Berater hier?"
"Wie
ich bereits sagte, bin ich vieles, Mademoiselle Félicie."
er klappt das Buch geräuschvoll zu und legt es auf den
Beistelltisch neben der Chaise. "Treffen Sie nun eine
Entscheidung bezüglich des Tagesablaufes oder muss ich erst
wieder barsch werden?"
"Nun,
dann gehen wir wohl heute Nacht in die Oper." seufzt sie
"Vielleicht könnten Sie mir jetzt schon etwas
Blindenschrift erklären..." Sie reibt nervös die Hände
aufeinander. "Gibt es jedes Buch in dieser Brailleschrift?"
Erik lehnt sich
auf der Chaiselongue zurück und mustert Félicie
durchdringend.
"Das
Warten gefällt Ihnen nicht, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen
sage, dass es auch für Sie besser ist. Wenn es einen
Menschenschlag gibt, von dem man nicht iangestarrt/i
werden möchte, so sind es die Besucher der Opéra
Garnier... Aber Sie möchten mit der Blindenschrift beginnen."
Er nimmt einen Zettel vom Beistelltisch, überfliegt ihn kurz und
legt ihn dann wieder zurück, um eine Karte aus dickem Papier
aufzunehmen und sie Félicie zu reichen. "Theoretisch ist
es möglich, jedes Buch der Welt in Brailleschrift zu übersetzen,
denn diese Schrift funktioniert, genau so wie die übliche
visuelle, mit Buchstaben. Doch statt durch Formen aus Tinte wird das
Alphabet durch Erhebungen im Papier symbolisiert, die in einem
Sechserraster angeordnet sind. Oben links... nein, etwas weiter
unten... etwas weiter rechts... warten Sie..." er berührt
kurz ihre Hand, um sie an die gemeinte Stelle auf der Karte zu
führen."... Dies ist das A, der erste Buchstabe des
Alphabets. Daneben liegt das B, dann kommt das C. Anzahl und Position
der Erhebungen variieren von Buchstabe zu Buchstabe."
Ihre Fingerspitzen
ertasten kleine Erhebungen auf dem Papier. Es fällt ihr schwer,
sich auf die kleinen Unterschiede zu konzentrieren. Er hat sie nicht
sofort berührt, sondern erst versucht, ihr die Schrift mit
Worten zu erklären. Ein wenig freut sein sich schon darüber,
wo doch ihr Streit über das Vermessen erst so kurz zurückliegt.
"Das... das
ist fast wie bei einem Würfel... nur ohne Vertiefungen."
Sie runzelt die Stirn und beginnt, die Reihen von vorne abzutasten.
"Ich glaube, es wird einige Zeit dauern, bis ich mir alle
Buchstaben wirklich gemerkt habe." seufzt sie.
"Nun reden
Sie sich die Aufgabe nicht schwieriger, als sie ist, Mademoiselle.
Ich habe es gezählt, Sie müssen sich lediglich
sechsundfünfzig Informationsverknüpfungen plus die
Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet aneignen. Gemessen an dem
Informationsschatz, der sich bereits in Ihrem Gedächtnis
befindet, ist das wirklich eine Winzigkeit. Nun. Ich denke, wir
beginnen mit den ersten fünf Buchstaben, die da wären: A,
B, C, D und E..."
Nachdem sie ihren
neuen Umhang angelegt hat, geht sie zurück in das Wohnzimmer, wo
Erik auf sie wartet. Ihr Herz klopft vor Aufregung bei dem Gedanken
daran, dass sie gleich die Oper erkunden darf. Sie... ohne dass man
sie wegjagen wird, weil man ein schmutziges Straßenmädchen
nicht in einem so vornehmen Gebäude haben will.
"Ich... bin
fertig... Können wir gehen?"
Der Anblick ihres
aufgeregten Gesichtes mit den strahlenden roten Wangen zwingt ein
Lächeln auf Eriks Gesicht.
"Folgen Sie
mir..." Im Vorbeigehen nimmt er einen Umhang für sich von
der Garderobe. Dann betätigt er den Mechanismus, der die Wand,
die seine Haustür darstellt, bei Seite gleiten lässt.
Félicie
lauscht und folgt ihm langsam. Sie hat ihren Stock bei sich, mit dem
sie die unbekannte Umgebung um sich herum erkundet, denn bei Eriks
katzenhafter Art zu gehen, hat sie Angst, zu überhören,
dass er um eine Ecke geht.
"Erzählen
Sie mir etwas über die Oper bis wir da sind?" bittet sie
ihn schließlich.
"Die
Bauarbeiten wurden 1861 aufgenommen." beginnt er bereitwillig
"Der verantwortliche Architekt war Charles Garnier. Sein Entwurf
hatte in einer freien Ausschreibung gewonnen. Das bedeutet, man
musste an der Villa Medici studiert haben, um seinen Entwurf
einreichen zu dürfen. Leider habe ich zu spät davon
erfahren." mit einer heftigen Bewegung reißt er ein
Streichholz an und entzündet die Sturmlaterne. "Darf ich
Ihnen beim Einsteigen behilflich sein?" Als sie nicht
protestiert, nimmt er ihren Oberarm und führt sie. "Ich
traf Garnier und... wir einigten uns darauf, dass ich den Bau leiten
sollte..."
Gebannt lauscht
Félicie Eriks Ausführungen über die Oper, doch
schließlich wird ihre Aufmerksamkeit auf die Geräusche,
die sie umgeben gezogen. Durch den See klingt alles ganz anders.
Tropfen fallen von der Decke ins Wasser, während Erik
gleichmäßig rudert. Allem folgt ein beinahe ebenso lautes
Echo. Sie schnalzt mit der Zunge und grinst, als das Geräusch
von irgendwo her zurückgeworfen wird. Als sie davon überzeugt
ist, Erik damit nicht zu stören, erfindet sie immer neue Laute
und freut sich ganz offen über das Echo.
"Es ist
wunderschön hier unten". Sie klatscht begeistert in die
Hände.
"Seien Sie
vorsichtig." entgegnet Erik ernst, und lässt seine Stimme
klingen, als käme sie aus den dunklen Weiten der Katakomben und
würde als Echo von seinem Körper zurückgeworfen...
"Sie könnten mit Ihrem Spiel die Sirene an..." In
diesem Moment beginnt ein leiser, schwebender Gesang aus dem Wasser
etwa zehn Meter neben dem Boot zu steigen. "... anlocken."
beendet Erik seinen Satz, wieder mit normaler Stimme. "Sitzen
Sie ganz still und halten Sie sich vom Bootsrand fern, bis sie das
Interesse verliert." Er treibt das Boot mit einem letzten
kräftigen Schlag an und zieht dann die Ruder ein, während
die Stimme das Gefährt in respektvollem Abstand umkreist. "Ich
habe sie gezähmt, doch sie ist und bleibt unberechenbar."
Félicie
krallt sich am Boot fest und schüttelt den Kopf.
"Haben Sie
das vorhin mit Ihrer Stimme gemacht?" flüstert sie
ungläubig, bedacht darauf, leise genug zu sein, um die Sirene
nicht auf sich aufmerksam zu machen. Ihre Hände sind
schweißnass. "Diese... diese Sirene... ist das ein
Ungeheuer, das hier im See lebt?" Sie macht sich ein wenig
kleiner auf ihrem Platz und lauscht.
Erik lächelt
traurig hinter seiner Maske.
"Ein
Ungeheuer? Hören Sie doch ihre Stimme, Mademoiselle. Kann ein
Ungeheuer eine solch wunderschöne Stimme haben?" Er senkt
die Ruder wieder ins Wasser und lässt den Gesang der Sirene für
ein paar Herzschläge in seine Kehle zurückspringen, eher er
stumm weiterrudert.
"Sie... das
war auch Ihre Stimme? Sie haben das alles mit Ihrer Stimme gemacht?"
fragt sie verwirrt und schüttelt den Kopf. "Aber...
wie...?"
"Schall ist
in Schwingung geratene Luft." erklärt Erik eine Spur
gelangweilt und legt das Boot am Kai an "Mit diesen Schwingungen
kann man spielen, sofern man herausfindet, wie sie beschaffen sein
müssen, damit ein bestimmter Klangeindruck von jeder beliebigen
Stelle des Raumes aus erzeugt wird... Doch machen Sie sich keine
Sorgen, dass ich diesen Trick jemals gegen Sie verwenden könnte."
ergänzt er ernst, während er ihren Arm nimmt, um ihr beim
Aussteigen zu helfen. "Nun folgen Sie mir."
"Sie
erstaunen mich, Erik." sagt sie ehrfürchtig. "Sie
können wirklich alles, und das was sie nicht können,
bringen Sie sich selbst bei, wie die Brailleschrift." Dann
seufzt sie auf und folgt ihm. "Also muss ich hier unten gar
keine Angst haben..." versichert sie sich selbst. "Es gibt
überhaupt keine Ungeheuer..."
"So ist es.
Ich bin die einzige Kreatur, die durch diese Keller spukt."
Vorsichtig
geleitet Erik Félicie durch das Labyrinth aus geheimen
Treppen, Gängen und Türen, bis sie schließlich mit
dem Foyer de la Danse den offiziellen Bereich des Opernhauses
betreten.
"Atmen Sie
tief ein, Mademoiselle..." befielt Erik mit einem sarkastischen
Unterton "Riechen Sie die Reste teuren und billigen Parfums, die
noch in der Luft hängen? Die protzigen Blumenbouquets in Liebe
entbrannter Jünglinge und Greise?" er macht eine ausladende
Geste, die seinen Umhang geräuschvoll schwingen lässt
"Willkommen in der dekadenten Welt der Oper. Willkommen in
meinem Reich..."
Vorsichtig berührt
Félicie die Wand zu ihrer rechten. Der Stein fühlt sich
so glatt und edel an, dass sie rasch die Hand zurückzieht, aus
lauter Angst, dort schmutzige Fingerabdrücke zu hinterlassen,
obwohl sie sich bei Erik so oft wie noch nie waschen konnte. Sie
seufzt.
"Was
ist das für ein Stein, Monsieur?" Sie ignoriert bewusst den
seltsamen Unterton in seiner Stimme. Warum hat er nur eine solche
Abneigung gegen das Gebäude das er selbst gebaut hat?
"Marmor."
antwortet er kurz und geht in die Hocke, um ungläubig mit den
Fingerspitzen über eine tiefe Scharte weit unten am Fuße
der Säulen zu seiner linken zu fahren. "Was zur Hölle..."
murmelt er leise und ballt seine Hände zu Fäusten. Hastig
richtet er sich wieder auf, um auch die nebenliegenden Säulen zu
mustern, doch sie sind unversehrt.
Er presst die
Lippen zusammen.
Es ist nur
natürlich, wenn an einem Gebäude Gebrauchsspuren
auftauchen, sagt er sich selbst. Diese kleinen Narben geben der Oper
erst ihren Charakter. Doch dieses Zureden lässt seine Wut auf
die ignoranten Menschen, für die dieser Schrein der Musik nur
ein großer Haufen Steine ist, kaum abkühlen. Gereizt
wendet er sich ab.
"Verzeihen
Sie, was haben Sie gesagt?" fragt er dann Félicie, die
schon seit einer Weile mit ihm zu reden scheint. "Ich war
abgelenkt..."
"Ist etwas
passiert?" erkundigt sie sich und zieht die Augenbraue in die
Höhe.
"Eine
Verletzung im Stein... Nichts wichtiges." knurrt Erik.
Félicie
schmunzelt. Er nimmt seinen Beruf als künstlerischer Berater
wohl sehr ernst, wenn er bei beschädigten Gegenständen von
Verletzungen spricht. Sie entgegnet nichts, dreht sie sich um die
eigene Achse, lauscht und lächelt zufrieden.
"Dieses
Gebäude ist riesig, nicht wahr? Man könnte ohne weiteres
hier leben, wahrscheinlich viele Jahre lang, ohne dass irgendjemand
etwas davon merkt..." Vorsichtig lässt sie ihre Hand wieder
über die glatte Oberfläche des Mamors gleiten.
Erstaunt über
die Zielsicherheit, mit der ihre Phantasie den Nagel auf den Kopf
getroffen hat, blickt Erik Félicie an.
"Es gibt
nichts schöneres, als in diesem Reichtum der Schönheit
spazieren zu gehen." er lässt seine Hände über
eine Wandverzierung spielen "Doch immer hier zu leben... das ist
zu einsam."
Félicie
runzelt die Stirn und legt den Kopf schief.
"Wie lange
leben Sie schon hier?" fragte sie leise, während sie
weitergeht und andächtig jede Säule mit den Fingern
berührt. Und wie lange ist es her, dass Christine fortgegangen
ist, fügt sie in Gedanken hinzu, wagt aber nicht, diese Frage
laut zu stellen.
"Oh... seit
zwanzig Jahren." antwortet er gedankenverloren. Diese Wände
bräuchten in der Tat einen neuen Anstrich...
Sie erstarrt in
ihrer Bewegung und dreht sich zu ihm.
"Zwanzig
Jahre? Das ist... so lang..." Und dann hat er erzählt dass
er noch in Persien gewesen ist... er muss älter sein, als sie
angenommen hat. "Sind Sie denn in Paris geboren?" hakt sie
nach.
Erik löst
seine Aufmerksamkeit von der Wand und wendet sich einer der Statuen
zu, an deren Füßen der weiße Stein durch die
Goldfarbe zu schimmern begonnen hat.
"Ich wurde in
Saint Martin de Boscherville geboren, einem Dorf nahe Roumare."
Félicie
schüttelt den Kopf und zuckt etwas hilflos mit den Schultern.
"Tut mir
leid... ich war niemals außerhalb von Paris... ist... ist das
weit fort von hier?"
"Es liegt ein
Stück nord-westlich von Paris. Haben Sie schon einmal von Rouen
gehört? Das ist die nächste größere Stadt."
Nachdenklich
bleibt sie stehen.
"Und wie alt
sind Sie?" fragt sie dann.
"Fünfzig...
oder einundfünfzig."
"Ich bin
dreiundzwanzig..." sagt sie leise. Er ist älter als ihr
Vater, denkt sie, aber sie spricht den Gedanken nicht aus. Ist es ihm
unangenehm, sein genaues Alter zu nennen? Womöglich ist er noch
viel älter... Sie widersteht der Versuchung, weiter danach zu
fragen.
"Sie waren in
Persien... Und... Haben Sie außerdem noch mehr Länder
bereist?"
"Ja...
Italien... Spanien..." er mustert die schon reichlich
abgegriffene Türklinke "Russland... Deutschland...
Belgien... Ich werde es Ihnen auf einem Globus zeigen, wenn Sie
möchten..."
Verärgert
wendet sie sich ab.
"Machen
sie sich nicht über mich lustig! Auf einem Globus werde ich wohl
nichts erkennen."
Sie entfernt sich von ihm und bleibt vor einer großen
Säule stehen.
"Es gibt
Reliefgloben für Blinde, Mademoiselle." erklärt Erik
würdevoll "Ich muss nur einen in Auftrag geben. Also?"
Trotzig schiebt
sie die Unterlippe vor.
"Haben sie
eigentlich für alles Bedienstete?"
Er runzelt die
Stirn.
"Bedienstete?
Mademoiselle, ich tätige lediglich den fairen Tausch von Geld
gegen Arbeitskraft. Jules macht meine Besorgungen, dafür können
seine Kinder an der Sorbonne studieren; die Schneiderin näht
meine Kleider, dafür kann sie sich und ihrer Familie
Nahrungsmittel und eine Wohnung leisten. Wozu ist Geld gut, wenn
nicht dazu, Lebensgrundlagen zu sichern?" Prüfend bewegt er
die Tür in den Angeln.
Félicie
schüttelt den Kopf und versucht, das störende Geräusch
zu überhören, das er mit der Tür macht. Seufzend geht
sie weiter.
"Es ist schön
für Sie, dass sie mit so einer Leichtigkeit über Geld
sprechen können." Als ob sie nicht selbst gut genug weiß,
wie wichtig Geld zum Überleben ist. Und sie weiß, auch,
was es bedeutet, kein Geld zu haben. Wahrscheinlich zählt Erik
zu den Menschen, die sich eine ganze Woche lang gut fühlen, wenn
sie jemandem wie ihr einen Sous zugesteckt haben.
Erik hält
inne und lehnt sich gegen das Türfutter.
"Ich weiß
auch, was Armut bedeutet, Félicie." entgegnet er dann
fest. "Absolute Armut... Nun kommen Sie, ich werde Ihnen das
Foyer de la Chante zeigen."
Sie folgt ihm
zögerlich, während ihre Hände niemals die Wand
loslassen.
Sie wünscht
sich nichts mehr, als endlich Antworten auf all die Fragen zu
erhalten, die ihr auf der Zunge brennen. Mittlerweile kommt sie sich
unverschämt neugierig vor und kann doch nicht anders, als
ständig nachzuhaken.
"Woher wissen
Sie das, Monsieur Erik?"
Erik lacht leise;
kalt und bitter.
"Ich
habe in dieser Armut gelebt, Mademoiselle. Wie ein iTier/i.
Nun kommen Sie und legen Sie Ihre Hände auf noch mehr
Kostbarkeiten..."
Félicie
beißt sich auf die Lippe um die Frage zurückzuhalten. Sie
kann unmöglich... Es sind einfach zu viele Fragen und wenn sie
jetzt noch mehr zurückhält, wird sie noch verrückt vor
Neugier. Sie seufzt tief.
"Sie waren
arm? Aber... aber... wie haben Sie es geschafft... wie sind Sie so
geworden... haben Sie auch auf der Straße gelebt wie ich?"
platzt es aus ihr heraus. Gelebt wie ein Tier... nein dieser
Vergleich klingt selbst für das, was sie erlebt hat, viel zu
streng. Und trotzdem hat sie das Gefühl, endlich jemanden
getroffen zu haben, der sie versteht... dem es genauso ging wie ihr.
Steif tritt Erik
durch die Tür.
"Auf der
Straße, ja. Unter anderem. Nun. Wollen Sie mich ausfragen oder
die Oper erkunden?"
Beides, denkt sie.
"Verzeihen
Sie bitte... meine ständige Fragerei... ist ziemlich unhöflich,"
würgt sie hervor. "aber..." Sie verstummt. Wenn sie
jetzt noch etwas sagt, wird sie wahrscheinlich eine neue
Auseinandersetzung mit ihm riskieren, und damit möchte sie sich
nun wirklich nicht den Abend verderben. Dafür ist dieses Gebäude
viel zu schön. Also folgt sie ihm durch die Tür.
Gitterstäbe,
Gestank, Kälte. Und Christine ist nicht bei ihm. Wieder und
wieder schiebt er die Gedanken bei Seite, doch sie kehren stets
zurück, und je später es wird, desto mehr beginnt sein
Widerstand zu bröckeln. Dennoch zwingt er seine Hand,
weiterzuschreiben.
Strich für
Strich, Buchstabe für Buchstabe nimmt der Auftrag für Jules
Gestalt an. Sein Blick streift kurz die Braille-Schreibwerkzeuge auf
seinem Sekretär. Er kann wirklich froh sein, dass Félicie
eine blinde Analphabetin ist. Einer Sehenden das Schreiben
beizubringen, hätte er nicht über sich gebracht.
Als der Auftrag
fertig geschrieben, adressiert und versiegelt ist, legt Erik seine
Stirn auf die Tischplatte und seufzt.
Schlafen. Wenn er
doch nur schlafen könnte!
Er lässt
einen Arm vom Tisch rutschen und schaut zu dem Päckchen mit dem
Morphium hinüber. Eine leichte Überdosis...
Der Drogenschlaf
wird ihm kaum Erholung bescheren, doch er wird das Gedankenkarussell
stoppen, bevor seine Stimmung noch tiefer in die Depression gesunken
ist.
Der nächste
Morgen findet ihn in einem bedrückten doch ruhigen Zustand; und
als er sich erhebt, macht sein Kreislauf keine Schwierigkeiten.
Während er
das Frühstück zubereitet, lauscht er auf Schritte im Haus,
doch der Duft des Essens scheint nicht auszureichen, um Félicie
aus ihrem Bett zu locken. Er schaut auf die Uhr; halb zwölf...
Er wird sie wohl wecken müssen.
Gerade noch hat
sie fest geschlafen, doch als es an der Tür klopft, fährt
sie hoch und zieht die Decke instinktiv bis unter das Kinn.
Der Essenduft, der
sie in der Nase kitzelt, erinnert sie an Erik. Sie ärgert sich,
weil sie sich vorgenommen hat, ihn zumindest einmal am Tag zu
bekochen. Das ist das Mindeste, was sie ihm zurückgeben kann.
"Ich komme
sofort." ruft sie ihm zu. Während sie sich nun langsam
erhebt und in ihr Kleid schlüpft, fügt sie alle
Puzzlestücke zusammen, die sie bisher über Erik gesammelt
hat. Er lebt allein unter der Oper, offenbar von seiner großen
lieber, einer Sängerin namens Christine, verlassen. Erik kann
sehr vieles, er hat am Bau der Oper mitgewirkt, ist weit gereist und
kann erstaunliche Dinge mit seiner Stimme. Zu seiner Mutter die nun
tot ist, hat er scheinbar kein sehr gutes Verhältnis gehabt.
Und... er ist ein Mörder... Sie schüttelt die Gedanken ab
und tastet nach der Haarbürste die auf ihrem Nachttisch liegt
Sie muss ihn einfach fragen... Sie wird ihre Neugier nicht bezähmen
können und sie will wissen, was er mit seinem ständigen
Ausweichen vor ihr verbergen will.
Als sie das Zimmer
schließlich verlässt, ist Erik ins Esszimmer gegangen.
Nachdenklich tritt sie ein.
"Guten
Morgen."
Erik legt sein
Buch bei Seite und geht zum Tisch hinüber.
"Guten
Morgen, Félicie. Ich hoffe, Sie fühlen sich heute schon
besser."
Sie nickt und
setzt sich wortlos an den Tisch. Wie soll sie es nur am besten
anfangen, ihm all die Fragen zu stellen, die ihr durch den Kopf
gehen? Was ist wirklich zwischen Christine und ihm vorgefallen? Warum
hasst er seine Mutter? Etwas lustlos stochert sie in ihrem duftenden
Essen herum.
"Monsieur?
Würden Sie wohl nachher etwas auf dem Klavier für mich
spielen?" Vielleicht wird ihn das davon abhalten können,
wütend zu werden, wenn sie ihm wieder zu neugierig wird.
Erik zögert,
doch schließlich willigt er ein.
Die Musik wird ihm
Bilder von Christine ins Gedächtnis rufen, doch er wird
versuchen, damit umzugehen. Der Schmerz wird vielleicht doch noch
nachlassen. Wenn er sich daran gewöhnt. Irgendwie.
"Wo in Paris
haben Sie gelebt, ehe ich Sie fand, Mademoiselle?" fragt er
plötzlich.
Félicie
lässt die Gabel sinken und legt ihre Stirn in Falten. Wenn er
sich so fühlt, wenn sie ihm Fragen stellt, kann sie verstehen,
warum er meistens heftig reagiert. Sie schüttelt den Kopf.
"Überall
und nirgends." sagt sie ausweichend "Wir sind sehr
häufig... umgezogen." Die Wahrheit ist, dass sie aus
beinahe jeder Wohnung hinausgeworfen wurden, weil sie kein Geld für
die Miete aufbringen konnten. Aber das verrät sie ihm nicht.
Wenn er wirklich auf der Straße gelebt hat, dann wird er sich
das vorstellen können.
Erik nickt
langsam.
"Vor ein oder
zwei Jahren habe ich Sie in der Rue Laffitte gesehen. Ist das
möglich? Sie hatten einen Säugling auf Ihrem Schoß.
Er war in ein blaues Tuch gewickelt." Das würde erklären,
warum ihre Stimme keinen Moment lang wirklich fremd für ihn
klang.
Erstaunt hält
sie inne, ihr Frühstück mit der Gabel zu zerdrücken.
"Das... das
ist richtig..." Sie ist erstaunt über sein ausgezeichnetes
Personengedächtnis. Er kann sich an sie erinnern, obwohl es
schon fast zwei Jahre her ist, dass sie zuletzt dort gewesen ist.
"Aber ich war dort nicht sehr häufig. Aber seit ich dort
einmal einen ganzen Goldlouis bekommen habe, bin ich nicht mehr zum
Betteln dort hin gegangen..." Die anderen haben ihr das Geld
nicht gegönnt, und ihr Vater hat den Großteil für
seine Zwecke verschwendet.
Erik lächelt
verhalten.
"Ich hoffe,
das Geld hat Ihnen und Ihrer Familie über den Winter geholfen."
"Das hat es."
Obwohl ein guter Teil für die Bedürfnisse ihres Vaters
drauf gegangen ist, erinnert sie sich. Sie hebt den Kopf, als ihr ein
Gedanke kommt. "Aber... aber das waren nicht sie mit dem Louis?"
"Nun..."
er zuckt die Schultern und wendet sich ab, um im Zimmer umherzugehen.
"Vielleicht gibt es noch eine Frau wie Sie in Paris oder noch
einen Mann wie mich..."
"Also waren
Sie es wirklich!"
"Es scheint
so. Das Kind war Ihre Schwester, nicht war? Wie heißt sie?"
Félicie
spürt, wie sie auf dem Stuhl zusammenschrumpft. Nun ist ihr
vollends der Appetit vergangen. Warum fragt er danach? Bisher hat sie
fast jeden Gedanken an das Kind verdrängen können
"Magali...
Warum interessiert Sie das?" fragt sie skeptisch.
"Sie ist noch
bei Ihrem Vater..." antwortet er langsam "Unter einer Oper
ist kein Platz für ein Kleinkind, aber ich könnte Sorge
dafür tragen, dass sie bei einer guten Amme ein Zuhause
findet..."
"Bei einer
Fremden?" ruft Félicie entsetzt aus. "Bitte
Monsieur, halten Sie mich nicht für undankbar... aber sie hat
doch nur uns... und jetzt nur noch meinen Vater..."
"Es ist Ihre
Entscheidung, Mademoiselle." entgegnet er kurz und steuert auf
das Klavier zu.
"Ich weiß
Ihr Angebot wirklich zu schätzen... aber ich kann nicht
verlangen, dass sie nach allem, was Sie für mich getan haben,
jetzt auch noch eine Amme bezahlen, die sich um meine Schwester
kümmert..." Sie beginnt den Tisch abzuräumen.
"Mein Angebot
anzunehmen, bedeutet nicht, etwas von mir zu verlangen." eine
Spur gereizt greift er in die Tasten. "Doch Sie zwingen mich,
ein Kleinkind in einer schlechten Umgebung zu belassen, wenn Sie mein
Angebot ausschlagen."
"Eine
schlechte Umgebung." wiederholt sie leise. Sie weiß, dass
die Kleine bei ihrem Vater weiterhin Hunger haben und in Armut
aufwachsen wird. Aber zumindest wäre sie in einer vertrauten
Umgebung... Ihr wird bei dem Gedanken daran kalt. In ihrer eigenen
Kindheit gab es noch Mutter und Großmutter. Magali hat
niemanden.
Langsam geht sie
zu Erik ans Klavier, lauscht einem Augenblick seinem gereizten Spiel
und legt ihm dann vorsichtig eine Hand auf den Arm.
"Wann könnten
wir eine Amme für sie bekommen?"
Félicies
Berührung trifft ihn unvorbereitet, und er verspielt sich.
"Ich kann
sofort einen Brief schreiben." antwortet er und erhebt sich
hastig. "Ich brauche den Namen und den Wohnort Ihres Vaters...
Soll ich das Mädchen hier her bringen lassen, damit Sie es
sicher identifizieren können?"
"Ich fürchte,
mein Vater wird Magali keinem Fremden mitgeben... wahrscheinlich
nicht einmal mir, nachdem ich mich nun eine knappe Woche nicht mehr
zu Hause habe sehen lassen." fügt sie schwach hinzu. "Aber
wenn Sie glauben, dass Sie ihn überzeugen können, schreiben
Sie."
"Wenn Jules
nichts erreicht, werde ich mich der Sache persönlich annehmen."
versichert Erik ihr kühl. "Nun sagen Sie mir Name und
Adresse Ihres Vaters."
"Tarissou...
Alfons Tarissou." Sie würgt den Namen hervor, und verzieht
das Gesicht, als habe sie etwas besonders ekliges gegessen Wie sehr
hat sie sich gewünscht, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu
müssen... Nicht mehr daran zu denken, was er getan hat... was
sie getan hat. "Die Wohnung ist in der Rue d'Orsel..." Sie
hält inne und wartet einen Augenblick, ehe sie leise
weiterspricht. Ihre Stimme zittert vor Angst. "Monsieur... muss
ich... muss ich mitgehen?"
Erik mustert sie
kurz mit gerunzelter Stirn.
"Sie müssen
ihn nie wieder sehen, Mademoiselle. Das verspreche ich." sagt er
dann sanft. "Ich werde nun einen Brief an Jules aufsetzen.
Warten Sie hier."
"Darf ich
mitkommen und Sie lesen mir vor, was Sie schreiben?"
"Ich werde es
Ihnen vorlesen, sobald ich fertig bin. Üben Sie doch derweil ein
wenig die Buchstaben, die ich Ihnen beigebracht habe."
Félicie
schiebt die die Unterlippe vor und seufzt. Offensichtlich will er sie
bei wichtigen, geschäftlichen Dingen nie in seiner Nähe
haben. Schließlich nickt sie und lauscht seinen Schritten, die
im Nebenzimmer verschwinden.
