Nachdenklich spielen seine langen Finger mit dem Flacon voll Laudanum.
Sein Plan war, Félicie die Droge beim Abendessen einzuflößen und sie, derart betäubt, zu Nadir zu schaffen. Doch nun hat er Zweifel. Der Ausweg 'Selbstmord' erscheint ihm plötzlich wieder weit weg, fremd und... zu drastisch. Denn wie kann er vor der kalten Leere seines Lebens kapitulieren, wenn es plötzlich gefüllt ist mit jemandem, der sich weigert, sich vor ihm zu fürchten, jemandem, der ihm stur Paroli bietet und ihn mit einer Beharrlichkeit zu Machtkämpfen herausfordert, die ihn an die Khanum erinnern würde, wenn Félicie sich dabei nicht so erstaunlich infantil gebärden würde. Er macht sich keine Illusionen darüber, dass sie aus Sympathie für ihn so handelt, die Neugier und die Angst vor Schuldgefühlen, die sie ihm gestand, scheinen ihm weitaus wahrscheinlichere Motive zu sein. Dennoch. Sie hasst und fürchtet ihn nicht.
Mit einer geschickten Bewegung lässt er den Flacon wieder in die Schublade zurückspringen, aus der er ihn geholt hat. Dann sitzt er eine Weile still da, und fragt sich, wofür er sich gerade überhaupt entschieden hat.
Vielleicht dafür, erst einmal nicht mehr über morgen nachzudenken.
Sie hat die Tür nur angelehnt und als sie auf dem Bett liegt, hört sie, wie Ayesha hereinkommt. Mit einem entschiedenen Sprung hüpft die Katze zu Félicie aufs Bett und macht es sich auf ihrem Bauch bequem. Félicie seufzt und lauscht. Erik scheint das Tier nicht zu vermissen, denn die Wohnung bleibt still. Sie weiß selbst nicht, woher sie den Mut nimmt, sich immer wieder gegen ihn zu wehren. Langsam lässt sie ihre Hand über Ayeshas schlanken Körper gleiten und schläft schließlich ein.

Der nächste Tag findet ihn in erstaunlich guter Laune.
"Bon matin, Jules." grüßt er seinen Diener, als er leise aus den Kellern in die Dunkelheit eines noch sehr frühen Wintermorgens hinaustritt.Der kleine vollbeladene Mann zuckt erschrocken zusammen, doch dann verneigt er sich ungeschickt und überreicht seine beiden voluminösen Pakete.
"Monsieur, ich konnte nur eines der Bücher auftreiben und das letzte Kleid wird erst im Laufe des Tages fertig werden."
Erik nickt kurz und wendet sich zum Gehen.
"Bringen Sie es mir mit der nächsten regulären Lieferung."
"Sehr wohl, Monsieur..." er zögert "Monsieur...?"
"Ja, Jules?"
"Ich... ich wünsche Ihnen Glück."
Erstaunt mustert Erik seinen verschüchterten Diener.
"Danke..." murmelt er schließlich und verschwindet im Labyrinth unter der Oper.
Als er Félicies angelehnte Tür sieht, runzelt er die Stirn und fragt sich, wieviel an ihrem Verhalten aus Mut und wieviel aus Dummheit resultiert.
"Félicie?" er klopft leise "Der Paketbote war da..."
Mit eiligen Schritten verlässt sie das Bad und öffnet zaghaft die Tür. Sie streckt nur den Kopf heraus.
"Hat er die Kleider gebracht? Oh, Monsieur... ist vielleicht auch ein Stück Stoff für mich dabei... oder hätten Sie vielleicht eines für mich?" Sie spürt, dass sie bis zu den Haarwurzeln errötet und wendet beschämt den Kopf von ihm. Das schöne Kleid seiner Christine muss befleckt sein. Aber an ihre Monatsblutung hat sie nun wirklich nicht gedacht, als sie vor drei oder vier Tagen auf den Friedhof gegangen ist. Und nun ist sie in einer völlig fremden Wohnung, krümmt sich förmlich vor Bauchkrämpfen und muss einen Mann um Hilfe bitten.
Irritiert mustert Erik Félicies knallrotes, verkniffenes Gesicht.
"Oh..." murmelt er dann, als er sich an eine ähnliche Szene mit Christine erinnert. Er räuspert sich. "Seien Sie ganz ruhig. Sie können die Handtücher im Bad benutzen. Eine Schere ist im..." er unterbricht sich, als ihm einfällt, dass er die Schere aus dem Zimmer entfernt hat "Nähzeug, eine Schere und ein Band bringe ich Ihnen. Auch etwas gegen die Schmerzen. Warten Sie im Bad, ich werde die Sachen auf den Schreibtisch legen."
Sie nickt dankbar und will sich abwenden, doch dann...
"Monsieur?" Sie wartet, bis er sich wieder zu ihr dreht und fährt dann mit gesenktem Kopf fort. "Das Kleid... ich fürchte, das Kleid ist verdorben..." Sie hält die Luft an und wartet auf seinen Wutausbruch.
Doch Erik zuckt nur mit den Schultern.
"Legen Sie es aufs Bett, ich werde es dann entsorgen. Es hat Ihnen ja ohnehin nicht gepasst."
'Und Christine hat es nie getragen.' ergänzt er stumm.
"Aber mit den neuen Kleidern geben Sie bitte etwas mehr acht... Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?"
Félicie schüttelt stumm den Kopf und wendet sich ab, um ins Badezimmer zu gehen. Seltsam, dass er so gelassen darauf reagiert hat, denkt sie sich. Wo er doch bei der Vase völlig von Sinnen war. Sie kniet sich auf den Läufer vor der Badewanne und lauscht dem Rauschen des Wassers. Vielleicht hat sie sich getäuscht... vielleicht war es nicht Christines Kleid sondern das seiner Mutter. Die scheint er ja nicht gerade zu vermissen.

Als sie in das heiße Bad steigt, wartet sie darauf, dass Erik im Nebenzimmer das Nähzeug und die Bänder bereit legt.
Leise stellt Erik das Tablett auf dem Schreibtisch ab und klopft dann kurz an die Badezimmertür.
"Ich habe Ihnen ein Schmerzmittel und einen entkrampfenden Tee zubereitet. Sie sollten beides zusammen einnehmen, einen halben Löffel von dem Schmerzmittel auf eine Tasse Tee, bis Sie eine Linderung Ihrer Beschwerden feststellen... Wenn Sie möchten können wir nachher etwas spazieren gehen... Falls Ihnen das auch hilft."
Er geht zum Bett hinüber und hebt das Kleid auf. Dabei verbietet er sich, das Blut zu betrachten, er weiß, es wäre Félicie nicht recht. Dennoch ist es interessant. Für ihn ist Blut gleichbedeutend mit Tod, doch hier ist Blut, das die Fähigkeit beweist, Leben hervorzubringen.
Wie lange es wohl dauert, bis Christine Raoul einen ersten Erben schenkt... Bei dem Gedanken krampft sich seine Hand in den grünen Stoff des Kleides.
Nachdem sich Félicie auf dem Bett ausgeruht hat, bis der Tee und das Schmerzmittel begonnen haben zu wirken, verlässt sie das Zimmer. Immer wieder streichen ihre Hände bewundernd über den feinen Seidenstoff ihres Kleides.

Sie findet Erik im Wohnzimmer und wartet eine ganze Weile im Türrahmen, bis er sich zu ihr umdreht.
"Monsieur? Darf ich Sie um etwas bitten?"
Er legt sein Buch beiseite.
"Natürlich."
Sie tritt näher.
"Könnten Sie mir wohl die Oper zeigen? Ich war noch nie in so einem Gebäude..."
"Ich kann Ihnen das Dach zeigen. Um die Oper selber zu besuchen, müssen wir warten, bis das übliche Tagesgeschäft vorüber ist."
"Das Dach." wiederholt sie langsam und kann ihre Enttäuschung nicht verbergen. "Aber... warum müssen wir warten? Ich dachte Sie arbeiten hier..."
"Ich bin inoffizieller künstlerischer Berater der Direktion und weder bei ihr noch bei den sonstigen Mitarbeitern der Oper sonderlich beliebt." antwortet er ausweichend.
Er ist nicht ehrlich... Sie kann es spüren. Es ist die Art wie er spricht... Félicie schüttelt den Gedanken ab und beschließt, es vorerst dabei bewenden zu lassen.
"Wann werden wir die Oper denn dann besuchen können?"
"Heute Nacht, wenn Sie möchten. Die Vorstellung geht bis kurz vor elf Uhr, die letzten Angehörigen der Ensembles sind um spätestens zwölf Uhr aus dem Haus. Danach gehört die Oper mir und ich lade Sie herzlich ein, Sie mit Ihren Händen zu erkunden..." er richtet sich in seinem Sessel auf "Das Kleid steht Ihnen übrigens sehr gut. Wollen Sie wissen, welche Farbe es hat?"
Sie rümpft die Nase und schüttelt den Kopf.
"Es hat ein helles Himmelblau und ist an den Säumen mit dunkelblauer Stickerei abgesetzt. Es betont Ihren blassen Teint."
Sie kann sich ein tiefes Seufzen nicht verkneifen.
"Monsieur, darunter kann ich mir nichts vorstellen. Wie sieht dieses Blau aus?"
"Wie sieht dieses Blau aus..." wiederholt er nachdenklich "Leicht..." er hebt seine Hand und reibt seine Finger gegeneinander "Kühl... frisch... Wie ein... Bachlauf... eine kühle Brise..."
Félicie lächelt zufrieden.
"Das ist schön. Der Stoff fühlt sich auch sehr angenehm an... Danke sehr." Sie lässt sich auf die Chaiselongue sinken. "Besuchen Sie niemals eine Vorstellung in der Oper?" fragt sie dann unvermittelt.
"Nein. Nicht mehr." antwortet Erik leise.
Sie stutzt. Noch ein Teil in seinem Puzzle
"Dann sind die Vorstellungen nicht mehr so gut?" fragt sie vorsichtig.
"Nein." er erhebt sich und geht zum Bücherregal, um sein Buch mit einer ruckartigen Bewegung wieder an seinen Platz zu räumen. "Die einzige Sängerin, deren Stimme hörenswert war, hat Paris wieder verlassen."
So wie er das sagt, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Seine Mutter oder... Sie senkt den Kopf.
"Diese... diese Sängerin... das war Ihre Christine?"
Erik schließt die Augen und atmet tief durch.
"Ja." antwortet er schließlich.
Irgendwie sollte sie das Thema ganz schnell wechseln, das spürt sie. An Christine zu denken, macht ihn unglücklich und manchmal wütend. Sie presst die Lippen aufeinander und denkt nach.
"Ich habe noch nie eine Oper gehört... Und ich darf mich wirklich dort umsehen?"
"Sie können die ganze Nacht jeden Winkel erkunden, der Sie interessiert." antwortet er, stößt sich vom Regal ab und tritt ein paar Schritte zurück.
"Die ganze Nacht? Gibt es denn niemanden, der auf das Gebäude achten muss? Einen Nachtwächter?" erkundigt sie sich verwundert.
"Einen schlafenden Nachtwächter." antwortet Erik beiläufig, während seine Augen die Buchreihen mustern.
Sie legt den Kopf schräg und lauscht.
"Suchen Sie etwas?"
"'Die Cameliendame', das Buch, das ich Ihnen in Brailleschrift habe besorgen lassen. Ich suche meine Ausgabe..."
"Sie wollen mir also wirklich das Lesen beibringen?" fragt sie ungläubig. Bisher hat sie das Ganze nur für eine seiner Launen gehalten. Eine Idee, die er gleich wieder verworfen hat. Und nun? Nun fürchtet sie sich davor, sich so dumm anzustellen, dass sie ihn enttäuscht.
"Da ist es ja." er zieht das Buch aus dem Regal und bläst eine kleine Wolke von Staub herunter. "Die Literatur gehört allen Menschen, Félicie, auch Ihnen, und Sie sollten daran teilhaben können. Außerdem bin ich selbst neugierig auf die Funktionsweise der Blindenschrift."
"Glauben Sie wirklich, dass ich so etwas lernen kann? Ich... ich war nicht einmal auf einer Schule... alles was ich kann, ist ein wenig kochen... und etwas Nähen..." sie zuckt hilflos mit den Schultern "Mir hat noch niemand so etwas zugetraut..."
"Und ganz offensichtlich sind Sie selbst Ihre größte Zweiflerin." stellt Erik trocken fest. "Es liegt bei Ihnen, Mademoiselle, ob sie es versuchen wollen oder nicht. Doch ich sehe keinen Grund, warum Sie die Blindenschrift nicht meistern sollten."
Sie errötet bis zu den Haarspitzen.
"Und falls ich es doch nicht schaffe... würden Sie mir dann etwas vorlesen? Oder bis ich es wirklich gut kann... Meine Großmutter hat mir immer vorgelesen."
Erik erstarrt kurz. Ist an jede noch so kleine Tätigkeit, jedes Wort, jedes Bild, die schmerzhafte Erinnerung an Christine geknüpft? Er sieht sie, wo immer er hinschaut, und selbst im Rascheln von Félicies Kleid vermeint er, sie zu hören.
Plötzlich empfindet er Wut.
"Ich werde Ihnen mit Vergnügen vorlesen, Félicie." antwortet er kurz. "Wollen Sie nun das Dach der Oper besuchen oder etwas am See spazieren gehen?"
"See? Gibt es vor der Oper einen See?"
"Nicht davor, darunter." er geht zur Chaiselongue hinüber und lässt sich – mit gebührendem Abstand zu Félicie – darauf sinken. Das Buch weiter durchblätternd fährt er fort: "Man stieß bei der Ausschachtung für das Fundament auf einen Seitenarm der Seine. Die einzige Lösung dieses Problems sah ich darin, das Wasser zu kanalisieren."
"Sie?" Sie richtet sich auf und dreht sich zu ihm. "Ich dachte, Sie wären künstlerischer Berater hier?"
"Wie ich bereits sagte, bin ich vieles, Mademoiselle Félicie." er klappt das Buch geräuschvoll zu und legt es auf den Beistelltisch neben der Chaise. "Treffen Sie nun eine Entscheidung bezüglich des Tagesablaufes oder muss ich erst wieder barsch werden?"
"Nun, dann gehen wir wohl heute Nacht in die Oper." seufzt sie "Vielleicht könnten Sie mir jetzt schon etwas Blindenschrift erklären..." Sie reibt nervös die Hände aufeinander. "Gibt es jedes Buch in dieser Brailleschrift?"
Erik lehnt sich auf der Chaiselongue zurück und mustert Félicie durchdringend.
"Das Warten gefällt Ihnen nicht, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es auch für Sie besser ist. Wenn es einen Menschenschlag gibt, von dem man nicht iangestarrt/i werden möchte, so sind es die Besucher der Opéra Garnier... Aber Sie möchten mit der Blindenschrift beginnen." Er nimmt einen Zettel vom Beistelltisch, überfliegt ihn kurz und legt ihn dann wieder zurück, um eine Karte aus dickem Papier aufzunehmen und sie Félicie zu reichen. "Theoretisch ist es möglich, jedes Buch der Welt in Brailleschrift zu übersetzen, denn diese Schrift funktioniert, genau so wie die übliche visuelle, mit Buchstaben. Doch statt durch Formen aus Tinte wird das Alphabet durch Erhebungen im Papier symbolisiert, die in einem Sechserraster angeordnet sind. Oben links... nein, etwas weiter unten... etwas weiter rechts... warten Sie..." er berührt kurz ihre Hand, um sie an die gemeinte Stelle auf der Karte zu führen."... Dies ist das A, der erste Buchstabe des Alphabets. Daneben liegt das B, dann kommt das C. Anzahl und Position der Erhebungen variieren von Buchstabe zu Buchstabe."
Ihre Fingerspitzen ertasten kleine Erhebungen auf dem Papier. Es fällt ihr schwer, sich auf die kleinen Unterschiede zu konzentrieren. Er hat sie nicht sofort berührt, sondern erst versucht, ihr die Schrift mit Worten zu erklären. Ein wenig freut sein sich schon darüber, wo doch ihr Streit über das Vermessen erst so kurz zurückliegt.
"Das... das ist fast wie bei einem Würfel... nur ohne Vertiefungen." Sie runzelt die Stirn und beginnt, die Reihen von vorne abzutasten. "Ich glaube, es wird einige Zeit dauern, bis ich mir alle Buchstaben wirklich gemerkt habe." seufzt sie.
"Nun reden Sie sich die Aufgabe nicht schwieriger, als sie ist, Mademoiselle. Ich habe es gezählt, Sie müssen sich lediglich sechsundfünfzig Informationsverknüpfungen plus die Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet aneignen. Gemessen an dem Informationsschatz, der sich bereits in Ihrem Gedächtnis befindet, ist das wirklich eine Winzigkeit. Nun. Ich denke, wir beginnen mit den ersten fünf Buchstaben, die da wären: A, B, C, D und E..."

Nachdem sie ihren neuen Umhang angelegt hat, geht sie zurück in das Wohnzimmer, wo Erik auf sie wartet. Ihr Herz klopft vor Aufregung bei dem Gedanken daran, dass sie gleich die Oper erkunden darf. Sie... ohne dass man sie wegjagen wird, weil man ein schmutziges Straßenmädchen nicht in einem so vornehmen Gebäude haben will.
"Ich... bin fertig... Können wir gehen?"
Der Anblick ihres aufgeregten Gesichtes mit den strahlenden roten Wangen zwingt ein Lächeln auf Eriks Gesicht.
"Folgen Sie mir..." Im Vorbeigehen nimmt er einen Umhang für sich von der Garderobe. Dann betätigt er den Mechanismus, der die Wand, die seine Haustür darstellt, bei Seite gleiten lässt.
Félicie lauscht und folgt ihm langsam. Sie hat ihren Stock bei sich, mit dem sie die unbekannte Umgebung um sich herum erkundet, denn bei Eriks katzenhafter Art zu gehen, hat sie Angst, zu überhören, dass er um eine Ecke geht.
"Erzählen Sie mir etwas über die Oper bis wir da sind?" bittet sie ihn schließlich.
"Die Bauarbeiten wurden 1861 aufgenommen." beginnt er bereitwillig "Der verantwortliche Architekt war Charles Garnier. Sein Entwurf hatte in einer freien Ausschreibung gewonnen. Das bedeutet, man musste an der Villa Medici studiert haben, um seinen Entwurf einreichen zu dürfen. Leider habe ich zu spät davon erfahren." mit einer heftigen Bewegung reißt er ein Streichholz an und entzündet die Sturmlaterne. "Darf ich Ihnen beim Einsteigen behilflich sein?" Als sie nicht protestiert, nimmt er ihren Oberarm und führt sie. "Ich traf Garnier und... wir einigten uns darauf, dass ich den Bau leiten sollte..."
Gebannt lauscht Félicie Eriks Ausführungen über die Oper, doch schließlich wird ihre Aufmerksamkeit auf die Geräusche, die sie umgeben gezogen. Durch den See klingt alles ganz anders. Tropfen fallen von der Decke ins Wasser, während Erik gleichmäßig rudert. Allem folgt ein beinahe ebenso lautes Echo. Sie schnalzt mit der Zunge und grinst, als das Geräusch von irgendwo her zurückgeworfen wird. Als sie davon überzeugt ist, Erik damit nicht zu stören, erfindet sie immer neue Laute und freut sich ganz offen über das Echo.
"Es ist wunderschön hier unten". Sie klatscht begeistert in die Hände.
"Seien Sie vorsichtig." entgegnet Erik ernst, und lässt seine Stimme klingen, als käme sie aus den dunklen Weiten der Katakomben und würde als Echo von seinem Körper zurückgeworfen... "Sie könnten mit Ihrem Spiel die Sirene an..." In diesem Moment beginnt ein leiser, schwebender Gesang aus dem Wasser etwa zehn Meter neben dem Boot zu steigen. "... anlocken." beendet Erik seinen Satz, wieder mit normaler Stimme. "Sitzen Sie ganz still und halten Sie sich vom Bootsrand fern, bis sie das Interesse verliert." Er treibt das Boot mit einem letzten kräftigen Schlag an und zieht dann die Ruder ein, während die Stimme das Gefährt in respektvollem Abstand umkreist. "Ich habe sie gezähmt, doch sie ist und bleibt unberechenbar."
Félicie krallt sich am Boot fest und schüttelt den Kopf.
"Haben Sie das vorhin mit Ihrer Stimme gemacht?" flüstert sie ungläubig, bedacht darauf, leise genug zu sein, um die Sirene nicht auf sich aufmerksam zu machen. Ihre Hände sind schweißnass. "Diese... diese Sirene... ist das ein Ungeheuer, das hier im See lebt?" Sie macht sich ein wenig kleiner auf ihrem Platz und lauscht.
Erik lächelt traurig hinter seiner Maske.
"Ein Ungeheuer? Hören Sie doch ihre Stimme, Mademoiselle. Kann ein Ungeheuer eine solch wunderschöne Stimme haben?" Er senkt die Ruder wieder ins Wasser und lässt den Gesang der Sirene für ein paar Herzschläge in seine Kehle zurückspringen, eher er stumm weiterrudert.
"Sie... das war auch Ihre Stimme? Sie haben das alles mit Ihrer Stimme gemacht?" fragt sie verwirrt und schüttelt den Kopf. "Aber... wie...?"
"Schall ist in Schwingung geratene Luft." erklärt Erik eine Spur gelangweilt und legt das Boot am Kai an "Mit diesen Schwingungen kann man spielen, sofern man herausfindet, wie sie beschaffen sein müssen, damit ein bestimmter Klangeindruck von jeder beliebigen Stelle des Raumes aus erzeugt wird... Doch machen Sie sich keine Sorgen, dass ich diesen Trick jemals gegen Sie verwenden könnte." ergänzt er ernst, während er ihren Arm nimmt, um ihr beim Aussteigen zu helfen. "Nun folgen Sie mir."
"Sie erstaunen mich, Erik." sagt sie ehrfürchtig. "Sie können wirklich alles, und das was sie nicht können, bringen Sie sich selbst bei, wie die Brailleschrift." Dann seufzt sie auf und folgt ihm. "Also muss ich hier unten gar keine Angst haben..." versichert sie sich selbst. "Es gibt überhaupt keine Ungeheuer..."
"So ist es. Ich bin die einzige Kreatur, die durch diese Keller spukt."
Vorsichtig geleitet Erik Félicie durch das Labyrinth aus geheimen Treppen, Gängen und Türen, bis sie schließlich mit dem Foyer de la Danse den offiziellen Bereich des Opernhauses betreten.
"Atmen Sie tief ein, Mademoiselle..." befielt Erik mit einem sarkastischen Unterton "Riechen Sie die Reste teuren und billigen Parfums, die noch in der Luft hängen? Die protzigen Blumenbouquets in Liebe entbrannter Jünglinge und Greise?" er macht eine ausladende Geste, die seinen Umhang geräuschvoll schwingen lässt "Willkommen in der dekadenten Welt der Oper. Willkommen in meinem Reich..."
Vorsichtig berührt Félicie die Wand zu ihrer rechten. Der Stein fühlt sich so glatt und edel an, dass sie rasch die Hand zurückzieht, aus lauter Angst, dort schmutzige Fingerabdrücke zu hinterlassen, obwohl sie sich bei Erik so oft wie noch nie waschen konnte. Sie seufzt.
"Was ist das für ein Stein, Monsieur?" Sie ignoriert bewusst den seltsamen Unterton in seiner Stimme. Warum hat er nur eine solche Abneigung gegen das Gebäude das er selbst gebaut hat?
"Marmor." antwortet er kurz und geht in die Hocke, um ungläubig mit den Fingerspitzen über eine tiefe Scharte weit unten am Fuße der Säulen zu seiner linken zu fahren. "Was zur Hölle..." murmelt er leise und ballt seine Hände zu Fäusten. Hastig richtet er sich wieder auf, um auch die nebenliegenden Säulen zu mustern, doch sie sind unversehrt.
Er presst die Lippen zusammen.
Es ist nur natürlich, wenn an einem Gebäude Gebrauchsspuren auftauchen, sagt er sich selbst. Diese kleinen Narben geben der Oper erst ihren Charakter. Doch dieses Zureden lässt seine Wut auf die ignoranten Menschen, für die dieser Schrein der Musik nur ein großer Haufen Steine ist, kaum abkühlen. Gereizt wendet er sich ab.
"Verzeihen Sie, was haben Sie gesagt?" fragt er dann Félicie, die schon seit einer Weile mit ihm zu reden scheint. "Ich war abgelenkt..."
"Ist etwas passiert?" erkundigt sie sich und zieht die Augenbraue in die Höhe.
"Eine Verletzung im Stein... Nichts wichtiges." knurrt Erik.
Félicie schmunzelt. Er nimmt seinen Beruf als künstlerischer Berater wohl sehr ernst, wenn er bei beschädigten Gegenständen von Verletzungen spricht. Sie entgegnet nichts, dreht sie sich um die eigene Achse, lauscht und lächelt zufrieden.
"Dieses Gebäude ist riesig, nicht wahr? Man könnte ohne weiteres hier leben, wahrscheinlich viele Jahre lang, ohne dass irgendjemand etwas davon merkt..." Vorsichtig lässt sie ihre Hand wieder über die glatte Oberfläche des Mamors gleiten.
Erstaunt über die Zielsicherheit, mit der ihre Phantasie den Nagel auf den Kopf getroffen hat, blickt Erik Félicie an.
"Es gibt nichts schöneres, als in diesem Reichtum der Schönheit spazieren zu gehen." er lässt seine Hände über eine Wandverzierung spielen "Doch immer hier zu leben... das ist zu einsam."
Félicie runzelt die Stirn und legt den Kopf schief.
"Wie lange leben Sie schon hier?" fragte sie leise, während sie weitergeht und andächtig jede Säule mit den Fingern berührt. Und wie lange ist es her, dass Christine fortgegangen ist, fügt sie in Gedanken hinzu, wagt aber nicht, diese Frage laut zu stellen.
"Oh... seit zwanzig Jahren." antwortet er gedankenverloren. Diese Wände bräuchten in der Tat einen neuen Anstrich...
Sie erstarrt in ihrer Bewegung und dreht sich zu ihm.
"Zwanzig Jahre? Das ist... so lang..." Und dann hat er erzählt dass er noch in Persien gewesen ist... er muss älter sein, als sie angenommen hat. "Sind Sie denn in Paris geboren?" hakt sie nach.
Erik löst seine Aufmerksamkeit von der Wand und wendet sich einer der Statuen zu, an deren Füßen der weiße Stein durch die Goldfarbe zu schimmern begonnen hat.
"Ich wurde in Saint Martin de Boscherville geboren, einem Dorf nahe Roumare."
Félicie schüttelt den Kopf und zuckt etwas hilflos mit den Schultern.
"Tut mir leid... ich war niemals außerhalb von Paris... ist... ist das weit fort von hier?"
"Es liegt ein Stück nord-westlich von Paris. Haben Sie schon einmal von Rouen gehört? Das ist die nächste größere Stadt."
Nachdenklich bleibt sie stehen.
"Und wie alt sind Sie?" fragt sie dann.
"Fünfzig... oder einundfünfzig."
"Ich bin dreiundzwanzig..." sagt sie leise. Er ist älter als ihr Vater, denkt sie, aber sie spricht den Gedanken nicht aus. Ist es ihm unangenehm, sein genaues Alter zu nennen? Womöglich ist er noch viel älter... Sie widersteht der Versuchung, weiter danach zu fragen.
"Sie waren in Persien... Und... Haben Sie außerdem noch mehr Länder bereist?"
"Ja... Italien... Spanien..." er mustert die schon reichlich abgegriffene Türklinke "Russland... Deutschland... Belgien... Ich werde es Ihnen auf einem Globus zeigen, wenn Sie möchten..."
Verärgert wendet sie sich ab.
"Machen sie sich nicht über mich lustig! Auf einem Globus werde ich wohl nichts erkennen." Sie entfernt sich von ihm und bleibt vor einer großen Säule stehen.
"Es gibt Reliefgloben für Blinde, Mademoiselle." erklärt Erik würdevoll "Ich muss nur einen in Auftrag geben. Also?"
Trotzig schiebt sie die Unterlippe vor.
"Haben sie eigentlich für alles Bedienstete?"
Er runzelt die Stirn.
"Bedienstete? Mademoiselle, ich tätige lediglich den fairen Tausch von Geld gegen Arbeitskraft. Jules macht meine Besorgungen, dafür können seine Kinder an der Sorbonne studieren; die Schneiderin näht meine Kleider, dafür kann sie sich und ihrer Familie Nahrungsmittel und eine Wohnung leisten. Wozu ist Geld gut, wenn nicht dazu, Lebensgrundlagen zu sichern?" Prüfend bewegt er die Tür in den Angeln.
Félicie schüttelt den Kopf und versucht, das störende Geräusch zu überhören, das er mit der Tür macht. Seufzend geht sie weiter.
"Es ist schön für Sie, dass sie mit so einer Leichtigkeit über Geld sprechen können." Als ob sie nicht selbst gut genug weiß, wie wichtig Geld zum Überleben ist. Und sie weiß, auch, was es bedeutet, kein Geld zu haben. Wahrscheinlich zählt Erik zu den Menschen, die sich eine ganze Woche lang gut fühlen, wenn sie jemandem wie ihr einen Sous zugesteckt haben.
Erik hält inne und lehnt sich gegen das Türfutter.
"Ich weiß auch, was Armut bedeutet, Félicie." entgegnet er dann fest. "Absolute Armut... Nun kommen Sie, ich werde Ihnen das Foyer de la Chante zeigen."
Sie folgt ihm zögerlich, während ihre Hände niemals die Wand loslassen.
Sie wünscht sich nichts mehr, als endlich Antworten auf all die Fragen zu erhalten, die ihr auf der Zunge brennen. Mittlerweile kommt sie sich unverschämt neugierig vor und kann doch nicht anders, als ständig nachzuhaken.
"Woher wissen Sie das, Monsieur Erik?"
Erik lacht leise; kalt und bitter.
"Ich habe in dieser Armut gelebt, Mademoiselle. Wie ein iTier/i. Nun kommen Sie und legen Sie Ihre Hände auf noch mehr Kostbarkeiten..."
Félicie beißt sich auf die Lippe um die Frage zurückzuhalten. Sie kann unmöglich... Es sind einfach zu viele Fragen und wenn sie jetzt noch mehr zurückhält, wird sie noch verrückt vor Neugier. Sie seufzt tief.
"Sie waren arm? Aber... aber... wie haben Sie es geschafft... wie sind Sie so geworden... haben Sie auch auf der Straße gelebt wie ich?" platzt es aus ihr heraus. Gelebt wie ein Tier... nein dieser Vergleich klingt selbst für das, was sie erlebt hat, viel zu streng. Und trotzdem hat sie das Gefühl, endlich jemanden getroffen zu haben, der sie versteht... dem es genauso ging wie ihr.
Steif tritt Erik durch die Tür.
"Auf der Straße, ja. Unter anderem. Nun. Wollen Sie mich ausfragen oder die Oper erkunden?"
Beides, denkt sie.
"Verzeihen Sie bitte... meine ständige Fragerei... ist ziemlich unhöflich," würgt sie hervor. "aber..." Sie verstummt. Wenn sie jetzt noch etwas sagt, wird sie wahrscheinlich eine neue Auseinandersetzung mit ihm riskieren, und damit möchte sie sich nun wirklich nicht den Abend verderben. Dafür ist dieses Gebäude viel zu schön. Also folgt sie ihm durch die Tür.

Gitterstäbe, Gestank, Kälte. Und Christine ist nicht bei ihm. Wieder und wieder schiebt er die Gedanken bei Seite, doch sie kehren stets zurück, und je später es wird, desto mehr beginnt sein Widerstand zu bröckeln. Dennoch zwingt er seine Hand, weiterzuschreiben.
Strich für Strich, Buchstabe für Buchstabe nimmt der Auftrag für Jules Gestalt an. Sein Blick streift kurz die Braille-Schreibwerkzeuge auf seinem Sekretär. Er kann wirklich froh sein, dass Félicie eine blinde Analphabetin ist. Einer Sehenden das Schreiben beizubringen, hätte er nicht über sich gebracht.
Als der Auftrag fertig geschrieben, adressiert und versiegelt ist, legt Erik seine Stirn auf die Tischplatte und seufzt.
Schlafen. Wenn er doch nur schlafen könnte!
Er lässt einen Arm vom Tisch rutschen und schaut zu dem Päckchen mit dem Morphium hinüber. Eine leichte Überdosis...
Der Drogenschlaf wird ihm kaum Erholung bescheren, doch er wird das Gedankenkarussell stoppen, bevor seine Stimmung noch tiefer in die Depression gesunken ist.

Der nächste Morgen findet ihn in einem bedrückten doch ruhigen Zustand; und als er sich erhebt, macht sein Kreislauf keine Schwierigkeiten.
Während er das Frühstück zubereitet, lauscht er auf Schritte im Haus, doch der Duft des Essens scheint nicht auszureichen, um Félicie aus ihrem Bett zu locken. Er schaut auf die Uhr; halb zwölf... Er wird sie wohl wecken müssen.
Gerade noch hat sie fest geschlafen, doch als es an der Tür klopft, fährt sie hoch und zieht die Decke instinktiv bis unter das Kinn.
Der Essenduft, der sie in der Nase kitzelt, erinnert sie an Erik. Sie ärgert sich, weil sie sich vorgenommen hat, ihn zumindest einmal am Tag zu bekochen. Das ist das Mindeste, was sie ihm zurückgeben kann.
"Ich komme sofort." ruft sie ihm zu. Während sie sich nun langsam erhebt und in ihr Kleid schlüpft, fügt sie alle Puzzlestücke zusammen, die sie bisher über Erik gesammelt hat. Er lebt allein unter der Oper, offenbar von seiner großen lieber, einer Sängerin namens Christine, verlassen. Erik kann sehr vieles, er hat am Bau der Oper mitgewirkt, ist weit gereist und kann erstaunliche Dinge mit seiner Stimme. Zu seiner Mutter die nun tot ist, hat er scheinbar kein sehr gutes Verhältnis gehabt. Und... er ist ein Mörder... Sie schüttelt die Gedanken ab und tastet nach der Haarbürste die auf ihrem Nachttisch liegt Sie muss ihn einfach fragen... Sie wird ihre Neugier nicht bezähmen können und sie will wissen, was er mit seinem ständigen Ausweichen vor ihr verbergen will.
Als sie das Zimmer schließlich verlässt, ist Erik ins Esszimmer gegangen. Nachdenklich tritt sie ein.
"Guten Morgen."
Erik legt sein Buch bei Seite und geht zum Tisch hinüber.
"Guten Morgen, Félicie. Ich hoffe, Sie fühlen sich heute schon besser."
Sie nickt und setzt sich wortlos an den Tisch. Wie soll sie es nur am besten anfangen, ihm all die Fragen zu stellen, die ihr durch den Kopf gehen? Was ist wirklich zwischen Christine und ihm vorgefallen? Warum hasst er seine Mutter? Etwas lustlos stochert sie in ihrem duftenden Essen herum.
"Monsieur? Würden Sie wohl nachher etwas auf dem Klavier für mich spielen?" Vielleicht wird ihn das davon abhalten können, wütend zu werden, wenn sie ihm wieder zu neugierig wird.
Erik zögert, doch schließlich willigt er ein.
Die Musik wird ihm Bilder von Christine ins Gedächtnis rufen, doch er wird versuchen, damit umzugehen. Der Schmerz wird vielleicht doch noch nachlassen. Wenn er sich daran gewöhnt. Irgendwie.
"Wo in Paris haben Sie gelebt, ehe ich Sie fand, Mademoiselle?" fragt er plötzlich.
Félicie lässt die Gabel sinken und legt ihre Stirn in Falten. Wenn er sich so fühlt, wenn sie ihm Fragen stellt, kann sie verstehen, warum er meistens heftig reagiert. Sie schüttelt den Kopf.
"Überall und nirgends." sagt sie ausweichend "Wir sind sehr häufig... umgezogen." Die Wahrheit ist, dass sie aus beinahe jeder Wohnung hinausgeworfen wurden, weil sie kein Geld für die Miete aufbringen konnten. Aber das verrät sie ihm nicht. Wenn er wirklich auf der Straße gelebt hat, dann wird er sich das vorstellen können.
Erik nickt langsam.
"Vor ein oder zwei Jahren habe ich Sie in der Rue Laffitte gesehen. Ist das möglich? Sie hatten einen Säugling auf Ihrem Schoß. Er war in ein blaues Tuch gewickelt." Das würde erklären, warum ihre Stimme keinen Moment lang wirklich fremd für ihn klang.
Erstaunt hält sie inne, ihr Frühstück mit der Gabel zu zerdrücken.
"Das... das ist richtig..." Sie ist erstaunt über sein ausgezeichnetes Personengedächtnis. Er kann sich an sie erinnern, obwohl es schon fast zwei Jahre her ist, dass sie zuletzt dort gewesen ist. "Aber ich war dort nicht sehr häufig. Aber seit ich dort einmal einen ganzen Goldlouis bekommen habe, bin ich nicht mehr zum Betteln dort hin gegangen..." Die anderen haben ihr das Geld nicht gegönnt, und ihr Vater hat den Großteil für seine Zwecke verschwendet.
Erik lächelt verhalten.
"Ich hoffe, das Geld hat Ihnen und Ihrer Familie über den Winter geholfen."
"Das hat es." Obwohl ein guter Teil für die Bedürfnisse ihres Vaters drauf gegangen ist, erinnert sie sich. Sie hebt den Kopf, als ihr ein Gedanke kommt. "Aber... aber das waren nicht sie mit dem Louis?"
"Nun..." er zuckt die Schultern und wendet sich ab, um im Zimmer umherzugehen. "Vielleicht gibt es noch eine Frau wie Sie in Paris oder noch einen Mann wie mich..."
"Also waren Sie es wirklich!"
"Es scheint so. Das Kind war Ihre Schwester, nicht war? Wie heißt sie?"
Félicie spürt, wie sie auf dem Stuhl zusammenschrumpft. Nun ist ihr vollends der Appetit vergangen. Warum fragt er danach? Bisher hat sie fast jeden Gedanken an das Kind verdrängen können
"Magali... Warum interessiert Sie das?" fragt sie skeptisch.
"Sie ist noch bei Ihrem Vater..." antwortet er langsam "Unter einer Oper ist kein Platz für ein Kleinkind, aber ich könnte Sorge dafür tragen, dass sie bei einer guten Amme ein Zuhause findet..."
"Bei einer Fremden?" ruft Félicie entsetzt aus. "Bitte Monsieur, halten Sie mich nicht für undankbar... aber sie hat doch nur uns... und jetzt nur noch meinen Vater..."
"Es ist Ihre Entscheidung, Mademoiselle." entgegnet er kurz und steuert auf das Klavier zu.
"Ich weiß Ihr Angebot wirklich zu schätzen... aber ich kann nicht verlangen, dass sie nach allem, was Sie für mich getan haben, jetzt auch noch eine Amme bezahlen, die sich um meine Schwester kümmert..." Sie beginnt den Tisch abzuräumen.
"Mein Angebot anzunehmen, bedeutet nicht, etwas von mir zu verlangen." eine Spur gereizt greift er in die Tasten. "Doch Sie zwingen mich, ein Kleinkind in einer schlechten Umgebung zu belassen, wenn Sie mein Angebot ausschlagen."
"Eine schlechte Umgebung." wiederholt sie leise. Sie weiß, dass die Kleine bei ihrem Vater weiterhin Hunger haben und in Armut aufwachsen wird. Aber zumindest wäre sie in einer vertrauten Umgebung... Ihr wird bei dem Gedanken daran kalt. In ihrer eigenen Kindheit gab es noch Mutter und Großmutter. Magali hat niemanden.
Langsam geht sie zu Erik ans Klavier, lauscht einem Augenblick seinem gereizten Spiel und legt ihm dann vorsichtig eine Hand auf den Arm.
"Wann könnten wir eine Amme für sie bekommen?"
Félicies Berührung trifft ihn unvorbereitet, und er verspielt sich.
"Ich kann sofort einen Brief schreiben." antwortet er und erhebt sich hastig. "Ich brauche den Namen und den Wohnort Ihres Vaters... Soll ich das Mädchen hier her bringen lassen, damit Sie es sicher identifizieren können?"
"Ich fürchte, mein Vater wird Magali keinem Fremden mitgeben... wahrscheinlich nicht einmal mir, nachdem ich mich nun eine knappe Woche nicht mehr zu Hause habe sehen lassen." fügt sie schwach hinzu. "Aber wenn Sie glauben, dass Sie ihn überzeugen können, schreiben Sie."
"Wenn Jules nichts erreicht, werde ich mich der Sache persönlich annehmen." versichert Erik ihr kühl. "Nun sagen Sie mir Name und Adresse Ihres Vaters."
"Tarissou... Alfons Tarissou." Sie würgt den Namen hervor, und verzieht das Gesicht, als habe sie etwas besonders ekliges gegessen Wie sehr hat sie sich gewünscht, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu müssen... Nicht mehr daran zu denken, was er getan hat... was sie getan hat. "Die Wohnung ist in der Rue d'Orsel..." Sie hält inne und wartet einen Augenblick, ehe sie leise weiterspricht. Ihre Stimme zittert vor Angst. "Monsieur... muss ich... muss ich mitgehen?"
Erik mustert sie kurz mit gerunzelter Stirn.
"Sie müssen ihn nie wieder sehen, Mademoiselle. Das verspreche ich." sagt er dann sanft. "Ich werde nun einen Brief an Jules aufsetzen. Warten Sie hier."
"Darf ich mitkommen und Sie lesen mir vor, was Sie schreiben?"
"Ich werde es Ihnen vorlesen, sobald ich fertig bin. Üben Sie doch derweil ein wenig die Buchstaben, die ich Ihnen beigebracht habe."
Félicie schiebt die die Unterlippe vor und seufzt. Offensichtlich will er sie bei wichtigen, geschäftlichen Dingen nie in seiner Nähe haben. Schließlich nickt sie und lauscht seinen Schritten, die im Nebenzimmer verschwinden.