Er ist noch immer nicht zurück. Unruhig geht sie auf und ab. Zum ersten Mal ist sie allein in seiner Wohnung unterhalb des prächtigen Opernhauses. Und sie hasst es allein zu sein.Ob sie ihm hätte sagen sollen, wie gewalttätig ihr Vater sein kann, wenn man ihn reizt? Sie hätte niemandem zumuten dürfen, allein zu ihm zu gehen... Niemandem. Es wäre iihre/i - Aufgabe gewesen, Magali zu holen, aber sie hat es nicht geschafft. Sie hat sich nicht einmal unter Eriks Schutz getraut, zu ihm zurückzugehen. Am schlimmsten ist, dass sie die Kleine so lange bei ihm gelassen hat, dass sie in Kauf genommen hat, dass er Magali schlägt, weil er seine Wut nicht länger an ihrer großen Schwester auslassen kann.
Sie hat bereits alle Zimmer mehrfach durchquert und steht nun vor dem Raum, in dem Erik den Brief geschrieben hat. Seinem Zimmer... wahrscheinlich das einzige, in dem sie noch niemals zuvor gewesen ist. Aber er hat ihr schließlich nie verboten, es zu betreten.
Neugierig untersuchen ihre Finger die Wände, den Tisch, an dem er den Brief geschrieben haben muss, das Siegelwachs.
Wie lange braucht er, um einen Brief aufzugeben? Es scheint ihr, als sei er schon Stunden fort. Was für Umwege geht er, um einen Boten zu finden, den er mit dem Brief beauftragen kann. Oder hat er sich am Ende doch entschlossen, Jules den Auftrag persönlich zu übermitteln?
Geduldig tastet sie sich weiter durch den Raum und bleibt schließlich an einem glatten Kasten stehen. Ein großer Holzkasten, der mit einem edlen Stoff ausgekleidet ist. Es fühlt sich ganz so an wie ein... iSarg/i!Sie weicht irritiert zurück. Was hat ein Sarg in seinem Zimmer zu suchen?
Doch schon hört sie seine nahenden Schritte und verlässt hastig den Raum.

Trotz seiner guten Nachtsicht hätte er Jules beinahe nicht erkannt, doch die kurze, humpelnde Gestalt hält zu zielsicher auf das Tor zu, als dass es jemand anderes sein könnte."Jules?"
"Bon soir, Monsieur." er duckt sich noch etwas tiefer "Verzeihen Sie, ich konnte das Kind nicht holen..."
"Was ist passiert?"
"Monsieur Tarissou hat sehr deutlich gemacht, dass er seine Tochter lieber behalten möchte. Aber ich habe Flaschen und Windeln..."
Eriks Augen verengen sich zu Schlitzen.
"Bringen Sie alles ins Boot. Um Monsieur Tarissou werde ich mich kümmern..."
Das Treppenhaus stinkt nach Erbrochenem und Urin. Angewidert verzieht er das Gesicht und folgt dem Weinen eines Kindes in den vierten Stock.
Eine höhnisch lallende Stimme antwortet auf sein Klopfen: "Bissu wieder da und wills mehr Prügel, du Witzbold? Ich hab doch gesacht du kriss mein Kind nich!"
"Monsieur Alfons Tarissou?"
"Wer ist da?" die Stimme hinter der Tür klingt plötzlich nüchtern und sehr aufmerksam. "Halts Maul, Magali!" Ein Gegenstand - vielleicht ein Schuh - wird gegen die Wand geschleudert, woraufhin das Schreien des Kindes abrupt verstummt.
"Monsieur Tarissou, öffnen Sie bitte."
"Wer ist da? Was willst du von mir?"
Zögernde Schritte nähern sich von innen.
"Öffnen Sie die Tür."
"Sag mir erst, wer du bist!" Verunsicherung.
"Monsieur, öffnen Sie mir jetzt die Tür!"
Langsam, sehr langsam, bewegt sich die quietschende Klinke. Und kaum, dass sich der Riegel ganz zurückgeschoben hat, drückt Erik die Tür auch schon mit einem mächtigen Ruck auf, so dass Tarissou zwischen Türblatt und Wand eingeklemmt wird.
Mit langen, zielsicheren Schritten geht er zu dem verdreckten Gitterbett in der hintersten Zimmerecke und will das Kind herausheben, doch in diesem Moment stürzt sich Tarissou mit einem Stuhl bewaffnet auf ihn.
Dicht vor seinem Kopf fängt Erik den Stuhl mit der Hand ab, entwindet ihn Tarissous Griff mit einer schnellen Drehung seines Armes, und stößt den nach Schnaps und Schweiß stinkenden Mann zu Boden.
"Du Hurensohn lässt deine Drecksgriffel von meinem Kind!" brüllt dieser aufgebracht und kämpft sich wieder auf die Füße.
"Monsieur, Sie können einem Kleinkind wohl kaum die nötige Pflege, geschweige denn eine gute Erziehung angedeihen lassen." entgegnet Erik ruhig.
"Wer sagt das?" knurrt Tarissou, schüttelt den Kopf und greift sich an die Schläfe, als Eriks Stimme seine Sinne wieder zu benebeln beginnt.
"Félicie sagt das."
"Diese... diese... kleine... iSchlampe/i hat versucht mich umzubringen!"
Erstaunt hält Erik einen Moment inne, doch dann wendet er sich wieder Magali zu, die ihn aus riesenhaften Augen zwischen den Gitterstäben hindurch anstarrt.
"Bon soir, Mademoiselle Magali." grüßt er sie freundlich. "Hab keine Angst..."
In diesem Moment reißt sich Tarissou mit einem Wutschrei aus seiner Trance und stürzt sich auf Erik. Der Aufprall trifft diesen schlecht vorbereitet, so dass er nicht richtig ausweichen kann und mit voller Wucht gegen die Wand in seinem Rücken knallt. Er keucht, als seine Lungen zusammengepresst werden.
"Du Teufel kriegst meine zweite Tochter nicht auch noch!"
Heißer, nach Schnaps stinkender Atem schlägt Erik entgegen, und plötzlich beginnt sich Tarissous schäbige Wohnung zu verwandeln... in ein Zelt...
Mit fast schlafwandlerischer Ruhe legen sich seine Hände um Javerts Hals. Erik überragt ihn nun um Haupteslänge, er braucht keine Waffen mehr, um ihn zu besiegen. Harte Schläge prasseln gegen seine Brust, seine Arme, seinen Kopf, doch er nimmt sie kaum wahr. Ein Schlag löst seine Maske und ein panisches Gurgeln begrüßt den Anblick seines Gesichtes. Doch das Gurgeln hört auf, das Zucken, das Pochen in seinen Handflächen...
'Er ist tot. Du hast ihn getötet, bevor er ies/i tun konnte. Er ist tot. Du bist frei...'
Langsam erhebt sich Erik von dem Leichnam und wischt sich die Hände an Tarissous schmutzigem Hemd ab.
"Magali, hör auf zu weinen." sagt er dann leise, setzt seine Maske wieder auf und geht zum Gitterbett zurück. "Ruhig, meine Kleine, dein Vater wird dir nichts mehr tun. Schau..." sanft löst er die klebrigen dürren Hände des Mädchens von den Gitterstäben "... ich hole dich aus deinem... deinem Käfig. Du vermisst deine Schwester, nicht war? Félicie?" Beim Klang dieses Namens hellt sich Magalis verzweifeltes Gesicht deutlich auf, und als Erik beginnt, eine Melodie für sie zu summen, lächelt sie scheu und lehnt ihr Köpfchen vorsichtig an seine Schulter.
Der Flur ist menschenleer, doch Erik weiß, dass er beobachtet wird. Hinter spaltbreit geöffneten Türen und Schlüssellöchern kauern Félicies ehemalige Nachbarn. Zu feige, um einzugreifen, und doch neugierig genug, um sich durch Billigung zu Komplizen eines jeden Verbrechens zu machen.
Erik schnaubt.
Ein Glück nur, dass niemand das Phantom der Oper mit einem entführten Kleinkind in Verbindung bringen wird...

Sie kann Magali von weitem hören. Sie hustet... offenbar hat sie sich wieder einmal erkältet in der zugigen Wohnung.
Es hat also tatsächlich geklappt. Sie hätte niemals zu träumen gewagt, dass es jemand mit ihrem Vater aufnehmen könnte.
Mit eiligen Schritten stolpert sie beiden entgegen und entreißt Erik die Kleine fast.
"Wie haben Sie das nur geschafft, Monsieur?" fragt sie glücklich, während sie ihre Schwester immer wieder mit Küssen überhäuft.
"Sie sollten das Kind erst einmal baden und wickeln, Mademoiselle." bemerkt Erik ausweichend und reibt sich mit einem unterdrückten Stöhnen seinen beinahe ausgerenkten Kiefer.
Sie nickt und wendet sich, Magali fest an sich gepresst, ihrem Schlafzimmer zu.
Doch etwas ist nicht richtig. Er war viel zu lange fort und nun klingt seine Stimme so merkwürdig.
Sie dreht sich noch einmal zu ihm um.
"Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"
"Sagen wir, ich durfte feststellen, dass Ihr Vater in der Tat einige Übung darin hatte, andere Menschen zu schlagen." antwortet er trocken und macht sich auf den Weg in sein Badezimmer.
Félicie macht einige schnelle Schritte auf ihn zu. Ihre Hände zittern und ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals.
"Er hat Sie geschlagen? Heißt dass Sie waren selbst dort? Ich... ich dachte... Sie hätten Jules geschickt... das... das wollte ich nicht... das tut mir so leid... ich hätte selbst gehen sollen!"
"Damit er Sie zum Krüppel schlägt? Nein, Mademoiselle. Und entschuldigen Sie sich nicht für ihn. Wie ihr Vater sich verhält, ist allein seine Entscheidung."
Von seinen Worten ganz und gar nicht beruhigt, bewegt sich nicht von der Stelle, hört auf seine Atmung, zittert.
"Hat er Sie verletzt? Kann ich etwas für Sie tun?"
"Mademoiselle, sie machen sich zu viele Gedanken." entgegnet Erik abwehrend "Es sind nur ein paar blaue Flecke; ich habe schon wesentlich schlimmeres überlebt. Kümmern Sie sich lieber darum, dass Ihre Schwester ein Bad bekommt. Nahrung werde ich gleich für sie zubereiten."
"Wie Sie meinen..." Zögerlich entfernt sie sich und tut, was Erik ihr gesagt hat. Und nachdem Magali frisch gebadet und auf ihrem Bett eingeschlafen ist, geht sie gleich wieder zu Erik in die Küche.
"Monsieur? Wird er... wird er uns finden? Bitte erzählen Sie mir, was passiert ist, als sie bei ihm waren!"
Erik seufzt und drückt Félicie eine kleine Schüssel mit warmem Brei für Magali in die Hand.
"Wollen Sie nicht erst das Kind füttern?"
Sie zuckt mit den Schultern.
"Soll ich Sie wieder wecken? Sie ist gerade eingeschlafen..."
"Nein... nein, lassen Sie sie schlafen..." er nimmt die Schüssel wieder an sich und hält Félicie die Tür auf. "Kommen Sie..."
Nachdem er sich im Esszimmer auf der Chaiselongue niedergelassen hat, stellt er die Schüssel, die er noch immer in der Hand hält, auf den Beistelltisch.
"Was ist geschehen... Nun, Jules kam unverrichteter Dinge zu mir. Ihr Vater hatte ihn übel zugerichtet, also ging ich selber zu ihm... Ich klopfte, er öffnete, ich ging zu Magali, er griff mich an, ich schlug ihn nieder, nahm Magali und ging..."
"Hat er nichts gesagt? Wollte er nicht wissen, warum Sie meine Schwester holen wollten?" Sie rückt sich einen Stuhl zurecht. "Meinen Sie, er sucht nach uns, wenn er wieder zu sich kommt? Er... er sucht immer nach uns, wissen Sie. Und bisher hat er uns auch immer gefunden." Sie ballt die Hände zu Fäusten und presst die Lippen fest aufeinander. Sie hasst es, daran denken zu müssen.
Erik schweigt einen Moment.
"Ihr Vater wird nie wieder nach Ihnen suchen, Félicie." sagt er schließlich leise. "Er ist tot."
"Wirklich? Oh, Gott sei Dank!" Entsetzt über ihre eigene Erleichterung presst sie die Hand auf den Mund. "Nein, das darf ich nicht denken... So etwas ist nicht recht!"
"Mademoiselle, Sie hatten jedes Recht, ihn zu hassen und tot sehen zu wollen." aufmerksam mustert er ihr Gesicht.
'Die kleine Schlampe hat versucht, mich umzubringen...'
"Wissen Sie, was er mit dem Goldlouis gemacht hat? Er hat den Großteil davon versoffen!" Sie schüttelt den Kopf. "Ich habe so oft versucht, wegzulaufen..."
Erik zögert. Doch schließlich bemerkt er: "Und jedes mal hat er sie wieder gefunden... Das muss Sie... sehr wütend gemacht haben..."
"Wären Sie nicht wütend, wenn der Mann, der Sie verprügelt, es immer wieder schafft, Sie zu finden?" fragt sie verärgert zurück.
Erik lacht lautlos über ihre Reaktion.
"Ich hätte ihn umgebracht."
"Ich auch." entfährt es ihr leise. Sie schluckt und steht auf, um zu Magali zu gehen.
"Und Sie haben es versucht, nicht wahr?"
Sie dreht sich nicht zu ihm um.
"Ich werde nach meiner Schwester sehen... sie schläft nicht gut in einer fremden Umgebung!"
"Warten Sie." Er erhebt sich und folgt Félicie, um sie an der Schulter zu sich umzudrehen. "Machen Sie sich keine Gedanken. Ihr Geheimnis ist sicher bei mir."
Als sie aus ihrem Zimmer zurückkehrt, findet sie Erik im Esszimmer vor.
Sie setzt sich auf einen Stuhl und spielt gedankenverloren mit der Tischdecke.
"Könnte sie wohl bleiben? Zumindest bis es ihr besser geht?"
Er schüttelt den Kopf.
"Ihre Schwester ist schwer erkältet und ich weiß nicht, wie man Krankheiten bei Kleinkindern behandeln muss. Es wäre sicherer für sie, wenn sie so bald wie möglich in die Hände einer professionellen Amme gelangt... Sie können Sie ja regelmäßig besuchen." ergänzt er, als er Félicies enttäuschten Gesichtsausdruck sieht.
"Ich will sie aber nicht nur besuchen!" fährt sie ihn wütend an "Sie ist meine ganze Familie und ich bin ihre. Können Sie sich nicht vorstellen, dass sie mich braucht? Sie ist doch noch so klein!" Sie ist aufgesprungen und stützt sich nun mit beiden Fäusten auf dem Esstisch ab.
"Schreien Sie mich nicht an." entgegnet Erik kalt. "Ich verstehe ja, dass Sie sich nicht noch einmal von Ihrer Schwester trennen wollen, doch ein Kind braucht Tageslicht, um zu gedeihen. Das kann mein Haus leider nicht bieten!"
"Hören Sie, ich lasse Magali nicht noch einmal allein. Wenn Sie darauf bestehen, sie zu einer Amme zu geben, dann gehe ich mit!"
'Sie verlässt dich, Monster.'
"Schön." antwortet er dumpf. "Wenn das Ihr Wille ist, werde ich Sie nicht aufhalten." Damit erhebt er sich und geht zur Tür.
Félicie nickt ärgerlich.
"Dann werden Sie ab morgen Mittag wieder Ihre Ruhe haben." informiert sie ihn und geht an ihm vorbei in ihr Zimmer.
Sie will nicht gehen, ganz und gar nicht. Sie fühlt sich beinahe schon wohl hier unten bei ihm. Aber sie wird ihn auf keinen Fall bitten, bleiben zu dürfen. Und ganz abgesehen davon: Wie lange hätte sie seine Gastfreundschaft überhaupt noch ausnutzen können? Hat sie sich wirklich vorgemacht, diese Wohngemeinschaft könnte von Dauer sein?
Sie schließt die Tür und legt sich zu Magali auf das Bett. Irgendwie wird sie ihn schon vermissen, mit seiner seltsamen, ruppigen Art. Sie hat sich fast schon an ihre Auseinandersetzungen gewöhnt. Außerdem hatte sie manchmal das Gefühl, ihn etwas von seiner Trauer um Christine ablenken zu können.
"Das bedeutet aber nicht, dass ich ihn mag." murmelt sie leise zu sich selbst und streicht über Magalis ausgemergeltes Gesicht. Wenn er sich weigert, dieses kranke Kind zu beherbergen, hat sie gar keine andere Wahl, als zu gehen.

Bevor er sich aufmacht, Nadir zu treffen, versichert er sich, dass Félicie und Magali fest schlafen. Auch wenn es nicht viel Unterschied machen wird, ob Nadir von ihnen weiß oder nicht. Morgen wird Félicie ihn wieder verlassen, so gereizt und abweisend, wie sie gekommen ist.
"Bon soir, Nadir." begrüßt er seinen alten Freund und streckt ihm automatisch eine Hand entgegen, um ihm ins Boot zu helfen.
"Bon soir, Erik... Wie geht es dir?"
"Den Umständen entsprechend gut." antwortet er steif. Er wird wohl niemals das unangenehme Gefühl überwinden, das es in ihm verursacht, wenn er Nadir in sein Haus lässt. "Sind deine Gelenkschmerzen besser geworden?"
"Das sind sie. Deine Salbe hat wahre Wunder gewirkt."
"Ich bin erfreut, das zu hören."
Solche und andere Nebensächlichkeiten vertreiben die Zeit, bis sie ins Haus gelangen. Erst, als die Tür sicher hinter ihnen verschlossen ist, stellt Nadir Erik zur Rede.
"Da ist ein Mord geschehen, in der Rue d'Orsel... Zeugen wollen einen großen dünnen Mann mit einer weißen Maske vor dem Gesicht gesehen haben, wie er mit dem Kind des Opfers den Tatort verließ. Er summte dabei ein Lied, von dem zwei Zeugen aussagen, dass es sie zur Regungslosigkeit zu zwingen schien..."
"Du gibst zu viel auf das, was in den Boulevardblättern steht. Und was sollte ich schon mit einem Kind wollen?" entgegnet Erik schulterzuckend und wohlwissend, dass Nadir unmöglich in der Zeitung über Alfons Tarissous Tod gelesen haben kann.
Mit gehobenen Brauen hängt Nadir seinen Mantel an die Garderobe.
"Du willst also behaupten, dass es mehrere Männer in Paris gibt, auf die diese Beschreibung passt?"
"Nadir..." ruhig geht Erik voran ins Esszimmer. "Ich bin nicht in der Stimmung, mich vor dir für die Hirngespinste irgendwelcher Pariser Bürger zu rechtfertigen. Möchtest du Tee?"
"Ich möchte eine Antwort, Erik."
"Die habe ich dir bereits gegeben, iDaroga/i."
Ein paar Sekunden starren die beiden Männer einander in die Augen, halb zornig, halb prüfend, dann wendet Nadir den Blick ab und macht eine resignierende Handbewegung.
"Wie du meinst." Als sich Ayesha leise maunzend durch den Türspalt ins Zimmer zwängt, verzieht er das Gesicht. "Hast du deine Komposition vollendet?" fragt er nach einer Weile im Tonfall belangloser Konversation.
"Nein..." Erik stellt eine Tasse Tee neben Nadir auf den Beistelltisch, setzt sich ans andere Ende der Chaiselongue und nimmt Ayesha auf seinen Schoß. "Ich habe schon lange nicht mehr das Bedürfnis, Dinge zu erschaffen."
Nadir schüttelt den Kopf.
"Warum hast du das Stück dann überhaupt angefangen?"
Gereizt erhebt sich Erik wieder.
"Du weißt genau, dass es für Christine war, und du weißt auch, dass es keinen Sinn macht, es zu vollenden! Willst du mich quälen?"
"Du kannst nicht ewig um sie trauern, alter Freund."
"Ewig? Drei Monate nennst du ewig?... Wie lange hast du um Rookheeya getrauert? Um Reza?"
Mit einem Ruck hebt Nadir den Kopf.
"Christine ist nicht itot/i, Erik." entgegnet er, um Selbstbeherrschung bemüht. Dann seufzt er und schiebt seine Wut bei Seite. "Drei Monate allein im fünften Untergeschoss der Opéra Garnier sind eine Ewigkeit... Ich weiß alles über Kerker und Zeit."
"Sehr schön." Erik lässt Ayesha zurück auf dem Boden springen und kreuzt die Arme vor der Brust "Und worauf willst du hinaus?"
"Ich mache mir Sorgen um dich. Seit Christine gegangen ist, bist du erschreckend..." er unterbricht sich, als plötzlich leise das Weinen eines Kindes zu hören ist "Erik...?"

Félicie erwacht von Magalis Weinen. Schlaftrunken tastet sie sich nach draußen, um in der Küche etwas zu essen zu holen, als sie Stimmen hört.
Die Schüssel mit dem fertigen Brei hat sie im Esszimmer zurückgelassen, erinnert sie sich, und wenn Erik nicht aufgeräumt hat, wird sie noch dort stehen.
Sie betritt das Zimmer ohne zu klopfen.
"Entschuldigung... ich muss nur... die Schüssel..." hastig tastet sie nach der Schüssel, um ebenso rasch wieder verschwinden zu können, wie sie gekommen ist.
Doch Erik kommt ihr zuvor.
"Nadir, darf ich dir Félicie vorstellen... Félicie, bei mir ist mein alter Freund Nadir. Er kommt aus Persien."
"Félicie... Tarissou? Und ein Kind! Ich wusste doch, dass du mit diesem Mord etwas zu tun hast!"
Mit eindeutigem Nachdruck legt Erik seine Hand auf Nadirs Schulter.
"Du solltest meinem Gast die Hand schütteln, Nadir. Das wäre nur höflich."
Félicie lächelt verkrampft und tritt näher. Am liebsten würde sie vor Scham im Boden versinken, schließlich trägt sie nur ein Nachthemd.
"Guten Abend, Monsieur Nadir." sagt sie und reicht ihm die Hand. Seine Handflächen sind rau und das schwache Bindegewebe des Handrückens sagt ihr, dass er noch älter als Erik sein muss. "Ich bin tatsächlich Félicie Tarissou... aber Monsieur Erik... das war kein Mord!" Warum sagt sie das nur? Sie sollte sich nicht einmischen in solche Gespräche.
"Da hörst du es, Nadir." Erik bemüht sich, zufrieden zu klingen "Es war kein Mord. Es war Notwehr. Monsieur Tarissou meinte, seine Tochter nicht ohne Kampf in ein besseres Leben entlassen zu können." Er wendet sich Félicie zu "Sie sollten lieber einen frischen Brei für Magali anrühren... Und haben Sie gefühlt, ob sie Fieber hat?"
"Erik, ich verlange eine Erklärung für all das hier." schaltet sich Nadir dazwischen. "Warum sind die beiden bei dir?"
Missmutig beugt sich Erik dicht an Nadirs Ohr.
"Willst du nicht gleich fragen, ob sie ifreiwillig/i hier sind?" zischt er leise.
Félicie runzelt die Stirn und räuspert sich, um die beiden Männer an ihre Anwesenheit zu erinnern.
"Monsieur Erik hat mir das Leben gerettet... und nun hat er das Gleiche für meine Schwester getan. Er ist unser Schutzengel..." Warum hat sie bloß das Gefühl, Erik dem Fremden gegenüber mit allen Mitteln verteidigen zu müssen? Morgen wird sie doch ohnehin nicht mehr hier sein.
Unbewusst krallt Erik seine Hand in seine Hemdbrust. iEngel/i. Wieder einmal wird er zum Engel gemacht...
"Ich bin ein Schutzengel, Nadir." bestätigt er sarkastisch "Monsieur Tarissou beliebte, seine Töchter zu schlagen, und sein Geld eher in Spirituosen als in eine ordentliche Wohnung zu investieren. Ich habe Félicie vor dem Erfrieren bewahrt, und morgen werde ich sie und Magali an eine gutbezahlte Amme übergeben."
Skeptisch beobachtet Nadir, wie Erik sich abwendet und mit vor der Brust gekreuzten Armen auf und ab zu gehen beginnt. Dann mustert er für einen Moment den beinahe zornigen Ausdruck in den blinden Augen der jungen Frau vor ihm.
"Mademoiselle Tarissou, ich freue mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen." sagt er schließlich mit einer angedeuteten Verbeugung. "Seien Sie versichert, dass Sie das Glück hatten, von einem außergewöhnlichen Mann gerettet zu werden. Doch nun möchte ich Sie nicht weiter von Ihrer Schwester fern halten..."
Félicie schluckt schwer und wendet sich Erik zu. Sie weiß nicht, ob sie jetzt wirklich gehen kann. Andererseits hat sich Erik viele Jahre selbst verteidigen können, warum sollte er ausgerechnet heute ihre Unterstützung brauchen?
"Monsieur?" fragt sie unsicher und klammert sich mit beiden Händen an die Schüssel .
Erik räuspert sich und gräbt seine Finger schmerzhaft in die blauen Flecke auf seinem Brustkorb.
"Gehen Sie ruhig, Félicie. Magali braucht Sie."
Nach einem letzten Zögern geht sie, um den Brei in der Küche zuzubereiten. Sie ist beunruhigt, obwohl sie nicht genau sagen kann, warum. Die ganze Zeit über lauscht sie, ob Erik nicht doch Hilfe brauchen könnte. Doch alles, was sie hört, sind ruhige gedämpfte Stimmen, alles deutet auf ein völlig normales Gespräch hin.
Als Félicie das Zimmer verlassen hat, beginnt Erik, dem Gewicht nachzugeben, das ihn niederdrückt, bis er sich plötzlich auf der Chaiselongue wiederfindet, krampfhaft seine aufsteigenden Tränen unterdrückend.
"Erik... was in Allahs Namen geht hier vor?" etwas hilflos lässt sich Nadir neben seinen Freund nieder.
"Du hast es doch gehört." presst Erik hervor "Ich bin ein Schutzengel. Und morgen werden mich meine Schützlinge wieder verlassen, um fortan gemeinsam glücklich zu sein. Alles geht einen ruhigen, geregelten Gang, und du bist ein kranker alter Mann, der längst im Bett sein sollte."
Langsam schüttelt Nadir den Kopf.
"Ich lasse mich nicht von dir ins Bett schicken, Erik. Und ich fragte nicht nach den Geschehnissen der vergangenen und kommenden Tage, sondern nach dir."
"Ich bin erschöpft, Nadir, mehr nicht. Das sollte ein bekanntes Phänomen für dich sein."
"Das ist keine bloße Erschöpfung."
Erik lacht bitter.
"Was glaubst du, iDaroga/i? Dass ich depressiv werde, weil ich Félicie nach nur fünf Tagen zu meiner neue Christine erkoren habe? Du beleidigst mich!" So zornig wie es ihm möglich ist, springt er auf "Ich muss dich bitten, jetzt zu gehen. Du kennst den Weg durch die Folterkammer."
"Nun gut." Nadir seufzt. "Ich werde dich nicht weiter belästigen."
Auf Zehenspitzen schleicht Félicie zurück in ihr Zimmer und hofft inständig, dabei weder Erik noch dem Perser zu begegnen. Magali ist längst wieder eingeschlafen. Sie setzt sich auf die Bettkante und krallt sich an der Schüssel fest. Es klang so, als hätte das Gespräch doch noch in einem Streit geendet.

Der nächste Morgen trifft ihn wie ein Schlag ins Gesicht.Die ganze Nacht lang hat er regungslos auf die Uhr im Esszimmer gestarrt und beobachtet, wie die Stunden, die er nicht völlig allein in seinem Haus sein würde, vergingen. Nun sind sie fast vorbei.
Er könnte schreien vor Wut, dass er wieder in diesem schwarzen Loch versunken ist, dass seine Gefühle von der Gesellschaft andere Menschen abhängig sind, dass er nicht frei ist, sondern immer wieder gegen die kalten Gitterstäbe seiner selbst stoßen wird. Er hätte sich nie, niemals auf die Hoffnung einlassen sollen.
Punkt neun erhebt er sich und geht in die Küche, um ein letztes Frühstück für seine Gäste zu machen.
Als Félicie die Küche betritt, runzelt sie die Stirn. Erik ist noch schweigsamer als sonst. Ob es mit dem Besuch des Persers zu tun hat?
"Ist alles in Ordnung?" fragt sie leise, während sie Milch erwärmt.
"Natürlich." antwortet er kurz und sehr darum bemüht, leichthin zu klingen "Wie geht es Magali?"
"Sie hat kein Fieber." antwortet sie und beißt sich auf die Lippen. Er lügt... er spricht zu laut... viel zu bemüht, die Fassung zu bewahren. Sie seufzt und nimmt die Milch vom Herd.
"Was haben Sie? Sind Sie krank?"
"Nicht kranker als sonst auch. Ich werde Sie und Magali nach dem Frühstück in eine Kutsche setzen, die Sie zu Jules bringt. Um alles weitere wird er sich kümmern."
"Sie werden gar nicht selbst mitkommen?" fragt sie enttäuscht. "Was... was wird denn aus Ihnen wenn Sie hier wieder... allein sind?"
"Nun, ich werde mir schon etwas zu tun suchen. Zu Ihrer Warnung: Jules' Frau ist leicht reizbar wenn es um mich geht; Sie sollten einen Bogen um sie machen. Aber Jules ist ein fähiger Mann, er wird Sie noch heute gut unterbringen."
Félicie schüttelt den Kopf und vergisst vorerst die Milch, die sie für Magali abfüllen wollte.
"Erik..." beginnt sie zögerlich "Sie... Sie werden sich nichts antun oder?"
"Aber nicht doch. Ich würde Ihr empfindliches Gewissen niemals mit solche einer Tat belasten."
Verärgert schüttelt sie den Kopf. Also doch... Sobald sie das Haus verlassen hat, wird er genau da weitermachen, wo er stehengeblieben ist, als sie kam. Wie konnte sie all das nur vergessen? Wie konnte sie zulassen, dass die Wiedersehensfreude mit Magali Eriks ernsten Zustand aus ihrem Gedächtnis drängt?
"Erik..." seufzt sie "Hören Sie, ich versuche wirklich, Ihnen zu glauben... Ich... könnte Sie ja besuchen. Dann wären Sie nicht so allein hier unten. Und wenn ich mich mit Ihrem Freund abwechseln würde..." Sie bricht ab.
Er stützt sich auf die Arbeitsplatte.
"Das ist ein sehr liebenswürdiges Angebot, das ich gern annehme." gelingt es ihm, zu sagen "Nun bringen Sie Magali ihre Milch, ehe sie wieder kalt ist."
"Versprechen Sie mir, dass Sie immer da sein werden, wenn ich komme?" erkundigtsie sich vorsichtig. "Ich möchte nicht eines Tages vor Ihrer Tür stehen und Sie öffnen mir nicht mehr." Sie greift nach der Milchflasche und tippt ungeduldig mit den Fingerspitzen auf die Arbeitsplatte.
"Natürlich." versichert er steif "Nun entschuldigen Sie mich..." Und eilig verlässt er die Küche, ehe er vor Félicie zu weinen beginnt oder an seinen aufsteigenden Tränen erstickt.
Kurzentschlossen lässt Félicie die Milch auf der Arbeitsplatte zurück und folgt ihm Er hat sich in sein Zimmer zurückgezogen, und nachdem sie kurz angeklopft hat, bleibt sie im Türrahmen stehen. Erschrocken stellt sie fest, dass er weint. Irgendwo auf dem Fußboden kauert er und weint...
"Monsieur?" fragt sie unsicher "Wenn ich etwas für Sie tun kann..."
Erik zuckt zusammen und setzt seine Maske wieder auf.
"Nein." keucht er heiser "Lassen Sie mich... einfach in Ruhe."
"Brauchen Sie Hilfe? Soll... soll ich Ihren Freund holen?" schlägt sie hilflos vor. Wahrscheinlich würde sie ihm mehr helfen können, wenn sie einfach noch bleibt, wenigstens so lange, bis es ihm wieder besser geht. "Sagen sie mir, wo ich Monsieur Nadir finde?" bittet sie leise und macht einen unsicheren Schritt auf ihn zu. Sie möchte ihm so gerne helfen. Aber sie kann ihre Familie nicht wieder alleine lassen. Sie beißt sich auf die Lippen und denkt angestrengt nach. "Oder... oder soll ich noch ein paar Tage bleiben?"
"Nein. Das hätte auch... keinen Sinn."
Sie zuckt mit den Schultern.
"Aber wenn ich Ihnen helfen kann... Sie haben mir auch geholfen, als es mir nicht gut ging."
"Pflichtgefühl..."
Félicie ballt die Hände zu Fäusten und kniet sich langsam neben ihn
"Kein Pflichtgefühl... Ich will Ihnen helfen, Erik... warum lassen Sie das nicht zu?"
Er mustert sie lange und stellt dabei fest, dass sie zugenommen haben muss, seit er sie zu sich geholt hat. Sie sieht fast gesund aus. Und sehr hübsch.
Er wendet den Blick ab.
"Ich müsste Ihnen vertrauen." antwortet er schließlich leise. "Ihnen und dem Leben. Aber..." er zögert "Selbst Giovanni hat mich verraten... Und Christine..." er schließt die Augen. "Sie fürchten sich nicht vor mir, Félicie, nicht mehr... noch nicht... Doch da ist etwas an mir... das zerstört, was immer ich aufbaue..."
'Sag es ihr! Ich bin hässlich. Ich bin abstoßend. Ein Monster!'
Erik schüttelt den Kopf
"Ich will nicht mehr kämpfen... Und ich will Ihre Zeit nicht verschwenden."
Sie lächelt schwach.
"Ach wissen Sie, ich habe zufällig nichts anderes vor... Und außerdem." fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu "Haben Sie mir noch ein paar Stunden Braille versprochen."
Skeptisch betrachtet er Félicies Lächeln. Es wirkt so ehrlich.
Eine plötzliche Woge der Dankbarkeit überrollt ihn, und ohne es zu wollen, empfindet er für einen kurzen Moment wieder etwas von der richtungslosen Hoffnung, die ihn veranlasste, Félicie kein Laudanum zu geben. Doch die Hoffnung vergeht, wie alles vergeht.
Trotzdem räuspert er sich und stimmt zu: "Natürlich, Ihr Unterricht..." Vorsichtig, um seinen Kreislauf nicht zu sehr auf die Probe zu stellen, wuchtet er sich auf die Chaiselongue hinauf. "Ich muss mein Wort halten. Und Sie sollten Ihre Schwester füttern. Magali wird es gut haben bei der Amme, das verspreche ich Ihnen."
Sie nickt. Es fällt ihr keineswegs leicht, Magali so einfach einer Fremden zu überlassen, aber sie redet sich ein, dass es nicht von Dauer sein wird. Sie kann die Kleine jederzeit besuchen... und wenn es Erik wieder allein zurecht kommt, wird sie wieder ganz bei ihr sein.
Erst als sie sich sicher ist, dass er nicht wieder zusammenbrechen wird, dass es ihm besser geht, steht auch sie auf und wendet sich zum Gehen.
"Ich vertraue Ihnen."
Nachdenklich beobachtet er, wie sich die Tür hinter Félicie schließt.
Sie ist auf ihre Weise Giovanni sehr ähnlich, denkt er. Ein Giovanni ohne neugierige Tochter.

Magali fest an ihre Brust gepresst, sitzt Félicie eine knappe Stunde später in Jules' kleinem Wohnzimmer. Immer wieder stolpern Kinder über ihre Füße. Sie legt die Stirn in Falten. Jules hat tatsächlich sehr viele Kinder. Wenn stimmt, was Erik sagt, sind einige von ihnen bereits aus dem Haus, und doch spielen mindestens sechs im Alter von drei bis zwölf um sie herum.
Seit Erik sie am Tor verlassen hat und sie Jules kennenlernte, hat sie kaum ein Wort geredet. Es ist nicht so, dass Jules ihr nicht sympathisch ist, aber kaum versucht sie auch nur, ein Gespräch anzufangen, stürzt seine Frau aus dem Nebenzimmer und fällt ihr ins Wort.
Félicie kann sich daran erinnern, dass Erik erzählte, wie schlecht Jules' Frau auf ihn zu sprechen ist. Und je länger sie in diesem Wohnzimmer sitzt, desto mehr muss sie ihm Recht geben. Allein die Tatsache, dass Félicie von Erik geschickt wurde, scheint Anlass genug zu sein, sie wie Luft zu behandeln.
Magali hat die ganze Zeit über keinen Laut von sich gegeben. Das ändert sich jedoch schlagartig, als aus der Küche nebenan wütende Gesprächsfetzen klingen.
"Ich werde diesem Flittchen ganz bestimmt keinen Tee kochen, Jules. Ich will dass sie verschwindet." Félicie bemerkt nicht zum ersten Mal, wie hässlich und dünn die Stimme der Frau klingt. Eine Stimme, die zu der kleinen gebeugten Gestalt einer Hexe passen würde.
"Annette." seufzt Jules etwas gedämpfter "Du könntest dich wenigstens bemühen..."
"Nichts werde ich. Ich habe dir gesagt, dass ich mit diesem...iMenschen/i nichts zu tun haben will. Lass du dich von ihm bezahlen... Mir missfällt schon, dass nur sein Geld den Kindern eine Ausbildung ermöglicht. Aber ich werde mich nicht noch um seine Gespielinnen und sein Balg kümmern..."
"Das musst du ja auch gar nicht. Aber du könntest ihr wenigstens einen Tee anbieten, bis ich die beiden zu der Amme bringe."
"Nein. Du wirst sie jetzt wegbringen, Jules! Und von mir aus wartet ihr auf der Straße, bis die Amme euch öffnet. Ich will dass dieses Ding hier verschwindet. Schlimm genug, dass er es tatsächlich gewagt hat, wieder vor unserer Tür aufzutauchen... Wenn nun eines der Kinder ihn gesehen hätte..."
Félicie schüttelt den Kopf. Jules ist ein Schwächling. Er hat zwar einen ganzen Stall Kinder gezeugt, aber es ist seine Frau, die ganz eindeutig die Hosen anhat.
Als sich seine Schritte nähern, springt sie hastig auf.
"Monsieur Jules? Es ist wohl besser, wenn wir gehen. Ich möchte Ihnen wirklich keinen Ärger machen."
Obwohl Jules mit einem "Ach" versucht, abzuwinken, merkt sie, dass er doch erleichtert über ihren Vorschlag ist. Sie nimmt sich vor, Erik vielleicht morgen über diese Familie auszufragen, wenn sein Zustand Fragen zulässt.
Morgen... Ihr Herz macht einen Sprung. Er hat ihr diesen ganzen Tag mit Magali gegönnt. Sie darf noch diesen Tag und die ganze Nacht mit ihr verbringen und sich selbst davon überzeugen, dass sie es gut hat. Und für den Fall, dass sie mit der Amme nicht einverstanden ist, wird er sich um eine andere kümmern. Sie kann die Dankbarkeit, die sie empfindet, nicht in Worte fassen.
Auf dem ganzen Weg zur Amme, versucht sie, Jules über Erik auszufragen. Doch Jules' Loyalität gilt seinem Arbeitgeber, und es ist kein Wort aus ihm herauszubekommen. Tatsächlich erfährt sie von ihm noch weniger, als von Erik selbst. Vielleicht weiß er auch ganz einfach kaum etwas über seinen Herrn.
Die Amme ist eine nette ältere Dame mit ruhiger Stimme. Als Félicie ihr zögerlich Magali in den Arm legt, weint die Kleine nicht einmal. Und obwohl es Félicie nicht gefällt, ihre Schwester von einer fremden Frau füttern zu lassen, befolgt sie Eriks Rat und verhält sich ruhig, achtet auf jedes kleine Geräusch, das Magali macht. Am Ende ist sie fast enttäuscht, dass die Kleine nur fröhlich gluckst.
An ihrem letzten Abend schlafen sie gemeinsam in einem Bett. Félicie hat es sich nicht nehmen lassen, ihrer Schwester zum Einschlafen Geschichten zu erzählen und schließlich schläft die Kleine während dem Gestiefelten Kater ein. Vorsichtig streicht Félicie ihr über den Kopf, durch das weiche Haar, das die Amme vor dem Schlafen zu neuen Zöpfen geflochten hat.
"Weißt du Magali... morgen werde ich dich wieder verlassen. Aber du musst nicht traurig sein. Du hast es hier sehr gut. Aber ich glaube, Monsieur Erik braucht mich jetzt dringender als du... er hat niemanden, der auf ihn aufpasst. Und ich werde dich ganz oft besuchen hier... das verspreche ich."

Mit einem leisen Klicken schnappt der Schließmechanismus der Haustür ein. Die nachfolgende Stille ist zuerst angenehm, doch bald schon beginnt die Leere des Hauses schwer auf ihm zu lasten.
"Sie kommt morgen wieder." sagt er laut zu sich selbst. "Nicht wahr, Ayesha?" er nimmt die Katze auf den Arm, die ihm zur Begrüßung um die Beine streicht. "Félicie ist ein gutes Mädchen."
Unruhig läuft er in der Wohnung umher, zwingt sich, eine Sonate zu spielen, übt die Braille-Schrift, doch es will ihm nicht gelingen, ruhig darauf zu vertrauen, dass Félicie morgen um zwölf Uhr am Tor in der Rue Scribe stehen und auf ihn warten wird.
Ayesha scheint seine Anspannung zu teilen. Sie drängt sich auffällig an ihn und ist nicht dazu zu überreden, ihn länger als ein paar Minuten seinen Gedanken zu überlassen. So kommt es, dass es bereits Abend ist, ehe er zum Haus der Amme aufbricht.
Durch eines der Fenster des kleinen doch sauberen Hauses kann er die ältere Frau über einem Tisch mit fünf Kindern zwischen zwei und vielleicht vierzehn Jahren thronen sehen. Auf ihrem Schoß sitzt Magali, zufrieden kauend und erstaunlich zutraulich für ein Kind, das in seinem Leben kaum vertrauenswürdige Menschen kennengelernt hat; daneben kauert Félicie, die sehr aufmerksam lauscht und scheu lächelt, als die Amme eine freundlich amüsierte Bemerkung macht.
Der kalte Wind zerrt an seinem Umhang, doch er bringt es nicht über sich, zur Oper zurückzukehren.
Als sich die Tischrunde auflöst und Félicie mit Magali und den anderen Kindern zusammen in das obere Stockwerk steigt, klettert er etwas schwerfällig an der Fassade hinauf, um durch eine Ritze im Vorhang zuzusehen, wie Félicie für ihre Schwester erzählt. Kaum hörbar dringt ihre Stimme durch das Glas zu ihm, erst aus dem Lichtkreis einer Gaslampe, dann aus der Dunkelheit
"... ich glaube, Monsieur Erik braucht mich jetzt mehr als du..."

Am nächsten Morgen ist Jules pünktlich am Haus der Amme. Es fällt Félicie schwer, sich nun von Magali zu trennen, und einzig die beruhigenden Worte der Amme schaffen es, sie zum Gehen zu bewegen.
Schweigend, mit einem dicken Klos im Hals stapft sie das letzte Stück bis zum Tor in der Rue Scribe neben Jules her. Ihr ist die Lust vergangen, sich mit ihm zu unterhalten. Und über Erik wird er ihr ohnehin nichts erzählen.
Doch je näher sie dem Tor kommen, umso größer wird ihre Aufregung und drängt ihren Trennungsschmerz Stück für Stück in den Hintergrund. Ob Erik schon auf sie wartet? Oder ist es ihm egal, ob sie zu ihm kommt... Wenn er nur bloß keine Dummheiten gemacht hat!
Auf den letzten Metern ertappt sie sich selbst dabei, Jules in regelmäßigen Abständen nach der Uhrzeit zu fragen.
Als Jules schließlich stehen bleibt, zittern ihre Hände vor Aufregung und sie verknotet sie fest ineinander in ihrem Muff.
"Monsieur? Ist Erik schon da?" fragt sie leise und hoffnungsvoll.
Geräuschlos tritt Erik in den Halbschatten unter dem Torbogen.
"Ich bin hier, Félicie."
Ihr Herz macht einen freudigen Sprung. Er hat sein Versprechen gehalten! Sofort vergisst sie Jules und tritt auf Erik zu.
"Wollen wir gehen?"
"Natürlich." Er hält das Tor für Félicie auf und nickt Jules zum Abschied zu. "Sind Sie Magalis wegen beruhigt?"
"Die Amme ist sehr freundlich." entgegnet sie leise "Wie geht es Ihnen?" Sie folgt ihm mit schief gelegtem Kopf und lauscht auf seinen Gang. Normale, feste Schritte.
Er zögert die Antwort auf ihre Frage heraus, indem er ihr ins Boot hilft und die Vertäuung löst.
Es fühlt nicht schlecht; jedenfalls nicht so schlecht wie noch vor wenigen Tagen oder in der letzten Nacht, und er spürt, dass ihn Félicies Gegenwart beruhigt.
Vorsichtig stößt er das Boot vom Kai ab.
"Ich bin froh, dass Sie wieder hier sind." antwortet er schließlich wahrheitsgemäß.
Sie spürt, dass ihr Gesicht glüht.
"Ich freue mich auch, wieder hier zu sein. Und dass es Ihnen recht gut zu gehen scheint." fügt sie rasch hinzu. Eine ganze Weile bleibt sie ihm stumm. Erst als sie seine Wohnung betreten, sagt sie leise "Ich habe überlegt, wie ich Ihnen helfen könnte, Erik."
Während er über den See setzte, konnte er sich an den Rudern festhalten, nun sind seine Hände zu leeren Fäusten geballt. Es ist nicht so, dass ihm Félicies spontane, ungezwungene Sympathiebekundung nicht gefallen hätte, doch sie hat ihn überrumpelt, und nun ist er unsicher, wie er mit seinem Gast umzugehen hat.
"Was haben Sie überlegt?" fragt er deshalb ausdruckslos und wendet Félicie den Rücken zu, um seinen Umhang an die Garderobe zu hängen.
"Eigentlich ist die Idee nicht neu... Aber ich glaube wirklich, es würde Ihnen helfen, wenn Sie sich von der Seele reden würden, was Ihnen solchen Kummer bereitet." erklärt sie ihm zögerlich, während sie sich auf die Chaiselongue fallen lässt. "Wenn... wenn Sie es mir erzählen würden."
Erik versteift sich und mustert misstrauisch Félicies neugierig-besorgten Gesichtsausdruck.
Er hat Christine so viel erzählt – mehr als klug war. Geholfen hat es ihm nicht. Im Gegenteil.
Er denkt an die kurzen Momente der Zuversicht zurück, und an die Zweifel. Seine Zukunft ist und bleibt leer, nicht an morgen zu denken die einzige Form von Perspektive, die ihm bleibt. Das Gestern in Worte zu fassen, wird ihn von der Zukunft nicht ablenken, im Gegenteil, und es wird schmerzhaft sein.
'Aber das willst du doch, Dummkopf. Das willst du immer noch. Schmerz und noch mehr Schmerz, bis du endlich dran krepieren kannst.'
"Was wollen Sie wissen?" fragt er tonlos.
"Wo haben Sie so gut Klavier spielen gelernt?"
Erstaunt schaut Erik sie an. Mit einer derart unverfänglichen Frage hat er nicht gerechnet.
"Ich habe es mir größtenteils selbst beigebracht."
"Wie alt waren Sie als Sie angefangen haben?" fragt sie interessiert weiter. Und insgeheim freut sie sich, dass sie ihn mit ihren harmlosen Fragen überrascht zu haben scheint.
"Drei Jahre, denke ich". Er reibt sich den Nacken. "Möchten Sie ein Mittagessen?"
Sie steht auf und geht zu ihm.
"Sehr gerne. Darf ich Ihnen helfen? Vielleicht kann ich noch etwas lernen?" Und das ist sehr wahrscheinlich, denkt sie. Denn sie hat bisher nur Bekanntschaft mit der einfachen französischen Küche gemacht.
"Natürlich. Haben Sie einen besonderen Wunsch oder sind Sie mit einer Quiche Lorraine zufrieden?"
"Das wäre wunderbar." antwortet sie. Bisher haben sich ihre Kochkünste auf Brei und Omelette beschränkt, aber von ihrer Großmutter hat sie schon als Kind gehört, was man für eine Quiche benötigt. So fördert sie rasch aus dem Schrank ein Stück Käse hervor.

"Möchten Sie mir von Ihren Reisen erzählen? Wo waren Sie und was haben Sie alles gesehen?" Und während Erik weitere Lebensmittel aus dem Schrank holt, schämt sie sich zum ersten Mal dafür, niemals in einer anderen Stadt als Paris gewesen zu sein. Sie kommt sich klein und unbedeutend vor neben ihm, der so vieles schon gesehen und erlebt haben muss.

"Ich war in zu vielen Ländern, um an einem Tag alles zu erzählen. Sagt Ihnen..." er wägt einen Moment lang seine Möglichkeiten ab und nimmt eine Zwiebel aus dem Schrank "Sagt Ihnen Rom etwas?"

"Ist das... die Hauptstadt von Persien?" fragt Félicie vorsichtig und beißt sich ärgerlich auf die Lippen. Warum muss sie in Armut groß geworden sein und nicht einmal bei so etwas simplem wie Städten wirklich wissen, wovon er redet?

Erik räuspert sich und lächelt schwach über Félicies offensichtlichen Missmut.

"Beinahe. Rom ist die Hauptstadt von Italien, einem Land süd-westlich von hier, hinter den Pyrenäen. Aber das wüsste ich auch nicht, wenn ich nicht die Chance gehabt hätte, es zu lernen. Warten Sie nur, bis Ihr Reliefglobus geliefert wird, dann werden Sie die Länder und ihre Städte bald so gut kennen wie die Braille-Schrift. Nun... Ich könnte Ihnen in den nächsten Tagen etwas typisch italienisches kochen, wenn Sie möchten."
"Gerne." freut sie sich, erleichtert darüber, dass er ihre Unwissenheit so gekonnt herunterspielt. "Wie ist es eigentlich in Italien so?"
Er überlegt einen Moment lang.
"Es ist schwer, das in Worte zu fassen, doch ich... könnte es Ihnen mit Musik beschreiben."
"Komponieren Sie etwa auch?" fragt sie ungläubig. Sie lauscht dem Klappern des Löffels, der rhythmisch gegen die Schüssel schlägt. "Sie sind wirklich sehr vielseitig. Gibt es noch etwas, dass Sie können?"
"Zeichnen, Bildhauerei..." er zuckt mit den Schultern "Würden Sie mir das Salzfass vom Tisch reichen?"
"Sofort... Haben Sie eine Statue hier?"
Erik erstarrt und hält für einen Moment die Luft an. Als er antwortet, klingt seine Stimme sonderbar hohl.
"Das habe ich."
"Oh." jubelt sie schüchtern "Und würden Sie mir die auch zeigen?" fragt sie dann.
Mit zitternden Händen misst er Mehl ab und rührt Wasser und Salz darunter.
"Nach dem Essen." antwortet er schließlich leise.
"Das wäre sehr schön." entgegnet sie. Warum klingt er nur wieder so merkwürdig ruhig? Freut es ihn nicht, dass sie sich für seine Kunst interessiert? Sie lässt sich auf den Küchenstuhl sinken und seufzt tief, während sie mit der Tischdecke spielt.
"Wissen Sie, ich war nämlich noch nie in einem Museum. Selbst wenn wir das Geld dazu gehabt hätten, man hätte mit nie erlaubt, etwas dort zu berühren. Obwohl ich nichts kaputt machen würde." setzt sie hastig hinzu. Nicht mit Absicht jedenfalls, denkt sie, und ihr fällt die Vase in ihrem Zimmer ein.
Erik wirft Félicie einen schnellen Blick zu.
"Ich könnte einen Besuch im Louvre für Sie organisieren..."
"Wirklich?" Ihr Gesicht beginnt zu leuchten. "Aber... aber ich dürfte dort bestimmt nichts berühren." Sie beißt sich auf die Lippen.
Erik legt sein Messer bei Seite und streicht die Zwiebelschalen in den Abfalleimer.
"Niemand würde es sehen..."