Kapitel 7

Mit den Händen das Gesicht bedeckend liegt sie auf der Chaiselongue, während sie Eriks Klavierspiel umströmt. Italien muss ein warmes, freundliches Land sein, voll von Sonne, fremdartigen Früchten und Meer. Seit einer ganzen Zeit schon ist Erik völlig in seinem Spiel versunken und sie wagt es nicht, ihn mit Fragen zu unterbrechen. Er denkt sich diese Musik tatsächlich gerade selbst aus, während er sie spielt, durchfährt es sie.Durch Eriks Geist fließen die Bilder; endlose Landschaften fern der Zivilisation, vereinzelte Pfade, dann Straßen und Plätze, eine kleine Stadt, menschenleer und friedlich in den kurzen Stunden vor Sonnenaufgang. Er sieht Rom vor seinen Füßen ausgebreitet, ein Labyrinth, das die Villa Medici umschließt und umrahmt, ein Monument, Sinnbild seiner, Eriks, Ausgrenzung. Er sieht die alten Hände seines Meisters, die so voller dicker Adern waren und die ihn nicht schlugen. Dennoch hat Giovanni ihn verraten... Ohne es zu wollen, greift er einen kakophonischen Akkord. Und noch einen und noch einen.iAlles nur wegen Luciana/i...
Mit einem plötzlichen Gefühl der Frustration hält er inne; und als der Akkord verklungen ist, steht er wortlos auf und geht in sein Zimmer zurück.
"Erik?" Erschrocken springt auch Félicie auf. Nicht alles in Italien scheint schön für ihn gewesen zu sein. Eilig folgt sie ihm und bleibt im Türrahmen seines Zimmers stehen. "Kann ich etwas tun?" fragt sie sehr leise.
Erik lässt sich auf seine Chaiselongue fallen und stützt seinen Kopf in die Hand.
"Können Sie die Vergangenheit ungeschehen machen?"
Betroffen schüttelt sie den Kopf.
"Nein, das kann ich nicht. Sonst hätte ich sicherlich auch für mich selbst einiges getan." Vergangenheit ungeschehen machen... Ob er nun all seine Taten bereut? Die Morde und Diebstähle? Sie lehnt sich gegen den Türrahmen. "Soll ich wieder gehen?"
Er schaut einen Moment lang prüfend zu ihr.
"Ihr Vater?" fragte er schließlich.
"Glauben Sie wirklich, ich hätte mir ein Leben in Armut mit diesem Mann als Vater ausgesucht?"
Irritiert runzelt er die Stirn.
"Natürlich nicht." Er zögert "Wie wollten Sie ihn töten?"
"Monsieur, ich... Es hat nicht funktioniert." weicht sie aus. Ihre Hände und verkrampfen sich im Stoff ihres Kleides. Eigentlich möchte sie nicht darüber reden, sie hat es bisher niemandem erzählt. Warum gerade ihm, der immer wieder betont nur zum Spaß getötet zu haben... Aber auch er hat einmal aus einer Notlage heraus getötet. Einmal...
"Sie haben nur iversucht/i, ihn zu töten, ich habe es igetan/i." sagt er ruhig. "Sprechen Sie nur frei heraus... Vielleicht hilft es Ihnen."
Ihr Mundwinkel zuckt leicht. Das ist ihr Satz, und es klingt seltsam, ihn aus seinem Mund zu hören. Vielleicht würde er sie tatsächlich verstehen und nicht für diese Gedanken verurteilen. Wenn nicht er, wer dann.
Aber da sind plötzlich wieder die Erinnerungen. Erinnerungen an die Schläge, den Gürtel, der ihr in den Rücken schneidet. Der beißende Atem ihres Vaters – die Mischung aus Alkohol und faulen Zähnen. Diese Schrei und Schläge... er riecht nach Erbrochenem, als er sie wieder und wieder prügelt, bis sie kaum noch aufrecht stehen kann. Sie beißt die Zähne aufeinander und schließt die Augen, um die Tränen, die nun heftig dahinter pochen, zurückzuhalten.
"Rattengift." murmelt sie abwesend "Rattengift in kleinen Dosen... Aber er hat es gemerkt und mich dafür verprügelt. Er hat den Gürtel genommen und mich geschlagen... und Magali saß direkt daneben..." Ein Tränenstrom schüttelt sie und sie würgt, um den Kloß aus ihrem Hals zu bekommen. "Es war eine dumme Idee!"
Unsicher beobachtet er, wie es in Félicies bleichem Gesicht arbeitet. Wirkt er auch so erbarmungswürdig, wenn ihn Trauer und Erinnerungen ankommen?
"An sich war das Rattengift eine gute Wahl." sagt er mit leiser, beruhigender Stimme und erhebt sich, um Félicie an beiden Schultern zur Chaiselongue zu führen. "Setzen Sie sich. Wie ist er dahinter gekommen, dass Gift schuld an seinen Beschwerden war?"
Hilflos zuckt sie mit den Schultern und lässt sich von ihm mit sanfter Gewalt auf die Chaise drücken. Bisher hat sie niemandem davon erzählt, und sie ist erleichtert, dass Erik nun für sie da ist, ohne ihr Vorwürfe zu machen. Er berührt sie sogar freiwillig.
"Er hatte tagelang Brechdurchfall... und ich war diejenige, die für sein Essen zuständig war... Außerdem habe ich davor ziemlich oft versucht, wegzulaufen. Aber er hat mich immer wieder gefunden. Nachdem meine Mutter gestorben ist, wurde er wirklich gemein... Und dieses Mal... ich wollte es dieses Mal endgültig machen." Sie seufzt tief und gewinnt langsam ihre Fassung zurück "Aber nicht mal das habe ich geschafft."
"Deshalb waren Sie auf dem Friedhof?"
Sie presst die Lippen fest aufeinander und versucht den Kloß zu ignorieren, der sich erneut in ihrem Hals bilden will.
"Er hätte mich totgeschlagen. Besser durch meine eigene als durch seine Hand..."
"Jetzt ist er tot und Sie und Magali leben... weil Sie auf den Friedhof gegangen sind." Er erhebt sich und geht zu dem Kästchen mit seinem Morphium hinüber. "Mögen Sie Pferde?"
"Sehr gerne." seufzt sie, ohne ihre Erleichterung über den Themenwechsel überspielen zu können. "Haben Sie etwa eins?"
"Zur Oper gehören Stallungen. Wir könnten heute Nacht dort hin gehen," routiniert setzt er seine Spritze zusammen und lächelt schief "ich müsste dieses Mal weder Schlösser aufbrechen noch Wachmänner betäuben."
"Passt nachts denn niemand auf die Pferde auf?" fragt sie verwundert und lauscht dem merkwürdig zurrenden Geräusch von Stoff, das sie nicht zuordnen kann. Ayesha tapst durch das Zimmer, doch statt sich wie üblich an ihren Beinen zu reiben, geht sie an ihr vorbei und nähert sich Erik. Félicie seufzt tief.
"Es gibt einen Stallburschen, der Wache halten soll, doch der Junge ist durch nichts vom Schlafen abzuhalten." Resigniert mustert er die letzte intakte Vene auf seinem rechten Handrücken; dann setzt er die Nadel an. "Wenn es nicht so kalt wäre, würde ich Ihnen einen Ausritt anbieten."
"Ich kann nicht reiten."
"Das müssten Sie auch nicht." Er legt die Spritze bei Seite und streift die Aderpresse ab. "Es gibt einen kleinen offenen Zweisitzer im Fuhrpark der Oper; er ist leicht anzuspannen aber für winterliche Wetterverhältnisse ungeeignet." Er bückt sich, um Ayesha aufzuheben. "Bonjour, ma petite, du möchtest gefüttert werden?"
"Das kann ich übernehmen, wenn Sie mir sagen, wo ich alles finde." schlägt Félicie vor. Seltsam, dass die Katze sie so plötzlich vollkommen ignoriert.
"Gern." Er krault sanft Ayeshas Kinn. "Im zweiten Schrank links neben der Küchentür bewahre ich das Katzenfutter auf. Sie scheinen sich unabsichtlich einen Affront gegen die Prinzessin geleistet zu haben."
"Sie ist mir seit Tagen nicht mehr über den Weg gelaufen." entgegnet Félicie nachdenklich und wendet sich zum Gehen. "Komm Ayesha, Essen!"
Nichts geschieht. Die Katze sitzt noch immer auf Eriks Arm und schnurrt genüsslich. Resigniert zuckt Félicie mit den Schultern und geht allein in die Küche, um Ayeshas Futter auf einem Teller anzurichten. Doch auch jetzt taucht die Katze nicht auf und als Félicie zurück in Eriks Zimmer geht, hört sie die Katze immer noch wohlig aus seiner Richtung schnurren.
"Sie hat wohl keinen Hunger."
"Vielleicht ist sie krank..." überlegt Erik und runzelt Stirn. Doch nichts an der Art, wie Ayesha sich an ihn schmiegt und ihn zum Kraulen auffordert, legt diese Vermutung nahe. "Nein, sie ist wohl einfach sonderbar gelaunt."
Félicie nickt langsam.
"Wahrscheinlich. Normalerweise habe ich auch keine Probleme mit Tieren. Ihnen ist es egal, ob ich sehen kann oder nicht." Als sie näher kommt, springt Ayesha von Eriks Schoß und verschwindet im Nebenzimmer.
Nachdenklich schaut Erik der Katze nach.
"Tiere bewerten einen Menschen nur danach, wie er sie behandelt." Er seufzt. "Machen Sie sich keine Gedanken wegen Ayesha, sie wird sich wieder fangen."

Immer wieder lässt Félicie ihre Finger durch die seidige Mähne des Pferdes gleiten. In den Stallungen riecht es warm und muffig, aber ab und zu strömt ihr der Duft von frischem Heu entgegen.
"Sagen Sie, Erik, warum gibt es an dieser Oper Pferde?"
"Einige Tiere werden gebraucht, um die Bühnenbilder zu bewegen. Andere sind speziell dressiert und werden auf der Bühne als Teil der Aufführung verwendet." antwortet er und streicht über das weiche Maul des Rappen Barnabas. "Es ist eine Schande, diese Tiere gehören nicht in Ställe oder auf Bühnen."
"Werden wir auch einmal eine Oper besuchen?" fragt Félicie plötzlich. Bisher hat sie sich nicht für Musik und Theater interessiert, aber mit Erik als Begleiter würde es sicherlich sehr interessant werden.
Er hebt den Kopf.
"Natürlich, ich hatte Ihnen versprochen, dass wir eine Aufführung besuchen... Es würde ein paar Tage dauern, eine Loge zu bekommen, doch es ließe sich einrichten." Er muss die Direktion ohnehin anschreiben. Seine Finanzlage ist alles andere als rosig, und das nicht erst, seit er Félicie und Magali mitversorgen muss. Er wird seine Forderungen erhöhen müssen. 25.000 Francs. Wie kann er der Direktion nur so viel Geld abpressen?
"Das wäre schön." freut sie sich. "Werden denn hier verschiedene Opern gegeben? Dürfte ich mir dann wohl eine aussuchen?" Sie lässt die Hände über den Hals des Pferdes gleiten. "Wenn Sie mir erzählen von was die Opern handeln, kann ich Ihnen vielleicht sagen, was mir gefallen könnte."
Erik lächelt.
"Es werden immer mehrere Opern gegeben, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden." erklärt er dann "Ich werde einen Spielplan besorgen, und Sie können auswählen, welche Oper Sie sehen wollen."

Stunden später sitzt Erik missmutig an seinem Schreibtisch und kämpft mit den Buchstaben.
'Meine werten Herren Direktoren,
nach einer ausgedehnten Landpartie melde ich mich zurück zum Dienst.
Ich erwarte Ihre Ausstände in Höhe von 60.000 Francs für die vergangenen drei Monate so bald als möglich durch Madame Giry zu erhalten. Sollte diese Summe nicht gleich zu Ihrer Verfügung stehen, bin ich bereit Ihnen Stundung zu gewähren.
Ich biete Ihnen an, für die kommenden 6 Monate 30.000 Francs/Monat zu leisten - dieser Betrag ergibt sich aus 25.000 Francs regulärer Zahlungen (Sie müssen zugeben, die derzeitige Inflation erzwingt eine Erhöhung meiner Bezüge) plus 5.000 Franc Stundung. Verzugs- und Stundungszinsen erlasse ich Ihnen mit Blick auf unsere lange, einvernehmliche Geschäftsbeziehung.
Loge Fünf steht bitte wie gehabt, ab sofort wieder zu meiner freien Verfügung.
Die Folgen ausbleibenden Gehorsams sind Ihnen hoffentlich im Gedächtnis geblieben.
Ihr ergebener Diener
O.G.'

Nachdem er den Brief Madame Giry hat zukommen lassen, trägt er Ayesha in die Küche und setzt sie vor den liebevoll von Félicie zubereiteten Teller mit Hühnerfleisch.
"Nun, Mademoiselle, krank bist du nicht. Also friss." Zärtlich streicht er über ihren schlanken Rücken.
Doch Ayesha schnuppert nur kurz am Fleisch und wendet sich dann ab, um sich an Eriks Bein zu reiben.
'Vielleicht ist es ihr zu vertrocknet.' überlegt er und bereitet schnell eine neue Portion zu, auf die sich Ayesha auch gleich hungrig stürzt.
Erik seufzt kopfschüttelnd.
"Du bist viel zu verwöhnt."

Am nächsten Morgen sitzt Félicie gelangweilt auf ihrem Bett und lässt die Beine baumeln. Was er wohl zu erledigen hat? Trifft er sich wieder mit Jules?
Sie hat bereits den Abwasch gemacht, wütend darüber, dass er ihr liebevoll zubereitetes Frühstück vollkommen unberührt zurückgelassen hat. Dieses Mal hat er seinen Termin vorgeschoben. Wenigstens scheint er das Honigbaguette von gestern Abend gegessen zu haben.
Irgendwann tapst Ayesha durch das Zimmer und reibt sich zu Félicies großer Verwunderung an ihren Beinen.
Wie lange wird Erik wohl noch brauchen?
Schließlich verschwindet Ayesha aus ihrem Zimmer und wenige Momente später hört Félicie Erik zurückkommen.
Wütend poltert er ins Haus.
Die Direktoren haben die Sûreté eingeschaltet. Der herbeigerufene Beamte sah sehr skeptisch aus und Erik rechnet weder mit einem schnellen, noch mit einem entschlossenen Eingreifen. Nichts desto trotz bedeutet diese Wendung der Ereignisse zusätzliche Arbeit für ihn.
"Wo waren Sie so lange?" Félicie läuft ihm entgegen. Ganz offensichtlich ist er über irgendetwas sehr erbost. "Haben Sie vielleicht noch Hunger? Ich habe Ihr Frühstück aufgehoben."
"Bitte, Félicie, nicht jetzt!" Er rauscht an ihr vorbei. "Die Direktion hat beschlossen, mein Gehalt nicht zu bezahlen und ich muss gewisse Vorkehrungen treffen." Er kramt Werkzeugkasten, Sturmlaterne und Leiter aus dem Atelier, dann reißt er die Tür zur Folterkammer auf. Er muss den Zugang verschließen, sicher verschließen. Mit Félicie in seinem Haus wäre ein Inspecteur in der Spiegelkammer eine wenig willkommene Überraschung.
Mit unsicheren Schritten folgt sie ihm. In dem Zimmer, das sie nun betritt, ist sie noch nie zuvor gewesen. Sie hat nicht einmal, von seiner Existenz gewusst. Die Wände fühlen sich an, als seien sie aus Glas.
"Erik, was tun Sie da? Was ist das für ein Zimmer? Und warum zahlt die Direktion Ihr Gehalt nicht mehr?"
"Warten Sie." Er steigt die Leiter hinauf in den Gang oberhalb der Kammer, schließt die Falltür und zündet die Sturmlaterne an. Mit wenigen gezielten Hammerschlägen zerstört er den Klappmechanismus der Tür und verkantet ihn geschickt. Niemand, der die Funktionsweise dieser Apparatur nicht genau kennt, wird den Zugang jetzt noch von außen öffnen können. Von innen wird sie jedoch weiterhin bedienbar sein und im Fall der Fälle eine Fluchtmöglichkeit darstellen.
Zufrieden kehrt er ins Haus zurück. Nicht einmal Nadir könnte jetzt noch ohne seine Mithilfe in die Behausung des Phantoms eindringen.
Mit flinken Fingern erforscht Félicie ein großes, kaltes Gebilde in der Mitte des Raumes, es ist glatt. Sie klopft mit dem Fingernagel dagegen –Metall. Von der Querstrebe des Gebildes hängt ein langer Strick, zu einer Schlinge gebunden. Nachdenklich lässt sie ihn durch die Hände gleiten. Als sie Eriks näher kommende Schritte hört, ruft sie ihm zu: "Erik, was ist das für ein Strick?"
"Das ist ein Punjablasso, eine Waffe mit der man einen Menschen erwürgen kann." antwortet er kurz, doch ungewöhnlich gutgelaunt, nimmt Félicie den Katzendarm aus der Hand und löst ihn vom Eisenbaum. Er fühlt sich fast wie damals als der Machtkampf zwischen Direktion und Phantom gerade erst ausgebrochen war.
"Und dieser Raum hier?" fragt sie vorsichtig und schluckt schwer.
Er wirft ihr einen schnellen Blick zu, während er die Geschmeidigkeit des Lassos prüft.
"Eine Vorrichtung, die ungebetene Gäste davon überzeugt, sich nie wieder in das Labyrinth unter der Oper zu wagen."
Sie beschließt, nicht weiter nachzufragen, denn ohne Zweifel wird ihr seine Antwort nicht gefallen.
Sie seufzt und wendet dem Metallgebilde den Rücken zu.
"Was ist mit den Direktoren? Sie haben gesagt, man würde Ihr Gehalt nicht mehr zahlen, warum?"
Er lässt sich auf der Chaiselongue nieder und beginnt, das Lasso mit etwas Lederfett durchzukneten.
"Ich bin ein inoffizieller Mitarbeiter - wie ich Ihnen bereits sagte. Meine Arbeit ist nicht sonderlich beliebt, meine künstlerischen Ansprüche an Orchester, Ballett und Sänger sind zu hoch. Nun will man mich vor die Tür setzen. Doch ich lasse mich nicht vor die Tür setzen. Dies ist imeine/i Oper!"
Angespannt runzelt sie die Stirn.
"Was genau sind denn Ihre Aufgaben als künstlerischer Leiter?" fragt sie und lässt sich neben ihm nieder. "Müssen Sie Sänger auswählen und einstellen?"
Erik seufzt.
"Ich kontrolliere den Qualitätsstandard der erbrachten Leistungen und sorge dafür, dass jeder Sänger die Rolle bekommt, die seine Stimme und sein schauspielerisches Talent verdienen. Die Direktion neigt leider dazu, Prestige vor Perfektion zu setzen. Carlotta..." er schüttelt den Kopf "Ich werde mich sehr bald nach einem neuen Ersatz für sie umsehen... Auch wenn niemand heranreichen könnte an..." Er bricht ab.
An Christine. Obwohl er den Namen nicht ausspricht, hört sie ihn ganz deutlich. Ob er sie jemals vergessen wird? Sie seufzt. Auch wenn es bedeutet, dass der Abend in einem neuen Streit endet - sie muss ihn einfach fragen.
"Was ist zwischen Christine und Ihnen vorgefallen? Warum ist sie nicht mehr bei Ihnen... Wegen diesem..." Sie überlegt kurz, bis ihr der Name wieder einfällt "Wegen Raoul?"
Er streckt das Punjab und wickelt es dann auf.
"Darüber möchte ich lieber nicht sprechen." antwortet er steif.
"So werde ich Ihnen aber nicht helfen können." murrt sie "Immerzu sprechen Sie in Rätseln, immer über diese Christine, und ich darf nicht einmal wissen, wer sie war und was vorgefallen ist. Soll ich Ihnen etwas sagen? Sie sind bestimmt wegen ihr so krank!" Verärgert steht sie auf und geht zu seinem Klavier, nur um nicht länger neben ihm sitzen zu müssen. "Ich habe Ihnen schließlich auch Dinge erzählt, die sonst niemand weiß... Das ist wirklich gemein, dass sie mir noch immer nicht genug vertrauen. Was erwarten Sie denn, dass ich tue, wenn Sie mir erzählen, was geschehen ist, Erik? Dass ich entsetzt bin und gehe? Ich weiß, dass Sie ein Mörder sind – Sie haben meinen Vater ermordet und trotzdem bin ich noch bei Ihnen!" Sie keucht und schüttelt wütend den Kopf über seine Sturheit.
Er starrt sie eine Weile schweigend an und denkt an die Statue, deren Zerstörung er mittlerweile bitter bereut.
"Es hat nichts mit Vertrauen zu tun, Félicie." antwortet er schließlich leise. "Ich will den Schmerz nicht, den es bedeuten würde, Ihnen davon zu erzählen, darüber nachzudenken."
'Und ob du ihn willst! Gib es zu, du Feigling!'
"Vielleicht glauben Sie, ich bin feige. Und sicher haben Sie recht damit. Doch ich habe allen Grund, es zu sein."
"Und wie lange wollen Sie noch davor weglaufen? Immer wenn ich Sie auf Christine anspreche, weichen Sie mir aus. Das ist so..." Sie bricht ab und schlägt mit der flachen Hand auf sein Klavier.
Erik zuckt zusammen, rührt sich jedoch nicht vom Fleck.
'Sie hat recht, Dummkopf. Du läufst davon. Und du hast kein Ziel. Kein Ziel.'
"Seit ich auf der Welt bin, wurde ich nur gehasst." beginnt er kaum hörbar "Einmal, ein einziges mal dachte ich, ich hätte ein Zuhause gefunden, doch auch dort wurde ich verraten, und ein Mädchen musste sterben, weil sie glaubte, mich zu lieben. Und ich... ich habe gedacht, ich könnte niemanden lieben und es war gut so. Aber dann kam Christine... Und ich habe sie geliebt. Ich habe gehofft, und es gab Momente, da konnte ich fast glauben, dass sie eines Tages vielleicht... Doch Christine verriet mich, sie kaufte sich frei, sie heiratete Raoul... Mein Leben ist vorbei." Als er geendet hat, ringt er nach Luft und seine Hände zittern, doch er spürt nicht das Bedürfnis, zu weinen. Vielleicht war es doch gut, die Statue zu zerstören.
Eine ganze Weile steht Félicie regungslos am Klavier und schweigt. Sie hat keine Ahnung, wie sie nun reagieren soll. Soll sie gehen und ihn einen Augenblick sich selbst überlassen? Oder soll sie bei ihm bleiben? Und wenn sie bleibt, was soll sie sagen? Jedenfalls nichts, das noch tiefer in das Thema dringt.
Langsam geht sie zu ihm und setzt sich auf die Chaiselongue. Seine Hände sind kalt und zittern, als sie sie ergreift.
"Haben Sie an das Programm gedacht? Ich würde mir gerne eine Oper aussuchen, die wir zusammen besuchen."
Erik mustert kurz ihre kleinen Finger, die die seinen zu umschließen versuchen, dann zieht er seine Hände zurück.
"Sie geben Mozart, Gounod und Meyerbeer." Zählt er auf, wobei es ihn gewisse Mühe kostet, seine Stimme ruhig zu halten "Von Meyerbeer rate ich ab, seine Musik ist mittelmäßig. Gounod... 'Faust' ist... schrecklich..." Er wird Félicie sicher nicht den wahren Grund dafür nennen, warum er 'Faust' nicht hören will. "Es bleibt also Mozarts 'Die Zauberflöte'." Er erhebt sich und geht auf unsicheren Beinen zum Klavier hinüber, um zu sehen, ob es Félicies Angriff heil überstanden hat. "Gehen Sie doch schon einmal ins Kaminzimmer, ich komme gleich nach und erzähle Ihnen die Geschichte."

Am nächsten Morgen steht Félicie erneut in der Küche und bereitet ein Frühstück für Erik zu. Dieses Mal muss er einfach essen. Jetzt, wo er ihr von Christine erzählt hat, wird er sich vielleicht erholen können und wieder mehr essen. Oder vielleicht liegt es auch an ihrem Essen? Sie probiert ein wenig. Nein, nichts verbrannt oder versalzen.
Sie deckt den Tisch liebevoll ein und wartet darauf, dass er zu ihr in die Küche kommt. Nach dem gestrigen Abend hat sie das Gefühl, dass sie ihm zeigen muss, dass sie gern mit ihm zusammen ist.
Fluchend schaut Erik auf die Uhr. Wie konnte er nur wieder einschlafen? In den letzten Tagen hat er mehr als dreimal so viel geschlafen wie sonst. Wie soll er nur dieses Mal Félicie das Frühstück ausreden? Seufzend steigt er aus seinem Sarg und zieht sich an. Er fühlt sich wie gerädert.
Als sie Erik kommen hört, stellt sie das Essen auf den Tisch. "Ich habe Frühstück gemacht. Probieren Sie, ich hoffe, heute schmeckt es Ihnen."
Er bleibt in der Tür stehen und schaut kurz zwischen Félicie und dem ordentlich gedeckten Tisch hin und her.
"Möchten Sie Klavier spielen lernen?" fragt er schließlich. Vielleicht ist alles, was sie braucht, eine vernünftige Beschäftigung.
"Glauben Sie, dass ich das könnte?" fragt Félicie überrascht. Aber es gefällt ihr nicht, dass Erik wieder vom Thema ablenken will. Sie lächelt "Nach dem Essen will ich es gern einmal versuchen."
Resigniert lehnt er sich mit dem Rücken in den Türrahmen. Für einen Moment fühlt er sich, als wäre er wieder fünf Jahre alt und Madeleine wollte ihn zum Essen zwingen.
"Félicie, bitte, ich habe gestern Abend etwas gegessen, ich muss nicht schon wieder etwas zu mir nehmen. Nun kommen Sie. Vielleicht werden Sie keine Konzertpianistin, doch Sie werden schöne Musik machen, das verspreche ich Ihnen. Kommen Sie!"
Enttäuscht runzelt sie die Stirn.
"Aber... aber... ich habe doch nur für Sie..." Sie bricht ab. Wie soll sie ihn bloß jemals dazu bringen, etwas zu essen?
"Sie kochen hervorragend, Mademoiselle, und ich fühle mich geehrt, dass Sie sich solche Mühe für mich machen. Nun kommen Sie." Er wendet sich zum Gehen.
"Werden Sie denn nachher etwas essen?" macht sie einen letzten beinahe flehenden Versuch. Sie folgt ihm nur langsam.
"Heute Abend werde ich essen." gibt er unwillig nach "Aber bis dahin lassen Sie mich damit in Ruhe." Er dreht sich rasch um und streckt ihr seine Hand hin. "Geben Sie mir Ihre Hand darauf?"
Widerwillig schlägt sie ein.
"Gut... aber dann essen Sie wirklich etwas! Ich mache mir Sorgen um Sie." gesteht sie ihm ernst.
"Dazu haben Sie keinen Grund, Mademoiselle. Ich habe noch nie viel gegessen. Und nun zum Piano."
Nach ihrem ersten, mühsamen Versuch, Klavier zu spielen – es muss Erik mehr als einmal körperliche Schmerzen bereitet haben, ihr zuzuhören – zieht sie sich mit der Braille-Karte auf die Chaiselongue zurück. Als die Standuhr im Wohnzimmer schlägt, wendet sie sich Erik zu.
"Ich würde heute gerne bei Magali vorbeischauen, wenn Ihnen das Recht ist. Ich wäre zum Abendessen wieder zurück."
Er schaut kurz von seiner Zeichnung auf. Magali?... Ach ja...
"Gehen Sie ruhig." Damit vertieft er sich wieder in die Konstruktion einer zwar harmlosen doch eindrucksvollen Missfallensäußerung des Operngeistes.
Félicie runzelt die Stirn, enttäuscht darüber, dass es ihn scheinbar gar nicht interessiert, ob sie bei ihm oder bei Magali ist.
Langsam steht sie auf und verlässt das Zimmer, um sich für ihren Besuch bei der Schwester umzukleiden.