Kapitel 8
Das
Auditorium liegt verlassen vor ihm. Er hat sämtliche Zugänge,
abgesehen von zwei Fluchtwegen, blockiert. Nun installiert er einen
Scheinwerfer auf einer Schiene in akkuratem Winkel zum Kronleuchter.
Eine verbesserte Version des Grammophons, die den Zuschauerraum mit
einer sehr speziellen Komposition beschallen wird, ist bereits an
einer akustisch günstigen Stelle der Kuppel angebracht und an
die selbe zeitgeschaltete Batterie angeschlossen, wie der
Scheinwerfer.
Er
fühlt sich plötzlich sehr lebendig. Krieg und Hinterlist
scheinen tatsächlich seine Elemente zu sein... Und jemand, der
abends noch bei ihm sitzt und hin und wieder lächelt.
Mit
ein paar geschickten Bewegungen befördert er sich auf die
Brüstung von Loge Fünf und riskiert einen Blick auf die
offene Bühne, auf den Fleck, wo Christine stand, als er zum
ersten mal ihre Stimme hörte und das Déjà-vu ihres
Gesichtes erlebte.
Er
spürt in sich hinein. Es tut weh, doch der Schmerz lähmt
ihn nicht mehr.
Langsam
wendet er sich ab. Die Direktion erwartet noch einen Brief von ihm.
Magali
hat sich gut erholt. Zusammen mit den anderen Kindern der Amme blüht
sie förmlich auf und scheint sogar schon zugenommen zu haben.
Doch die ganze Zeit über, die sie allein mit Magali verbringt,
muss sie an die Dinge denken, die ihr Erik erzählt hat.
Christine hat ihn wegen einem anderen Mann verlassen, und sie wie es
geklungen hat, gab es niemals eine andere Frau in Eriks Leben. Das
ist seltsam. Wenn er tatsächlich so alt ist, muss die Sache mit
Christine sehr lange her sein. Vielleicht aber gibt es einen völlig
anderen Grund, warum er so unter Christines Verlust leidet. Aber
welchen? Wieso gab es nie eine andere Frau?
Als
sie sich gegen Abend auf den Rückweg macht, nimmt sie sich vor,
Erik nach anderen Beziehungen zu fragen. Vielleicht nicht heute, aber
sehr bald.
Moncharmin
und Richard wollen tatsächlich gegen den Operngeist in die
Schlacht ziehen. Erik knurrt. Drei Monate Ruhe haben den Herren
Direktoren anscheinend einen beinahe selbstmörderischen Übermut
eingeflößt.
Nun,
auch die Sûreté wird ihn nicht finden. Er wird sämtliche
Tore seines Reiches prüfen und jeden einzelnen Mechanismus ölen.
Und er wird neue Fallen erfinden, Fallen, die gnadenlos jeden das
Leben kostet, der es wagt, in das Labyrinth des Phantoms
einzudringen.
Doch
zuerst wird er die Wirkung seines Warnschusses abwarten.
Über
eine halbe Stunde hat sie nun schon am Tor darauf gewartet, dass Erik
kommt, und langsam zweifelt sie, ob er überhaupt noch erscheinen
wird. Ist das seine Art, Lebewohl zu sagen, wenn er keine Lust mehr
hat, sich mit ihr zu beschäftigen?
Plötzlich
fährt sie um. Lärm - der Lärm vieler Menschen, die in
Panik an ihr vorbeistürzen. Offenbar hat es in der Oper einen
Zwischenfall gegeben.
Irgendwann
nähern sich Eriks Schritte von innen. Hastig drückt sie
sich an die Wand und dreht den Kopf immer wieder zurück, nach
den nun immer leiser werdenden Schreien der Menschen.
"Erik,
wissen Sie was in der Oper passiert ist?"
Er
lächelt schief.
"Entschuldigen
Sie meine Verspätung... Anscheinend hat irgendein Witzbold den
Schatten des Kronleuchters abstürzen lassen, und das ganze mit
einem Knall, Geschepper und Geschrei unterlegt. Nun kommen Sie, Ihr
Boot wartet und ich habe heut Abend noch einige Erledigungen zu
machen."
Noch
einmal dreht sich Félicie um und folgt ihm dann langsam zum
See. Erst als sie das Boot erreichen, räuspert sie sich.
"Die
Sache mit dem Kronleuchter... haben Sie das getan?" fragt sie
vorsichtig. Seine gute Laune wirkt äußerst beunruhigend.
Seufzend
hilft Erik Félicie ins Boot und taucht die Ruder ins Wasser.
"Mademoiselle,
das Verhältnis zwischen mir und der Direktion war noch nie
sonderlich einfach und ab und an brauchen die Herren einen etwas
deutlichen Hinweis darauf, dass ich auf Lebzeit unkündbar bin.
Wie geht es Ihrer Schwester?"
Sie
runzelt die Stirn.
"Magali
geht es gut. Aber... machen sie so etwas häufiger? Können
Sie nicht einfach mit den Direktoren reden? Vielleicht kann man die
Differenzen anders lösen?"
"Ich
bin nur brachial wenn es sein muss, Mademoiselle. Und ich ziehe den
brieflichen Verkehr vor." entgegnet Erik lapidar und schüttelt
den Kopf. "Seit diese neuen Direktoren im Amt sind, habe ich
wirklich nur noch Scherereien. Sie weigern sich, zu verstehen, dass
sie diejenigen sind, die ich in meinem Reich dulde, nicht umgekehrt."
Er mustert Félicie kurz. "Meine letzte Erledigung wird
nicht lange dauern und danach komponiere ich für sie ein paar
schöne einfache Übungen." Er lächelt aufmunternd.
"Ihre Hände haben ein gutes Gedächtnis, Sie werden
sehen, die Blindennotenschrift haben Die schnell gelernt, und das
Piano werden Sie auch bald beherrschen."
Langsam
nickt sie. Seine Worte verwirren und ängstigen sie. Betrachtet
er die Oper als sein Reich, sein Eigentum, weil er mit an ihr gebaut
hat? Bisher hat sie gedacht, die Direktoren hätten das letzte
Wort an einer Oper, aber anscheinend war das ein Irrtum.
"Was
haben Sie noch zu erledigen?" fragt sie schließlich
schwach.
"Ich
muss das Ergebnis des Schattenabsturzes kontrollieren."
antwortet er kurz. "Wollen Sie morgen wieder Ihre Schwester
besuchen? Ich plane den Chorproben beizuwohnen und es gibt einige
handwerkliche Arbeiten, die ich am Gebäude ausführen muss."
Félicie
rümpft die Nase.
"In
diesem Fall werde ich Magali besuchen." 'Ich mag nicht so lange
allein in Ihrer Wohnung bleiben' Aber das spricht sie nicht laut aus.
"Könnten wir nicht einmal raus gehen? Irgendwohin –
vielleicht spazieren gehen im Park?" Sie ergreift seine Hand,
und steigt vorsichtig in das Boot.
"Spazieren?
Solange es nachts noch so kalt ist, würde ich Sie lieber im Haus
halten." antwortet er, während seine Gedanken schon wieder
bei Richard, Moncharmin und der bevorstehenden Auseinandersetzung mit
La Carlottas 'Gesang' sind.
"Wieso
nachts? Wir könnten tagsüber gehen und uns warm anziehen."
schlägt sie vor "Sie könnten mir sicherlich einige
sehr schöne Plätze in Paris zeigen."
"Tagsüber
sind zu viele Menschen unterwegs." er öffnet Félicie
die Tür und lässt sie eintreten. "Ich bin bald
zurück." Und mit einem leisen Klicken fällt die Tür
wieder ins Schloss.
"Monsieur,
meine Beamten haben wirklich den gesamten Zuschauerraum abgesucht und
genau so wenig Spuren gefunden wie auf dem Erpresserbrief."
Wütend
schlägt Armand Moncharmin mit der Faust auf seinen Schreibtisch.
"Sie
haben nicht gründlich genug gesucht! Er muss Spuren hinterlassen
haben!"
Die
Ader auf der Stirn des Inspecteur schwillt bedrohlich an.
"Wir
haben getan, was wir konnten, Monsieur Moncharmin. Es war ein
harmloser Scherz, bis auf ein paar Rocksäume ist niemand zu
Schaden gekommen."
"Es
ist der selbe Täter, der vor drei Monaten über ein Dutzend
Zuschauer mit dem Kronleuchter erschlagen hat!" brüllt
Moncharmin. "An dieser Oper läuft ein Massenmörder
frei herum und Sie zucken mit den Schultern! Ich halte..."
"Monsieur,
die Pariser Sûreté behandelt jeden Fall mit der
angemessenen Aufmerksamkeit. Vertrauen Sie uns." unterbricht ihn
der Inspecteur kühl.
"Armand."
Richard legt seinem Kollegen beschwichtigend die Hand auf die
Schulter, um ihn an einem neuerlichen Ausbruch zu hindern. "Danke,
Inspecteur. Wir haben vollstes Vertrauen in Ihre Arbeit, und sollten
wir Ihnen bei den weiteren Ermittlungen von Nutzen sein können,
zögern Sie nicht, uns jederzeit zu kontaktieren."
Der
Inspecteur nickt kurz, wirft Moncharmin noch einen abschätzigen
Blick zu, dann verlässt er ohne Gruß das Büro der
Direktion.
Aufgebracht
wendet sich Armand seinem Kollegen zu.
"Warum
fällst du mir in den Rücken, Firmin?"
"Ich
falle dir nicht in den Rücken. Dass der Inspecteur hier war, war
eine reine Formsache. Du weißt so gut wie ich, dass wir nicht
auf die Sûreté angewiesen sind. Wir können warten.
Gib dem Irren seinen Willen, dann ist er friedlich und wir haben alle
Zeit der Welt, unsere Vorkehrungen zu treffen, um ihn auszuräuchern."
Hinter
der Wand des Büros verzieht Erik gehässig das Gesicht. Die
Direktoren wollen das Phantom der Oper ausräuchern? Größenwahn.
Nichts anderes als das.
Zu
viele Menschen... was soll das nun wieder heißen? Schämt
er sich, mit ihr, einer Blinden, in der Öffentlichkeit gesehen
zu werden? Sie wirft sich auf die Chaiselongue und trommelt wütend
mit den Fersen gegen deren Beine. Vielleicht sollte sie nun anfangen
und Abendessen kochen. Immerhin hat er ihr versprochen, etwas zu
essen.
Als
er zurückkommt steht sie noch immer in der Küche und
schneidet wütend das Gemüse.
Mit
gerunzelter Stirn beobachtet er, wie Félicie erstaunlich
geschickt eine Zucchini in Stücke hackt. Er erinnert sich an
sein Versprechen, etwas zu essen und legt resigniert seine Hand auf
seinen schweigenden Magen.
"Ist
etwas vorgefallen, Mademoiselle?" fragte er schließlich
und nimmt Ayesha vom Boden hoch.
Félicie
schüttelt den Kopf und rammt das Messer in das letzte Stück
Zucchini.
"Sie
schämen sich für mich, nicht wahr? Weil ich von der Straße
komme und blind bin." platz es dann doch aus ihr heraus.
Irritiert
hält er inne, Ayesha zu streicheln.
"Bitte,
wie... wieso glauben Sie das?"
"Weil
Sie niemals gemeinsam mit mir aus ihrer Wohnung gehen. Nicht
tagsüber... Wenn wir etwas zusammen unternehmen, ist es Nacht
und kein Mensch ist da, der uns sehen könnte." erklärt
sie ihm ärgerlich.
Steif
wendet sich Erik ab.
"Es
geht dabei nicht um iSie/i."
Damit verlässt er die Küche und zieht sich in sein Zimmer
zurück, um widerwillig Fingerübungen zu komponieren.
"Merde!"
Sie schleudert das Messer von sich. Warum ist sie nicht einmal auf
die Idee gekommen, dass er sich vor den Menschen verstecken muss?
Schließlich hat er ihr selbst gestanden, dass er ein Mörder
ist... und es ist erst wenige Tage her, dass er ihren Vater getötet
hat. Vielleicht wird er gesucht. Vielleicht ist diese unterirdische
Wohnung in Wahrheit ein Versteck vor der Sûreté.
Sie
beißt sich auf die Lippen und wirft die Zucchini in die heiße
Pfanne. Hoffentlich kommt er wenigstens zum Essen.
Enttäuscht
verlässt Erik tags darauf seinen Horchposten hinter dem Spiegel
des Probenraumes. Wie zu erwarten war, hat La Carlotta keinen Funken
Gefühl zugelegt, und das Mädchen, das für Christine
angestellt wurde, ist ebenso mittelmäßig, wie sein Engel
einst war, aber ohne das ungeheure schlummernde Potential.
Seufzend
setzt er sich ins Boot, einen Umschlag mit 30.000 Francs und der
Absage für Loge Fünf in der Tasche. Sie sei vermietet bis
Ende der Spielzeit von Meyerbeer in vier Tagen.
Christine...
Was gäbe er darum, ihre Stimme noch einmal zu hören! Nein,
es ist vorbei. Vorbei. Ihre Vase ist zerbrochen, ihre Statue
gestürzt. Nur die Leere, die sie in ihm hinterlassen hat, ist
noch da, mühsam, fast zwanghaft kaschiert mit seinem Einsatz in
den oberirdischen Gefilden der Oper. Über Félicie will er
lieber nicht nachdenken.
Als
Félicie morgens aufsteht, ist Erik bereits gegangen. Es hat
wenig Sinn, nun ein Frühstück zu machen und darum zu
kämpfen, dass er es isst, wenn er zurückkommt.
Wenigstens
hat er sein Versprechen gehalten und gestern Abend noch etwas von
ihren Zucchini gegessen.
Sie langweilt sich und nachdem sich Ayesha von ihr hat streicheln lassen, geht sie ins Wohnzimmer, setzt sich ans Klavier und macht ein paar von den Fingerübungen, die ihr Erik gegeben hat.
"Das
klingt nicht schlecht, Mademoiselle." begrüßt er
Félicie, als er wenig später das Wohnzimmer betritt. "Und
ich habe Karten für die Oper, in vier Tagen. Wir werden in der
besten Loge des Hauses sitzen." er lässt sich auf die
Chaiselongue fallen "Die Königin der Nacht wird allerdings
grauenvoll singen."Sie
lässt die Hände auf ihren Schoß sinken und dreht sich
interessiert zu ihm um.
"Warum
das?" Aufgeregt beginnt sie mit den Fingerspitzen den Rock ihres
Kleides zu kneten. Nur noch vier Tage, dann wird sie zum ersten Mal
eine Oper sehen.
"Die
Primadonna, La Carlotta, besitzt keinerlei Gefühl für
Musik" antwortet er wegwerfend "Eine passable Technik und
viel Selbstverliebtheit sind das einzige, was sie zu bieten hat.
Leider ist sie zur Zeit tatsächlich die beste Stimme der Oper
und eine Umbesetzung würde keine Verbesserung bringen."
Er
denkt an Vivette, die Nachfolgerin Christines und schüttelt den
Kopf. Wäre Christine nur nie fortgegangen..."
"Ich
habe noch nie eine Oper gehört, wahrscheinlich wird es mir gar
nicht auffallen, wenn sie schlecht singt." sagt Félicie
abwesend. "Aber vielleicht könnten Sie mir heute Abend
etwas aus der Zauberflöte vorspielen... es sei denn, wir gehen
doch spazieren." fügt sie hastig hinzu und steht auf. "Wenn
wir uns einen Schal um das halbe Gesicht wickeln, erkennt uns
niemand. Dann findet Sie auch die Sûreté nicht!"
Erik
lacht kurz und bitter.
"Wir
sollten uns auch noch den Hut tief ins iGesicht/i ziehen. Sicher ist sicher..." Er springt auf und beginnt,
unruhig zwischen Bücherregal und Klavier hin und her zu laufen.
Ihm ist plötzlich bewusst geworden, dass Félicie ihn
eines Tages wird sehen wollen. Denn sie ist nicht völlig blind.
Ihre Hände werden ihr zeigen, was er so ängstlich verbirgt.
Und sie wird ihn verlassen. Er wird wieder alleine sein. So allein,
wie er war, nachdem Christine ihn verlassen hat.iChristine/i...
Er spürt, wie sich sein ganzer Körper verkrampft, und die
Stärke, die er beim Anblick der Bühne empfand, von ihm
weicht.
"Ich
werde jetzt die Statue im See versenken." murmelt er dumpf und
geht zur Tür.
Félicie
nickt kurz und dreht sich dann wieder dem Klavier zu.
"Dann
gehen wir heute Abend also spazieren." sagt sie laut, legt ihre
zierlichen Hände wieder auf die Tasten und versucht unsicher,
die richtigen Töne zu treffen.
Sie
versucht, sich ihre Freude nicht zu sehr anmerken zu lassen.
Zögernd
sammelt er einige zersplitterte Marmorstücke vom Boden, dann
zieht er den Rollwagen herbei, mit dem er damals den Marmorblock ins
Atelier geschafft hat.
"Ich
kann nicht immerzu an dich denken." flüstert er tonlos "Das
Leben geht weiter. Es geht weiter!"
Er
lässt sich neben der Statue nieder, doch statt sie auf den Wagen
zu hieven, legt er nur seine maskierte Stirn gegen ihr weißes
Gesicht. Nach einer Weile richtet er sich wieder auf und enthüllt
seine Fratze vor ihren blicklos freundlichen Augen. Sacht streicht er
mit den Fingerkuppen über Christines makellose Züge.
Er
kann sie nicht in den See werfen. Niemals.
Jetzt
wird die Statue irgendwo auf dem Grund des Sees liegen, denkt sie,
während ihre Hände immer rascher die Tasten suchen und
finden. Christine wird immer weiter weg von ihm sein... irgendwann
wird er sie vergessen und wieder gesund werden. Und dann? Sie
vergreift sich und zieht ein Gesicht. Was dann? Glaubt sie
iwirklich/i,
dass er sich dann für sie interessieren könnte? Was denkt
sie da überhaupt? Er ist ein iMörder/i!
Der Mörder ihres Vaters! Sie hätte jeden Grund ihn zu
hassen oder sich zumindest vor ihm zu fürchten.
Und
plötzlich ist Erik wieder da. Viel zu schnell.
"Ist
alles in Ordnung?" fragt sie leise und dreht sich auf dem
Klavierstuhl zu ihm.
Er
lässt sich auf die Chaiselongue fallen und streicht sich mit den
Händen durch die Haare.
"Ich
kann es nicht." seufzt er erschöpft. "Wie kommen Sie
mit dem Klavierspielen voran?"
Sie
zuckt mit den Schultern und steht langsam auf.
"Sie
können es nicht? Aber... wo ist die Statue jetzt? Haben Sie sich
am See gelassen oder waren Sie gar nicht dort?" Sie hätte
wissen müssen, dass er Christine nie vergessen – nie loslassen
wird.
"Sie
liegt noch immer im Atelier."
"Hm."
macht sie nachdenklich. "Vielleicht ist es besser so. Dann haben
Sie eine Erinnerung an sie." Was zur Hölle redet sie da
eigentlich? Nicht ist besser so. Gar nichts! Seufzend steht sie auf
und verlässt das Zimmer.
Fragend
schaut er Félicie hinterher. Sie scheint sich ihre Rolle in
diesem kleinen Kampf um sein Weiterleben wirklich zu Herzen zu
nehmen.
Doch
wenn sie wüsste, dass und warum er diese Maske trägt, würde
sich ihr Interesse wohl schlagartig ins Gegenteil wandeln.
Langsam
erhebt er sich, geht zum Flügel hinüber und komponiert
etwas.
Nur
nicht nachdenken.
Es
ist schon Abend, als ihr langweilig wird. Sie findet Erik noch immer
am Flügel sitzend vor.
"Ist
es schon dunkel? Dann könnten wir jetzt spazieren gehen?"
Er
schaut auf die Uhr.
"Dunkel
ist es bereits, doch die Straßen sind immer noch überfüllt.
Ich könnte Ihnen jedoch etwas vorlesen wenn Sie möchten."
Etwas
enttäuscht nähert sie sich dem Bücherregal, lässt
ihre Hände über die Buchrücken gleiten und zieht dann
wahllos eines hervor.
"Dieses
hier!" sagt sie und reicht es ihm.
Er
wirft einen Blick auf den Titel und räuspert sich unbehaglich.
"Vielleicht
sollten Sie ein anderes wählen..."
Stirnrunzelnd
nimmt sie das Buch und schiebt es wieder zurück ins Regal. Dann
reicht sie ihm ein anderes und setzt sich.
"Was
war falsch an dem Buch von eben?"
"Eine
der Geschichten..." er zögert "'Die Rose und die
Nachtigall'... ich habe sie Christine vorgelesen... Unsere Geschichte
hätte so enden sollen."
Hastig
nimmt er das neue Buch aus Félicies Hand und beginnt zu lesen.
"Einst,
vor schier undenkbar langen Zeiten, herrschte über die Inseln
Indiens und Chinas der ebenso mächtige wie reiche Sultan
Scheherban..."
Félicie
nimmt auf der Chaiselongue platz und kann sich anfangs gar nicht so
recht auf die Erzählung konzentrieren. Christine ist überall.
Sie schläft in Christines Zimmer, Christines Bett, hat
Christines Vase zerstört und ihre Statue steht noch immer in
seinem Atelier. Die ganze Wohnung erdrückt sie langsam mit ihren
Erinnerungstücken an Christine. Fast wie in einem Mausoleum. In
diesem Augenblick beschließt Félice, Christine nicht zu
mögen. Sie hat Erik verletzt und macht es beinahe unmöglich,
ihn wieder glücklich zu machen. Sie verhindert, dass er wieder
ein normales Leben führen kann.
Den
Umhang fest um sich geschlungen, eine schwarze Maske im Schatten
seines Hutes, stapft er durch die Schneewehen auf den Wegen des Bois
de Boulogne. Die Nacht, in der er mit Christine hier spazieren ging,
war ruhig und sternenklar, und wäre Raoul nicht plötzlich
aus dem Nichts aufgetaucht... Er beißt die Zähne zusammen.
"Hat
Ayesha ihre Antipathie gegen Sie wieder abgelegt?" fragt er
Félicie gegen eine Windböe.
Sie
schüttelt den Kopf, als er sie unsanft aus ihren Gedanken reißt.
Warum er bewahrt er bloß all diese Dinge auf, die ihn an
Christine erinnern, aber nichts, was ihn mit anderen Beziehungen
verbindet? "Nein," antwortet sie schließlich "Ayesha
taucht immer nur bei mir auf, wenn Sie nicht da sind. Ansonsten
ignoriert sie mich völlig."
"Wahrscheinlich
hat Sie verstanden, dass Sie länger bleiben werden. Christine
gegenüber war sie auch immer sehr eifersüchtig."
Schon
wieder Christine!
iIch
liebe sie mehr, als alles auf der Welt/i.
Wie
kann sie ihn nur davon abhalten, immerzu an Christine zu denken?
"Was
war der schönste Ort, an dem Sie gewesen sind?"
Er
überlegt kurz.
"Ein
Keller in Rom." antwortet er schließlich.
"Ein
Keller? Was haben Sie in Rom gemacht?"
"Ich
wurde zum Steinmetz ausgebildet und lebte im Keller meines Meisters."
Nach und nach ballen sich seine Hände zu Fäusten.
Félicie
stößt mit dem Fuß einen Stein vor sich her.
"Erzählen
Sie mir davon?" bittet sie ihn dann leise.
"Da
gibt es nicht viel zu erzählen... Ich musste gehen, bevor ich
eine Gesellenprüfung ablegen konnte."
"Warum
mussten Sie gehen?" hakt sie verwundert nach.
"Giovanni,
mein Meister, hatte eine Tochter." beginnt er zögernd
"iLuciana/i.
Sie... wollte etwas... das ich ihr nicht geben konnte, und
Giovanni..." Er bricht ab.
Also
gab es noch eine andere Frau außer Christine. Interessant. Aber
seine Stimme klingt wieder so seltsam, und es wäre wohl besser,
heute nicht weiter nach Luciana zu fragen. Félicie überlegt
kurz.
"Was
war dieser Giovanni für ein Mensch?"
Erik
lächelt schwach.
"Ein
guter. Er hat mich aufgenommen und war wie ein Vater zu mir. Aber am
Ende..." er schüttelt halb traurig halb verärgert den
Kopf "... am Ende war nur Luciana sein Fleisch und Blut."
Er reibt seine Hände gegeneinander und fragt dann hastig: "Wenn
Sie jede Freiheit hätten, was würden Sie tun?"
Nachdenklich
runzelt sie die Stirn.
"Ich
weiß nicht. Im Augenblick habe ich mehr Freiheiten, als jemals
zuvor. Niemand zwingt mich mit Prügel dazu, auf der Straße
zu sitzen und zu betteln." antwortet sie schließlich
wahrheitsgemäß. "Was würden Sie denn tun?"
"Ich
würde in einem Haus mit Fenstern und einem Garten leben,
irgendwo an der bretonischen Küste."
'Mit
Christine an meiner Seite', ergänzt er stumm.
"Warum
tun Sie es nicht?"
"Weil
ich es nicht kann." antwortet er steif.
Sie
haben die Equipage wieder erreicht und Erik erinnert sich aufs Neue
schmerzhaft an jene Nacht mit Christine. Während er für
Félicie die Tür öffnet, spürt er einen
ungeheuren Zorn in sich aufsteigen, und statt ihr die Hand zur Hilfe
zu reichen, kreuzt er die Arme vor der Brust und tritt eine Schritt
zurück.
Nachdem
sie einen kurzen Moment darauf gewartet hat, seine Hand ergreifen zu
können, macht sie allein einen Schritt auf die Kutsche zu,
tastet mit ihrem Stock nach den Stufen. Mit einer Hand versucht sie,
sich hochzuziehen, mit der anderen klammert sie sich an den
Blindenstock. Prompt verheddert sich ihr Fuß in dem langen Rock
ihres Kleides und sie verliert das Gleichgewicht.
Sofort
ist Erik bei ihr und fängt sie auf.
"Verzeihen
Sie, ich war gedankenlos." entschuldigt er sich.
Schnell
befreit sie sich und steigt nun mit seiner Hilfe ein. Gedankenlos?
Nun, sie kann sich recht gut vorstellen wo er mit seinen Gedanken
war. Sie räuspert sich.
"Ich
möchte Ihnen für den schönen Ausflug danken."
'Der genau bis zu dem Augenblick, in dem wir die Kutsche wieder
erreicht haben, zwar etwas schweigsam, aber wirklich schön
gewesen ist,' ergänzt sie stumm.
"Ich
hoffe, sie haben nicht gefroren." murmelt er und lässt sich
auf den Platz ihr gegenüber sinken. "Kutscher!" er
klopft an die Zwischenwand. "Zurück zur Oper."
Am
Morgen ihres Opernbesuches, schleicht sie sich auf Zehenspitzen ins
Wohnzimmer und setzt sich an das Klavier. Zuerst macht sie ein paar
von den leichten Übungen, die ihr Erik gegeben hat. Nach kurzer
Zeit wird ihr das jedoch zu langweilig und sie versucht, kurze
Melodien zu erfinden, die sie immer wieder variiert.
Währenddessen
sitzt Erik lauschend auf der Chaiselongue. Félicie hat seine
Anwesenheit nicht bemerkt, und interessiert stellt er fest, dass sie
sich anders - wesentlich sicherer und eleganter - bewegt, wenn sie
sich unbeobachtet fühlt.
Die
Melodien, die sie komponiert, sind hübsche kleine Stücke,
die Potential vermuten lassen, und so beschließt er, sich nicht
bemerkbar zu machen, bis sie den Deckel wieder auf die Tasten klappt.
"Sie
haben Talent." sagt er leise.
Erschrocken
fährt sie herum und fasst sich an die Brust. Sie spürt,
dass sie bis zu den Haarwurzeln errötet. Hat er etwa alles
gehört? Ihr kindisches Geklimper?
"Wie
lange sind Sie schon hier?"
"Länger
als Sie." antwortet er wahrheitsgemäß.
"Das
war nichts... Nur ein paar dumme Melodien, die mir eingefallen sind.
Nichts gegen das, was Sie komponieren." Sie wendet sich zum
Gehen, damit er ihr noch immer glühendes Gesicht, nicht sieht.
"Werden Sie heute Morgen etwas essen?"
"Sprechen
sie nie wieder so abwertend von Ihrer eigenen Kunst." entgegnet
er ernst. "Ich habe auch mit kleinen Melodien begonnen. Nun..."
er reibt sich den Nacken "Essen werde ich heute Abend. Den
Vormittag werde ich mit Geschäften in den oberen Stockwerken
verbringen. Und Sie, meine Liebe, werden hoffentlich noch ein wenig
Zeit am Flügel verbringen."
Trotzig
schiebt Félicie die Unterlippe vor und schmollt. Seit vier
Tagen verbringt er nun schon die meiste Zeit irgendwo in der Oper,
ohne sie. Eigentlich sind sie sich seit dem Tag, an dem sie gemeinsam
spazieren waren, kaum über den Weg gelaufen. Jetzt, wo er wieder
gehen will, wünscht sie sich, auch diesen Tag wieder mit ihrer
Schwester verbringen zu können, statt sich hier unten zu
langweilen. Vielleicht sollte sie das tatsächlich tun. Immerhin
hat Erik ihr selbst vorgeschlagen, Magali häufiger zu besuchen.
Als
sie ihm die Antwort schuldig bleibt, wendet sich Erik ebenso wortlos
ab und holt seinen Umhang von der Garderobe.
"Soll
ich Sie mit über den See nehmen?" fragt er schließlich.
Während
er sich und Félicie über den See rudert, wandern Eriks
Gedanken zwischen ihr und der Oper hin und her.
Das
Mädchen scheint über seine ständige Abwesenheit nicht
erfreut zu sein, was ihn verwundert. Er hatte erwartet, dass sie es
genießen würde, häufig mit ihrer Schwester zusammen
sein zu können.
Sollte
sie am Ende seiner Gesellschaft wirklich etwas abgewinnen? Nun.
selbst wenn es so wäre, könnte er noch den präzisen
Moment voraussagen, in dem sich all dies in blanken Schrecken wandeln
wird.
Er
schüttelt den Kopf.
Die
Oper verlangt nach seiner Aufmerksamkeit. Drei Monate des Wildwuchses
haben bei Orchester, Ballett, Chor und Direktion mehr Unarten
einreißen lassen, als er es für möglich gehalten
hätte. Außerdem ist die Zahl der Türen und Gänge,
die es zu sichern gilt, nicht eben gering, und der Material- und
Zeitaufwand für die Sicherung entnervend hoch.
Er
dockt an und hilft Félicie beim Aussteigen.
"Wann
wollen Sie wieder zurück sein?"
"Rechtzeitig
zum Abendessen." entgegnet sie knapp und wendet sich zum Gehen
"Oder möchten Sie, dass ich früher zurückkomme?"
Doch in ihrer Stimme schwingt nur wenig Hoffnung mit. Das ist ihr
erster Opernbesuch und er wird ihr den Tag vorher sicher verderben,
indem er nicht mehr Zeit als nötig mit ihr verbringen will.
"Nun,
es liegt bei Ihnen. Wenn Sie sich vor der Oper noch zurechtmachen
wollen, sollten Sie auf jeden Fall früher zurück sein. Ich
helfe Ihnen auch gern dabei." ergänzt er freundlich.
Félicie
errötet. Daran hat sie gar nicht gedacht. In der Oper werden
alle Frauen herausgeputzt erscheinen und es wäre ihr wirklich
unangenehm, wenn man ihr sofort das Straßenmädchen ansehen
würde. Noch dazu würde sie Erik blamieren.
"Wenn
Sie das wirklich tun würden... Dann werde ich früher
zurückkommen." beschließt sie.
"Gut.
Seien Sie um fünf am Tor." Er wendet sich zum Gehen. Ein
plötzlicher Einfall lässt ihn boshaft grinsen.
Sie
sitzt am Schminktisch in ihrem Zimmer, schnüffelt und wendet
sich dann angewidert von den Töpfchen ab, die Erik neben sie
gestellt hat. Sie schüttelt sich.
"Erik,
was ist das? Das riecht fürchterlich! Parfums wie dieses
benutzen die Prostituierten in der Rue d'Orsel."
Er
lacht erfreut auf.
"Das,
meine Liebe, ist der Schminkkoffer von La Carlotta, der großartigen
Primadonna der Opéra Garnier." Er nimmt ein breites Band,
bindet Félicie damit das Haar aus dem Gesicht und legt ein
Tuch zum Schutz vor Flecken über ihr Kleid.
"Was
genau haben Sie denn jetzt vor?" erkundigt sie sich interessiert
und lauscht, wie er einige der Dosen aufschraubt.
"Ich
werde die Vorzüge Ihres Gesichtes betonen und seine Nachteile
kaschieren. So erlangen all die feinen Damen ihre exquisiten,
perfekten Gesichter." ergänzt er mit einer nicht geringen
Spur Sarkasmus.
"Sie
haben es wirklich gut, Erik." seufzt sie und schließt die
Augen, damit er ihr besser das Gesicht pudern kann "Männer
müssen niemals geschminkt sein. Das wird nur von Frauen
erwartet." Sie rümpft die Nase, als die Puderquaste sie
kitzelt. "Haben Sie eigentlich einen Bart?" fragt sie dann
unvermittelt.
Er
erstarrt.
"Nein"
antwortet er steif "Halten Sie still, damit ich Ihre Lippen
ausmalen kann."
Fest
presst sie die Lippen aufeinander und wartet ungeduldig, dass er
aufhört. Aber scheinbar gibt er sich sehr viel Mühe, denn
es kommt ihr wie eine kleine Ewigkeit vor, bis er den Pinsel senkt
und an ihren Augenlidern weiterschminkt.
"Und
wie sehen Ihre Augen aus?" bohrt sie weiter.
'Sie
will dich sehen! Sie wird dich verlassen. Schon bald, Monster...'
Mit
erzwungener Ruhe legt Erik den Pinsel auf den Tisch. Er gräbt
seine Finger in Félicies Schultern und zieht sie näher zu
sich.
"Hören
Sie auf mit diesen Fragen! Bitte!" sagt er, halb knurrend, halb
flehend. Dann nimmt er den Pinsel wieder auf und unterdrückt
mühsam das Zittern seiner Hand.
Félicie
beißt sich auf die Lippe und legt die Stirn in Falten. Warum
wird er gleich so ärgerlich? Zittert er vor Wut oder Angst? Ihr
ist sein bittender Unterton nicht entgangen, aber sie versteht ihn
nicht. Schließlich hat sie ihn nur gefragt, wie er aussieht und
nicht, ob sie ihn berühren darf. Aber so, wie er reagiert, wird
er ihr das nie erlauben. Sie kann nur hoffen, dass sie ihn nicht so
wütend gemacht hat, dass der Abend ruiniert ist.
Sacht
berührt Erik ihre Wange.
"Nicht
beißen, sonst geht die Farbe wieder ab."
Eine
Weile hantiert er stumm mit Farben und Pinseln in Félicies
versteinertem Gesicht herum, dann löst er das Band um ihr Haar
und nimmt eine Bürste zur Hand.
"Finden
Sie den Weg zur Loge, wenn ich ihn Ihnen beschreibe oder gehen Sie
lieber mit mir einen Schleichweg?"
"Ich
würde lieber den Schleichweg gehen. Wenn viele Menschen dort
sind, habe ich sicher Schwierigkeiten, mich mit meinem Stock
zurechtzufinden." Sie beißt die Zähne zusammen, als
die Bürste an ihrem Haar reißt.
Erik
hält inne.
"Wenn
ich Ihnen zu grob bin, sagen Sie es!"
Hastig
schüttelt Félicie den Kopf.
"Nein,
ist wirklich nicht schlimm." Sie wendet sich ihm zu. "Werden
wir rechtzeitig zu Beginn der Vorstellung da sein?"
Natürlich."
Geschickt steckt er ihr Haar hoch, dann steht er hinter ihr und
betrachtet ihr Gesicht im Spiegel, seine eigene Reflektion krampfhaft
ignorierend.
"Eine
Schande, dass Sie nicht durch die Menge schreiten wollen."
Die
Hitze steigt ihr ins Gesicht.
"Danke."
murmelt sie verlegen, steht hastig auf und greift nach Blindenstock
und Fächer "Gehen wir jetzt?"
