Kapitel 9

Bevor sie den Ausgang zu den Logen erreichen, bedeutet er Félicie, stehen zu bleiben. Er horcht und hört tatsächlich das leise, stetige Klopfen, mit dem Madame Giry ihre Anwesenheit kund tut.
"Sie sind erfreulich pünktlich, Madame." raunt er durch die Wand.
"Oh... Bon... bon soir, Monsieur le Fantôme" stottert die Logenschließerin.
Erik runzelt die Stirn und wirft Félicie einen Blick zu, doch sie scheint nicht sonderlich erstaunt über die Anrede zu sein.
"Bon soir. Sie wissen, was Sie zu tun haben?"
"Natürlich, Monsieur. Ich werde Ihre..."
"Ist gut, Madame." unterbricht er sie hastig "Sie brauchen es nicht zu wiederholen."
Félicie schmunzelt. Die Logenschließerin muss eine sehr schreckhafte alte Dame sein. Langsam geht sie neben Erik durch den menschenleeren Gang und ihre Schritte sind das einzige, was sie neben dem Klappern ihres Stockes hört Besorgt räuspertsie sich.
"Wieso ist niemand hier? Sind wir doch zu spät?"
"Wir sind eine Dreiviertelstunde zu früh."
"Oh." macht sie nachdenklich "Warum sind denn gar keine Menschen hier? Ist der Einlass nun doch erst später und Sie haben gewisse Privilegien, weil Sie hier angestellt sind?"
"So könnte man sagen." Er hält ihr die Tür zur Loge auf und schließt dann hinter ihr und sich ab. "Nehmen Sie platz."
Gespannt lässt sich Félicieauf einem der weichen Sessel nieder. Der Zuschauersaal ist beinahe so ruhig wie in der Nacht, in der sie ihn erkundet hat. Ab und zu hört man von weit her ein paar Bühnenarbeiter oder einen Musiker, der sein Instrument stimmt.
Aufgeregt wedelt sie mit ihrem Fächer und wippt mit den Füßen, bis ihr etwas einfällt.
"Sagen Sie, Monsieur Erik, warum hat diese Frau Sie gerade 'Monsieur le Fantôme' genannt? Ist das Ihr Nachname?"
Er unterdrückt ein Knurren und den Drang, Madame Giry bei ihrem nächsten Zusammentreffen etwas unangenehmes zustoßen zu lassen.
"Nein." antwortet er schließlich "So werde ich hier an der Oper genannt."
"Warum denn das?" fragt sie amüsiert "Ist das die Art der Direktion Ihnen zu sagen, wie unbeliebt Ihr Posten ist?" Sie lacht leise.
Er verzieht das Gesicht.
"In der Tat. Ich war der einzige Bewerber..."
Schweigend nickt sie. Die ersten Zuschauer betreten den Saal und füllen ihn mit einem leisen Brummen.
"Erzählen Sie mir dann bitte, was auf der Bühne geschieht?"
"Natürlich."

"Das war wunderschön." jubelt sie mit noch immer vor Aufregung glühenden Wangen. Sie wedelt sich mit dem Fächer Luft zu, in der Hoffnung, dass Erik ihre Röte übersieht. "Der Sänger des Papageno war sehr gut, nicht wahr?"
Erik grinst in sich hinein. Vor seinem inneren Auge sieht er Carlotta mit allergisch geschwollenem Gesicht, weil sie ordinäre Fettschminke von den Chormädchen leihen musste.
"Papageno war ganz passabel. Doch die beste Stimme saß im Chor."
"Wen meinen Sie?" fragt sie interessiert.
"Eine kleine Brünette. Auf der Probe ist sie mir nicht aufgefallen. Vielleicht hatte sie einen schlechten Tag." Der Zuschauerraum hat sich geleert und schon hört er Madame Girys Zeichen, dass der Gang vor Loge Fünf frei ist. "Kommen Sie, wir können gehen."
"Sofort." Sie tastet nach ihrem Fächer und erhebt sich, um ihm durch einen erneut menschenleeren Gang folgen. "Wissen Sie, wer sie ist? Ich dachte, Sie wären für die Besetzung zuständig." Sie lächelt und fragt, ohne eine Antwort abzuwarten: "Werden wir das bald wieder machen? Ich würde gerne noch ein paar Opern hören."
"Natürlich. Außer Faust gibt die Oper derzeit wieder Carmen. Wenn Sie möchten, können wir uns das in den nächsten Tagen ansehen. Den Namen des Chormädchens müsste ich in Erfahrung bringen." fährt er leise fort. Doch er spürt deutlich, dass er keine Lust mehr hat, talentierte Sängerinnen gegen den Willen der Direktion zu fördern. Und sie zu unterrichten... Er schüttelt den Kopf.
"Aber kosten Opernkarten nicht auch sehr viel Geld?" fragt sie leise.
"Loge Fünf ist Teil meines Gehaltes" antwortet er lapidar und schließt die Geheimtür hinter sich.
"Ach so." Eine Zeit lang läuft sie schweigend neben ihm her, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. Sie lauscht seinenSchritten und denkt an die Vorstellung zurück. "Würden Sie etwas für mich singen, wenn wir zu Hause sind?"
Erik zögert. Erinnerungen an Nijni-Novgorod steigen in ihm auf, daran, wie er mit seiner Stimme an den Menschen Rache nahm und sie sich widerrächten indem sie nach seinem schrecklichen Gesicht verlangten.
'Es war von Anfang an ein Spiel auf Zeit, Monster. Du musst sie verlieren.'
Félicie verlieren... Ja, es wird in der Tat ein Verlust. Trotz der schmerzhafte Fragen, vor denen er in die Arbeit an der Oper flieht. Solange sie da ist, ist sein Haus nicht leer.
'Doch das wird es wieder sein. Bald...'
"Wenn Sie darauf bestehen, werde ich singen." gibt er mit tonloser Stimme nach.
"Sie müssen nicht,wenn sie nicht möchten... Aber ich hätte gerne Sie in der Rolle des Papageno gehört." erklärt sie ihm "Sie singen ganz sicher wunderschön." Viel schöner als der Darsteller auf der Bühne, da ist sie sich jetzt schon ganz sicher, als sie sich an die Sirene erinnert."Was werden wir jetzt noch essen? Ich bin ziemlich hungrig."
"Worauf haben Sie Appetit?"
"Eigentlich habe ich so großen Hunger, ich würde alles essen." gesteht sie ihm. Sie lässt sich von ihm ins Boot helfen. "Was haben Sie noch im Schrank?" Der rudert gleichmäßig und sie lauscht dem leisen Plätschern des Wassers.
"Ich habe Ihnen vor einigen Tagen versprochen, etwas Italienisches für Sie zu kochen. Dieses Versprechen könnte ich heute einlösen." schlägt er vor.
Begeistert klatscht sie in die Hände.
"Das wäre großartig."
"Ich bin entehrt! In diesem Zustand musste ich auf die Straße!" Carlottas Stimme hallt schrill im Gang hinter dem Direktionsbüro wider. Ihr gesamtes Gesicht ist noch immer zu einer einzigen unförmigen Masse verquollen. "Und Sie wissen so gut wie ich, auf wessen Konto dieser Anschlag geht!" Die Primadonna erhebt sich in einem lauten Rauschen aus knallrotem Satin. "Sie werden das abstellen! Ich werde mich nicht noch einmal auf einen solchen Kleinkrieg einlassen! La Carlotta hat es nicht nötig, sich an einen unbequemen Vertrag gebunden zu fühlen! Und diesmal, meine Herren, haben Sie keine kleine Schwedin, die mich vertritt, bis Sie mich wieder auf die Bühne komplimentiert haben!"
Zufrieden wendet sich Erik ab. Endlich herrscht wieder Leben an seiner Oper.

Gutgelaunt klopft er wenig später an Félicies Tür.
Sie legt hastig die Braille-Karte zur Seite. So schnell hat sie gar nicht mit ihm gerechnet. Seufzend steht sie auf und öffnet die Tür.
"Guten Morgen, Monsieur."
"Guten Morgen." Er lächelt verhalten. "Sie haben doch sicher Lust, mir ein Frühstück zu machen?"
Überrascht aber glücklich strahlt sie ihn an.
"Sehr gerne." Auf dem weg zur Küche überlegt sie angestrengt, wie sie Erik fragen kann, ob er auch zeitweise ganzohne sie auskommen könnte. Jetzt, wo er so viel Zeit außer Haus verbringt, kommt sie sich überflüssig vor und möchte nochmehr Zeit mit Magali verbringen.
Leise vor sich hin summend beobachtet Erik Félicie beim Kochen. Sie wirkt etwas unkonzentriert.
"Geht es Ihnen gut?" fragt er schließlich.
Sie schüttelt den Kopf.
"Mit geht es sehr gut. Aber..." sie sucht kurz nach den richtigen Worten "Die Amme möchte heute mit den Kindern in den Tiergarten gehen. Sie hat gefragt, ob ich Lust hätte, mitzukommen und auch die Nacht über bei Magali zu bleiben..." Sie wagt es nicht, sich zu ihm zu drehen und beschäftigt sich stattdessen intensiv mit dem Herd.
Erik verstummt abrupt.
"Nun..." er kreuzt die Arme vor der Brust. Die Aussicht auf eine Nacht in einem leeren Haus gefällt ihm ganz und gar nicht. Doch er versteht, dass er Félicie nicht einsperren kann und dass er nur natürlich ist, wenn sie sich bei seiner ständigen Abwesenheit langweilt. Doch es ist schwer, vor ihren Fragen und der Erinnerung an Christine zu fliehen, ohne Félicie allein zu lassen. "Wenn Sie möchten, können Sie gerne eine Nacht außer Haus verbringen." willigt er leise ein.
Sie atmet erleichtert auf. Dann geht es ihm wohlgut genug, um eine Weile ohne sie zurechtzukommen. Und wenn er sie einmal gehen lässt, wird er es vielleicht auch häufiger tun.
"Können Sie mich dann über den See bringen, wenn Sie gegessen haben?"
"Natürlich." antwortet er steif und spürt, dass ihm der Appetit vergangen ist. Es scheint, als würde sie ihn so oder so verlassen.
Sie stellt seinen Teller vor ihn und setzt sich an den Tisch neben ihn.
"Ich freue mich so auf Magali. Das wird bestimmt ein sehr schöner Tag. Was haben Sie heutevor?" 'Ich habe Erledigungen an der Oper zu machen.' nimmt sie seine Antwort in Gedanken vorweg 'Ich werde nicht einmal merken, dass Sie nicht da sind...'
"Nun, ich werde wohl einige Lektionen für Sie komponieren. Den Stoff der ersten Übungen scheinen Sie ja gut zu beherrschen."
Überrascht zieht Félicie eine Augenbraue hoch. Ausgerechnet heute hätte er also nichts vorgehabt? Sie schüttelt den Kopf. Nein, er muss lernen, auch ohne sie zurechtzukommen. Und auch sie muss sich daran gewöhnen, dass Erik nicht immer für sie sorgen wird.

Ziellos klimpert er auf den Tasten des Klaviers herum. Die Fingerübungen für Félicie hat er längst komponiert und Ayesha schläft fest auf dem Notenstapel.
Er nimmt seine Maske in die Hand und betrachtet ihre Formen eine Weile. Das Symbol seines stetigen, unabwendbaren Scheiterns, weiß und unbewegt.
Er könnte morgen früh einfach nicht am Tor auftauchen. Er könnte der Amme die 30.000 Franc schickenund Jules die Einrichtung des Hauses unter der Oper verkaufen lassen. Madame Giry bekäme die Katze.
Seufzend erhebt er sich, um eine Runde durch die Gänge in der Nähe des Hauses zu machen und zu sehen, ob sich ein Bühnenarbeiter oder auch ein Mannder Sûreté im Netz des Phantoms verfangen hat und die Ratten anlockt.

Die Kinder der Amme laufen um sie herum und lärmen. Magali, die ihre ersten Gehversuche ermüdet haben, schläft nun fest vor ihr im Kinderwagen. Félicie unterdrückt ein Seufzen. Sie hat sie sich so vieles von dem heutigenTag versprochen, davon, endlich mehr als nur ein paar Stunden oberhalb der Erde, weit weg von Erik verbringen zu können. Doch jetzt kann sie an nichts anderes mehr denken, als an ihn. Was ist, wenn er feststellt, dass er ohne sie auskommt, und sie fortschickt? Oder wenn er in ihrer Abwesenheit nun docheine Dummheit begeht? Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals herunter. Ob er schon für sie komponiert hat? Sie liebt seine Musik und in der letzten Nacht, nachdem er für sie gesungen hat, hat sie sogar von seiner Stimme geträumt. Dabei hatte sie nicht erwartet, dass seine Stimme noch viel schöner als die der Sirene klingen kann. Wenn sie zurückkommt, muss sie ihn bitten, noch einmal etwas für sie zu singen. Wenn er sie überhaupt noch zurück haben will...Es sind bereits fünf oder sechs Stunden vergangen, doch selbst allein in Eriks leerer Wohnung hat sie sich nie so gelangweilt, wie an diesem Nachmittag mit ihrer eigenen Schwester.
Unruhig geht er hinter dem Tor auf und ab. Félicie ist bereits eine dreiviertel Stunde überfällig und langsam beschleicht ihn die Angst, dass sie dieses Mal nicht zu ihm zurückkehren wird. Dabei hat sie sein Gesicht noch nicht einmal gesehen.
Er kreuzt seine Arme vor der Brust und lässt sich rückwärts gegen die Wand sinken.
Was hat er gehofft? Dass sie für immer bei ihm bleibt? Dass sie ihn ernstlich gern haben könnte? Vielleicht hat er das tatsächlich. Eine weitere Dummheit auf seiner endlosen Liste.
Wieder schaut er auf die Uhr. Eine Stunde. Gibt es irgend etwas auf dieser Welt, das sie dazu bringen könnte, sich eine geschlagene Stunde zu verspäten?
Steif und etwas unbeholfen geht er zum Boot hinüber, steigt ein und löst die Verdauung.

Als sie endlich am Tor inder Rue Scribe ankommt, ist Erik nicht da. Panik erfasst sie. Also hatte sie doch Recht mit ihrer Vermutung. Entweder er will sie nicht mehr bei sich haben... oder... oder er hat sich etwas angetan! Vielleicht hat er ihr seine gute Laune in den letzten Tagen nur vorgespielt.
Sie kann und will sich einfach nicht vorstellen, dass sie ihm nicht wichtig genug ist, und er sie einfach nur über seinen Geschäften vergessen hat Etwas muss passiert sein und es gibt nur noch einen Weg, das herauszufinden. Sie stemmt sich gegen das verschlossene Tor.
"Erik!"
Er zuckt zusammen und wendet sich um. War das Félicies Stimme?
"Erik!"
Ja, sie ist doch noch gekommen! Hastig rudert er zum Kai zurück und versucht, sich wieder zu fassen, doch als er Félicie am Tor begrüßt, klingt die Angst noch deutlich in seiner Stimme nach.
"Bon matin, Mademoiselle. Was hat Sie so lange aufgehalten?"
"Magali." seufzt sie beinahe erleichtert und tritt ein. Er lebt... Er hat auf sie gewartet und er lebt. "Sie hat über Nacht plötzlich Fieber bekommen. Es tut mit leid, dass ich erst jetzt komme." fügt sie beschämt hinzu. Warum klingt seine Stimme so seltsam? Ist er etwa auch wieder krank? Oder ist es das Morphium, das er nimmt? Sie erschauert, als sie neben ihm zum Boot geht. "Ich hoffe, ich habe Sie durch meine Verspätung von nichts wichtigem abgehalten?"
"Oh nein, nein." er hilft Félicie ins Boot. "Ihre Schwester wird doch nicht ernstlich krank geworden sein?"
"Ich glaube nicht." sagt sie und schüttelt nachdenklich den Kopf "Die Amme sagte, kleine Kinder werden von Natur aus häufig krank und Magali war schon immer anfällig." Sie lauscht seinen zügigen Ruderbewegungen und dem Echo das, die Wände zurückwerfen. "Was haben Sie die ganze Zeit über gemacht? Sie haben sicher nicht ununterbrochen komponiert... "
"Nein. Ich habe außerdem noch..." er sucht nach einer gefälligen Umschreibung "... nachgesehen, ob sich auch niemand in meinen privaten Teil der Oper verirrt hat. Jetzt müssen Sie mir von Ihrem Besuch im Tiergarten erzählen. Ich wusste nicht, dass es dort auch im Winter etwas zu sehen gibt."
Félicie lächelt.
"Ach, ein paar Rehe und Wölfe waren dort." sagt sie ausweichend, als sie an den Ausflug zurückdenkt "Für die Kinder war es sicherlich sehr interessant."
Erik nickt kurz.
"Ließen sich die Rehe nicht berühren?"
"Nicht alle." entgegnet sie "Die meisten bekommen Angst und laufen weg, wenn die Kinder lärmen."
"Ich nehme an, Sie wollen morgen wieder zu Magali gehen?"
"So lange sie noch krank ist. Warum fragen Sie? Haben Sie etwas mit mir vor?" Dann würde Sie bleiben... Aber das sagt sie nicht laut.
"Nein, nichts besonderes." er legt das Boot an "Kommen Sie gleich mit zu den Stallungen?"
"Gerne." antwortet sie eine Spur enttäuschtund wartet darauf, dass er ihr aus dem Boot hilft.
Ihre Schritte hallen asynchron durch den engen Gang.
Plötzlich meint Erik am Rande des Lichtkreises seiner Sturmlaterne, genau dort, wo er die Falle für diesen Gang angebracht hat, eine dunkle Form zu erkennen, die verdächtig nach einem hängenden Menschen aussieht. Verdammt... Warum hat er ausgerechnet diese Falle bei seiner Kontrolle ausgelassen? Ruhig streckt er den Arm aus und hält Félicie an der Schulter an.
Sie erstarrt in der Bewegung und rümpft die Nase. Irgendetwas riecht seltsam und es ist nicht der faulige Geruch des Sees oder der der Stallungen.
"Erik was ist das für ein Gestank? Das ist ja fürchterlich!"
"Ja, sonderbar. Vielleicht sollten wir lieber einen anderen Weg zu den Stallungen nehmen." Er will Félicie am Arm hinter sich herziehen, doch sie befreit sich rasch aus seinem Griff und schnüffelt angewidert.
"Das... das riecht nach Verwesung. Genauso hat es in dem Zimmer gerochen, in dem meine Großmutter starb und drei Tage lang lag, weil mein Vater zu betrunken war, um sich darum zu kümmern..." Entsetzt fasst sie ihn am Ärmel. "Erik, ist hier ein Toter?"
"Nicht dass ich wüsste. Kommen Sie, die Pferde warten."
"Nein, ich bin mir ganz sicher." sagt sie entschlossen und macht einige Schritte vorwärts "Der Geruch kommt aus dieser Richtung. Bitte sehen Sie nach, ob da jemand ist!"
Erik seufzt resigniert und überholt Félicie.
"Ja, in der Tat. Eine Leiche." sagt er dann, unbeeindruckter als beabsichtigt. Er stellt die Laterne ab, zückt ein Messer und durchtrennt das quer über den Flur gespannte Punjab auf der linken Seite. Dabei entgleitet ihm der Arm der Leiche und der Körper schwingt deutlich hörbar gegen die rechte Wand des Ganges.
Félicie erbebt bei dem Geräusch, das die Leiche macht. Offensichtlich ist dieser Mensch nicht einfach so gestorben. Er hat sich... erhängt, oder etwas in der Art. Aber... wer würde sich schon mitten in einem Gang erhängen? Sie spürt eine plötzlichtiefe Wut und Enttäuschung in sich aufsteigen.
"Erik? Sagen Sie mir sofort, warum hier jemand erhängt wurde!"
Er verzieht das Gesicht.
"Wenn Sie bitte nicht soilaut/i sein könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden." zischt er leise und durchtrennt das Punjab am zweiten Haltepunkt. Tödliche Fallen sind sicher und bequem - bis jemand hinein läuft. In seinem Kopf geht er die verschiedenen Entsorgungsmöglichkeiten durch und entscheidet schließlich, dass er die Leiche in den präparierten Heizkessel werfen wird, in dem er auch seine Abfälle verbrennt.
Doch zuerst...
Er zieht die Sturmlaterne näher heran, um routiniert die Taschen des Toten zu durchsuchen. Kleingeld, Tabaksbeutel und Pfeife, ein Taschentuch, einige unleserlich bekritzelte Zettel - er hält inne - ein Revolver und eine Karte, die den Mann als Mitarbeiter der Sûreté ausweist.
Unruhig lauscht Félicie auf jedes Geräusch, ringt ihre schweißnassen Hände und zittert.
"Sagen Sie mir, dass Sie nichts damit zu tun haben! Bitte!" fleht sie ihn an. Sie erinnert sich plötzlich an all die seltsamen Dinge, die er ihr erzählt und die sie entdeckt hat. Einbrecher, Mörder, Sadist... Und plötzlich ist sie sich sicher, dass dieser Tote Eriks Werk ist.
"Oh Gott!" stöhnt sie entsetzt und presst die Hände auf ihr heißes Gesicht "Sie waren es! Was sind sie nur für ein Mensch! Sie töten in Folterkammern... Töten Kinder und in Ihrer Wohnung steht ein Sarg... Und das alles scheint Ihnen noch Spaß zu machen... Was sind Sie nur für ein Mensch!"
"Das, meine Liebe, haben sich schon viele gefragt." entgegnet er trocken und mustert noch einmal den Ausweis des Toten. "Wenn Sie versprechen, jetzt still zu sein, erkläre ich Ihnen, was hier vorgefallen ist." Er steckt den Ausweis in seine Brusttasche, gibt Félicie die Laterne und nimmt die Arme der Leiche um sie zum Heizkessel ein Stockwerk tiefer zu ziehen. "Kommen Sie, Sie müssen mir leuchten."
Mit zitternden Händen ergreift sie die Laterne und folgt ihm mit genügend Abstand, um nicht über die Füße des Toten zu stolpern.
"Das hoffe ich doch." murmelt sie mit bebender Stimme.
"Sie sind zu negativ." gegen seinen Willen, klingt seine Stimme beinahe fröhlich. Er hält kurz inne, um die Leiche besser zu greifen und beschließt, seine Hochstimmung auszunutzen. "Charles Garnier hat diese Oper entworfen, doch ohne mich wäre sie nie erbaut und während der Kommunardenkämpfe gesprengt worden. Ich habe versteckte Türen, Gänge und ein Haus hinter dem See hinzugefügt, mich eingenistet, weit weg von den Menschen. Ich bin kein Graf, nicht einmal ein ordentlicher Bürger von Paris, sondern das Phantom dieser Oper und man wäre mich, meine Nörgelei und meine Erpresserschreiben gern wieder los. Deshalb muss ich mein Reich vor Zugriffen von außen schützen. Diese Leiche hier ist das Ergebnis von Notwehr, Félicie. Und das Kind..." Er macht eine kurze Sprechpause, um sich der Ruhe seiner Stimme ganz sicher sein zu können und seine Last um eine Ecke zu bugsieren "... das Kind, das ich getötet habe, war Nadirs Sohn, Reza. Er litt an einer fortschreitenden Krankheit, die ihn erblinden ließ und an einen Rollstuhl fesselte. Er wäre einen qualvollen Tod gestorben. Doch so schlief er ohne Schmerzen in meinen Armen ein." Er verstummt.
Félicie schüttelt den Kopf. Gut, dann war das Kind eine Art Sterbehilfe. Aber sie kann sich nicht all die anderen Menschen schön reden... All die Morde... Ihr wird kalt.
"Warum hassen Sie die Menschen so, dass Sie sich hier vor Ihnen verstecken?" flüstert sie tonlos.
"Sie sollten eher fragen, warum die Menschen mich so sehr hassen, dass ich sie töten und mich hier vor ihnen verstecken muss." murmelt er zur Antwort. Dann lässt er die Leiche los und öffnet die Luke des Heizkessels.
Sie hält die Luft an, als ihr eine immense Hitze entgegenschlägt. Was hat ihn so verbittert, dass er zu solchen Dingen fähig ist? Sie lauscht angespannt, wie Erik die Leiche wieder aufnimmt und in den Heizkessel fallen lässt. Sie zuckt zusammen und unterdrückt ein Würgen.
"Dann sagen Sie es mir! Warum hassen die Menschen Sie? Jules' Frau, die Direktion – Ihre eigene Mutter! Es ist wegen den Morden, aber davor war noch etwas anderes, habe ich Recht? Was war das? Was davor?"
"Jetzt nicht!" Erik fasst Félicie am Ärmel und zieht sie hinter die Geheimtür zurück, gerade rechtzeitig, um nicht von dem herannahenden Arbeiter entdeckt zu werden.
"Jacques... Jacques! Hast du Idiot wieder die Luke offen gelassen?" Mit einem Scheppern schließt sich der Heizkessel über der Asche des Sûreté-Mannes.
"Wollen Sie noch in den Pferdestall?" raunt Erik in Félicies Ohr.
Sie zuckt zusammen und zittert am ganzen Leib.
"Sie wollen jetzt noch zu den Pferden?" wispert sie fassungslos "Sie haben gerade einen Menschen getötet! Das... das kann Sie doch unmöglich so kalt lassen!"
"Ich habe eine Leiche entsorgt, Mademoiselle. Tot war der Mann schon seit mindestens zwei Tagen." Er zuckt mit den Schultern. "Hätten Sie so viel erlebt wie ich..." Er bricht ab und seufzt. "Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause."
Langsam setzt sich Félicie in Bewegung, reicht ihm die Sturmlaterne und schluckt schwer.
"Erzählen Sie mir, was Sie erlebt haben." sagt sie mit noch immer bebender Stimme.
"Sie wissen bereits alles." entgegnet er, plötzlich sehr müde "Ich habe für den Schah getötet. Hunderte von politischen Gegnern. Ohne Sinn und Verstand."
"Und was soll der Sarg in Ihrer Wohnung?" keucht sie "Und wieso diese Folterkammer? Es muss doch andere Wege geben, um sich zu schützen und zu verstecken... Ich dachte, Sie würden nicht mehr morden!" Sie umklammert ihren Oberkörper mit beiden Armen, obwohl sie nun nur noch langsam folgen kann.
Seufzend macht er kehrt, um Félicies Arm zu nehmen, damit sie mit ihm Schritt hält.
"Warum sollte ich Rücksicht auf die iMenschen/i nehmen? Der Mann, der in diesem Gang gestorben ist, hätte mich ohne zu zögern erschossen. Selbst der ach so edle iRaoul/i sah nichts Falsches darin, mir in den Rücken zu schießen! Ich bin tot, Félicie, so oder so, denn ich hatte nie ein Leben. Aber meine letzte Ruhe in meinem Sarg unter diesem phänomenalen Grabstein, den andere Opéra Garnier nennen, werde ich verteidigen, was immer ich dafür auch tun muss."
Unwillig lässt sie sich von ihm mitziehen.
"Aber wenn Sie die Menschen so hassen, warum haben Sie dann mir geholfen? Warum haben Sie mich nicht getötet oder auf dem Friedhof gelassen?"
"Weil ich Mitleid mit Ihnen hatte."
"Aber bei den Menschen, die sie getötet haben, hatten Sie niemals Mitleid? Waren da nie unschuldige Menschen dabei?"
"Natürlich waren Unschuldige dabei!" knurrt er gereizt und hilft Félicie unsanft ins Boot. "Glauben Sie, die Gerichtsbarkeit des Schah von Persien sei unfehlbar? Und Mirza Taqui Khan..." Er stößt das Boot vom Kai ab. "Ist dieses Verhör nun beendet?"
"Haben Sie je ohne Befehl Unschuldige getötet?" fragte sie und ignoriert seinen Wunsch absichtlich.
'Dieses Mal nicht, mein Lieber.' denkt sie 'Du sitzt im Boot und dieses Mal kannst du mir nicht davonlaufen.'
"Bis auf Reza habe ich nur Menschen getötet, wenn ich keine andere Wahl hatte." antwortet er widerwillig.
"Und dieser Reza... der war sehr krank." erinnert sie sich nachdenklich "Woran litt er? Sie haben gesagt, dass er erblindete. Das muss schlimm gewesen sein. Auch für Ihren Freund." Sie hört, wie er die Ruder immer wieder ins Wasser senkt. ‚Er hat keine Unschuldigen getötet', versichert sie sich immer wieder, bis sich ihr klopfendes Herz langsam beruhigt.
"Ich konnte nicht herausfinden, woran das Kind erkrankt war." antwortet Erik leise "Nur dass es unheilbar war... fortschreitend... Nadir hat es seinem Gott nie verziehen."
"An seiner Stelle hätte ich das auch nicht." murmelt sie "Wenigstens haben Sie ihm ein langes Leiden erspart. Was haben er und seine Frau dazu gesagt? Haben Sie einfach zugelassen, was Sie tun?"
"Rezas Mutter war damals schon tot und Nadir... er hat sich nicht gewehrt." er beißt die Zähne zusammen, als er sich an den Blick in den Augen seines Freundes erinnert.
"Kannten Sie den Jungen gut, bevor Sie... bevor Sie ihm geholfen haben?" erkundigt sie sich tonlos. Sie will sich nicht vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn Magali so erkranken würde.
Erik lächelt verkrampft.
"Reza war der einzige Freund, der mich nie verraten oder gefürchtet hat."
Überrascht legt Félicie die Stirn in Falten. Ein Kind war sein einziger Freund? Wieso hat ein erwachsener Mann nur einen einzigen Freund – ein Kind?
"Für Sie muss das sehr schwer gewesen sein, Ihren Freund zu töten." vermutet sie.
"Das war es." Geräuschlos steigt er auf die Kaimauer und vertäut das Boot.
"Möchten Sie mir von Reza, erzählen, Erik?" fragt sie so sanft sie kann, während sie sich von ihm aus dem Boot helfen lässt. Seine knochigen Hände sind eiskalt.
"Heute Abend vielleicht." Damit öffnet er die Haustür und zieht sich in sein Zimmer zurück.

Unschlüssig, was sie nun tun soll, setzt sie sich an das Klavier. Erik hat die Noten für sie dort gelassen und ihre Finger erkunden rasch die Schrift. Dann beginnt sie langsam auf den Tasten herumzuspielen.
Eine Zeit lang döst Erik in seinem Sarg, doch seine Gedanken hindern ihn daran, sich zu entspannen und einzuschlafen. Schließlich steht er wieder auf und spielt unentschlossen mit seiner Ampulle Morphium herum. Er kann nicht schon wieder überdosieren.
Seufzend setzt er sich auf die Chaiselongue, erhebt sich wieder, geht ein paar Schritte auf und ab...
Er sehnt sich nach Félicies Gesellschaft.
Nach und nach lockern sich ihre steifen Finger und die Melodien lassen sich leichter spielen.
Erst als sie Schritte hört hält sie inne und dreht sich um.
"Konnten Sie nicht schlafen?"
"Nein. Ihr Klavierspiel macht gute Fortschritte." bemerkt er so freundlich wie möglich. "Ich werde Ihnen wohl bald komplexere Übungen geben können."
Félicie zwingt sich zu einem Lächeln.
"Danke." Sie steht auf und schlurft in Richtung Küche. "Ich habe Hunger. Möchten sie auch etwas essen?"
"Ein wenig."
Erstaunt über seine Antwort öffnet sie den Schrank und sucht nach etwas, dass sich in ein Essen verwandeln ließe.
"Wenn ich Ihnen nicht zu schlecht bin, könnten wir nachher zusammen Musik machen." überlegt sie "Können Sie noch ein anderes Instrument spielen? Oder Sie könnten singen, wenn mein Klavierspiel dafür schon ausreicht."
"Violine, Cello, Klarinette, Contrabass... Aber eine gesangliche Begleitung wäre wohl am unkompliziertesten."
Sie reicht ihm eine Möhre.
"Könnten Sie die bitte schneiden?" sie selbst macht sich daran, Kartoffeln zu schälen. "Warum wollen Sie nie mehr vor Menschen singen? Sie haben eine so schöne Stimme, warum darf nur ich sie hören?"
Wortlos legt Erik Möhre und Messer beiseite und will gehen, doch in der Tür bleibt er stehen und senkt den Kopf. Es gibt keinen Fluchtweg, nur Aufschübe.
"Meine Stimme... sie... sie ist meine einzige Schönheit." würgt er schließlich hervor.
Überrascht runzelt sie die Stirn. Er findet sich hässlich. Aber kann das sein? Kann ein Mann mit einer solchen Stimme hässlich sein
Sie wirft die fertige Kartoffel in den Topf mit Wasser und dreht sich dann sehr langsam zu ihm.
"Das glaube ich nicht. Vielleicht... vielleicht erlauben Sie mir einfach, ihr Gesicht zu berühren. Wahrscheinlich finde ich Sie gar nicht abstoßend."
Instinktiv weicht Erik vor ihr zurück. Es war ein Fehler, ein weiterer schlimmer Fehler. Ihre Hände auf seinem Gesicht.
'Stell dich nicht so an, du elender Feigling!'
"Nein, bitte... Noch... noch nicht. Ich kann Sie noch nicht gehen lassen."
"Gehen? Ich verstehe nicht..." sie seufzte tief und senkt den Kopf. Also ist es nicht nur die übliche Abneigung, die viele haben, wenn sie darum bittet, sie berühren zu dürfen. Bei ihm kommt noch hinzu, dass er sich selbst nicht gerne ansieht. Aber wie hässlich er auch sein mag, es würde nie ausreichen, um sie zu verjagen, dessen ist sie sich sicher.
"Was ich bin, bin ich wegen meines Gesichtes." Seine Stimme ist kaum hörbar und er ballt seine Hände zu Fäusten. "Wenn sie wissen, wie ich aussehe, werden auch Sie mich hassen und fliehen wollen."
"Ich soll Sie wegen Ihres Äußeren hassen?" fragt sie ungläubig "Aber ich weiß, was Sie getan haben und ich bin noch immer bei Ihnen. Glauben Sie tatsächlich, dass ich jetztnoch gehe, weil Sie hässlich sind?" Entsetzt schüttelt sie den Kopf.
"iJa/i!" Wütend kracht seine Faust gegen den Türrahmen. "Sie reden sich alles schön, nicht wahr? Sie versuchen, zu vergessen, dass mir das Töten auch Freude bereitet hat, in Ihren Augen war alles Notwehr und Notwendigkeit, doch mein iGesicht/i können sie sich nicht schön reden. Sie können es nur nehmen, wie es ist und das ist bislang nur der Khanum gelungen, dieser..." Er bricht ab. "Was immer Sie dazu bringt, bei mir bleiben zu wollen, mein Gesicht wird es vernichten." Damit wendet er sich ab und geht zur Tür.
Entgeistert lässt sie das Messer sinken.
"Erik!" Ein paar wenige, unsichere Schritte, dann steht sie an seiner Seite und berührt vorsichtig seine Hand.
"Ist Christine deshalb gegangen?"
"Was sonst?" Für einen sehr kurzen Moment ergreift er Félicies Hand, dann geht er auf den Gang hinaus. "Sie sollten jetzt Ihre Sachen packen."
"Meine Sachen?" wiederholt sie wie ein begriffsstutziges Kind. Hinter ihren Schläfen beginnt ein dumpfes Pochen.
"Ich will nicht, dass Sie mich hassen." Damit schließt er seine Zimmertür und lehnt sich wie betäubt von innen dagegen. Es ist vorbei. Vorbei. Was auch immer es war.
"Wenn ich verspreche, Sie nicht wegen Ihres Aussehens zu hassen, schicken Sie mich dann nicht fort?" fragt sie hilflos. Bei dem Gedanken daran, ihn allein zu lassen, läuft ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Er kann sie doch jetzt nicht einfach so fortschicken. Das kann es einfach nicht gewesen sein!
"Versprich nichts, das du nicht halten kannst." antwortet er leise "Bitte, Félicie..."
"Aber ich könnte es dochversuchen!" wispert sie kaum hörbar. Tränen der Verzweiflung pochen hinter ihren Augen. Aber sie darf jetzt nicht weinen.
Er lässt eine Ewigkeit verstreichen, eine Ewigkeit, in der er versucht, zu hoffen, dass Félicie so stark ist, wie sie glaubt. Dann gibt er auf.
Als die Tür knarrt, drückt sie mit den Fingerspitzen vorsichtig dagegen und tritt ein. Sie findet Erik auf dem Boden neben der Tür, wo er zusammengekauert sitzt. Unsicher lässt sie sich neben ihn sinken, sucht seine Hände und hält sie fest.
Erik schließt die Augen. Dann führt er Félicies Hände an seine Maske.
"Reißen Sie sie einfach ab..."
Ein wenig erschrocken hält sie inne, schluckt und berührt dann zögerlich die glatte Oberfläche der Maske. Irgendwann zieht sie ihre Hände wiederzurück.
"Sie tragen eine Maske?" fragt sie verwundert "So schrecklich finden Sie ihre Gesicht?"
Sie ergreift wieder seine Hände und fährt vorsichtig mit den Fingerspitzen die langen dürren Knochen seiner Hand nach. "Wenn Sie solche Angst davor haben, werde ich Sie Ihnen nicht abnehmen. Vielleicht zeigen Sie mir eines Tages Ihr Gesicht aus freien Stücken."
Ruhig hebt Erik seine Hände und legt die Maske ab. In seine Stimme schleicht sich etwas, das er selbst nicht genau identifizieren kann.
"Jetzt oder nie." flüstert er heiser.
Sie zittert leicht, als ihre rechte Hand sein Gesicht berührt. Die andere ruht wiederauf Eriks. Sie hat sich fest vorgenommen, ihm nicht zu zeigen, wenn sie erschrocken ist. Ihre Finger entdecken ein dürres Gesicht mit vorstehenden Knochen über die sich eine dünne Haut spannt. Schockiert presst sie die Lippen aufeinander. Augen, die tief in ihren Höhlen liegen, unförmige Lippen... sie erreicht die Stelle, an der seine Nase hätte sein sollen, aber da ist nichts. Sie unterdrückt mühsam ein Schluchzen. Nichts, nur ein Loch. Sie spürt, dass es hinter ihren Augen brennt, dass sie den Tränen nahe ist, doch sie kämpft verbissen darum, ihre Fassung nicht ganz zu verlieren. Sie will ihm nicht zeigen, wie sehr sie ihre Entdeckung entsetzt. Deshalb hassen ihn die Menschen, deshalb hielt man ihn in einem Käfig und deshalb hat Christine ihn verlassen.
Sie zittert heftig, als sie Eriks andere Hand ergreift.
"Das... das ist schon seit Ihrer Geburt so?" fragt sie tonlos.
"Ja." Seine Stimme ist nicht mehr als ein Ausatmen. Die Augen hält er geschlossen. Er will es nicht sehen, wenn sie bleich ist und weint. Es reicht, dass er ihr Zittern spürt. Schwach zieht er seine Hände zurück. "Gehen Sie... und packen Sie Ihre Sachen. Jetzt... jetzt ist alles wieder in Ordnung."
Sie schüttelt den Kopf.
"Warum sagen Sie das?" wispert sie, während nun wirklich Tränen über ihre Wangen laufen. "Warum wollen Sie, dass ich gehe?" Sie fühlt sich elend. Bis zu diesem Morgen war alles schön, und nun... Ein Schluchzen schüttelt sie. "Können Sie es nicht ertragen, dass ich trotz Ihres Gesichtes bleiben will? Dass ich anders reagiere als Ihre Christine?" sie steht auf und wendet sich zum Gehen. "Ich bin nicht wie Christine und ich will sie auch nicht ersetzen!" sagt sie kalt und geht in ihr Zimmer.
Starr und stumm bleibt Erik sitzen.
'iDass ich trotz Ihres Gesichtes bleiben will.../i' das ist alles, was er wahrnimmt. 'iDass ich bleiben will/i.'

Es dauert eine Weile, ehe er tatsächlich begreift, was diese Worte bedeuten. Mühsam drückt er sich vom Boden hoch und geht zu Félices Tür.
"Félicie?" Seine Stimme klingt rau "Ich will auch nicht, dass Sie gehen."
Leise schluchzt sie auf und hebt den Kopf. Sie hört ihn, aber sie weiß nicht, was sie jetzt noch sagen soll. Vielleicht sollte sie ihm nicht öffnen. Andererseits würde ihn das nur in seinem Glauben bestätigen, dass sein Gesicht alles zerstört.
Zögernd erhebt sie sich und wischt hastig mit dem Ärmel über ihre Augen, damit er nicht sieht, dass sie bisgerade geweint hat. Dann schiebt sie den Riegel wieder zurück und öffnet ihm.
"Warum?"
Hilflos schaut er auf Félicie hinunter.
"Ohne Sie wäre mein Leben wieder leer."
Sie lächelt matt und hebt ihre Hand, um über seine eingefallene Wange zu streichen; doch schon spürt sie, wie Erik vor ihrer Berührung zurückweicht. Resigniert lässt sie ihre Handwieder sinken.
"Wollen Sie heute Abend noch immer für mich singen?"
Er schüttelt den Kopf.
"Heute nicht. Morgen vielleicht." Es gibt ein Morgen... "Morgen sehr gern."