Es
ist ein kalter Morgen, als sich der schmächtige Botenjunge durch
das Schneegestöber bis zur Tür des kleinen Hauses kämpft.
Die Haushälterin, die einzige Bedienstete, die dieses Haus
beherbergt, überbringt den Brief beim Frühstück.Er
bemerkt Christines fragenden Blick, und als er das Emblem der Oper
auf dem Umschlag erkennt, vergeht ihm der Appetit. Rasch beschließt
er, dass es besser ist, diesen Brief ohne ihr Beisein zu öffnen.
Einer hastige Entschuldigung murmelnd, verlässt er den
Frühstückstisch um mit dem Brief in der Hand in seinem
Arbeitszimmer zu verschwinden. Mit zitternden Fingern schlitzt er den
Umschlag auf und überfliegt die Zeilen. Schweiß tritt auf
seine Stirn.
Drei
Monate! Seit drei Monaten hat er nichts mehr aus Paris gehört
und nun das! Nur wenige wissen, dass Christine und er Frankreich
niemals verlassen haben, und nachdem er den Brief zum zweiten und
dritten Mal gelesen hat, weiß er, dass es ein Fehler war, zu
bleiben. Roumare war nie weit genug von Paris entfernt, um vor ihm
fliehen zu können.
Christines
zaghaftes Klopfen reißt ihn aus seinen Gedanken.
"Raoul?
Darf ich eintreten?"
Er
verbirgt den Brief in seiner Rocktasche; erst dann öffnet er ihr
die Tür und lässt sie eintreten. Sie sieht so unglaublich
hübsch aus und in den drei Monaten hat sie sich erstaunlich gut
erholt – er kann es ihr einfach nicht sagen!
"Du
siehst blass aus." bemerkt sie besorgt und ergreift seine Hand.
Eine Weile spielt sie mit dem Ehering an seinem Finger. "Was
haben sie dir geschrieben?"
Er
befreit sich von ihr und hebt abwehrend die Hände. Sein Lächeln
muss er erzwingen und er befürchtet jede Sekunde, dass sie es
bemerkt.
"Es
gibt etwas Dringendes in Paris, das meine Anwesenheit erfordert.
Geschäftlich... Wir müssen gleich aufbrechen."
Sie
verliert ein wenig Farbe und starrt ihn überrascht an. Sie
runzelt die Stirn und seufzt leise."Wir
müssen nach Paris?" murmelt sie schließlich missmutig
"Auch ich?"
"Ma
chère, du wirst verstehen, dass ich dich nicht allein
zurücklassen möchte. Ich werde gleich einen Brief an
Edouard und Claude aufsetzen und sie bitten, dir Gesellschaft zu
leisten, während ich an der Oper bin."
'Und
dich zu bewachen für den Fall, dass er auftaucht.' fügt er in Gedanken hinzu. Christine nickt ergeben
und verlässt das Zimmer, um einen Koffer für die Reise
packen zu lassen.
Eine
kurze Zeit sieht Raoul ihr nach, bevor er sich an den Schreibtisch
setzt.
"Nein,
Christine." murmelt er entschlossen "Dieses Mal bekommt er
dich nicht"
Bereits
zwei Stunden später fährt die Kutsche nach Paris ab und
noch am selben Abend steht der ehemalige Mäzen wieder im
sonderbar heimelig anmutenden Büro der Operndirektion.
"Monsieur
de Chagny, ich kann Ihre Aufregung durchaus verstehen, aber..."
"Was
aber?" fährt er auf "Ich möchte, dass Sie mir die
Suche nach diesem Wahnsinnigen überlassen! Ich war dort unten,
ich kenne den Weg. Und die ganze Sache betrifft meine Frau und mich
noch viel mehr als ihr Haus. Ich will diesem Monster in die Augen
sehen, bevor ich ihn endgültig... beseitige"
Seine Hände umklammern den Revolver in der Tasche seines
Gehrocks. Noch einmal wird er Erik nicht verfehlen.
Moncharmin
räuspert sich und trommelt nervös auf den Schreibtisch,
während er dem Mann im Schatten immer wieder auffordernde Blicke
zuwirft. Als dieser nur unausgesetzt schweigend an seine Wand gelehnt
verharrt, räuspert er sich laut.
"Ich
denke, wir sollten diese Aufgabe der Sûreté überlassen."
sagt er dann und nickt dem Mann zu.
"Wir
sind wirklich Tag und Nacht auf der Suche." versichert dieser
Raoul, während er endlich inne hält, seinen Schnurrbart zu
zwirbeln. "Und wir machen große Fortschritte."
Raoul
entfährt ein ärgerlich 'Pf' und er will zu einer wütenden
Protestrede ansetzen, doch der Inspecteur unterbricht ihn.
"Alles,
was Sie allein unternehmen würden, brächte Sie und vor
allem Ihre Frau in noch größere Gefahr. Sind Sie nur nach
Roumare geflüchtet, um ihn jetzt wieder auf sich aufmerksam zu
machen?"
Raouls
Faust fährt auf den Schreibtisch der Direktoren.
"Nein,
verdammt! Aber man hat uns versichert, dass Erik tot ist. Und nachdem
wir drei Monate tatsächlich nichts von ihm gehört haben,
kam dieser Brief der Direktion..."
Der
Inspecteur schüttelt den Kopf.
"Es
tut mir leid Monsieur le Vicomte. Aber ich kann nicht verantworten,
dass sie die Sache auf Ihre Art zu Ende bringen. Sagen sie uns den
Weg und wir..."
"Sie
hatten drei Monate Zeit ihn zu finden und haben nichts erreicht.
Glauben Sie wirklich, er wäre so dumm, seine alten Wege offen zu
lassen?" Raoul nimmt seine Handschuhe auf. "Das Gespräch
ist für mich beendet, meine Herren. So oder so, ich werde dieses
Problem lösen."
Eine
weitere Stunde vergeht, ehe es an der Tür einer kleinen Wohnung
in der Rue Rivoli klopft.
Verwundert
hebt Nadir den Kopf, als Darius aufgeregt die Tür des
bescheidenen Wohnzimmers aufstößt.
"Raoul
de Chagny." kündigt der hastig an.
Noch
bevor der Name ganz ausgesprochen ist, ist Nadir schon auf die Füße
gesprungen, seine schmerzenden Gelenke ignorierend.
"Führe
ihn herein."
Als
Raoul das eintritt, erkennt er den Perser fast nicht wieder. Der Mann
ist älter geworden und scheint krank zu sein. Doch Raoul ist
viel zu aufgebracht, um sich mit irgendwelchen Höflichkeitsfloskeln
abzumühen.
"Monsieur
Nadir, warum haben Sie uns erzählt, Erik sei tot? Ganz
offensichtlich erfreut er sich bester Gesundheit."
"Bon
soir Monsieur le Vicomte." grüßt Nadir, würdevoll
seine Irritation überspielend. "Setzen Sie sich und
erklären Sie mir, was Sie nach Paris führt. Wollten Sie
nicht um diese Zeit längst in England leben?"
Zögerlich
lässt sich auf dem ihm angebotenen Platz nieder.
"Wir
waren niemals in England. Wir ließen alle außer meinen
Geschäftspartnern in dem Glauben, und wie ich sehe, war das auch
besser so." Er ballt die Hände zu Fäusten. " Denn
da dieser Verrückte noch immer lebt, wären wir in Roumare
niemals sicher vor ihm gewesen. Monsieur, wenn Christine etwas
zugestoßen wäre – es wäre Ihre Schuld gewesen! Sie
hätten die iPflicht/i
gehabt, uns die Wahrheit zu sagen!"
"Und
Ihnen Erik ans Messer zu liefern?" Nadir schüttelt den Kopf
"Nein, Monsieur de Chagny, wären Sie nach England gegangen,
wie Sie es mir gesagt haben, oder wären Sie auch nur in Roumare
geblieben, Ihnen hätte keine Gefahr von ihm gedroht." Er
setzt sich zurück in seinen Sessel und beginnt, seine
schmerzenden Knöchel zu massieren. "Kehren Sie zurück
in Ihr altes leben und beten Sie, dass Erik noch immer zu sehr mit
seiner Trauer beschäftigt ist, um sich um die überirdische
Welt zu kümmern."
"Zu
spät, Monsieur." schnappt Raoul und schlägt sich auf
sein Knie. "Lesen Sie keine Zeitung? Der Absturz des
Kronleuchter-Schattens? Das war ganz eindeutig seine
Handschrift! Im Übrigen wird die Direktion wieder erpresst. Und
er verlangt 30.000 Franc. Die Sûreté ist bereits
eingeschaltet." er seufzt und sieht Nadir eindringlich an "Aber
ich würde die Sache lieber selbst regeln, wenn Sie verstehen,
was ich meine."
"Ich
verstehe sehr gut." Erik hat nicht nur wieder getötet, er
hat sich auch soweit gefangen, dass er seinen unwürdigen Terror
an der Oper fortsetzen kann. Teils wütend über die
Unverbesserlichkeit seines Freundes, teils erfreut über seine
beginnende Gesundung schüttelt Nadir den Kopf. Ob all dies etwas
mit Mademoiselle Tarissou zu tun hat? "Wo ist Ihre Frau jetzt,
Monsieur de Chagny?"
"Im
Hotel. Ich habe zwei meiner Freunde gebeten, sie zu bewachen. Sie
weiß nicht, dass Erik noch lebt, und ich wünsche, dass es
so bleibt." Er wischt sich nervös über das Gesicht.
"Sie treffen sich noch mit Erik, habe ich recht? Ich werde Sie
bei der nächsten Gelegenheit begleiten und Erik stellen."
"Das
werden Sie nicht tun." entgegnet Nadir entschlossen "Sie
werden Ihre Frau und Ihren Hausstand einpacken und so bald wie
möglich nach England reisen."
"Sie
wollen mir vorschreiben, mein Leben noch einmal aufzugeben und
wegzulaufen?" fährt Raoul wütend auf. "Monsieur,
Sie sind Schuld daran, dass wir hier sind! Hätten Sie uns von
Anfang an die Wahrheit gesagt, wären wir nie so nah bei Paris
geblieben. Wir dachten, wir wären sicher! Und nun ist das
Mindeste, was Sie tun können, uns zu helfen, Erik wieder
loszuwerden. Wenn er uns findet, und das wird er früher oder
später, geht alles wieder von neuem los. Das können wir
Christine nicht zumuten!"
"Ich
werde Ihnen nicht helfen, Erik zu töten!" spuckt Nadir kalt
"Nun gehen Sie; gehen Sie weit weg und schützen Sie Ihre
Frau, indem Sie sie mitnehmen! Darius... der Herr möchte zur Tür
gebracht werden."
Ärgerlich
steht Raoul auf.
"Ist
das Ihr letztes Wort, Monsieur?"
"Das
ist es. Leben Sie wohl, Monsieur le Vicomte."
"Leben
Sie wohl." Er nimmt seinen Hut und verlässt das Haus.
Scheinbar muss er andere Maßnahmen ergreifen, um an sein Ziel
zu kommen. Er sollte für den Aufenthalt in Paris wohl einige
Tage mehr einplanen. Aber wenn er sich mit Edouard und Claude
abwechselt, sollte es kein großes Problem darstellen, Nadir zu
beobachten und herauszufinden, wann und wo er sich mit Erik trifft.
Und dann wird er da sein und dem Spuk ein Ende machen. Eriks Tage
sind gezählt.
