Kapitel 11
Interessiert nimmt er den weißen
Umschlag von der Brüstung und betrachtet Nadirs saubere Schrift
auf dem Kuvert. Was ist das nun wieder?
Félicie,
die bislang dem Orchester beim Stimmen der Instrumente gelauscht hat,
wendet ihre Aufmerksamkeit Erik und dem raschelnden Papier zu.
"Was haben Sie da?"
"Nur eine Nachricht von Nadir. Er
zitiert mich zu sich um mir irgendetwas unbeschreiblich wichtiges zu
sagen." Er seufzt "Ich werde ihn wohl aufsuchen müssen,
wenn die Oper vorbei ist."
Sie runzelt die Stirn.
"Hoffentlich hat die Sûreté
nichts herausgefunden." und sich dem Orchester wieder zuwendend,
fragt sie: "Sagen Sie, wird die Carlotta wieder die Carmen
singen?"
"Ich habe nichts unternommen, das
zu verhindern" murmelt Erik gut gelaunt.
"Und der Sänger, der letztens
den Papageno gesungen hat, wird der heute den José spielen?"
fragt sie versucht beiläufig mit glühenden Wangen.
Erik grinst schief.
"Sie können ihm einen Korb
Rosen in die Garderobe schicken, wenn Sie möchten."
Félicie spürt, wie sie bis
zu den Haarwurzeln errötet.
"Ich mag doch bloß, wie er
singt." flüstert sie verlegen. Dann verstummt sie, denn die
Ouvertüre beginnt.
"Wie Sie meinen."
Carlottas Arie rückt immer näher.
Eine ganze Zeit lang rutscht Félicie unbequem auf ihrem Platz
hin und her, dann wendet sie sich Erik zu.
"Könnten Sie mir bitte den
Weg zu den Toiletten beschrieben? Ich müsste mich frisch
machen."
"Zur Tür hinaus nach rechts.
An der gegenüberliegenden Wand entlang, an der Treppe vorbei.
Die siebte Tür hinter der Treppe... Und beeilen Sie sich, sonst
verpassen Sie noch Carlotta." ergänzt er ironisch.
"In diesem Fall werde ich mir
besonders viel Zeit lassen." grinst sie und verschwindet.
Tatsächlich braucht sie nicht
einmal fünf Minuten, um sich mit Eriks Beschreibung auf dem
menschenleeren Flur zurechtzufinden.
Auf
dem Weg zurück zur Loge lauscht sie den Klängen, die von
der Bühnenach draußen dringen. Offenbar bleibt ihr Carlottas
Arie doch nicht erspart. Sie verkneift sich ein halb
mitleidigesLächeln, als sie sich vorstellt, wie sichErik auf seinem
Platz bemüht, die Stimme der
Primadonna zu ignorieren. Jetzt, da sie sich Zeit gelassen hat, kann
er sich nicht einmal leise mit ihr über belanglose Dinge
unterhalten. Völlig in Gedanken rennt sie direkt vor der Tür
von Loge Fünf in einen Mann hinein, der nur wenig größer
zu sein scheintals
sie selbst.
"Pardon." murmelt sie und
lächelt höflich, als er ihr den Blindenstock wieder in die
Hand drückt.
"Mademoiselle." Sie hört,
dass er seinen Hut zieht "Dürfte ich Ihnen eine etwas
indiskrete frage stellen?"
Félicie zieht die Stirn kraus
und weicht instinktiv einen Schritt von der Logentür zurück.
"Natürlich."
entgegnet sie, tonlosdoch bemüht, weiterhin freundlich zu bleiben.
Irgendetwas stimmt mit diesem Mann nicht. Er muss schon länger
in diesem Flur aufgehalten haben, denn nun, wo er dicht neben ihr
steht, erinnert sie sich, sein Rasierwasser bereits in der Nähe
der Toilette gerochen zu haben. Wieso ist er nicht im Publikum und
sieht sich die Oper an?
"Loge Fünf – Wissen Sie, ob
dort jemand sitzt? Haben Sie Stimmen von dort drinnen gehört?"
"In der Tat. Diese Loge ist
besetzt, Monsieur." antwortet sie steif.
Plötzlich umfasst der Mann ihren
Arm so fest, dass sie vor Schreck keucht.
"Tatsächlich?
War esein Mann? Haben Sie eine Männerstimme gehört?"
Sie schüttelt den Kopf.
"Monsieur, Sie tun mir weh! Lassen
Sie mich los."
Der
Griff des Fremdenlockert sich langsam.
"Ich sitze dort."
"Allein?" fragt der Fremde
außer Atem.
"Mein Vater hat die Loge für
uns gemietet." lügt sie "Wenn Sie mich jetzt
entschuldigen würden... Er wartet und ich verpasse Carlottas
große Arie nur ungern." Sie drängt sich an ihm vorbei
und zwängt sich durch einen kleinen Türspalt in die Loge
zurück.
Erik
erstarrt, als er Raouls Stimme auf dem Gang hört. Das kann nicht
sein! Das idarf/i
nicht sein! Er springt von seinem Platz auf, um an der Tür zu
horchen.
Als Félicie die Loge wieder
betritt, erwartet er sie mit geballten Fäusten und
zusammengebissenen Zähnen.
"Wir müssen gehen."
"Gehen?
Aber Carlotta... die Oper?" stammelt sie verwirrt. Sie weiß
nicht, warum Erik plötzlich so seltsam ist. Noch vor wenigen
Minuten war er so gut gelaunt. Ob es etwas mit dem seltsamen Fremdenvor der Loge zu tun hat?
"Wir können nicht gehen.
Draußen steht ein merkwürdiger Mann, der mir Fragen
gestellt hat. Ich glaube, er könnte von der Sûreté
gewesen sein."
"Wir gehen durch die Säule."
erklärt Erik "Dort ist es sehr eng, ich hoffe, das stört
sie nicht zu sehr."
Félicie schüttelt den Kopf
und folgt ihm. Mit einem kaum hörbaren Klicken öffnet sich
eine Tür in der Säule. Eng an ihn gedrückt, lässt
sie sich in den engen Hohlraum ziehen und lauscht.
Erik betätigt den über seinem
Kopf angebrachten Mechanismus und schon senkt sich die
Transportkabine hinab in den dritten Keller. Die ganze Zeit über
spürt er Félicies Herz, das heftig gegen seine
Magengegend pocht.
"Macht Ihnen die Enge Angst?"
fragt er leise "Wir sind gleich da."
"Nein." flüstert sie
"Ich habe keine Angst." Sie versucht, sich ein kleines
Stück von ihm zu entfernen, weit genug, damit er nicht mehr
spüren kann wie stark ihr Herz schlägt.
Als sich die Tür der
Transportkabine in den Geheimgang öffnet, schießt Eriks
Arm vor, um Félicie festzuhalten, damit sie nicht rückwärts
hinausstolpert. Doch er hat keine Zeit über ihr pochendes Herz
und ihren Rückzug nachzudenken. Raoul ist in Paris, und wo immer
er auch her kommt, er hat Christine auf keinen Fall dort
zurückgelassen.
Auf
dem Weg zum Haus wendet Félicie ihm immer wieder fragend das
Gesicht zu. Er istso schweigsam und reagiert fast gar nicht auf ihre
Anwesenheit. Schließlich räuspert sie sich.
"Haben wir die Vorstellung wegen
diesem Mann so früh verlassen?"
"Ja." antwortet er kurz und
öffnet ihr die Tür. "Warten Sie hier." Damit geht
er zum Boot zurück und rudert mit voller Kraft über den
See.
Eine
ganze Weile wartet Félicie fassungslos darauf, dass er
zurückkommt und ihr eine Erklärung für das gibt, was
er gerade getan hat oder noch tun wird. UndSie hofft inständig, dass dieser Abend keine neue
Leiche mit sich bringt. Als er auch nach einer Stunde nochnicht zurück ist, verschwindet sie leise fluchend in
ihrem Zimmer, wo sieihren Fächer in eine der hintersten Ecken des Raumes
feuert.
"Danke
für den schönen Abend!" faucht sie enttäuschtund lässt sich auf ihr Bett fallen.
Sie hat ihr Nachthemd bereits
angezogen, als Erik endlich wiederkommt. Eilig verlässt sie ihr
Zimmer und hastet auf ihn zu.
"Ist alles in Ordnung? Wo waren
Sie?"
"Bei Jules." er schiebt sich
an Félicie vorbei "Gehen Sie schlafen, es ist alles in
Ordnung."
Sie lässt entgeistert die
Schultern sinken.
"Bei Jules? Warum? Was ist denn
geschehen? Ist es immer noch wegen diesem Mann? Er war also wirklich
von der Sûreté..." Wieso lässt er sie so
einfach stehen? Erst verdirbt er ihr den Opernbesuch und nun
ignoriert er sie beinahe.
"Ich kann es Ihnen nicht
erklären." Damit schließt er die Tür seines
Zimmers hinter sich.
Auf der Chaiselongue setzt er seine
Maske ab und reibt sich die Augen. Christine ist nicht in England.
Sie befindet sich irgendwo in Paris, keine halbe Wegstunde von ihm
entfernt, und dieses Wissen droht, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Er
muss sie noch einmal sehen, mit ihr sprechen! Selbst wenn Raoul ihn
dafür töten würde.
Kurz, sehr kurz wandern seine Gedanken
zu Félicie, und er fühlt sich sonderbar für die
Rücksichtslosigkeit, mit der er sie gerade behandelt.
Doch Christine ist wieder da... War nie
weg... Christine...
Sie fühlt sich elend, als sie in
ihr Zimmer zurückkehrt. Er hat sie einfach fortgeschickt, ohne
Erklärung. Als sei sie von keinerlei Interesse mehr für ihn
Als sie im Bett liegt, kann sie nicht
einschlafen. Sie lauscht auf die Geräusche, die sie umgeben,
aber Erik scheint sein Zimmer nicht noch einmal zu verlassen.
Die Nacht vergeht quälend langsam.
Wie ein Tier im Käfig läuft er vor der Uhr auf und ab.
Er wird Christine wiedersehen! Und
Félicie wird verstehen, dass er nicht anders kann, als zu ihr
zu gehen, zu seinem Engel, seiner wunderschönen Christine.
Kurz vor Morgengrauen verlässt er
das Haus und steigt auf das Dach der Oper hinauf. Bitterkalter Wind
zerrt an seinem Umhang, während er in die Tiefe starrt. Hier hat
Christine ihn verraten. Doch alles wird er ihr verzeihen, wenn er sie
wieder sieht.
Er ballt seine Hände zu Fäusten.
Natürlich wird sich nichts dadurch an ihrem Verhältnis
ändern. Natürlich. Dennoch hofft er darauf.
Und Félicie wird das verstehen.
Irgendetwas geschieht. Sie spürt
es, obwohl sie ihm keinen Namen geben kann. Die ganze Nacht über
hat sie kaum ein Auge zugemacht und schreckt früh morgens hoch,
als Erik die Wohnung verlässt. Schon wieder. Sie dachte
tatsächlich, jetzt wo sie sein Geheimnis kennt, würde er
ihr nicht mehr aus dem Weg gehen. Stattdessen ist es nur noch
schlimmer geworden. Er hält es nicht einmal eine ganze
Opernaufführung neben ihr aus, ohne seinen Geschäften
nachgehen zu wollen.
Als
sie aufsteht, fühlt sie sich wie gerädert. Vielleicht wird
er wenigstensetwas essen, wenn er zurückkommt.
Siebzehn Uhr, das ist der Moment, auf
den er zufiebert. Um siebzehn Uhr erwartet er Jules am Tor in der Rue
Scribe, um von ihm das Ergebnis seiner Recherche zu erfahren. Und
Jules wird Christine gefunden haben, ohne Zweifel.
Das Haus fühlt sich sonderbar leer
an, als er durch die Eingangstür tritt, doch er riecht, dass in
der Küche gekocht wird. Seine Hand wandert zu seinem Magen und
er verzieht das Gesicht. Nun muss er sich schon wieder wie ein Dieb
durch sein eigenes Haus schleichen, um Félicies Fürsorge
zu entgehen.
Er knurrt gereizt. Er will jetzt keine
Ablenkung und keinen Streit. Er muss die Statue wieder aufrichten und
sehen, ob sich die Zerstörung, die er angerichtet hat, wieder
beheben lässt.
Er betritt die Küche nicht. Eine
ganz Zeit lang wartet sie am Tisch, dann geht sie nach ihm suchen.
Sie findet ihn in seinem Atelier und es klingt, als mache er sich an
einer Statue zu schaffen. Sie muss nicht fragen, um welche es sich
handelt. Hinter ihren Schläfen beginnt es wild zu pochen. Das
ist der Grund dafür, dass er sie links liegen lässt:
Christine!
"Was ist eigentlich passiert?"
fragt sie tonlos und kann ihre Wut kaum unterdrücken.
'Es ist nur eine verdammte Statue und
Christine ist weit, weit weg von Paris.' will sie ihn anschreien
'Warum kannst du sie nicht endgültig vergessen? Sie hat dich
verlassen, als sie wusste wie du aussiehst und ich bin immer noch bei
dir! Verflucht, ich mache mir Sorgen um dich.'
Erik zuckt zusammen und dreht sich
schuldbewusst nach Félicie um.
"Ich... repariere nur die Statue,
ich kann es nicht ertragen, dieses zerstörte... Ding in meinem
Haus. Wie geht es Ihnen Félicie? Wollen Sie nicht heute Ihre
Schwester besuchen?" Er wendet sich wieder der Arbeitsplatte zu
und mischt etwas Wasser unter den Füllstaub. "Sie ist immer
noch krank, nicht wahr? Sie sollten wirklich zu ihr gehen."
Verstohlen schaut er auf die Uhr. Noch drei Stunden...
Etwas
in ihr schnappt ein, doch sie
beißt sich auf die Lippen und zwingt sich, Ruhe zu bewahren.
"Ich habe doch schon gestern
erzählt, dass das Fieber wieder verschwunden ist." Er hat
ihr nicht einmal zugehört. Eigentlich hat sich nicht einmal
jetzt das Gefühl, dass er das tut. Er repariert diese verfluchte
Statue!
Sie geht ein paar Schritte auf ihn zu
und versucht seine Hand zu ergreifen.
"Monsieur, bitte... sagen Sie mir
doch, was passiert ist. Sie sind so seltsam... seit... seit gestern.
Ja, seit dieser Mann vor der Loge stand."
"Sie machen sich zu viele
Gedanken, Félicie" entgegnet er und nimmt einen Spachtel.
"Es ist wirklich alles in Ordnung." Er seufzt. Die Wahrheit
wird Félicie verletzen. Sie ist so besorgt um ihn und er will
sie nicht verlieren. Aber Christine ist wieder da!
Geräuschvoll stellt er seine
Utensilien wieder auf die Arbeitsplatte.
"Wie kommen Sie mit Ihren
Fingerübungen voran? Und mit der Braille-Schrift? Ich glaube,
Sie können wirklich anfangen, in einem Buch zu lesen. Es müsste
auf dem Tisch neben der Chaiselongue liegen."
Ärgerlich schiebt die die
Unterlippe vor. Er will sie loswerden. Damit er allein sein kann mit
dieser Statue – mit Christine. Sie wirft den Kopf in den Nacken und
wendet sich zum Gehen.
"Wenn Sie wünschen."
entgegnet sie steif. "Aber vorher werde ich Ihr Frühstück
wegwerfen."
Hilflos lässt er seinen Kopf in
die Hände sinken.
Wenn er nur wüsste, was er fühlt!
Wenn er nur wüsste, warum Félicie sich plötzlich
aufführt als wäre sie eifersüchtig.
Als er das Wohnzimmer betritt, steht
sie auf. Sie hört seinen Umhang rascheln und zieht die Stirn
kraus.
"Sie gehen wieder? Wohin?"
"Das ist unwichtig." Er holt
sein Punjab hervor und prüft ein letztes Mal die
Leichtläufigkeit der Schlinge. "Machen Sie sich keine
Gedanken. Ich bin sicher bald zurück. " Er verstaut das
Punjab und wendet sich zum Gehen.
"Keine Gedanken? Wofür
brauchen Sie das Lasso?" fragt sie mit vor Angst bebender
Stimme. "Erik, zum Teufel! Sagen Sie mir sofort was Sie
vorhaben!"
Er bleibt nicht stehen.
"Christine ist in Paris. Sie hat
Frankreich nie verlassen."
Ihr stockt der Atem. Das ist es...
Christine ist zurück und damit ist sie vergessen. Sein ganzes
Denken und Handeln ist nun wieder auf Christine fixiert und sie ist
gezwungen, zuzusehen.
Was wenn Christine zurückgekommen
ist, weil sie sich doch anders entscheiden hat? Wenn Sie sich nun für
Erik entscheidet? Dann wird es keinen Platz mehr für sie geben.
Es ist alles vorbereitet - die Statue ist repariert... Und selbst
wenn sie in diesem Haus noch geduldet würde, könnte sie es
nicht ertragen, sie beiden zusammen erleben zu müssen. Doch sie
weiß, dass jetzt alles vorbei ist. Christine ist zurück
und Erik braucht sie, Félicie, nun nicht mehr.
Zögernd nähert er sich dem
etwas schäbigen Gebäude. Raoul war dumm genug, nach Paris
zurückzukommen, er war sogar so dumm Christine mitzunehmen. Dass
er für ihre Unterbringung ein abgelegenes Hotel gewählt
hat, kann diese Fehler kaum kompensieren. Was findet sie bloß
an solch einem Einfaltspinsel?
Er erreicht die Hauswand und erklimmt
sie behände. Geräuschlos schwingt er sich über die
Brüstung des winzigen Balkons. Und dann sieht er sie.
Der Anblick presst alle Luft aus seinen
Lungen und er greift nach dem Geländer, um sich abzustützen.
Sie ist so unglaubliche schön. Schöner noch, als er sie in
Erinnerung hatte. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Augen glänzen
und sie lacht über etwas, das jemand in dem großen, vom
Fenster abgewendeten Ohrensessel gesagt hat.
Als sie einen Moment von ihrer
Handarbeit aufschaut, entdeckt sie Erik. Und plötzlich weicht
alle Farbe aus ihrem Gesicht, und die Sticknadel in ihrer Hand
beginnt zu zittern.
Erik mustert sie. Christine. Christine
Chagny. Und sie starrt ihn an mit ihren großen dunklen Augen,
die sich langsam mit Tränen füllen.
Ihre Gefühle für ihn haben
sich also nicht geändert. Er ist ein Mörder und der Anblick
seines Gesichtes für sie unerträglich. Sie kann nicht zu
ihm gehören, und er - so begreift er endlich - gehört auch
nicht zu ihr.
Es sind Sekunden, die ewig zu dauern
scheinen. Nachdenklich neigt Erik den Kopf zur Seite.
Sie hat ihn aus denselben Gründen
verlassen, aus denen die Menschheit ihn hasst, fürchtet und
immer wieder verrät. Mit zwei kleinen, eigenwilligen Ausnahmen:
Reza... und Félicie.
iFélicie/i.
Sein Herz macht einen plötzlichen Satz. Er ist nicht allein ohne
Christine, oh nein. Er ist alles andere als allein...
Hastig dreht er sich um und ist
zwischen den Bäumen verschwunden, ehe der Mann, der hinter ihm
auf den Balkon stürzt, einen Schuss abfeuern kann.
Die Zeit vergeht nicht. Vielleicht
kommt er nicht zurück. Vielleicht hat er sie über Christine
schon vollkommen vergessen. Wie dumm ist sie gewesen, auch nur eine
Sekunde lang zu glauben, für Erik von Bedeutung zu sein, wenn er
Christine haben kann!
Unruhig geht sie in der Wohnung auf und
ab, malt sich den Augenblick aus, indem er die Wohnung betritt. Er
wird nicht so taktlos sein, Christine sofort mitzubringen –
vielleicht lässt er sie in den Stallungen warten, bis er Félicie
auf sie vorbereitet hat. Darauf vorbereitet, gehen zu müssen und
ihr eigenes Leben zu leben.
Sie
ballt die Hände zu Fäusten, und als sie endlich stehen
bleibt, findet sie sich in seinem Atelier wieder, tränenüberströmt.
Vor ihr die Statue von Christine... Verzweifelt wühlt sie in dem
Werkzug auf der Arbeitsplatte, ihre Finger schließen sich
endlich um einen schweren Hammer und dann beginnt sie, in blinder Wut
auf die Skulptur einzuschlagen. Marmorsplitter und Spritzer noch
flüssiger Füllmassetreffen ihr Gesicht, aber das ist ihr egal. Immer wieder
schlägt sie auf die Statue ein, schluchzt, schreit: "Ich
hasse dich! Du machst alles kaputt! iIch...
hasse... dich../i."
Völlig außer Atem betritt er
das Haus und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Seine Maske
baumelt lose an ihren Bändern aus seiner Hand. Er lehnt sich
gegen die Wand, um kurz zu verschnaufen, doch dann werden ihm die
Schreie und der Lärm bewusst, die aus dem Atelier dringen.
Besorgt lässt er Maske und Umhang fallen und er hastet gleich
weiter.
"Félicie!" Er tritt
hinter sie, um gleich einer Ausholbewegung ihres Hammers
auszuweichen. "Félicie, bitte." keucht er heiser,
fängt ihren Arm ab und dreht sie zu sich. "Beruhige dich.
Es ist vorbei."
Sie lässt den Hammer fallen und
nickt. Irgendwo da draußen wartet Christine und für sie
ist jetzt kein Platz mehr.
"Dann... werde ich meine Sachen
packen." flüstert sie tonlos.
"Nein!" Entsetzt zieht er sie
näher zu sich "Warum? Warum willst du jetzt gehen?
Christine ist fort, Félicie, ich..." Er bricht ab.
Sie
braucht einige Zeit um zu verstehen, was er da sagt. Doch dann tastet
sie nach seinem Gesicht, will ihm die Maske abnehmen. Ihre Finger
finden warme Haut und so schlingt siebeide Arme um seinen Hals und küsst ihn. Und im
selben Augenblick weiß sie, dass sie endlich das Richtige tut.
Eriks erster Impuls ist, vor der
Berührung zurückzuweichen. Hinter einem Kuss lauern Schmerz
und Verlassenwerden; doch er kann sich nicht losreißen.
Stattdessen zieht er Félicie an sich und hält sie fest,
während eiskalte Angst und die Wärme ihrer Lippen zur
selben Zeit seinen Körper durchströmen.
"Félicie." murmelt er
mit brennenden Augen "Geh nicht."
Sie antwortet nicht, zieht sie ihn nur
wieder an sich. Sie will nicht, dass er redet. Christine ist fort und
Erik will, dass sie bei ihm bleibt. Alles andere ist unwichtig.
