Besorgt
läuft Erik im Flur des kleinen Bauernhauses auf und ab. Immer
wieder wandert sein Blick zu der kleinen Standuhr im Winkel neben der
Küchentür. Sie ist nun schon über eine Stunde weg,
viel zu lang für seinen Geschmack.Er
seufzt und schaut noch einmal zwischen den Vorhängen hindurch
auf den schmalen Weg, der von der Straße zum Haus führt.
Vielleicht sollte er hinausgehen und sie suchen? Nein... Er verzieht
das Gesicht, als er sich daran erinnert, was das letzte Mal passiert
ist, als er bei Tage außerhalb des Hauses gesehen wurde.
Gerade
will er sich abwenden, um noch einmal auf die Uhr zu sehen, als
Félicie endlich mit zwei großen Körben beladen
durch das Gartentor tritt.
Er
reißt die Tür auf und geht ihr hastig entgegen, um ihr
ihre Last abzunehmen.
"Du
sollst doch nicht so schwer tragen!" schimpft er sie leise aus
"In deinem Zustand!"
Sie
lässt sich von ihm die Körbe entreißen und zuckt mit
den Schultern.
"Aber
du weißt, dass ich nicht zweimal hintereinanderauf den Markt gehen
werde." seufzt sie und folgt ihm langsam ins Haus. "Mehr
als einmal am Taghalte ich diese
Blicke und das Geschwätz hinter meinem Rücken nicht aus."
Es
hätte so schön sein können. Ein kleines Häuschen
in der Bretagne, mit Garten, nah am Meer, ganz so, wie Erik es sich
gewünscht hat. Sie hätte sich niemals vorzustellen gewagt,
dass die Menschen sie hier so offen anfeinden würden, schon gar
nicht, nachdem sie von den Frauen der Gemeinde anfangs so freundlich
und hilfsbereit aufgenommen worden war. Doch im letzten Jahr sind aus
der Missbilligung der Dorfbewohner handfeste Übergriffe
geworden, und erst letzte Woche haben wieder einige Halbstarke ihren
kleinen Garten verwüstet. Besonders schwer trifft es Magali, die
selbst heute noch keine Freunde gefunden hat, weil die Eltern ihren
Kindern verbieten, auch nur in die Nähe des
'Kuriositätenkabinetts' zu gehen.
Sie
hört, wie Erik die Körbe auf den Küchentisch stellt
und macht sich daran, die Lebensmittel in die Schränke zu
räumen.
"Wo...
wo ist Magali?" fragt sie schließlich.
"Sie
sitzt in ihrem Zimmer und schmollt. Glaube ich." Er verkrampft
sich. "Ich sehe schnell nach..."
Sie
lässt sich umständlich auf den Stuhl sinken und schüttelt
den Kopf.
"Ich
hoffe nur, dass sie nicht schon wieder weggelaufen ist. Du weißt,
was das letzte Mal geschehen ist."
Ja,
er weiß es. Er weiß es sehr genau. Zwei Tage lang haben
er und Félicie die Umgebung um das Haus abgesucht, ehe sie
Magali im Haus einer alten Dame am anderen Ende des Dorfes fanden.
Sie hatte das Mädchen aufgenommen, um sie vor dem zu schützen,
was die Dorfbewohner im Hause der Familie Tarissou an Grauen
vermuteten. Es war ein Kampf, das Mädchen zurückzubekommen;
nicht nur, weil die Dame Magali nicht gehen lassen wollte, sondern
auch, weil Magali ihr nur zu gern glaubte, dass er, Erik, irgend ein
böses Wesen ist, das Schuld an allem trägt, was ihr an
ihrem Leben nicht gefällt.
Auch
heute, über einen Monat später, hat er nicht das Gefühl,
Magalis Vertrauen wiedergewonnen zu haben.
Seufzend
klopft er an die Tür des winzigen Zimmers seiner Schwägerin.
"Geh
weg!" schallt es ihm von innen entgegen "Ihr seid so
gemein! Nie darf ich machen, was ich will!"
Erleichtert
schließt Erik für einen Moment die Augen; sie ist also
noch da.
"Möchtest
du Félicie nicht beim Kochen helfen?"
"Nie
darf ich draußen mit den anderen Kindern spielen!"
Stirnrunzelnd
kämpft sich Félicie von ihrem Stuhl und folgt Erik. Es
klingt nicht so, als würde Magali sich dieses Mal so leicht
besänftigen lassen.
"Magali."
sagt sie streng und stützt sich am Türrahmen ab "Bitte
komm zu uns in die Küche!"
"Ich
mag nicht. Ich will mit den anderen spielen und zur Schule gehen.
Eriks Unterricht ist so langweilig und immer muss ich Noten lernen.
Und außerdemkann ichschon viel schöner
schreiben als er." Sie tritt von innen gegen die Tür.
"Magali,
es reicht! Du weißt, es ist unmöglich, dass du mit den
anderen Kindern unterrichtet wirst." entgegnet Félicie
verärgert und presst eine Hand gegen den Bauch, während die
andere nun nach Eriks sucht.
Besorgt
mustert Erik Félicies Gesicht.
"Ist
alles in Ordnung?"
"Dein
Kind hat mich getreten." schmunzelt sie.
Erik
lächelt breit und gibt ihr einen raschen Kuss auf die Stirn.
"Komm,
wir lassen Magali in Ruhe. Sie beruhigt sich schon wieder. Und wenn
wir beide in der Küche sind, wird sie sich schon nicht hinausschleichen."
Sie
wartet noch einen kurzen Augenblick vor der Tür ihrer Schwester,
dann folgt sie ihm zurück in die Küche.
"Erik,
wie soll das weitergehen?" fragt sie ängstlich. "Was
soll werden, wenn das Kind erst da ist, und ich nicht gleich wieder
auf den Markt gehen kann? Bisher haben die Menschen nur dumm geredet
und ab und an unser Gemüse geplündert, aber was ist, wenn
sich das auch ändert?" besorgt wendet sie ihm das Gesicht
zu.
Er
senkt den Kopf und ballt seine Hände zu Fäusten.
"Wir
werden wohl wiedervon hier fort gehen
müssen."
'Und
du weiß, Monster, dass es nur deine Schuld ist.'
"Du
denkst anParis,
nicht wahr?" fragt Félicie bedrückt "Weil wir
dort nicht zu sehr auffallen."
Dabei
hat sie dieses Haus so sehr gemocht. Ganz nah am Meer. Aber hier
werden sie wohlniemals akzeptiert
werden.
Nachdenklich
nickt sie.
"Vielleicht
hast du Recht. In Paris, könnten wir wieder auf Jules' Hilfe
vertrauen, und außerdem hätten wir die Möglichkeit
von Zeit zu Zeit die Oper besuchen." Sie legt den Kopf schief
und tastet nach seiner Hand. "Das fehlt dir doch, nicht wahr?"
Erik
nickt langsam.
"Ja,
die Oper..." Die Musik, die Schönheit dieses Gebäudes...
und die Sicherheit seiner unterirdischen Wohnung.
In
seiner Vorstellung war das Haus an der Küste immer ein
friedlicher Ort, still und einsam, nur er und seine Familie. Aber
auch in diesen Traum sind andere Menschen eingedrungen, Menschen, von
denen er abhängig ist, um überleben zu können,
Menschen, die das ausnutzen wollen, die ihn hassen, und weil sie ihn
hassen, auch die verletzen wollen, die zu ihm gehören.
In
ohnmächtiger Wut geht er zur Wand und schlägt mit der Faust
dagegen, dass seine Knöchel blutige Abdrücke auf der weißen
Farbe hinterlassen.
"Ich
bringe euch nichts als Unglück." flüstert er heiser.
Hastig
schüttelt Félicie den Kopf, fasst ihn an beiden Schultern
und zieht ihn zu sich zurück.
"Das
ist Unsinn. Du weißt, ich würde alles auf mich nehmen,
damit wir zusammenbleiben können. Und wenn das bedeutet, dass
wir wieder zurückgehen müssen... dann gehen wir." Sie
lächelt ihn aufmunternd an und streicht über die dünne
Haut seines Gesichtes. "Irgendwie werden wir zurechtkommen."
versichert sie sich selbst.
"Ich
will aber nicht, dass du irgendwie
zurechtkommst! Du hast etwas besseres verdient als dieses ständige
Versteckspiel." er umarmt sie und küsst ihren Scheitel.
"Dir geht es wie Magali, du hast keine Freunde. Und in Paris
wird sich nichts daran ändern. Ich werde mich immer noch
verstecken müssen, und du wirst darunter leiden. Und unser
Kind..." Er lässt sie wieder los und lehnt sich gegen die
Wand. "Ihr sitzt mit mir in einem Käfig. Ich... ich sperre
euch ein..."
"Wir
werden versuchen, für Magali wieder eine Amme zu organisieren.
Und ich kann tagsüber mit unserem Kind im Park spazieren gehen,
dort treffe ichbestimmt andere
Mütter. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass alle
Menschen so voll von Vorurteilen sind wie diese Dörfler."
Nachdenklich geht sie an den Tisch und setzt sich. "Die Frage
ist nur, wie wir zu Geld kommen."
"Ich
könnte wieder Häuser entwerfen." schlägt Erik
zögernd vor.
"Oder
Musik schreiben... Erik, du kannst so vieles. Vielleicht könnten
wir sogar wiederein eigenes Haus
haben, mit Fenstern. Und wenn Jules uns hilft, haben wir sicher keine
Probleme wie hier."
"Wenn
ich arbeiten soll, brauche ich Platz, ein Atelier... Ich... ich miete
ein Haus für dich, das Kind und Magali und gehe zurück
unter die Oper... Was damals passiert ist, haben längst alle
vergessen, und so ist es auch besser für euch, ihr könnt
mich ja besuchen, so oft ihr wollt!" ergänzt er hastig,
bevor Félicie ihn unterbrechen kann.
"Vergiss
das am besten sofort wieder! Ich will nicht, dass du allein unter die
Oper ziehst." erklärt sie entschieden. "Ich habe dich
nicht geheiratet, damit wir nun getrennte Wohnungen haben. Wenn du
zurück unter die Oper gehen willst, werde ich mitkommen."
In
diesem Moment betritt Ayesha mit einem herrischen Maunzen die Küche.
In mehreren Kämpfen mit anderen Katzen und einigen Dorfkindern
hat sie ein Stück ihres Ohres verloren, und ihr ehemals gerader
Schwanz ist seit einem Bruch an der Spitze abgeknickt, doch sie trägt
noch immer ihr kostbares persisches Halsband und drängt sich
unwillig an Félicie vorbei, um nach Eriks Aufmerksamkeit zu
verlangen.
"Und
wenn das Kind auf der Welt ist? Ein Keller ist kein Ort für
einen Säugling und eine junge Mutter. Nein." er nimmt
Ayesha auf den Arm und streichelt ihr seidiges Fell "Sobald das
Kind da ist, musst du in ein ordentliches Haus mit Tageslicht. Du...
du bekommst eine Zofe, eine Gesellschafterin, irgend etwas..."
er beginnt, in der Küche auf und ab zu laufen. "Ich werde
abends zu Besuch zu dir kommen, wenn du willst, dann kann ich auch
das Kind sehen..."
"Erik!"
fährt sie wütend auf. "Ich will nicht, dass du so
etwas sagst. Ich werde bei gutem Wetter mit dem Kind im Park sein und
dann zu dir zurückkommen. Wir werden es gemeinsam großziehen,
hörst du?"
"Und
wenn das Kind eines Tages zur Schule geht, was erzählt es dann
seinen Freunden? Ich bin im Keller unter der Oper aufgewachsen?"
Er setzt sich auf die kleine Küchenbank und klammert sich an
Ayesha fest. "Ich will, dass mein Kind in einer normalen
Umgebung aufwächst. Und ich... kann nicht dauerhafter
Bestandteil von etwas Normalem sein..."
Sie
schlägt mit
der flachen Hand auf den Tisch.
"Verdammt,
Erik! Ich liebe dich. Und jeder, der dich liebt, wird dich als
vollkommen normalen Menschen akzeptieren können und auchfür dein Kind
wird dein Gesicht nichts ungewöhnliches sein. Wenn wir genügend
Geld zusammen haben, werden wir gemeinsam in ein Häuschen am
Rand von Paris ziehen. Hörst du? Zusammen!"
Sie verzieht zornig das Gesicht. "Ich lasse dich nicht noch
einmal allein."
Hilflos
lässt er von Ayesha ab und schüttelt den Kopf.
Wieso
weigert sich Félicie, zu verstehen?
Schließlich
steht er auf und nimmt sie in den Arm.
"Du
gibst mit so viel, Félicie, mehr, als ich je von dir verlangen
könnte. Ich..."
"Ich
will ein Haus mit Fenstern und ohne Erik." unterbricht ihn eine
kleine Stimme von der Küchentür und Magali stampft betont
missmutig über die Dielen zu den Einkaufskörben, schnappt
sich einen Apfel und will wieder verschwinden.
Mit
wenigen Schritten ist Félicie an der Tür und hält
ihre Schwester auf.
"So
nicht, junge Dame! Du wirst in ein Haus mit Fenstern kommen und auch
in eines ohne Erik, wenn du unbedingt möchtest. Ich bin mir
sicher, die Amme freut sich, dich wiederzusehen." Sie findet
Magalis Hand und entreißt ihr den Apfel. "AberEssen gibt es in
einer halben Stunde." Sie dreht sie Erik zu und lächelt ihn
verschwörerisch an. "Und auch du wirst heute etwas essen!"
Er
seufzt.
"Heute
Mittag? Bist du sicher?" versucht er dann, sich herauszuwinden.
Félicie
zieht eine Augenbraue hoch und geht betont langsam zum Herd.
"Das
kommt ganz darauf an, wie du dir den heutigen Abend vorstellst."
murmelt sie beiläufig und sucht nach einem Topf.
"Das
ist Erpressung." knurrt er und geht zu ihr, um sie von hinten zu
umarmen und einen Kuss auf ihren Nacken zu setzen. "Kriminelle
Methoden."
Sie
grinst zufrieden.
"Dann
sind wir uns ja einig."
Sie
dreht sich langsam zu ihm, um ihn zu küssen.
"Ihr
seid so eklig." stöhnt Magali langgezogen "Undwomit erpresst sie
dich, Erik?" fragt sie dann neugierig.
"Sie...
zwingt mich, auf der kleinen Küchenbank zu schlafen."
antwortet er ausweichend und bemüht sich, nicht knallrot
anzulaufen. "Und wenn du dich entschieden hast, nicht in dein
Zimmer zurückzugehen, kannst du ja schon einmal anfangen, irgend
etwas von dem Gemüse zu waschen und zu schneiden."
Félicie
verkneift sich ein Grinsen und breitet die Möhren vor sich aus.
"Du
lügst und ich weiß es!" freut sich Magali hinter ihr.
"Ich weiß ganz genau, dass du noch nie auf der..."
"Komm
her, Schwesterchen." unterbricht Félicie das Mädchen
rasch, um Erik weitere peinliche Erklärungen zu ersparen. "Die
Möhren putzen sich nicht von allein." Sie selbst setzt sich
mit einer Schüssel an den Küchentisch und beginnt summend,
Gemüse zu schneiden.
Dankbar
dafür, dass Félicie ihre Schwester von tieferschürfenden
Fragen abgehalten hat, macht sich Erik daran, die Körbe fertig
auszuräumen.
Das
Thema ihres Umzuges scheint für Félicie ebenfalls
erledigt zu sein, doch er ist nicht bereit, ihr ganz nachzugeben.
"Ich
werde das Haus unter der Oper als Arbeitsraum benutzen." sagt er
deshalb entschlossen. Vielleicht sollte er einfach zugeben, dass ihn
nicht allein die Sorge um seine Familie, sondern auch ein gewisses
Heimweh zurück unter die Oper treibt. Ganz gleich, wieviele
schmerzhafte Erinnerungen an diese Räume geknüpft sind.
Sie
nickt.
"Gut,
aber ich möchte trotzdem nicht, dass wir getrennte Wohnungen
haben." stimmt sie schließlich zu "Es ist auch dein
Kind und es braucht seinen Vater." Sie verzieht das Gesicht und
konzentriert sich auf das Gemüse. Sie haben so lange auf diese
Kind gewartet, sich so sehr darauf gefreut. Und nach allem, was
geschehen ist, wird sie nicht zulassen, dass Erik sich wieder von ihr
zurückzieht. Vor drei Jahren hat sie ihm das Leben gerettet,
doch danach war er es, der ihr so oft die Kraft gegeben hatte,
weiterzumachen - Als sie feststellen musste, dass das Leben hier
nicht so leicht werden würde, wie sie es sich vorgestellt
hatten, und auch als sie ihr erstes Kind nach nur fünf Monaten
Schwangerschaft verlor. Sie schüttelt den Kopf. Nein, nicht nur
er braucht sie.
-Fünf Monate später-
Eriks
Schritte hallen in dem geräumigen Flur wieder, als er zum ersten
mal durch die Tür des Hauses tritt, das Jules für ihn,
Félicie und Cathérine gekauft hat. Der anheimelnde
Geruch frischer Farbe und eben getrockneten Putzes strömt ihm
entgegen, und plötzlich empfindet er ein leichtes Hochgefühl.
"Was
sagst du, Félicie? Gefällt es dir?"
Sie
streicht mit den Händen über die Wand und atmet tief durch.
Unter ihren Fingern spürt sie eine dünne Tapete, die sich
anfühlt, als sei sie aus reiner Seide; daneben, auf Eriks Wunsch
hin aufgehängt, befinden sich einige seiner alten persischen
Wandteppiche. Der leicht beißende Geruch von frischer Farbe,
der den vertrauten Geruch der Teppiche überlagert, verheißt
neues… eine zweite Chance vielleicht?
"Ja,
es ist wirklich schön hier." Und vielleicht haben sie
hier endlich ein wirkliches Zuhause gefunden.
"Nun..."
er wendet sich Jules zu, der den Wagen mit Cathérine die
Treppen hinauf gezogen hat, und nimmt seine Tochter auf den Arm.
"Danke, Jules. Nun, sehen wir uns den Rest des Hauses..."
Langsam
tastet sich Féliciean der Wand hinter
Erik her, bleibt dann stehen und wendet sich Jules zu, dessen tiefes
Seufzen ich nicht überhören lässt.
"Wie
geht es dir, Jules?" fragt sie besorgt und streicht ihm über
die Schulter. Seit er ihr vor drei Monaten bei der Geburt von
Cathérine beigestanden hat, hat sich eine enge Freundschaft
zwischen ihnen entwickelt.
"Ach."
macht er abwehrend und räuspert sich.
"Das
mit deiner Frau tut mir wirklich sehr leid. Aber wenigstens hat das
Kind überlebt; ein Mädchen, nicht wahr?" vergewissert
sie sich. Sie hört, wie Erik eine Tür aufstößt
und folgt ihm langsam.
"Ja."
sagt Jules nachdenklich "Das siebte."
Félicie
runzelt die Stirn.
"Aber
du kommst zurecht?"
"Oh
natürlich." entgegnet er rasch "Dein Mann lässt
mich nicht mittellos. Und mein ältester Sohn ist ein sehr
gefragterArzt.
Die meisten meiner Kinder sind alt genug, um mich in der Erziehung zu
entlasten."
An
Eriks Seite angelangt, bleibt Félicie stehen.
"Wie
viele Kinder hast du jetzt?" fragt sie vorsichtig.
Es
scheint, als müsse Jules tatsächlich nachdenken, denn es
dauert einen Moment, bis er ihr antwortet: "Fünfzehn."
Insgeheim
schüttelt Erik den Kopf. Wie kann man nur so viele Kinder haben?
Er weiß schon, warum er sich nicht dazu überreden lässt,
häufiger als alle zwei bis drei Tage zu essen...
"Cathérine,
meine Hübsche..." zärtlich berührt er die winzige
Stupsnase seiner Tochter und lächelt, als sie ihr
Schmollmündchen öffnet und nach seinem Finger greift.
"Schau nur, das hier wird dein Zimmer. Du bekommst ein großes
Bett und einen Schrank voll mit Bilderbüchern und Puppen. Und
grüne Vorhänge. So grün wie deine Augen..."
Félicie
sucht nach seiner Hand. Sie weiß, welche Ängste Erik
hatte, bevor die Kleine endlich geboren wurde. Beinahe jede Nacht ist
er neben ihr aus Alpträumen hochgeschreckt, in denen sein Kind
ihm ähnlich sah.
"Und
jetzt..." Erik zieht Félicie hinter sich her durch den
Flur "Jetzt zeige ich deiner Maman das Elternschlafzimmer..."
-Drei Wochen später-
Das
Tor quietscht kaum hörbar als er es aufstößt. Die
Luft in der Höhlung dahinter wirkt eiskalt im Kontrast zur Wärme
des Frühlings draußen.
Zögernd
tritt er im Dunkeln um eine Ecke herum, ehe er seine Sturmlaterne
anzündet. Das Boot liegt umgedreht auf dem Kai, wohin Jules es -
pflichtbewusst wie er ist - nach Beendigung seiner Arbeit gezogen
hat. Erik muss ein dichtes Gewirr aus Spinnennetzen fortwischen, ehe
er es ins Wasser schieben und auf der Ruderbank Platz nehmen kann.
Eine
Weile bleibt er regungslos sitzen und horcht in die Katakomben
hinaus. Dann geht ein Ruck durch ihn und er nimmt die Ruder zur Hand.
Das
runde Holz fühlt sich vertraut in seinen Händen an, der
Widerstand des Wassers, das Geräusch, mit dem sich das Boot über
die schwarze Oberfläche des Sees bewegt. Leise lässt er die
Sirene aus der Dunkelheit schwimmen und ihn ein Stück des Wegs
begleiten. Er erinnert sich an die Nacht, als er Félicie über
den See brachte, um ihr die Oper zu zeigen, und an die Nacht, als er
Christine von seinem Gesang betäubt in sein Haus holte.
Von
der Bühne klingt plötzlich der Gesang irgendeiner
überlauten Primadonna - Vivette? Ist Vivette aufgestiegen? - zu
ihm herunter und stört die Sirene, die sich verärgert
abwendet und an den Grund des Sees zurückkehrt.
Das
Leben unter der Oper, das ihm so fern erschien, als er noch mit
Félicie und Magali in der Bretagne lebte, scheint auf einmal
nur noch ein paar Ruderschläge von ihm entfernt zu sein. Jene
selbstgenügsame Einsamkeit, bevor Christine ihn aus seiner
Apathie riss, diese Zeit vermisst er tatsächlich.
Ob
seine geheimen Gänge noch existieren? Sicher... schließlich
hat er sämtliche Zugänge versperrt. Er dürfte also
auch über keine Leichen stolpern, wenn er einen Spaziergang
durch sein altes Reich macht. Plötzlich muss er lächeln.
Das Phantom ist zurückgekehrt. Er spürt ein Kribbeln in
seinen Fingern.
Nein.
Nein! Er hat Félicie versprochen, sich nicht mehr in die
Angelegenheiten der Oper einzumischen. Das war die Bedingung dafür,
dass sie ihm erlaubt, seinen Arbeitsraum unter der Oper einzurichten.
Doch sie bräuchte es nie zu erfahren... Nein. Nein, er darf das
bisschen Glück, das seine Familie nun doch gefunden zu haben
scheint, nicht mit solch kindischen Dummheiten aufs Spiel setzen.
'Sind
kleine Streiche schon eine Einmischung in die Geschäfte der
Oper? Kleine Missgeschicke, wie sie jeden Tag passieren...
Unheimliche Schatten... Körperlose Stimmen... Nein, die Stimmen
wären wohl zuviel des Guten...'
Er
beißt sich gegen ein boshaftes Grinsen auf die Unterlippe und
legt das Boot an.
Seine
Hände zittern leicht vor Aufregung, als er den wohlgehüteten
Schlüssel zu seinem Haus aus der Tasche holt und ins Schloss
schiebt. Die Tür öffnet sich ohne Probleme. Erleichtert
atmet er aus, er hatte befürchtet, der Mechanismus könnte
verrostet sein.
Frische
trockene Luft, die anheimelnd nach Zuhause riecht, schlägt ihm
entgegen und bestätigt ihm, dass sein rein mechanisches
Lüftungs- und Heizsystem tatsächlich so ausgeklügelt
ist, wie er immer dachte. Mit einem sehr vertrauten leisen Klicken
fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.
"Ich
bin wieder da." murmelt er zufrieden und für einen kurzen
irrationalen Moment erwartet er, dass Ayesha aus dem Wohnzimmer
stolziert, um sich an seinen Beinen zu reiben. Vielleicht sollte er
die Katze wieder hier einquartieren; sie hasst Félicie immer
noch aus ganzem Herzen und sorgt für steten Unfrieden.
Langsam
durchquert er den spinnwebverhangenen Flur, um einen Blick in jedes
einzelne der leeren Zimmer zu werfen. Der Schock, den er erlebt, ist
gelinde. Ohne Möbel wirkt alles fremd, doch - so sagt er sich -
so gut wie sich seine Arbeiten verkaufen, könnte er es sich
durchaus leisten, den Zustand, der vor seiner Flucht in die Bretagne
herrschte, wiederherzustellen. Félicie bräuchte nichts
davon zu erfahren, es würde sie nur beunruhigen.
Er
lacht leise. Ja, er wird sein Haus wiederauferstehen lassen.
Doch
nun zu seinen Geheimgängen...
-Zwei Monate später-
Glücklich
atmet sie die Luft des ersten wirklich warmen Frühlingstages
ein. Sie liebt es, um diese Zeit im Parc des Buttes Chaumont
spazieren zu gehen, und in dem Kinderwagen gluckst Cathérine
zufrieden. Mit der einen Hand den Wagen schiebend, in der anderen mit
den Blindenstock nach dem Weg tastend, versucht sie, noch rechtzeitig
zu kommen. Magali schiebt den Wagen."Félicie!"
tönt irgendwo vor ihreine vertraute
Frauenstimme. Kurz darauf nähern sich Schritte und ein Arm hakt
sich bei ihr unter. "Da bist du ja endlich. Ich habe mir schon
Sorgen gemacht."
Félicie
winkt ab.
"Ich
habe es nicht früher geschafft. Ich musste noch Magali abholen."
erklärt sie entschuldigend.
"Ich
hoffe doch, sie versteht sich immer noch so gut mit der Amme? Komm,
ich habe dir einen Platz auf der Bank freigehalten."
Félicie
kann sich kaum gegen die Fürsorglichkeit ihrer neuen Freundin
wehren, undschon sitzt sie
neben ihr auf einer Parkbank.
"Natürlich.
Sie hat auch schonFreunde gefunden
hier, vielschneller als wir
dachten." erzählt sie abwesend.
"Hm,
ich kenne das. Als wir vorletztes Jahr wieder nach Paris gekommen
sind, haben wir auch nicht erwartet, dass unsere Älteste,Eugenie, schnell
Anschluss finden wird."
Félicie
seufzt und schaukelt den Kinderwagen, als Cathérine leise zu
weinen beginnt.
"Wie
geht es Ihren Kindern... und Ihrem Mann?" erkundigt sie sich
höflich.
"Mathilde,
lauf nicht so weit fort! Oh danke, sehr gut. Mein Mann hat sich
endlich damit abgefunden, dass ich wieder arbeite. Und Ihrer? Wird es
bald wieder eine Ausstellung geben? Ich würde ihn ja so gerne
einmal treffen, diesen mysteriösen Gwenael." Sie lacht
übermütig "Es ist eine Schande, dass wir so ein Talent
nicht persönlich kennenlernen dürfen, sagt mein Mann
immer."
"Was
sagt dein Mann?" ertönt eine seltsam vertraute Stimme
hinter ihnen.
Félicie
zuckt zusammen und spürt, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht
weicht.
"Oh,
Raoul, du bist schon hier? Darf ich dir meine neue Freundin Félicie
vorstellen? Sie ist vor kurzem mit ihrem Mann und ihrer Tochter nach
Paris gezogen."
Raoul!
Félicie
hört, wie sich seine Schritte nähern, er vor ihr stehen
bleibt und ihre Hand ergreift.
"Madame"
sagt er galant, während sie gegen einen Brechreiz ankämpfen
muss. Er benutzt noch immerdas gleiche Parfum
wie in jener Nacht, und die Hand, die ihre nun höflich an die
Lippen führt, hat Erik beinahe getötet. "Es ist mir
eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihrem Gatten
gehört. Ein großartiger Künstler."
Starr
vor Schreck bleibt Félicie sitzen und kann sich gerade noch
ein förmliches Lächeln abringen.
"Christine,
ma chère, ich hoffe, du hast nicht vergessen, dass du heute
Abend arbeitest?" wendet er sich nun an seine Frau und lässt
Félicies Hand los.
Raoul
und Christine... warum nur hat sie ihr Misstrauen damals mit einem
'ach, unmöglich' beiseite gewischt?
Sie
beißt sich auf die Lippen, damit ihr nichts unbedachtes
entfährt.
Es
gibt Menschen, die möchte sie gar nicht kennenlernen
"Oh,
ist es denn wirklich schon Zeit?" Wie durch einen dichten Nebel
dringt Christines klare Stimme zu ihr. Christine, die zu hassensie vor langer Zeit
einmal beschlossen, deren Statue sie zerstört hat.
"Félicie?
Félicie ist alles in Ordnung? Du bist so blass!"
Kalte
Hände legen sich an ihre Wange. Erschrocken zuckt Félicie
zurück und springt auf.
"Tatsächlich...
ich habe auch vollkommen die Zeit vergessen. Ich habe E... meinem
Mann versprochen, heute Abend etwas Besonderes zu kochen..."
stammelt sie vollkommen durcheinander.
Sie
hört, wie Raoul die Luft einziehtund Christine
seufzt.
"Nun,
dann sehen wir uns morgen wiedernicht wahr?"
Félicie
lächelt gezwungen
"Bestimmt."
'Es
wird sich wohl nicht vermeiden lassen'
"Magali!"
Sie
will gerade gehen, als sich eine Hand schwerauf ihren Arm legt.
"Madame?
Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?"
'Darauf
kannst du den Revolver verwetten, mit dem du meinen Mann töten
wolltest, du Hurensohn!'
Sie
schüttelt hastig den Kopf und befreit sich aus seinem Griff.
"Nein,
unmöglich, wir sind erst vor
kurzem nach Paris gezogen." Sie wendet sich ab, als Magali mit
dem Kinderwagen, neben ihr zum Stehen kommt.
"Was
für ein bildschönes Mädchen!" ertönt Raouls
Stimme hinter ihr. Offensichtlich betrachtet er Cathérine
"Kommt die Kleine mehr nach Ihnen oder nach Ihrem Mann?"
Magali
prustet laut los, bis sie Félicie ihr mit der Faust droht.
"Ich
finde, sie sieht mehraus wie Félicie."
murmelt sie dann betreten und auf ein
Zeichen ihrer Schwester schiebt sie den Kinderwagen an.
"Es
tut mir leid, aber ich kann meinen Mann unmöglich warten
lassen," heuchelt Félicie ihre Entschuldigung, bevor sie
sich mit schnellen Schritten ihrer kleinen Schwester anschließt.
Mit
über einer Stunde Verspätung tritt Erik durch das Tor in
der Rue Scribe. Er hat Nadirs Grab besucht und sich dann noch länger
als geplant mit Jules' ältestem Sohn, Jacques, unterhalten.
Als
er um die Ecke biegt, klingt plötzlich leiser Gesang von der
Bühne zu ihm hinunter. Er bleibt abrupt stehen, lehnt sich gegen
die Wand und schließt die Augen. Faust. Margarete. Und es ist
weder La Vivette noch ihre Zweitbesetzung, die da singt.
Erik
atmet ein und wieder aus. Er hatte gedacht, er würde ihre Stimme
nie wieder hören... Instinktiv und ohne sich von der Wand
wegzubewegen, stimmt er in Christines Gesang ein. Durch seinen Geist
zieht träge die Frage, was er in diesem Moment empfindet, doch
er sucht vergeblich nach einer Antwort.
Mit
schlafwandlerisch langsamen Bewegungen tastet er nach seiner Maske
und seinem Punjab. Welche Garderobe sie wohl benutzt?... Doch dann
schüttelt er den Kopf und reißt sich los.
Félicie
wird in diesem Moment in Loge Fünf tausend Tode sterben, weil er
noch nicht bei ihr ist, und Christine auf der Bühne steht.
Sie
presst die Lippen fest aufeinander, um nicht die Beherrschung zu
verlieren. Die Margarete auf der Bühne ist niemand anderes als
Christine. Ihre neue Freundin, die Frau, die Erik verlassen hat.
Und
von dem ist weit und breit nichts zu hören. Sie waren vor Beginn
der Vorstellung verabredet und er ist nicht gekommen. Eine lähmende
Übelkeit breitet sich in ihr aus.
Wenn
er nun Christines Garderobe aufgesucht hat... wenn nun alles wieder
von neuem beginnt... Wenn er wieder in seine Depressionen verfällt,
sie wieder ignoriert...
In
diesem Moment öffnet sich die Tür in der Säule und
Erik betritt die Loge.
"Bon
soir, Félicie." flüstert er und nimmt seine Maske
ab, um seiner Frau einen übermütigen Kuss auf die Lippen zu
geben "Entschuldige, dass ich zu spät bin, aber ich habe
mit Jacques geredet und völlig die Zeit vergessen."
"Das
ist Christine." sagt sie nur und zeigt in Richtung der Bühne
"Man hat sie eingesetzt, obwohl sie erst zur nächsten
Spielzeit fest als Primadonna angestellt ist." Sie unterdrückt
ein wütendes Grollen. "Erst- und Zweitbesetzung sind
krank... Erik hast du etwas damit zu tun? Du hast mir versprochen..."
Er
lässt sich in den Sessel fallen und nimmt Félicies Hand
in seine.
"Dass
Christine wieder an der Oper ist, habe ich auch eben erst erfahren.
Ich habe nichts damit zu tun, dass sie heute Abend auf der Bühne
steht." Als Christines glasklare weiche Stimme zu einer Kadenz
ansetzt, schließt er unwillkürlich die Augen und atmet
tief ein. "Hör nur... sie hat nichts von dem vergessen, was
ich ihr beigebracht habe..."
Ängstlich
schüttelt Félicie den Kopf. Das darf alles nicht wahr
sein.
"Ich
habe sie und ihren Mann heute im Park getroffen. Du erinnerst dich...
die Freundin von der ich dir erzählt habe." Sie nimmt ihren
Fächer zur Hand und beginnt, ungeduldig damit herumzuwedeln.
"Warst du schon in ihrer Garderobe?"
"Was
sollte ich in ihrer Garderobe wollen?" murmelt er verträumt.
"Sie
besuchen." brummt sie. "Um der alten Zeiten willen."
Erik
lächelt.
"Die
alten Zeiten... Nein... ihre Stimme ist mein, mehr will ich nicht..."
Unsicher
wendet sie ihm den Kopf zu.
"Sie
bedeutet dir nichts mehr?" fragt sie sehr leise und fürchtet
sich vor seiner Antwort.
"Oh..."
er öffnet die Augen wieder und schaut seine Frau, die Mutter
seiner Tochter, einen Moment lang nachdenklich an. "Ich habe sie
verzweifelt und über jede Schmerzgrenze hinaus geliebt,
Félicie." antwortet er dann ruhig "Sie wird niemals
bedeutungslos für mich sein. Aber du, du bist die Frau, die hier
an meiner Seite sitzt, die Frau, neben der ich morgens aufwache, und
ich liebe dich nicht verzweifelt sondern glücklich. Christine...
sie ist nur eine Stimme und Erinnerung..."
- fin-
