Besorgt läuft Erik im Flur des kleinen Bauernhauses auf und ab. Immer wieder wandert sein Blick zu der kleinen Standuhr im Winkel neben der Küchentür. Sie ist nun schon über eine Stunde weg, viel zu lang für seinen Geschmack.Er seufzt und schaut noch einmal zwischen den Vorhängen hindurch auf den schmalen Weg, der von der Straße zum Haus führt. Vielleicht sollte er hinausgehen und sie suchen? Nein... Er verzieht das Gesicht, als er sich daran erinnert, was das letzte Mal passiert ist, als er bei Tage außerhalb des Hauses gesehen wurde.
Gerade will er sich abwenden, um noch einmal auf die Uhr zu sehen, als Félicie endlich mit zwei großen Körben beladen durch das Gartentor tritt.
Er reißt die Tür auf und geht ihr hastig entgegen, um ihr ihre Last abzunehmen.
"Du sollst doch nicht so schwer tragen!" schimpft er sie leise aus "In deinem Zustand!"
Sie lässt sich von ihm die Körbe entreißen und zuckt mit den Schultern.
"Aber du weißt, dass ich nicht zweimal hintereinanderauf den Markt gehen werde." seufzt sie und folgt ihm langsam ins Haus. "Mehr als einmal am Taghalte ich diese Blicke und das Geschwätz hinter meinem Rücken nicht aus."
Es hätte so schön sein können. Ein kleines Häuschen in der Bretagne, mit Garten, nah am Meer, ganz so, wie Erik es sich gewünscht hat. Sie hätte sich niemals vorzustellen gewagt, dass die Menschen sie hier so offen anfeinden würden, schon gar nicht, nachdem sie von den Frauen der Gemeinde anfangs so freundlich und hilfsbereit aufgenommen worden war. Doch im letzten Jahr sind aus der Missbilligung der Dorfbewohner handfeste Übergriffe geworden, und erst letzte Woche haben wieder einige Halbstarke ihren kleinen Garten verwüstet. Besonders schwer trifft es Magali, die selbst heute noch keine Freunde gefunden hat, weil die Eltern ihren Kindern verbieten, auch nur in die Nähe des 'Kuriositätenkabinetts' zu gehen.
Sie hört, wie Erik die Körbe auf den Küchentisch stellt und macht sich daran, die Lebensmittel in die Schränke zu räumen.
"Wo... wo ist Magali?" fragt sie schließlich.
"Sie sitzt in ihrem Zimmer und schmollt. Glaube ich." Er verkrampft sich. "Ich sehe schnell nach..."
Sie lässt sich umständlich auf den Stuhl sinken und schüttelt den Kopf.
"Ich hoffe nur, dass sie nicht schon wieder weggelaufen ist. Du weißt, was das letzte Mal geschehen ist."
Ja, er weiß es. Er weiß es sehr genau. Zwei Tage lang haben er und Félicie die Umgebung um das Haus abgesucht, ehe sie Magali im Haus einer alten Dame am anderen Ende des Dorfes fanden. Sie hatte das Mädchen aufgenommen, um sie vor dem zu schützen, was die Dorfbewohner im Hause der Familie Tarissou an Grauen vermuteten. Es war ein Kampf, das Mädchen zurückzubekommen; nicht nur, weil die Dame Magali nicht gehen lassen wollte, sondern auch, weil Magali ihr nur zu gern glaubte, dass er, Erik, irgend ein böses Wesen ist, das Schuld an allem trägt, was ihr an ihrem Leben nicht gefällt.
Auch heute, über einen Monat später, hat er nicht das Gefühl, Magalis Vertrauen wiedergewonnen zu haben.
Seufzend klopft er an die Tür des winzigen Zimmers seiner Schwägerin.
"Geh weg!" schallt es ihm von innen entgegen "Ihr seid so gemein! Nie darf ich machen, was ich will!"
Erleichtert schließt Erik für einen Moment die Augen; sie ist also noch da.
"Möchtest du Félicie nicht beim Kochen helfen?"
"Nie darf ich draußen mit den anderen Kindern spielen!"
Stirnrunzelnd kämpft sich Félicie von ihrem Stuhl und folgt Erik. Es klingt nicht so, als würde Magali sich dieses Mal so leicht besänftigen lassen.
"Magali." sagt sie streng und stützt sich am Türrahmen ab "Bitte komm zu uns in die Küche!"
"Ich mag nicht. Ich will mit den anderen spielen und zur Schule gehen. Eriks Unterricht ist so langweilig und immer muss ich Noten lernen. Und außerdemkann ichschon viel schöner schreiben als er." Sie tritt von innen gegen die Tür.
"Magali, es reicht! Du weißt, es ist unmöglich, dass du mit den anderen Kindern unterrichtet wirst." entgegnet Félicie verärgert und presst eine Hand gegen den Bauch, während die andere nun nach Eriks sucht.
Besorgt mustert Erik Félicies Gesicht.
"Ist alles in Ordnung?"
"Dein Kind hat mich getreten." schmunzelt sie.
Erik lächelt breit und gibt ihr einen raschen Kuss auf die Stirn.
"Komm, wir lassen Magali in Ruhe. Sie beruhigt sich schon wieder. Und wenn wir beide in der Küche sind, wird sie sich schon nicht hinausschleichen."
Sie wartet noch einen kurzen Augenblick vor der Tür ihrer Schwester, dann folgt sie ihm zurück in die Küche.
"Erik, wie soll das weitergehen?" fragt sie ängstlich. "Was soll werden, wenn das Kind erst da ist, und ich nicht gleich wieder auf den Markt gehen kann? Bisher haben die Menschen nur dumm geredet und ab und an unser Gemüse geplündert, aber was ist, wenn sich das auch ändert?" besorgt wendet sie ihm das Gesicht zu.
Er senkt den Kopf und ballt seine Hände zu Fäusten.
"Wir werden wohl wiedervon hier fort gehen müssen."
'Und du weiß, Monster, dass es nur deine Schuld ist.'
"Du denkst anParis, nicht wahr?" fragt Félicie bedrückt "Weil wir dort nicht zu sehr auffallen."
Dabei hat sie dieses Haus so sehr gemocht. Ganz nah am Meer. Aber hier werden sie wohlniemals akzeptiert werden.
Nachdenklich nickt sie.
"Vielleicht hast du Recht. In Paris, könnten wir wieder auf Jules' Hilfe vertrauen, und außerdem hätten wir die Möglichkeit von Zeit zu Zeit die Oper besuchen." Sie legt den Kopf schief und tastet nach seiner Hand. "Das fehlt dir doch, nicht wahr?"
Erik nickt langsam.
"Ja, die Oper..." Die Musik, die Schönheit dieses Gebäudes... und die Sicherheit seiner unterirdischen Wohnung.
In seiner Vorstellung war das Haus an der Küste immer ein friedlicher Ort, still und einsam, nur er und seine Familie. Aber auch in diesen Traum sind andere Menschen eingedrungen, Menschen, von denen er abhängig ist, um überleben zu können, Menschen, die das ausnutzen wollen, die ihn hassen, und weil sie ihn hassen, auch die verletzen wollen, die zu ihm gehören.
In ohnmächtiger Wut geht er zur Wand und schlägt mit der Faust dagegen, dass seine Knöchel blutige Abdrücke auf der weißen Farbe hinterlassen.
"Ich bringe euch nichts als Unglück." flüstert er heiser.
Hastig schüttelt Félicie den Kopf, fasst ihn an beiden Schultern und zieht ihn zu sich zurück.
"Das ist Unsinn. Du weißt, ich würde alles auf mich nehmen, damit wir zusammenbleiben können. Und wenn das bedeutet, dass wir wieder zurückgehen müssen... dann gehen wir." Sie lächelt ihn aufmunternd an und streicht über die dünne Haut seines Gesichtes. "Irgendwie werden wir zurechtkommen." versichert sie sich selbst.
"Ich will aber nicht, dass du irgendwie zurechtkommst! Du hast etwas besseres verdient als dieses ständige Versteckspiel." er umarmt sie und küsst ihren Scheitel. "Dir geht es wie Magali, du hast keine Freunde. Und in Paris wird sich nichts daran ändern. Ich werde mich immer noch verstecken müssen, und du wirst darunter leiden. Und unser Kind..." Er lässt sie wieder los und lehnt sich gegen die Wand. "Ihr sitzt mit mir in einem Käfig. Ich... ich sperre euch ein..."
"Wir werden versuchen, für Magali wieder eine Amme zu organisieren. Und ich kann tagsüber mit unserem Kind im Park spazieren gehen, dort treffe ichbestimmt andere Mütter. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass alle Menschen so voll von Vorurteilen sind wie diese Dörfler." Nachdenklich geht sie an den Tisch und setzt sich. "Die Frage ist nur, wie wir zu Geld kommen."
"Ich könnte wieder Häuser entwerfen." schlägt Erik zögernd vor.
"Oder Musik schreiben... Erik, du kannst so vieles. Vielleicht könnten wir sogar wiederein eigenes Haus haben, mit Fenstern. Und wenn Jules uns hilft, haben wir sicher keine Probleme wie hier."
"Wenn ich arbeiten soll, brauche ich Platz, ein Atelier... Ich... ich miete ein Haus für dich, das Kind und Magali und gehe zurück unter die Oper... Was damals passiert ist, haben längst alle vergessen, und so ist es auch besser für euch, ihr könnt mich ja besuchen, so oft ihr wollt!" ergänzt er hastig, bevor Félicie ihn unterbrechen kann.
"Vergiss das am besten sofort wieder! Ich will nicht, dass du allein unter die Oper ziehst." erklärt sie entschieden. "Ich habe dich nicht geheiratet, damit wir nun getrennte Wohnungen haben. Wenn du zurück unter die Oper gehen willst, werde ich mitkommen."
In diesem Moment betritt Ayesha mit einem herrischen Maunzen die Küche. In mehreren Kämpfen mit anderen Katzen und einigen Dorfkindern hat sie ein Stück ihres Ohres verloren, und ihr ehemals gerader Schwanz ist seit einem Bruch an der Spitze abgeknickt, doch sie trägt noch immer ihr kostbares persisches Halsband und drängt sich unwillig an Félicie vorbei, um nach Eriks Aufmerksamkeit zu verlangen.
"Und wenn das Kind auf der Welt ist? Ein Keller ist kein Ort für einen Säugling und eine junge Mutter. Nein." er nimmt Ayesha auf den Arm und streichelt ihr seidiges Fell "Sobald das Kind da ist, musst du in ein ordentliches Haus mit Tageslicht. Du... du bekommst eine Zofe, eine Gesellschafterin, irgend etwas..." er beginnt, in der Küche auf und ab zu laufen. "Ich werde abends zu Besuch zu dir kommen, wenn du willst, dann kann ich auch das Kind sehen..."
"Erik!" fährt sie wütend auf. "Ich will nicht, dass du so etwas sagst. Ich werde bei gutem Wetter mit dem Kind im Park sein und dann zu dir zurückkommen. Wir werden es gemeinsam großziehen, hörst du?"
"Und wenn das Kind eines Tages zur Schule geht, was erzählt es dann seinen Freunden? Ich bin im Keller unter der Oper aufgewachsen?" Er setzt sich auf die kleine Küchenbank und klammert sich an Ayesha fest. "Ich will, dass mein Kind in einer normalen Umgebung aufwächst. Und ich... kann nicht dauerhafter Bestandteil von etwas Normalem sein..."
Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.
"Verdammt, Erik! Ich liebe dich. Und jeder, der dich liebt, wird dich als vollkommen normalen Menschen akzeptieren können und auchfür dein Kind wird dein Gesicht nichts ungewöhnliches sein. Wenn wir genügend Geld zusammen haben, werden wir gemeinsam in ein Häuschen am Rand von Paris ziehen. Hörst du? Zusammen!" Sie verzieht zornig das Gesicht. "Ich lasse dich nicht noch einmal allein."
Hilflos lässt er von Ayesha ab und schüttelt den Kopf.
Wieso weigert sich Félicie, zu verstehen?
Schließlich steht er auf und nimmt sie in den Arm.
"Du gibst mit so viel, Félicie, mehr, als ich je von dir verlangen könnte. Ich..."
"Ich will ein Haus mit Fenstern und ohne Erik." unterbricht ihn eine kleine Stimme von der Küchentür und Magali stampft betont missmutig über die Dielen zu den Einkaufskörben, schnappt sich einen Apfel und will wieder verschwinden.
Mit wenigen Schritten ist Félicie an der Tür und hält ihre Schwester auf.
"So nicht, junge Dame! Du wirst in ein Haus mit Fenstern kommen und auch in eines ohne Erik, wenn du unbedingt möchtest. Ich bin mir sicher, die Amme freut sich, dich wiederzusehen." Sie findet Magalis Hand und entreißt ihr den Apfel. "AberEssen gibt es in einer halben Stunde." Sie dreht sie Erik zu und lächelt ihn verschwörerisch an. "Und auch du wirst heute etwas essen!"
Er seufzt.
"Heute Mittag? Bist du sicher?" versucht er dann, sich herauszuwinden.
Félicie zieht eine Augenbraue hoch und geht betont langsam zum Herd.
"Das kommt ganz darauf an, wie du dir den heutigen Abend vorstellst." murmelt sie beiläufig und sucht nach einem Topf.
"Das ist Erpressung." knurrt er und geht zu ihr, um sie von hinten zu umarmen und einen Kuss auf ihren Nacken zu setzen. "Kriminelle Methoden."
Sie grinst zufrieden.
"Dann sind wir uns ja einig."
Sie dreht sich langsam zu ihm, um ihn zu küssen.
"Ihr seid so eklig." stöhnt Magali langgezogen "Undwomit erpresst sie dich, Erik?" fragt sie dann neugierig.
"Sie... zwingt mich, auf der kleinen Küchenbank zu schlafen." antwortet er ausweichend und bemüht sich, nicht knallrot anzulaufen. "Und wenn du dich entschieden hast, nicht in dein Zimmer zurückzugehen, kannst du ja schon einmal anfangen, irgend etwas von dem Gemüse zu waschen und zu schneiden."
Félicie verkneift sich ein Grinsen und breitet die Möhren vor sich aus.
"Du lügst und ich weiß es!" freut sich Magali hinter ihr. "Ich weiß ganz genau, dass du noch nie auf der..."
"Komm her, Schwesterchen." unterbricht Félicie das Mädchen rasch, um Erik weitere peinliche Erklärungen zu ersparen. "Die Möhren putzen sich nicht von allein." Sie selbst setzt sich mit einer Schüssel an den Küchentisch und beginnt summend, Gemüse zu schneiden.
Dankbar dafür, dass Félicie ihre Schwester von tieferschürfenden Fragen abgehalten hat, macht sich Erik daran, die Körbe fertig auszuräumen.
Das Thema ihres Umzuges scheint für Félicie ebenfalls erledigt zu sein, doch er ist nicht bereit, ihr ganz nachzugeben.
"Ich werde das Haus unter der Oper als Arbeitsraum benutzen." sagt er deshalb entschlossen. Vielleicht sollte er einfach zugeben, dass ihn nicht allein die Sorge um seine Familie, sondern auch ein gewisses Heimweh zurück unter die Oper treibt. Ganz gleich, wieviele schmerzhafte Erinnerungen an diese Räume geknüpft sind.
Sie nickt.
"Gut, aber ich möchte trotzdem nicht, dass wir getrennte Wohnungen haben." stimmt sie schließlich zu "Es ist auch dein Kind und es braucht seinen Vater." Sie verzieht das Gesicht und konzentriert sich auf das Gemüse. Sie haben so lange auf diese Kind gewartet, sich so sehr darauf gefreut. Und nach allem, was geschehen ist, wird sie nicht zulassen, dass Erik sich wieder von ihr zurückzieht. Vor drei Jahren hat sie ihm das Leben gerettet, doch danach war er es, der ihr so oft die Kraft gegeben hatte, weiterzumachen - Als sie feststellen musste, dass das Leben hier nicht so leicht werden würde, wie sie es sich vorgestellt hatten, und auch als sie ihr erstes Kind nach nur fünf Monaten Schwangerschaft verlor. Sie schüttelt den Kopf. Nein, nicht nur er braucht sie.

-Fünf Monate später-

Eriks Schritte hallen in dem geräumigen Flur wieder, als er zum ersten mal durch die Tür des Hauses tritt, das Jules für ihn, Félicie und Cathérine gekauft hat. Der anheimelnde Geruch frischer Farbe und eben getrockneten Putzes strömt ihm entgegen, und plötzlich empfindet er ein leichtes Hochgefühl.
"Was sagst du, Félicie? Gefällt es dir?"
Sie streicht mit den Händen über die Wand und atmet tief durch. Unter ihren Fingern spürt sie eine dünne Tapete, die sich anfühlt, als sei sie aus reiner Seide; daneben, auf Eriks Wunsch hin aufgehängt, befinden sich einige seiner alten persischen Wandteppiche. Der leicht beißende Geruch von frischer Farbe, der den vertrauten Geruch der Teppiche überlagert, verheißt neues… eine zweite Chance vielleicht?
"Ja, es ist wirklich schön hier." Und vielleicht haben sie hier endlich ein wirkliches Zuhause gefunden.
"Nun..." er wendet sich Jules zu, der den Wagen mit Cathérine die Treppen hinauf gezogen hat, und nimmt seine Tochter auf den Arm. "Danke, Jules. Nun, sehen wir uns den Rest des Hauses..."
Langsam tastet sich Féliciean der Wand hinter Erik her, bleibt dann stehen und wendet sich Jules zu, dessen tiefes Seufzen ich nicht überhören lässt.
"Wie geht es dir, Jules?" fragt sie besorgt und streicht ihm über die Schulter. Seit er ihr vor drei Monaten bei der Geburt von Cathérine beigestanden hat, hat sich eine enge Freundschaft zwischen ihnen entwickelt.
"Ach." macht er abwehrend und räuspert sich.
"Das mit deiner Frau tut mir wirklich sehr leid. Aber wenigstens hat das Kind überlebt; ein Mädchen, nicht wahr?" vergewissert sie sich. Sie hört, wie Erik eine Tür aufstößt und folgt ihm langsam.
"Ja." sagt Jules nachdenklich "Das siebte."
Félicie runzelt die Stirn.
"Aber du kommst zurecht?"
"Oh natürlich." entgegnet er rasch "Dein Mann lässt mich nicht mittellos. Und mein ältester Sohn ist ein sehr gefragterArzt. Die meisten meiner Kinder sind alt genug, um mich in der Erziehung zu entlasten."
An Eriks Seite angelangt, bleibt Félicie stehen.
"Wie viele Kinder hast du jetzt?" fragt sie vorsichtig.
Es scheint, als müsse Jules tatsächlich nachdenken, denn es dauert einen Moment, bis er ihr antwortet: "Fünfzehn."
Insgeheim schüttelt Erik den Kopf. Wie kann man nur so viele Kinder haben? Er weiß schon, warum er sich nicht dazu überreden lässt, häufiger als alle zwei bis drei Tage zu essen...
"Cathérine, meine Hübsche..." zärtlich berührt er die winzige Stupsnase seiner Tochter und lächelt, als sie ihr Schmollmündchen öffnet und nach seinem Finger greift. "Schau nur, das hier wird dein Zimmer. Du bekommst ein großes Bett und einen Schrank voll mit Bilderbüchern und Puppen. Und grüne Vorhänge. So grün wie deine Augen..."
Félicie sucht nach seiner Hand. Sie weiß, welche Ängste Erik hatte, bevor die Kleine endlich geboren wurde. Beinahe jede Nacht ist er neben ihr aus Alpträumen hochgeschreckt, in denen sein Kind ihm ähnlich sah.
"Und jetzt..." Erik zieht Félicie hinter sich her durch den Flur "Jetzt zeige ich deiner Maman das Elternschlafzimmer..."

-Drei Wochen später-

Das Tor quietscht kaum hörbar als er es aufstößt. Die Luft in der Höhlung dahinter wirkt eiskalt im Kontrast zur Wärme des Frühlings draußen.
Zögernd tritt er im Dunkeln um eine Ecke herum, ehe er seine Sturmlaterne anzündet. Das Boot liegt umgedreht auf dem Kai, wohin Jules es - pflichtbewusst wie er ist - nach Beendigung seiner Arbeit gezogen hat. Erik muss ein dichtes Gewirr aus Spinnennetzen fortwischen, ehe er es ins Wasser schieben und auf der Ruderbank Platz nehmen kann.
Eine Weile bleibt er regungslos sitzen und horcht in die Katakomben hinaus. Dann geht ein Ruck durch ihn und er nimmt die Ruder zur Hand.
Das runde Holz fühlt sich vertraut in seinen Händen an, der Widerstand des Wassers, das Geräusch, mit dem sich das Boot über die schwarze Oberfläche des Sees bewegt. Leise lässt er die Sirene aus der Dunkelheit schwimmen und ihn ein Stück des Wegs begleiten. Er erinnert sich an die Nacht, als er Félicie über den See brachte, um ihr die Oper zu zeigen, und an die Nacht, als er Christine von seinem Gesang betäubt in sein Haus holte.
Von der Bühne klingt plötzlich der Gesang irgendeiner überlauten Primadonna - Vivette? Ist Vivette aufgestiegen? - zu ihm herunter und stört die Sirene, die sich verärgert abwendet und an den Grund des Sees zurückkehrt.
Das Leben unter der Oper, das ihm so fern erschien, als er noch mit Félicie und Magali in der Bretagne lebte, scheint auf einmal nur noch ein paar Ruderschläge von ihm entfernt zu sein. Jene selbstgenügsame Einsamkeit, bevor Christine ihn aus seiner Apathie riss, diese Zeit vermisst er tatsächlich.
Ob seine geheimen Gänge noch existieren? Sicher... schließlich hat er sämtliche Zugänge versperrt. Er dürfte also auch über keine Leichen stolpern, wenn er einen Spaziergang durch sein altes Reich macht. Plötzlich muss er lächeln. Das Phantom ist zurückgekehrt. Er spürt ein Kribbeln in seinen Fingern.
Nein. Nein! Er hat Félicie versprochen, sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Oper einzumischen. Das war die Bedingung dafür, dass sie ihm erlaubt, seinen Arbeitsraum unter der Oper einzurichten. Doch sie bräuchte es nie zu erfahren... Nein. Nein, er darf das bisschen Glück, das seine Familie nun doch gefunden zu haben scheint, nicht mit solch kindischen Dummheiten aufs Spiel setzen.
'Sind kleine Streiche schon eine Einmischung in die Geschäfte der Oper? Kleine Missgeschicke, wie sie jeden Tag passieren... Unheimliche Schatten... Körperlose Stimmen... Nein, die Stimmen wären wohl zuviel des Guten...'
Er beißt sich gegen ein boshaftes Grinsen auf die Unterlippe und legt das Boot an.
Seine Hände zittern leicht vor Aufregung, als er den wohlgehüteten Schlüssel zu seinem Haus aus der Tasche holt und ins Schloss schiebt. Die Tür öffnet sich ohne Probleme. Erleichtert atmet er aus, er hatte befürchtet, der Mechanismus könnte verrostet sein.
Frische trockene Luft, die anheimelnd nach Zuhause riecht, schlägt ihm entgegen und bestätigt ihm, dass sein rein mechanisches Lüftungs- und Heizsystem tatsächlich so ausgeklügelt ist, wie er immer dachte. Mit einem sehr vertrauten leisen Klicken fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.
"Ich bin wieder da." murmelt er zufrieden und für einen kurzen irrationalen Moment erwartet er, dass Ayesha aus dem Wohnzimmer stolziert, um sich an seinen Beinen zu reiben. Vielleicht sollte er die Katze wieder hier einquartieren; sie hasst Félicie immer noch aus ganzem Herzen und sorgt für steten Unfrieden.
Langsam durchquert er den spinnwebverhangenen Flur, um einen Blick in jedes einzelne der leeren Zimmer zu werfen. Der Schock, den er erlebt, ist gelinde. Ohne Möbel wirkt alles fremd, doch - so sagt er sich - so gut wie sich seine Arbeiten verkaufen, könnte er es sich durchaus leisten, den Zustand, der vor seiner Flucht in die Bretagne herrschte, wiederherzustellen. Félicie bräuchte nichts davon zu erfahren, es würde sie nur beunruhigen.
Er lacht leise. Ja, er wird sein Haus wiederauferstehen lassen.
Doch nun zu seinen Geheimgängen...

-Zwei Monate später-

Glücklich atmet sie die Luft des ersten wirklich warmen Frühlingstages ein. Sie liebt es, um diese Zeit im Parc des Buttes Chaumont spazieren zu gehen, und in dem Kinderwagen gluckst Cathérine zufrieden. Mit der einen Hand den Wagen schiebend, in der anderen mit den Blindenstock nach dem Weg tastend, versucht sie, noch rechtzeitig zu kommen. Magali schiebt den Wagen."Félicie!" tönt irgendwo vor ihreine vertraute Frauenstimme. Kurz darauf nähern sich Schritte und ein Arm hakt sich bei ihr unter. "Da bist du ja endlich. Ich habe mir schon Sorgen gemacht."
Félicie winkt ab.
"Ich habe es nicht früher geschafft. Ich musste noch Magali abholen." erklärt sie entschuldigend.
"Ich hoffe doch, sie versteht sich immer noch so gut mit der Amme? Komm, ich habe dir einen Platz auf der Bank freigehalten."
Félicie kann sich kaum gegen die Fürsorglichkeit ihrer neuen Freundin wehren, undschon sitzt sie neben ihr auf einer Parkbank.
"Natürlich. Sie hat auch schonFreunde gefunden hier, vielschneller als wir dachten." erzählt sie abwesend.
"Hm, ich kenne das. Als wir vorletztes Jahr wieder nach Paris gekommen sind, haben wir auch nicht erwartet, dass unsere Älteste,Eugenie, schnell Anschluss finden wird."
Félicie seufzt und schaukelt den Kinderwagen, als Cathérine leise zu weinen beginnt.
"Wie geht es Ihren Kindern... und Ihrem Mann?" erkundigt sie sich höflich.
"Mathilde, lauf nicht so weit fort! Oh danke, sehr gut. Mein Mann hat sich endlich damit abgefunden, dass ich wieder arbeite. Und Ihrer? Wird es bald wieder eine Ausstellung geben? Ich würde ihn ja so gerne einmal treffen, diesen mysteriösen Gwenael." Sie lacht übermütig "Es ist eine Schande, dass wir so ein Talent nicht persönlich kennenlernen dürfen, sagt mein Mann immer."
"Was sagt dein Mann?" ertönt eine seltsam vertraute Stimme hinter ihnen.
Félicie zuckt zusammen und spürt, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht weicht.
"Oh, Raoul, du bist schon hier? Darf ich dir meine neue Freundin Félicie vorstellen? Sie ist vor kurzem mit ihrem Mann und ihrer Tochter nach Paris gezogen."
Raoul!
Félicie hört, wie sich seine Schritte nähern, er vor ihr stehen bleibt und ihre Hand ergreift.
"Madame" sagt er galant, während sie gegen einen Brechreiz ankämpfen muss. Er benutzt noch immerdas gleiche Parfum wie in jener Nacht, und die Hand, die ihre nun höflich an die Lippen führt, hat Erik beinahe getötet. "Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihrem Gatten gehört. Ein großartiger Künstler."
Starr vor Schreck bleibt Félicie sitzen und kann sich gerade noch ein förmliches Lächeln abringen.
"Christine, ma chère, ich hoffe, du hast nicht vergessen, dass du heute Abend arbeitest?" wendet er sich nun an seine Frau und lässt Félicies Hand los.
Raoul und Christine... warum nur hat sie ihr Misstrauen damals mit einem 'ach, unmöglich' beiseite gewischt?
Sie beißt sich auf die Lippen, damit ihr nichts unbedachtes entfährt.
Es gibt Menschen, die möchte sie gar nicht kennenlernen
"Oh, ist es denn wirklich schon Zeit?" Wie durch einen dichten Nebel dringt Christines klare Stimme zu ihr. Christine, die zu hassensie vor langer Zeit einmal beschlossen, deren Statue sie zerstört hat.
"Félicie? Félicie ist alles in Ordnung? Du bist so blass!"
Kalte Hände legen sich an ihre Wange. Erschrocken zuckt Félicie zurück und springt auf.
"Tatsächlich... ich habe auch vollkommen die Zeit vergessen. Ich habe E... meinem Mann versprochen, heute Abend etwas Besonderes zu kochen..." stammelt sie vollkommen durcheinander.
Sie hört, wie Raoul die Luft einziehtund Christine seufzt.
"Nun, dann sehen wir uns morgen wiedernicht wahr?"
Félicie lächelt gezwungen
"Bestimmt."
'Es wird sich wohl nicht vermeiden lassen'
"Magali!"
Sie will gerade gehen, als sich eine Hand schwerauf ihren Arm legt.
"Madame? Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?"
'Darauf kannst du den Revolver verwetten, mit dem du meinen Mann töten wolltest, du Hurensohn!'
Sie schüttelt hastig den Kopf und befreit sich aus seinem Griff.
"Nein, unmöglich, wir sind erst vor kurzem nach Paris gezogen." Sie wendet sich ab, als Magali mit dem Kinderwagen, neben ihr zum Stehen kommt.
"Was für ein bildschönes Mädchen!" ertönt Raouls Stimme hinter ihr. Offensichtlich betrachtet er Cathérine "Kommt die Kleine mehr nach Ihnen oder nach Ihrem Mann?"
Magali prustet laut los, bis sie Félicie ihr mit der Faust droht.
"Ich finde, sie sieht mehraus wie Félicie." murmelt sie dann betreten und auf ein Zeichen ihrer Schwester schiebt sie den Kinderwagen an.
"Es tut mir leid, aber ich kann meinen Mann unmöglich warten lassen," heuchelt Félicie ihre Entschuldigung, bevor sie sich mit schnellen Schritten ihrer kleinen Schwester anschließt.

Mit über einer Stunde Verspätung tritt Erik durch das Tor in der Rue Scribe. Er hat Nadirs Grab besucht und sich dann noch länger als geplant mit Jules' ältestem Sohn, Jacques, unterhalten.
Als er um die Ecke biegt, klingt plötzlich leiser Gesang von der Bühne zu ihm hinunter. Er bleibt abrupt stehen, lehnt sich gegen die Wand und schließt die Augen. Faust. Margarete. Und es ist weder La Vivette noch ihre Zweitbesetzung, die da singt.
Erik atmet ein und wieder aus. Er hatte gedacht, er würde ihre Stimme nie wieder hören... Instinktiv und ohne sich von der Wand wegzubewegen, stimmt er in Christines Gesang ein. Durch seinen Geist zieht träge die Frage, was er in diesem Moment empfindet, doch er sucht vergeblich nach einer Antwort.
Mit schlafwandlerisch langsamen Bewegungen tastet er nach seiner Maske und seinem Punjab. Welche Garderobe sie wohl benutzt?... Doch dann schüttelt er den Kopf und reißt sich los.
Félicie wird in diesem Moment in Loge Fünf tausend Tode sterben, weil er noch nicht bei ihr ist, und Christine auf der Bühne steht.

Sie presst die Lippen fest aufeinander, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Die Margarete auf der Bühne ist niemand anderes als Christine. Ihre neue Freundin, die Frau, die Erik verlassen hat.
Und von dem ist weit und breit nichts zu hören. Sie waren vor Beginn der Vorstellung verabredet und er ist nicht gekommen. Eine lähmende Übelkeit breitet sich in ihr aus.
Wenn er nun Christines Garderobe aufgesucht hat... wenn nun alles wieder von neuem beginnt... Wenn er wieder in seine Depressionen verfällt, sie wieder ignoriert...
In diesem Moment öffnet sich die Tür in der Säule und Erik betritt die Loge.
"Bon soir, Félicie." flüstert er und nimmt seine Maske ab, um seiner Frau einen übermütigen Kuss auf die Lippen zu geben "Entschuldige, dass ich zu spät bin, aber ich habe mit Jacques geredet und völlig die Zeit vergessen."
"Das ist Christine." sagt sie nur und zeigt in Richtung der Bühne "Man hat sie eingesetzt, obwohl sie erst zur nächsten Spielzeit fest als Primadonna angestellt ist." Sie unterdrückt ein wütendes Grollen. "Erst- und Zweitbesetzung sind krank... Erik hast du etwas damit zu tun? Du hast mir versprochen..."
Er lässt sich in den Sessel fallen und nimmt Félicies Hand in seine.
"Dass Christine wieder an der Oper ist, habe ich auch eben erst erfahren. Ich habe nichts damit zu tun, dass sie heute Abend auf der Bühne steht." Als Christines glasklare weiche Stimme zu einer Kadenz ansetzt, schließt er unwillkürlich die Augen und atmet tief ein. "Hör nur... sie hat nichts von dem vergessen, was ich ihr beigebracht habe..."
Ängstlich schüttelt Félicie den Kopf. Das darf alles nicht wahr sein.
"Ich habe sie und ihren Mann heute im Park getroffen. Du erinnerst dich... die Freundin von der ich dir erzählt habe." Sie nimmt ihren Fächer zur Hand und beginnt, ungeduldig damit herumzuwedeln. "Warst du schon in ihrer Garderobe?"
"Was sollte ich in ihrer Garderobe wollen?" murmelt er verträumt.
"Sie besuchen." brummt sie. "Um der alten Zeiten willen."
Erik lächelt.
"Die alten Zeiten... Nein... ihre Stimme ist mein, mehr will ich nicht..."
Unsicher wendet sie ihm den Kopf zu.
"Sie bedeutet dir nichts mehr?" fragt sie sehr leise und fürchtet sich vor seiner Antwort.
"Oh..." er öffnet die Augen wieder und schaut seine Frau, die Mutter seiner Tochter, einen Moment lang nachdenklich an. "Ich habe sie verzweifelt und über jede Schmerzgrenze hinaus geliebt, Félicie." antwortet er dann ruhig "Sie wird niemals bedeutungslos für mich sein. Aber du, du bist die Frau, die hier an meiner Seite sitzt, die Frau, neben der ich morgens aufwache, und ich liebe dich nicht verzweifelt sondern glücklich. Christine... sie ist nur eine Stimme und Erinnerung..."

- fin-