Als ich aus der Düsternis wieder in die Welt der Lebenden zurückkehrte, fühlte ich mich weich und warm gebettet. Ein kühler Windhauch strich über mein Gesicht, ließ mich aber nicht frösteln, sondern erfrischte mich. Ich ließ die Augen noch geschlossen und genoss, wie die Sonne auf mein Gesicht schien und es wärmte und diesen roten Glanz in den Augen, wenn sie durch meine geschlossene Lider schien. Ich lag gewiss eine halbe Stunde auf diese Art da, bis mich eine sanfte Stimme endgültig in die Wirklichkeit zurückholte:
„Ihr seid wach, Amon-Shi. Das ist gut und richtig so. Kleidet Euch
an, mein Herr. Kleider liegen für Euch bereit, Speis und Trank
sollen gebracht werden. Gepriesen sei die Göttin und die Herrin
der Schönheit – Ariàm."
Die Tür schloss sich
ebenso leise, wie sie sich geöffnet hatte, dann war wieder
Stille. Nur ein leises Seufzen des Windes war zu vernehmen. Ich
drehte mich im Bett auf den Rücken und schlug die Augen auf.
Mein großes Doppelbett stand in einem Raum von vielleicht
sechzehn Rechtschritt Größe. Die Wände waren in einem
angenehmen Blau gestrichen, das keine Kühle, sondern eher eine
Art der Geborgenheit ausstrahlte. Das Bett und Teile des Zimmers
waren mit grau-weißen Holzschnitzereien verziert, welche
allesamt Naturmotive darstellten. Da gab es beispielsweise einen Wald
mit Tieren und Vögeln und allerlei Pflanzen. Jedes Blatt und
jedes Wesen waren so lebendig dargestellt, dass man glaubte, sie
könnten jederzeit davon fliegen oder gar Früchte tragen.
Gegenüber der Zimmertür, welche rechter Hand gelegen und
aus der die Stimme erklungen war, befand sich das Fenster. Es war
sicher an die zwei Schritt hoch und aus Buntglas zusammengesetzt. Auf
beiden Fensterflügeln, einer nur leicht angelehnt, waren zwei
einander gespiegelte aufblühende Rosen dargestellt. Dem Bett
gegenüber, teilweise durch einen Glasperlenvorhang verdeckt,
befand sich ein weiterer Raum, in dem ein ebenfalls verzierter
Schrank und ein kleiner Waschzuber standen.
Ich schlug die leichte Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Einen kleinen Moment noch blieb ich in Gedanken verloren sitzen, ehe ich gänzlich aufstand und den Fensterflügel öffnete. Mein Blick fiel auf eine monumentale Berglandschaft. Scharfkantige Berge, sanfte Schneehänge, alles glänzend weiß. Hier auf der Südseite des Seraphimklosters lag ein kleiner Park und Garten. Er wurde durch eine niedrige Steinmauer begrenzet, hinter welcher der Berg schroff abzufallen schien. Alle Pflanzen waren mit einer kristallinen Frostschicht überzogen, so dass sie wie Gestalt gewordene Eisblumen vom Fenster aussahen. Zwei Junge Novizinnen, nicht mehr als zwölf oder dreizehn Jahre alt, rollten einen Schneemann zusammen. Auf der anderen Seite der Anlage hielt eine Magistra einen Vortrag über die Pflichten einer Seraphim und über den Dienst an der Göttern.
Lange konnte ich den Ausblick nicht genießen, wurde mir doch langsam kalt, schließlich war ich ja immer noch nur mit Unterhosen bekleidet. Ich schloss also das Fenster und sofort war der Raum von einem ätherischen blau-rosa Glanz erfüllt. Im Raum nebenan lagen meine Kleider, geflickt, gewaschen und getrocknet, so wie ich es auch war.
Kaum war ich mit der Morgentoilette und dem Ankleiden fertig, klopfte
es leise aber bestimmt an der Tür. Auf mein „Herein" kam
eine Novizin, einen kleinen Tischwagen vor sich herschiebend, herein:
„Euer Essen, mein Herr", deutete sie mit einem leichten
Nicken an und verschwand wieder.
Da mir nicht anders möglich, zog ich den Wagen an das Bett heran, nahm auf der Bettkante Platz und genoss die erste richtige Mittagsmahlzeit seit Wochen. Es bestand zwar nur aus Brot, Suppe und einem Krug Wasser, doch das Brot war frisch, die Suppe kräftig und das Wasser war sogar mit Pfefferminz versetzt. Als ich mein Mahl beendet hatte, brauchte ich auch nicht lange zu warten, bis eben jene Novizin, diesmal mit einer jüngeren Begleitung, hereinkam. Während diese das Geschirr abräumte und den Wagen davon schob, bedeutete mir die Ältere ihr zu folgen. Und während sie mich durch die prunkvollen Hallen und Gänge des Klosters, durch seine Bibliotheken und Arbeitszimmer führte, fragte ich sie:
„Wie geht es Ashì-íra, meiner Pegasus? Lebt sie denn noch?"
„Ja, sie...lebt, wenn man es so nennen will."
„Was meinen Sie damit, bitte, sagt es mir. Sie...sie bedeutet mir viel."
Sie sah mich kurz aus den Augenwinkeln an: „Ich weiß es selbst nicht so genau. Dieser Stier, er hat ihren Geist mit Verzweiflung und Angst überrannt. Eine Medica animae kümmert sich um sie. Wissen Sie, was das für eine Monstrosität war?"
„Nein, ich, ich weiß es nicht. Ich habe so was noch nie gesehen."
Doch! Du hast mich schon gesehen! Du weißt
WER ich bin. Du weißt WAS ich bin!
Irgendetwas hallte
in meinen Gedanken, doch ich konnte es nicht fassen. Der Gedanke,
etwas zu wissen, ohne eine Erinnerung daran zu haben, verflog zu
schnell. Und auch dieser Gedanke entschwand meinem Geist, ohne, dass
ich misstrauisch werden konnte.
Unser Weg brachte uns zu einer großen doppelflügeligen Tür, an der sich meine Begleiterin mit dem Versprechen, sich um Ashì-íra zu kümmern, verabschiedete. Die Tür wurde von Innen geöffnet und ich betrat den prunkvollen Hörsaal des Seraphimklosters. Statuen von berühmten Gönnern des Klosters und einigen Helden Ancarias, jede sicherlich fünfzehn Schritt hoch, stützen das gewaltige Kreuzgewölbe des Raumes. Hohe Buntglasfenster gaben einen atemberaubenden Blick auf das grandiose Bergpanorama frei. Sonnendurchflutet und mit Bildern geschmückt war dieser Hörsaal prunkvoller als der schönste in Sternental. Unten, an einem runden Tisch saßen vier Seraphim. Trotz dass sie leise flüsterten konnte man einige Worte verstehen:
„...Nein, ist nicht...verfluchte...ich sage Euch... Shaddar...zurück...Unsinn, es ist...soll hier...Stier..."
Aufgeregt Gesten und manch scharfer Blick begleiteten dieses Duell des Wissens und der Vermutungen. Eine der Seraphim bemerkte mich: „Ah, da ist er ja! Der Herr Crudelitos. Ein reichliche seltsamer Name findet ihr nicht? Blutdurst, übersetzt."
„Guten Morgen, Euer Gnaden", erwiderte ich mit einer leichten
Verbeugung. „Um was ging es bei Eurem Gespäch?"
„Nun",
eine der Seraphim stand auf. „Wie sie wissen, ist eine schreckliche
Kreatur auf unsere Welt gekommen, und zwei der Unseren sind von uns
gegangen."
Eine Andere nickte unglücklich: „Sie sind von uns gegangen,
doch sie sind bei den Göttern. Nicht wahr Aästha?"
Die
erste Seraphim nickte bedächtig: „Ja, Niob. Das sind sie."
Die Vierte Seraphim stand auf: „Was Schwester Miriam sicher noch sagen wollte, ist, dass wir nicht genau wissen, mit was wir es zu tun haben. Aber wir wissen, woher sie gekommen ist."
Niob schüttete den Kopf: „Nicht genau, Anastasia. Aästha denkt, dass Shaddar ihn gerufen hat, doch die Artigkeit seines Wesens ist uns nicht bekannt. Shaddar war es nicht. Es war etwas anderes."
„Doch es steht nichts über ihn in den Alten Schriften. Und nur auf eine vage Vermutung hin ein Tor dahin zu öffnen, wo seine Restspur hingedeutet hat, halte ich für viel zu gefährlich!", ereiferte sich Miriam. „Wer sollte so ein Risiko schon eingehen?"
„Ich", sagte Niob. „Wir haben herausgefunden, dass meine Rüstung „Gaeicis Umarmung der Göttlichkeit" mich vor der Hoffnungslosigkeit bewahrt hat. Und wohl auch bewahren wird."
„Ach ja?", schnappte Miriam. „Du ganz allein willst also hinübergehen? Niemand sonst hat so eine Rüstung wie Du!"
„Doch", meinte Anastasia „Eine Rüstung haben wir noch. Diese ist allerdings nicht für eine Seraphim, sondern für einen Magier."
Ich schaute sie verwirrt an: „Sie meine doch nicht etwa, verehrte Anastasia, dass ich mit Niob gehen soll, oder?"
„Doch, denn die Wege der Göttin sind nicht durchschaubar."
„Es wird mir ein Vergnügen sein!", meinte ich. Wohl etwas zu
schnell, denn Niob zog die Augenbraue ein wenig nach oben. Doch dann
lächelte sie plötzlich. „Mir auch... mir auch." Und so
war es beschlossen.
Die Novizin, die mich hierher geführt
hatte, wurde mit dem Auftrag gerufen, „Gaeicis magische Umarmung"
zu bringen und ein wenig Proviant zusammenzustellen. Als dies
erledigt war, machten sich Niob, die anderen drei Seraphim und ich
per Pferd auf zu der Stelle, an welcher der Stier nach Ancaria und,
wie ich später erfuhr, auch erst in diese Sphäre gekommen
war. Die Gelehrten des Klosters hatten seine Restspur zurückverfolgt
auf die Welt, von der er gekommen war. Sie war bisher unbekannt
geblieben und hatte sich nur durch den Angriff des Stiers zu erkennen
gegeben. Nun war eine Magierin dabei ein Tor zu formen, um Niob und
mir das Überwechseln auf diese Neue Welt zu ermöglichen.
Ich und Niob hatten jeweils unsere einzigartigen Rüstungen
angezogen, und mir waren sogar noch einige besondere Runen
eingeschmiedet worden. Ihre Rüstung war schwarz und die Meine
weiß gehalten, doch jede glänzte im Gegenlicht
Perlmuttfarben. Einlegearbeiten aus Silber und Alabaster verfeinerten
den Anblick noch. Sie trug ihre lange Sturmsense und ich einen neuen
Stab und ein neues Schwert, die ebenfalls zu der Rüstung
gehörten. Niob schien über der Rüstung weiß und
ich blau zu glänzen.
Das Tor, mittlerweile von der sehr
spärlich bekleideten Magierin geformt, war fertig. Blass und
fast durchsichtig, nichts als Schwärze zeigend, hing es haltlos
in der Luft. Der Wind hatte sich gelegt und es herrschte gespenstige
Stille. Niob und ich sahen uns an und – traten hindurch.
Von einem Augenblick auf den anderen standen wir auf einer sommerlichen Lichtung. Es war warm und ein leiser Wind ließ die ein wenig bläulichen Blätter rascheln. Vögel sangen und flogen von Ast zu Ast, beäugten uns vorsichtig und mit Misstrauen.
Niob sank mit einem Seufzen zu Boden, die Sense entglitt ihren
kraftlosen Fingern.
„Die Göttin", flüsterte sie
leise. „Ist hier so schwach wie ein Seufzen im Wind."
Ich kniete mich neben sie nieder und kam mir sehr hilflos vor. Die Seraphim, in Ancaria ein Vorbild in Sachen Gottgefälligkeit und Glaube, war hier verlassen. Sie schaute ins Leere und ihre Lippen bewegten sich wie in einem stummen Gebet, mit dem sie die Göttin rufen wollte. Sie setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen hin und wurde ruhiger. Ich stand auf und trat einen Schritt von ihr weg, um sie in ihrem Gebet nicht zu stören.
Der Wind wehte ihren Duft zu mir herüber und ich atmete tief ein. Dieser Duft... diesen Duft hatte ich nicht mehr gerochen seit... seit... ich weiß es nicht mehr... Ich schloss die Augen und setzte mich ebenfalls. Das laue Lüftchen trug Gebetsfetzen zu mir herüber und ich sprach sie leise mit. Hoffnung machte sich wieder breit in mir:
„...gib mir Kraft, o Herrin... lass mich nicht fehl gehen... in Zeiten der Düsternis... will ich Deinen Namen hochhalten – Ariàm!"
Niob hatte ihr Gebet beendet und war wieder aufgestanden. Ein leises
Lächeln war jetzt auf ihren Lippen.
„Sie ist wieder da.
Leise und schwach, aber sie ist in mir." Ich nickte ihr zu, in der
Hoffnung nicht überheblich oder dergleichen zu wirken, denn dann
wür...
Ein Krachen und Bersten ließ uns beide aufschrecken und mit einem leisen Geräusch hatte ich mein Schwert aus der Scheide gezogen und den Stab erhoben.
Niob hatte ihren Speer ergriffen und stand breitbeinig da, um
jedweder Gefahr entgegenzutreten. Der Grund für den Lärm
war ein seltsames Wesen, das aussah wie eine aufrechtgehende, etwa
zweieinhalb Schritt hohe Katze, mit dem Fell eines Tigers. Behände
und uns nicht im geringsten beachtend, hetzte es über die
Lichtung und verschwand zweigepeitschend im Wald. Es war still
geworden. Kein Vogel sang mehr. Der Wind frischte auf und trug den
bitter-süßlichen Geruch von verwesendem Fleisch zu uns.
Dann hörten wir es. Ein leises Beben aus der Richtung, aus
der auch das Katzenwesen gekommen war. Ein beständiges leichtes
Beben, als ob sich eine Herde Rinder den Weg durch die Welt bahnte.
Niob schaute mich an:
„Der Stier."
Doch so schlimm kam es nicht – es kam schlimmer.
Auf der anderen Seite der Lichtung quollen Hunderte von seltsamen und
abscheulichen Wesenheiten aus dem Wald. Wesen, dem Katzenwesen
ähnlich, nur mit nachtschwarzem Fell und blutroten,
fäulnisverheißenden Krallen kamen mit tödlicher
Eleganz auf die Lichtung. Tückische Augen starrten uns an, gelbe
Zähne wurden gebleckt. Jedes sicherlich genauso groß wie
ich und gut doppelt so schwer. Gefolgt wurde diese Masse von zwei
flammenumhüllten Stieren, die bedächtigen Schrittes auf die
Lichtung traten.
Ich spürte, wie die Rüstung mich vor
den Wellen von Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit beschützte.
Diese mächtigen magischen Energien hatten Ashì-íra
in die Knie gezwungen... Ashì-íra...
Als die Stiere merkten, dass sie uns nicht zum aufgeben bringen konnten, brüllten sie. Sie brüllten ihren Hass und ihre Begierde nach Tod und Verderben hinaus. Die Kreaturen, Ausgeburten einer kranken Hölle, stürmten auf uns zu.
Sie waren noch hundert Schritt entfernt.
Niob hob ihren Speer und ich bereitete mich auf den Kampf vor.
Noch achtzig Schritt.
In Niobs Gesicht perlte eine einzige Träne, als sie wieder stumm ihre Lippen bewegte.
Noch sechzig Schritt.
Ich sah im Geiste, wie Ashì-íra zitternd im Schnee lag und aufgab. NEIN!
Noch vierzig Schritt.
Niob begann einen Choral zu singen. Laut und glockenhell schallte
ihre Stimme über die Welt, als sie begann der Göttin zu
huldigen. Dann stürmte sie dem Grauen entgegen.
Ich machte
eine einzeln Handbewegung und in einem Meteoritenschwarm, in Feuer
und Erz, vergingen einige der Wesenheiten.
Jetzt bist Du mein! Jetzt gehörst Du mir!
Doch diesen Gedanken konnte ich nicht fassen. Nur noch zwei Schritt trennten Niob und die erste Welle voneinander, als sie ihre Sense schwang und drei zugleich enthauptete. Dann verschwand sie in den Massen. Doch ihr Choral erklang weiter. Und als ein nächster Hagel einschlug, dachte ich:
„Wir schaffen es. Wir werden es schaffen – irgendwie."
