Der Höhlenberg machte seinem Namen alle Ehre. Löchrig wie ein Stück Krähenfelser Käse ragte er wuchtig über das Gelände und aus dem dichten Wald heraus. Ein beständiger Westwind trieb ihnen die gesamte Zeit einen herben, aromatischen Geruch entgegen.
„Ist das der Geruch vom Katzenfuß?" wollte Amentio wissen.
„Ja" bestätigte ihn Fil'yana „Das ist er. Die Wölfe mögen ihn nicht sonderlich und er wird unsere Gerüche überdecken, so dass sie uns wohl kaum finden werden."
Die sanften Hänge wurde immer steiler und karstiger, je näher sie dem Berg kamen, und als sie an seinem Fuß standen, war nur noch ein felsiger Steig zu erkennen, der nach oben führte.
Das letzte Stück des Tagesmarsches würde wohl noch einmal schwer werden, aber von oben drang Wasserplätschern und die Aussicht auf ein Essen trieben sie zu letzten Höchstleistungen an.
Sie schritten zunächst noch über waldigen, von Nadeln bedeckten Boden, der aber schon bald von weißem, scharfen Fels durchbrochen wurde. Da und dort ragten Feuersteine hervor und glänzen in der roten Abendsonne wie glühende Kohlen, die in der Landschaft verstreut lagen.
Und so fest der Fels auch schien, gab es doch eine Unzahl an kleinen Pflanzen und Kräutern, die ihn bevölkerten und langsam sprengten. Das bemerkenswerteste war sicherlich der Katzenfuß.
Klein, zierlich und mit winzigen, haarigen Blättchen, dem Dill nicht unähnlich, aber bei weiten nicht so groß, trug das Pflänzlein eine winzige, aber sehr lange Blüte, nicht größer als eine Pupille, glänzte es blau, um den Kelch gelb, von schwarzen Streifen durchzogen in der Sonne. Der Blüte entströmte der aromatische Geruch, hier noch viel intensiver und stärker. Kleine Käfer und andere Insekten krabbelten um die Blüte herum und suchten an den Nektar zu gelangen. Aber nur einem Käfer gelang es. Er war groß, um nicht zusagen riesig, fingerlang und mit einem behaarten Rückenpanzer, walzte er alle anderen nieder. Die Haare auf seinem Rücken waren unterschiedlich gefärbt, und bildeten zwei Scheinaugen, die wie von Katzen aussahen. Mit seinem feinen Rüssel drang er in die Blüte ein und konnte den Nektar trinken.
Sie erklommen gut und gern eine Höhe von 50 Schritt über dem Wald und suchten sich dann eine der bequemsten Höhlen aus, was nicht weiter schwer war, gab es doch genug davon.
Ein kleiner Teich, der auch noch durch Kalkablagerungen in zwei unterschiedlich hohe Stufen geteilt war und von einem kleinen Wasserfall gespeist wurde, gehörte dazu. Das Wasser war warm.
Sie rollten ihre Decken auf trockenem Moos aus und Amentio machte sich daran in einem Topf ein wenig Wasser zu schöpfen, während Fil'yana noch einmal die Höhle verließ, um Feuerholz zu sammeln.
Und da Wasserschöpfen natürlich nicht so lange dauert wie Holz sammeln, konnte er die Höhle noch ein wenig erkunden, denn sie schien ein wenig weiter in den Berg hineinzuführen.
Weiter hinten in der Höhle waren Tropfsteine zu sehen, über die sich ein beständiger Wasserfluss ergoss und zwischen denen einige bleiche Knochen lagen. Nicht weit davon entfernt, im Licht der schwindenden Sonne kaum noch zu erkennen, lag ein anderes Skelett. Es war groß und hatte bullige Knochen, sicherlich stammte es von dem Bären, der hier mal gelebt haben mochte. Noch weiter in der Höhle schien es einen Durchbruch ins Innere des Berges zu geben, doch das konnte er überhaupt nicht mehr ausmachen. Und da kein Windhauch wehte und nirgends frische Spuren zu sehen waren, war dort wohl niemand und es schien auch nicht weiterzugehen. Im diffusen Licht ging er wieder zu ihrer Lagerstatt und trat auf den kleinen Felssprung hinaus, der davor lag. Die Sonne war mittlerweile komplett untergegangen und nur noch ein oranger Schein hinter den Bergen im Westen wiesen auf das Verbleiben des Gestirns hin. Der Wald lag jetzt als dunkles unheimliches Ungetüm weit unter ihm, aus dem die schaurigen Laute der Nacht zu ihm herauftönten und sich im schwärzer werdenden Himmel verloren. Nebel war aufgezogen und hin wie schwerer Rauch zwischen den Bäumen, so dass es aussah, als wären die Inseln in einem Meer. Irgendwo rauschte ein Wasserfall und im Osten gingen ein paar Sterne und ein bleicher Mond auf.
Hinter ihm krachte es und wie von der Tarantel gestochen fuhr er herum. Sein Herz klopfte bis zum Hals, aber alles was er sah, war, wie Fil'yana ein Bündel Holz hatte herunterprasseln lassen und ihn mit einer amüsierten Miene anschaute und unschuldig flötete:
„Hast Du Dich erschreckt?"
„Ich wäre vor Schreck beinahe tot umgefallen!" zeterte er.
„Nun, da Du ja jetzt wieder wach bist" meinte sie. „Kannst Du mir ja helfen, oder?"
Amentio schaute noch ein wenig griesgrämiger aus der Wäsche, als sie ihm sagte, worum es ging.
„Da, am Fuße dieses Berges habe ich noch vier schwere Baumstämme, die wir brauchen werden, wenn wir es über Nacht warm haben wollen. Der Wind hier kann manchmal ganz schön kalt sein."
Also machten sie sich auf den Weg, um das Holz zu holen.
Jeder von ihnen lud sich zwei nicht gerade leichte Baumstämme auf die Schultern und an das Hochhucken wollte Amentio gar nicht denken. Aber so würde das Feuer zumindest die gesamte Nacht brennen und ihnen Wärme schenken, ohne dass sie auch nur einmal großartig nachlegen würden müssen.
Oben angekommen machte er sich daran ein Feuer zu entzünden und zum Kochen vorzubereiten
Er stapelte Holz und suchte ein paar Steine zusammen, die er so legte, dass man die Pfanne oder den Topf draufstellen konnte, ohne dass sie umfielen und man so im Stande Wasser war zu kochen oder Fleisch zu braten.
Während das Wasser für den Tee kochte und das Fleisch brutzelte besah sich Fil'yana seine Wunden noch einmal. Sie nahm den Verband ab und säuberte nochmals seine Wunde und erneuerte den Verband.
„Tut es noch weh?" wollte sie wissen.
„Nein" antwortete er. „Es fühlt sich nur noch ein wenig dumpf an. Das ist alles."
„Der Biss, eigentlich ist es eher ein Schnitt, wird in zwei, drei Tagen verheilt sein."
Dann stand sie auf, nahm ihre Wechselkleidung und ging in den hinteren Teil der Höhle, um sich selbst zu waschen. Amentio fragte sich, ob sie sich nach Art der Katzen ableckte. Sich Fil'yana vorzustellen, wie sie dasaß und sich den Bauch oder den Rücken ableckte ließ ihn amüsiert aufkichern.
Und noch, als sie zurückkam, angezogen, zuckten seine Schultern manchmal, als er sich das Bild wieder in den Kopf rief. Sie sah ihn ein ums andere Mal ein wenig fragend an, doch er schüttelte nur abwiegelnd den Kopf und ging selbst zu dem kleinen Teich, um sich im Unteren zu waschen.
Er zog sich aus und ließ sich ins lauwarme Wasser gleiten, das um seine Glieder strömte und wartete darauf, dass die Entspannung einsetzte.
Ein leises „Essen ist fertig" lockte ihn aber dann doch wieder heraus. Er zog seine Wechselkleidung an und wusch die, welche er diesen Tag über getragen hatte und hängte sie vorne am Eingang zum trocknen auf.
Fil'yana saß am Feuer und starrte mit ihren blauen Augen in das Feuer, die jetzt, durch die Farbmischung, fast purpurn leuchteten. Der Mond war aufgegangen.
„Hier" sagte sie leise und reichte ihm dabei einen Holznapf mit dem Fleisch, was sie mitgebracht hatten.
Dann stand sie auf und ging an den Höhleneingang und sah über das dunkle stille Land. Sie setzte sich auf einen Felsbrocken und fing an zu essen.
Amentio blieb sitzen und starrte nun seinerseits in das Feuer, aus dem immer wieder Funken aufstiegen und in der Dunkelheit verschwanden. Wie die Leben in der Welt. Am Anfang hell leuchtend wie eine kleine Sonne, verloschen die meisten doch schon nach wenigen Augenblicken und niemand konnte sich auch nur vage an die Bahn erinnern, die sie genommen. Die Spuren ihres Weges verloren sich in der Dunkelheit und waren nur noch verwaschen, wie ein Traum, an den man sich nicht erinnerte. Nur den größten oder beharrlichsten war es vergönnt einen Teil der Welt in Flammen aufgehen zu lassen, wenn sie irgendwohin fielen auf dem die Glut aufgehen konnte.
Zum aller ersten Male seit langem verließ ihn der Mut. Was ihn überraschte, denn er hatte im Grunde genommen schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass er überhaupt noch welchen besaß.
Er wusste nicht, wer er war und was er hier mit dieser Frau in dieser ihm fremden Welt machen wollte. Und jetzt da sie tot war, wusste er auch nicht, was seine Reise sollte. Er konnte nur immer weiter gehen, in der Hoffnung, dass der Weg ihn an eine Stelle führte, an der seine Fragen beantwortet wurden. Fragen, deren Inhalt er selbst nicht kannte. Er wusste nicht, ob er die Antworten erkennen würde, selbst wenn sie direkt vor ihm lägen. Was würde er tun, wenn er niemals Antworten bekäme? Was würde er tun, wenn ihm die Antworten nicht gefielen?
Mutlos stocherte er mit einem Stock im Feuer herum. Er kannte sich in dieser Welt nicht aus. Er kannte sich ja nicht einmal in sich selbst aus. Er wusste nicht, welche Fähigkeiten er besaß, welche Antworten er sich selbst geben konnte. Vielleicht tat er es schon und er erkannte es einfach nicht.
Unwillig schüttelte er den Kopf, willens, diese niedermachenden Gedanken an eine Stelle zu verdrängen und nicht wiederzukommen. Er sah auf.
Fil'yana saß immer noch am Eingang, beschienen vom Feuer und vom Mond. Kälte und Hitze trafen in ihr aufeinander und rangen in ihren Bewegungen um die Vorherrschaft.
Er ging zu ihr hin und setzte sich auf die andere Seite des Eingangs und sah sie an. Wie das Mondlicht über ihren Körper floss und in jeder Falte ihres Gewandes vom hellen Feuerschein zurückgedrängt wurde.
Ihre Ohren hatten sich bewegt und ihn wahrgenommen, als er sich ihr genähert und am Felsen niedergelassen hatte. Langsam wandte sie ihren Kopf zu ihm hin.
Ihre Augen waren wie zwei Spiegel, geteilt in ein eisiges Blau und in ein warmes Orange, spiegelten sie ihn und die Umgebung klar wieder.. Eine einzige Träne schimmerte.
Sie blickte wieder in den Mond aus ihren Augen wie blaues Eis. Schweigend betrachtete er sie. Wie der leichte Wind durch ihr Fell fuhr, wie er ihr Gewand bewegte, wie sie leise die Schwanzspitze bewegte. Der Napf stand nicht einmal zur Hälfte leergegessen neben dem Fels, auf dem sie saß.
Leise, fast hauchend fragte er sie: „Warum weinst Du?"
Sie sah nach unten. „Weil ich mein zu Hause verlasse. Darum weine ich."
Dazu fiel ihm nichts schlaues mehr ein, was er dazu sagen konnte. Er verstand sie vollkommen, denn er wusste was es bedeutete.
Schweigend sah er in die blaue Nacht hinaus in der vereinzelt ein paar Sterne glänzten.
Dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Weit am Horizont im Süden war ein purpurnes Leuchten zu sehen. Auch Fil'yana schien es bemerkt zu haben.
„Was ist das?" wollte er wissen.
Sie duckte sich hinter den Felsen, auf dem sie eben noch gesessen hatte und flüsterte:
„Die Armee der Purpurnen."
Amentio glitt neben sie und lugt über den Stein. Das Leuchten zog langsam in Richtung Osten.
„Sie wollen bestimmt zu unserem Dorf" vermutete Fil'yana. „Hoffentlich sind alle schon weg."
Sie sah mit besorgtem Gesicht in die Richtung, in der ihr Dorf liegen musste.
„Sie werden schon weg sein, wenn es eintrifft" versuchte er sie zu beruhigen. „Das Heer braucht noch bestimmt zwei Tage, ehe es da ist, bis dahin haben sich schon alle versteckt."
Sie sah ihn zweifelnd an, doch dann glätteten sich ihre Gesichtszüge wieder.
„Ja" meinte sie. „Du hast bestimmt Recht."
Sie ging zu ihrer Decke, rollte sich darin ein und schloss die Augen.
Amentio sah noch einmal aus der Höhle in Richtung dieses unheimlichen Leuchtens, dass sich langsam aber beständig in Richtung Osten bewegte. Hoffentlich würde er Recht behalten.
Dann konnte er auch nicht länger seine Augen offen halten und kuschelte sich ebenfalls in seine Decke und war eingeschlafen.
