Durch die Watte seiner Gedanken drang ein Räuspern. Das Räuspern schien von weit her und von unten zu kommen. Dann wackelte er.
„Shhh..." wisperte es an seinem Ohr. „Wach schnell auf. Und sei um Sharas Willen leise!"
Amentio rollte sie herum auf den Rücke und das Blätterdach dreht sich um ihn. Dann tauchte das besorgte und von leichter Panik, es war bestimmt Panik, ihre Schnurhaare zitterten und so weite Pupillen hatte er noch nie gesehen, erfüllte Gesicht Fil'yanas in seinem Blickfeld auf. Das Blau aus ihren Augen war fast gänzlich einem tiefen Schwarz gewichen, in dem sich die Umgebung wie in zwei runden Spiegeln abzeichnete.
Er lag richtete sich auf seine Ellebogen auf und fragte leise und unter einem Gähnen:
„Warum? Was... Was ist los?"
Ihre Ohren richteten sich mit einem Schlag auf ihn aus und sie hauchte:
„Nicht so laut. Ich könnte Dich ja so noch auf fünfhundert Schritt hören."
Er sagte erst mal gar nichts mehr und versuchte stattdessen herauszufinden, was das für ein seltsamer Krach war, der sich jetzt langsam in seine Gedanken arbeitete. Und erst der Gestank!
Er schlug die Decke zurück und nur in Unterhose richtete er sich auf und sah sich um. Um im nächsten Moment wie betäubt in die riesige Astgabel zurückzusinken und in Angstschweiß auszubrechen.
Sie waren hier, hämmerte es in seinem Kopf. Wie hatten sie uns bloß so schnell gefunden?
Sein Herz klopfte bis zum Hals und bestimmt hörte es jeder.
Er musste kreidebleich geworden sein, denn Fil'yanas Gesicht wurde mit einem male sorgenvoll und sie fragte leise:
„Ist alles in Ordnung mit Dir?"
Er brachte nur eine Mischung aus Nicken und Kopfschütteln zusammen, raffte dann seine Gedanken und hauchte:
„Es geht schon."
Etwas gefasster und sehr, sehr vorsichtig lugt er über die Rinde nach unten.
Unten war ein Lager. Nicht irgendein Lager, nein, ein Heerlager. Er sah bestimmt an die, an die... es mussten hunderte Roz'zarz da unten herumlungern. Überall brannten kleine Lagerfeuer, um die sie sich gruppiert hatten und einige von ihnen, die Größeren, unterhielten sich leise. Waffen lehnten an Bäumen und gegeneinander, Lederrüstungen wurden geflickt. Die kleineren lagen herum wie Hunde und nagten an Knochen. Und zwischen all diesen Ungeheuern saßen drei Männer. Sie hatten schwarze Kürasse an, die mit Gold in irren Formen verziert waren. Alle drei hatten purpurne Umhänge, die von einer goldenen Fibel zusammengehalten wurden. Diese hatte die Form einer auf der Seite liegenden Acht und aus ihr heraus brachen immer wieder Spiralen und andere fraktale Formen. In der Mitte jedes Rundes war ein Roter Rubin eingefasst, der die Sonnenstrahlen auf eine kranke Art und Weise brach.
Wieder an den Stamm gelehnt fragte er die Shararrim:
„Was wollen die hier?"
„Ich weiß nicht. Aber es ist ein anderes Heer, als das, welches normalerweise hier patrouilliert. Dieses hier kommt, glaube ich, irgendwo aus dem Norden. Zumindest sahen die Heereszeichen aus, wie welche aus dem Norden."
„Wie kommen wir hier weg?"
„Ich denke, gar nicht. Wir sollten aber höher klettern."
„Na wunderbar."
Leise richtete sich die Shararrim auf und kletterte ohne einen Laut zu verursachen in die nächsthöhere Astgabel. Und wie am Abend zuvor arbeiteten sie sich mit dem Seil noch drei weiterer Astgabeln in die Höhe.
Hier, jetzt schon gut fünfundzwanzig Schritt über dem Boden waren die Astgabeln nur noch knapp zweieinhalb Schritt breit und der Baum wankte schon merklicher im Wind. Sie konnten das Heerlager nun überhaupt nicht mehr sehen, aber das hieß, dass die Roz'zarz und die Männer sie ebenfalls nicht sehen konnten.
„Was glaubst Du, wie lange werden die da unten lagern?"
„Ich weiß es nicht. So wie es aussah, schiene sie aber nicht auf lange bleiben wollen. Sie hatten keine Haufen von toten Tieren aufgehäuft."
„Wie ist denn das zu verstehen?"
„Na ja, wenn die Roz'zarz irgendwo lange lagern, dann jagen sie die Umgebung ihres Lagers komplett leer und werfen die Kadaver auf einen Haufen. Davon ernähren sie sich. Nur in selbst für sie unwirtliche Gebiete folgt ihnen ein Versorgungstross."
„Und die Männer?"
„Das sind Offiziere der Purpurnen. Sie müssen nie essen, nie schlafen."
„So einen haben ich und diese Frau doch getötet, oder?"
„Ja. Ich frage mich bis heute, wie ihr das geschafft habt."
„Ich auch."
„Erinnerst Du Dich nicht einmal an die Welt, aus der Du kommst?"
„Nur unklar. Ich weiß, dass es da auch solche Wälder wie diesen hier gibt, hohe Berge, eisbedeckt und Windumtost, tiefer Schnee und gefrorene Wasserfälle. Ich glaube, ich war auch mal in weiten Sumpflandschaften unterwegs und in großen Wüsten. Menschen lebten fast überall."
„Nur Menschen?"
„Ja... ja, fast nur Menschen. Sie sind alle verschwommen. Ich glaube andere Rassen lebten auch dort, Orks, Goblins, Elfen, Zwerge und Oger. Aber ich weiß nicht, wer wie aussah."
„Gab es auch Shararrim?"
„Nein... ich glaube nicht. Ich kann mich nicht an Deinesgleichen erinnern. Obwohl ihr sehr schön ausseht."
„Ja. Das finden wir auch."
Irgendwo piepte ein Vogel als sie beide schweigend im Baum saßen, Unten rumorten immer noch die Roz'zarz, ansonsten war kein Ton zu hören.
„Wie sind die Purpurnen eigentlich an die Macht gekommen?" wollte Amentio wissen.
„Das weiß eigentlich keiner mehr so genau. Es heißt, vor ewigen Zeiten sei einst ein Wesen, machen sagen, es wäre ein Mann, Cudorios aufgetaucht und hätte die wenigen Menschenstämme, die es in der tiefen Ebene gab, dort wo heute Verzotag liegt, unterworfen. Er soll ein mächtiger Magier oder sogar ein Gott gewesen sein, der hierher verbannt wurde. Er schwang sich zum Herrscher der Menschen auf und er verriet ihnen viele Geheimnisse. Im Gegenzug wurden sie mehr und mehr seine Diener. Ich denke auch nicht, dass er die Geheimnisse vollständig verraten hatte, denn das hätte ja seine Macht gefährdet. Und während seine Untergebenen in seinem Namen und unter seinem Befehl Gebiete eroberten, zog sich Cudorios immer mehr zurück. Er soll seine Diener unter geistiger Kontrolle halten und sie selbst sollen keinen freien Willen mehr haben."
„Meinst Du diese Männer da unten?"
„Ja" erwiderte sie. „Sie haben ihre Macht noch und verstehen sie noch einzusetzen. Sie können noch selbst in einem bestimmten Rahmen entscheiden, was zu tun, aber sie können sich nie gegen ihren Herren wenden. Sie sind seine Sklaven. Ein alter Magier hat mir mal gesagt, dass sie weniger Sklaven, als vielmehr eine andere Erscheinungsform vom Verzotagherrscher seinen."
Komm her! Du bist es, den ich suche. Ich bin es den Du suchst. Widersetze Dich nicht. Folge Deiner Spur.
Amentio schüttelte den Kopf. Er musste kurz eingenickt sein, oder einen Tagtraum gehabt haben. Er hatte geglaubt eine Stimme zu hören, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, was sie gesagt hatte. Seltsam.
„Hörst Du das?" wisperte Fil'yana.
„Was?" fragte er. „Ich habe nicht so ein gutes Gehör wie Du."
„Da unten wird es lauter" flüsterte sie leise. „Wir sollten uns das ansehen."
Kaum hatte sie das gesagt, kletterte sie geschwind nach unten und hätte er jetzt nach ihr gerufen, hätte man ihn bestimmt gehört. Er fluchte leise in sich hinein und kletterte auch vorsichtig nach unten, um zu sehen, was da vor sich ging. Er fand Fil'yana in der Astgabel, in der er geschlafen hatte, wie sie das Heer da unten beobachtete.
Es war ein wenig Bewegung in die Massen da unten gekommen, denn einige der Roz'zarz waren zu von einer Patrullie, zu der sie aufgebrochen, zurückgekehrt. Und sie hatte Beute mitgebracht. Eine junge, in ärmliche erdfarbene Gewänder gekleidete Menschenfrau und ihr Sohn, den sie an ihren Leib drückte, waren den Spähern in die Hände gefallen und wurden jetzt unter Gejohle und hyänenartigem Gekicher zu den drei Männern geführt.
Einer von denen stand auf und um ihn fingen an purpurne Flammen zu tanzen und ihn einzuhüllen. Die junge Frau sank, mit einem Schlage weinend, in die Knie und das gellende Schreien des Kindes ließ sie beide innerlich erstarren.
Doch mit Fil'yana war noch mehr los. Sie schaute starr auf den Flammenumhüllten und zitterte am ganzen Leib. Ihr Krallen bohrten sich langsam mit einem trockenen Knirschen in die Rinde, während sich ihr karamellfarbenes Fell sträubte. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und ihre Schnurhaare zitterten.
Sie flüsterte Worte in ihrer Sprache, und auch wenn er sie nicht verstehen konnte, klangen sie doch traurig und hoffnungslos. Er rüttelte sie leise an ihrer Schulter und wisperte ihren Namen, doch sie schien ihn nicht zu hören. Er selbst hatte ganz kurz einen Hauch des Aufgebens erfahren, als die Flammen aufzüngelten, doch einige Runen auf seiner Rüstung hatten aufgeleuchtet und das Gefühl des Versagens und der eigenen Bedeutungslosigkeit war verflogen. Leise legte er seinen Arm um die zitternde Shararrim und drückte sie an sich. Langsam beruhigte sie sich wieder und wurde still. Still wie ein Kaninchen vor der Schlange. Vor dem Tod.
Die Frau war auf dem Boden zusammengesunken und nur die zuckenden Schultern wiesen darauf hin, dass sie hemmungslos weinte. Der Mann ging vor ihr in die Hocke und seine in einen Panzerhandschuh gehüllte Hand strich ihr durchs Haar. Immer wieder blieben Haare zwischen den Segmenten hängen und er riss sie raus. Dann zwang er sie, ihn anzusehen und sie rollte wild mit den Augen, wie eine gefangene Kuh, die weiß, dass der Schlachter kommt. Ihr Mund war zu einem stummen Schrei weit aufgerissen, das Kind lag regungslos auf der aufgewühlten Erde. Sein Gesicht war emotional leer, nur in seinen Augen lag ein seltsamer gieriger Glanz.
Alle Roz'zarz hatten sich um das Geschehen gedrängt und die anderen Diener der Purpurnen hatte interessiert den Qualen der Frau zugesehen. Es war mittlerweile total still, nicht ein Vogel sang, noch wehte der kleinste Hauch. Der Glanz in den Augen des Mannes verstärkte sich, die Flammen griffen auf die Frau über, begannen sie einzuhüllen, züngelten in ihren Haaren, ihren Kleidern und griffen dann sogar auf das Kind über. Kleine gelbe Lichtpunkte stiegen von den beiden armen Kreaturen über und der Flammende sog sie alle ein. Die Flammen wurden immer heller und in ihrem Zentrum leuchtete es schwarz. Sie wurden größer und immer mehr der Lichter entkamen der Dunkelheit, nur um dann von diesem Unmensch aufgesogen zu werden.
Langsam verlöschten die Flammen und von der jungen Frau und dem Kind war nichts geblieben. Das Gras war nicht verbrannt, nicht einmal niedergedrückt, noch wehte ein übler Geruch herüber. Es war so, als ob es sie nie gegeben hätte.
Der Diener stand langsam auf und lächelte grimmig in sich hinein, während er sich mit der Zunge langsam über die leicht geöffneten Lippen strich.
Dann sah er langsam auf die beiden Anderen, ehe er sich wieder hinsetzte und verharrte. Die Roz'zarz zerstreuten sich und hier und da fingen wieder an die Vögle Laut zu geben.
Auch Fil'yana hatte sich mittlerweile wieder beruhigt. Sie sah sich unsicher um und ihr Blick verharrte auf ihm und dann sah sie zur Seite. Ein Schauer durchlief sie, doch dann gab sie sich einen Ruck und flüsterte leise:
„Wir sollte wieder nach oben klettern. Sonst werden wir hier noch gesehen."
Mit diesen Worten verschwand sie lautlos im grünen, wogenden Blätterdach und er folgte ihr. Oben angelangt kletterte sie noch weiter hinauf, so weit, dass er ihr unmöglich folgen konnte. Also blieb er unten in der Astgabel sitzen und aß erst einmal was, denn seit er aufgewacht war, und das lag beinahe zwei Stunden zurück, hatte er noch nichts gegessen. Es war nicht mehr viel übrig, sie konnten das Essen noch auf maximal drei Tage strecken, dann würden sie nichts mehr haben. Er aß also nur solange, bis das Hungergefühl ein wenig wich und lehnte sich dann gegen den Baum.
Was hatten sie nur mit der Frau und dem Kind angestellt? Der gespenstige Anblick, wie die Flammen die zwei Menschen einzuhüllen angefangen hatten, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie waren einfach weg gewesen! Einfach so!
Und warum war Fil'yana starr vor Schreck gewesen? Bei der Frau konnte er es noch verstehen. Hatte nicht auch er ein Gefühl der Angst verspürt? Hatte nicht etwas an der Rüstung dieses Gefühl aufgehalten und ihn mit Mut erfüllt? Er betrachtete die Runen auf seinen Armschienen, die aufgeleuchtet hatten, als die Flammen anfingen zu tanzen. Auch die Frau bei der Schlacht trug solch eine Rüstung, nur schwarz. Seine war weiß.
Warum nur hatte er eine Rüstung, die ihn vor solch Unbill schützten? War er hierher entsandt worden. Von wem auch immer, diese Mächte zu bekämpfen? – Wohl kaum! Und wenn doch, wie blauäugig war dann dies Ansinnen. Sie waren hoffnungslos unterlegen. Und jetzt, da seine Mitstreiterin tot, war das Unternehmen so oder so schon gescheitert.
Ein leises Scharren ließ ihn aufblicken und er sah, wie die Shararrim langsam hinuntergeklettert kam. Sie setzte sich neben ihn und sah ihn besorgt an.
„Was war mit mir los?" fragte sie still. „Ich kann mich nicht an das erinnern, nachdem die Flammen anfingen."
Sie stockte und fuhr dann mit trockenem Munde fort: „Da war nur Angst und Schmerz."
Sie fröstelte wieder, als sie daran dachte. „Nur Schmerz und Hoffnungslosigkeit."
Er sah sie aus den Augenwinkeln an, ihre blauen Augen waren beinahe geschlossen, nur in winzigen Schlitzen spiegelte sich das warme Sonnenlicht wieder.
„Ich dachte ich wäre verloren" wisperte sie. „Aber Dir machte es nichts aus."
Er schaute sie jetzt von der Seite an, die Sonne schien ihm ins Gesicht und er sah nur ihre Umrisse. Eine kleine Träne glitzerte wie ein Stern.
„Alles was ich war, war wie weggeblasen" murmelte sie leise und gedankenverloren. „Nur das Tier blieb in mir übrig. Und das Tier hatte Angst. Schreckliche Angst."
Amentio legte seinen Arm um sie und sie lehnte sich an ihn an und fing leise an zu weinen. Sie schluchzte auf und er spürte, dass ihre Schultern zuckten. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Er fürchtete jedes Wort von ihm würde es nur noch schlimmer machen, sie beleidigen oder die Gefühle zurückholen, die sie so sehr fürchtete.
Sie blieb scheinbar eine Ewigkeit so sitzen und wich nicht von ihm, er schaute durch das Blätterdach nach unten auf das Lager, in das Bewegung gekommen war. Von überall schienen die Rufe und Schreie von gejagten Tieren an sein Ohr zu dringen. Offenbar wollten die Roz'zarz noch eine kleine Weile bleiben und jagten jetzt den umgebenden Wald leer. Als das Wehklagen der Tiere nach Stunden verklungen war, kehrte wieder Ruhe in das Lager unten ein und er und die Shararrim kletterten wieder nach oben in den Baum. Sie sollten noch eine lange Zeit auf dem Baum verbringen.
