Nebel kroch und wallte zwischen den Ästen umher, verschleierte die Bäume wie Spinnenweben altes Gemäuer. Amentio konnte sich vor Hunger und Durst kaum noch bewegen, der wie ein Widergänger in seinem Leib umherkroch und jedes bisschen Kraft in seinen geschwächten Muskeln aufsog. Eine fahle Sonne lugte schwammig zwischen den dunstigen Wolken hervor und erfüllte die Luft mit leerem Glanz. Es war ungewöhnlich still. Nur hier und da gab ein Vogel ein leises hoffnungsvolles Lebenszeichen von sich.

Fil'yana war nirgends zu sehen; sie hatte sich in den letzten Tagen immer mehr und mehr in sich zurückgezogen und kam nur noch in der Nacht zu ihm. Wenn die Dunkelheit um sich und nach ihr griff und jeden Gedanken des Schreckens verstärkte. Wenn die Stille schwarz und leer war und man das Pochen des eigenen Herzens und das Rauschen den Blutes in den Schläfen hören und fühlen konnte. Wenn dem Geist nicht blieb außer dem Kramen in Gedanken und Erinnerungen, zu denen man normalerweise den Weg nicht fand. Wenn bei ihr die Erinnerung an jenen schrecklichen Moment vor fünf Tagen hochkam, wie eine frische Wasserleiche, die von Verwesungsgasen an die Oberfläche eines sumpfigen Moores getrieben wurde, wimmerte sie leise im Schlaf, als sie jene Momente noch einmal vor der inneren Auge sah...

Als die Frau und ihr Kind in jenem seltsamen Feuer verbrannten und sie nichts tun konnten außer dazusitzen und entsetzt zu schweigen. Wenn das purpurne Grauen nach dem Verstand der Shararrim griff.

Wenn diese Momente wiederkamen, dann kam sie zu ihm, um nicht mit sich selbst allein sein zu müssen. Hatte sich neben ihn gelegt und war unter leisem Schluchzen an ihn gepresst eingeschlafen.

Jeden Morgen war das Gefühl des Schreckens verflogen und sie war wieder die stolze Shararrim, die sich nicht eingestehen konnte, dass sie die Nacht aus Angst vor der Dunkelheit und der Finsternis mit einem Menschen an ihrer Seite verbracht hatte, den sie nicht einmal richtig kannte.

Am ersten Morgen nach dem schrecklichen Ereignis hatte sie ihm die Zähne gezeigt, weil er sie zwischen den Ohren gestreichelt hatte, denn sie hatte erbärmlich im Schlaf gewimmert und sich nur dadurch beruhigt. Am Abend war sie wieder zu ihm gekommen und hatte sich neben ihn gelegt, doch als er zurückwich hatte sie ihn aus flehenden Augen angesehen und war näher gerückt, bis sie sich wieder dicht an ihn schmiegte. Er lag da und wusste nicht recht was er machen sollte, bis er seinen Arm um sie legte und sie seine Hand ergriff. Am nächsten Morgen war sie fortgewesen, noch bevor er erwachte.

Er lag auf dem Rücken und starrte in das Blätterdach über ihm und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl vorbei war, das ihn beim Aufwachen begleitet hatte und sich irgendwo in seinem Kopf verkroch. Vorsichtig richtete er sich auf die Ellebogen auf und sah sich wieder um. Ruhe herrschte ringsum. Das Bild war so dröge und langweilig wie die letzten paar Tage. Er wälzte sich herum und sah auf den Ast herunter, von dem aus sie das erste Mal das Heer der Roz'zarz beobachtet hatten. Auf ihm lag Fil'yana und starrte angestrengt nach unten und schüttelte schließlich ungläubig den Kopf.

Mit müden und angestrengten Bewegungen kletterte sie an der knorrigen Rinde des Baumes zu ihm herauf. Als sie bei ihm angelangt war, wartete sie, dass sich ihr rasselnder Atem zu einem krächzenden Keuchen beruhigt hatte und wisperte leise mit ausgedörrter Kehle:

„Sie sind weg. Die Roz'zarz müssen weitergegangen sein."

Er starrte sie zunächst verständnislos an, ehe sich in seinem von Hunger und Durst gepeinigten Verstand zwei Gedanken herausschälten:

„Wasser" rasselte er. Schon seit drei Tagen hatte er nichts mehr getrunken.

„Essen."

„Ja" sagte sie. „Wir können runter, aber wir müssen vorsichtig sein."

Mit fahrigen Bewegungen versuchte er sich aufzurichten und begann wie in Trance langsam und bedächtig nach unten zu klettern.

Seine spröde gewordenen Fingernägel gruben sich scharrend in die faserige Borke des Baumes, seine zitternden Füße suchten ziellos nach Halt.

Dass er unten ankam glich einem Wunder und sein Glück hatte er gewiss auf Jahre hinaus verbraucht. Unten angekommen sah er sich um und erkannte soviel, wie man von einem sich drehenden Karussell erkennen konnte. Nichts. Alles verschwamm vor seinem Auge und er nahm nur eins deutlich wahr. Den Duft frischen Wassers.

Wie eine Motte vom Licht angezogen wurde, so taumelte er jetzt auf das Loch zu, in dem sich vor fast einer Woche das schönste Lichterschauspiel abgespielt hatte, an das er sich erinnern konnte.

Krächzend ging er in die Knie und senkte sein Haupt der Wasseroberfläche entgegen. Mit tiefen und gierigen Zügen so er das Leben schluckweise in sich ein, das wunderbar durch seine Kehle rann und ihm seine Kraft wiederschenkte.

Auch Fil'yana hockte sich neben ihn und begann ebenfalls mit der Gier einer Verdurstenden zu trinken. Nur eben auf Katzen – nein, auf Shararrimart.

Als sie fertig getrunken hatten und ihnen beinahe übel von dem vielen Wasser war, dass sie sich auf leeren Magen einverleibt hatten, ließen sie sich nach hinten auf den Kiesstrand fallen und blieben in der immer wärmer werdenden Sonne erschöpft liegen. Der Wind rauschte in den Blättern und das Geräusch war so klar und deutlich wie schon sein tagen nicht mehr. Sie beide spürten, wie das Leben wieder in ihre Körper zurückkroch, angezogen vom Wasser. Der Nebel verschwand und die Sonne wanderte ein kleines Stück über den Himmel, ehe sie beide von einem anderem unangenehmen Gefühl aufgescheucht wurden: Hunger.

Auf der Lichtung, in all dem aufgerissenen und plattgetretenem Gras lagen die abgenagten Knochen und leeren Schädel von bestimmt fünfzig Kadavern von Rehen, Schweinen und anderen kleineren Tieren, auf die sich Fliegen, Wespen und Totenkäfer niedergelassen hatte, um ihre Brut in dem verwesenden Fleisch zu hinterlassen. Zwischen all den Leichen und grausigen Haufen fanden er und Fil'yana zwei frisch geschlachtete Rehe, um deren Augen, Nüstern und andern Körperöffnungen, ebenfalls um die zwei Schnitte am Hals, sich aber auch schon die ersten Besucher der Toten niedergelassen hatten. Wie eine zornige schwarze Wolke stoben die Fleischfliegen von den Kadavern auf, um sich nur wenige Augenblicke später auf andere Dahingemetzelte zu senken wie ein schwarzes Tuch

Unter größten Anstrengungen, ihnen wurde ein ums andere Mal schwindelig, zerrten sie die zwei toten Tiere zum Wasser und während Fil'yana ihnen das Fell so gut es ging abzog und das zu bratende Fleisch säuberte und zurechtschnitt, machte sich Amentio daran Holz für das Feuer zu sammeln. Das erwies sich als relativ unkompliziert, hatte das Heer doch genug Holz geschlagen und viele der Gruben schwelten noch und schon nach wenige Minuten brannte am Ufer ein großes Feuer, über dem, an frisch geschnittenen Ästen Rehfleisch hing und vor sich hinbrutzelte.

Ungeduldig warteten sie, bis das Fleisch genießbar war und aßen es dann mit äußerstem Bedacht. So gut hatte noch nie ungewürztes Rehfleisch gemundet, jeder Bissen war wie eine Geschmacksexplosion und je mehr sie davon aßen, desto wohliger wurde ihnen. Und so gerne sie auch gekonnt hätten, nach nicht einmal einer kleinen Scheibe konnten sie nicht mehr. Also spießten sie noch mehr der Scheiben auf Äste, um diese haltbarer zu machen, denn so gern sie auch wollten, hier bleiben und ausruhen konnten sie nicht. Den wer weiß, vielleicht würde das Heer ja zurückkehren.

Amentio stand auch und sagte zu der Shararrim, dass er mal auf den Baum klettern würde, um ihre Sachen zu holen und ging von dannen. Oben in der Krone angelangt, sammelte er Kleidung, Behältnisse und Waffen auf, wickelte das alles in eine Decke und befestigte diese an die zwei miteinander verknoteten Seile und ließ das alles von Ast zu Ast vom Baum herab. Als er auf ihrem Beobachtungsast saß, fiel ihm unten zwischen den Kadavern ein rotes Leuchten auf. Es war kein Blut, sondern roter Stoff von einem Mantel, der leicht im Wind flatterte. Er merkte sich die Stelle und ließ das Bündel mit ihren Habseligkeiten vom Baum auf den weichen Boden heruntergleiten und kletterte dann selbst hinunter. Er ging vorsichtig in Richtung des roten Tuches und blieb wie angewurzelt stehen, als er sah, wozu das Tuch gehörte.

Zu einem Mantel. Und der Mantel hing an einem Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf der geschändeten Erde lag, unweit der Stelle des bisher grausigstem Schauspiels, dessen er gewahr wurde. Überall in der Luft schwirrten, ekligen Edelsteinen gleich, rote und grüne Fleischfliegen herum, und dazwischen wie schwarze Kohlestücke die Schmeißfliegen. Der süßlich – herbe Geruch verwesenden Fleisches ging schwer in der Luft, und der sanfte Wind kämpfte vergeblich darum, diese Wolke des Todes zu vertreiben.

Amentio sah, dass sich der Rücken des Mannes schwach hob und senkte – er lebte noch!

Sein weißes Haar war blutverklebt, genauso wie seine Jacke, die von unzähligen Peitschenhieben fast vollständig zerrissen war. Blut war aus den langen Wunden gequollen und war fest geworden und hatte die Ränder der Jacke eingeschlossen.

Amentio ging neben dem Verwundeten in die Knie und nahm ihn in den Arm, während er ihn gleichzeitig umdrehte, damit die Wunden nicht weiter den Fliegen und der heißen Sonne ausgesetzt waren. Der Kopf rollte haltlos herum und offenbarte das alternde Gesicht eines Mannes, der seine besten Jahre hinter sich gehabt hatte und nun vielleicht etwa sechzig Jahre alt sein mochte. Ein dicker weißer Schnauzerverbarg fast den gesamten Mund, von dem man nur eine ausgetrocknete und aufgeplatzte Unterlippe erkennen konnte. Die Augen, eingebettet in unzählige Lachfältchen waren geschlossen und eins war blau, lila und gelb verquollen. Überall in dem wohl normalerweise schönen Gesicht waren Prellungen, Abschürfungen und unzählige kleine Wunden, wie von Rasierklingen. Der Alte stöhnte leise und sein Atem war nur noch ein lautloses Rasseln.

Amentio legte den Armen behutsam auf die Seite und winkte Fil'yana heran, die schon ein wenig neugierig herangekommen war.

„Was ist?" wollte sie wissen.

„Sieh hier" wies er auf den Verwundeten. „Wir sollten ihm helfen."

Sie sah sich den Mann genauer an.

„Ich glaube kaum, dass er es schafft. Wir sollten ihn hier liegen lassen."

Amentio konnte kaum glauben, was er da eben gehört hatte! Liegenlassen?

„Liegenlassen?"

„Was ist?"

„Ich kann es kaum glauben! Du willst einen armen, hilflosen, alten Mann sterben lassen, weil Du glaubst erkönnte es eventuell nicht mehr schaffen?"

„Ja" erwiderte sie... man konnte fast sagen: kaltschnäuzig.

Amentio war sprachlos.

„Warum?"

„Da fragst Du noch?" ereiferte sie sich. „Wir können uns selbst kaum auf den Beinen halten. In unserem Zustand brauchen wir vier volle Tage bis nach Sangarasso. Mindestens. Wir können ja kaum Wasser und Nahrung für uns mitnehmen und jetzt willst Du einen Halbtoten mit Dir rumschleppen UND sein Wasser und sein Essen. Mit ihm im Schlepptau brauchen wir, wenn wir gut vorankommen, sechs Tage. Wir müssen also auch mehr Verpflegung tragen? Kannst Du das? Ich kann es nicht."

„Also, da wo ich herkomme, habe ich gelernt, dass man solchen Menschen helfen soll."

„Wer selbst nicht klarkommt, bleibt zurück. So einfach ist das hier draußen."

„Du meinst, ich hätte Dich in den Nächten zurückweisen sollen?"

Es war gemein und er wusste es. Der Schrecken, den sie erfahren hatte, war schlimmer als der Tod.

Sie sah ihn aus großen Augen an und schien etwas sagen zu wollen, doch sie blieb stumm. Er schaute sie noch einen Moment lang an und senkte dann seinen Kopf.

Er hörte, wie sie abrupt aufstand und verächtlich: „Menschen" schnaubte. Es klang wie „Gewürm" oder nach etwas, das mit einem grotesken Knirschen unter der Stiefelsohle knackte, wenn man drauftrat.

Als er wieder hochsah, war Fil'yana mehr als widerwillig dabei, den Alten hochzuheben und unter ihren Baum zu schleppen. Er sprang auf und half ihr dabei – sie sah ihn nicht an.

Sie betteten ihn auf eine ihrer Decken und Amentio benetzte die Lippen des Mannes mit einigen wenigen Tropfen aus seinem Schlauch.

„Hohl noch mehr Wasser" knirschte sie.

Als er mit frischem Wasser aus dem Loch zurückkehrte hatte sie ihn schon aufgerichtet und seine Jacke zerschnitten. Sie säuberte seine Wunden, in die Fliegen schon ihre Eier gelegt hatten, so gut es ging mit einem Stück Stoff und Wasser, schnitt schwärendes Fleisch heraus und legte ihm dann die restlichen Wundverbände an, die sie noch hatten.

Dann, als sie ihm Wasser gegeben hatten, setzten sie sich wieder an das Feuer und tranken und aßen selbst wieder etwas, denn Hunger und Durst meldeten sich mit aller Macht zurück.

Sie hatte die ganze Zeit über nichts gesagt, nur die leicht nach oben gezogenen Lefzen deuteten an, dass sie mehr als wütend war.

Auch Amentio schwieg beharrlich und dachte nach.

Aber es war ja auch wahr! Man ließ nicht einfach Hilflose zurück und überließ sie ihrem Schicksal. Aber was sollte er auch von einer aus einem Stamm erwarten, dessen Angehörige den Schwächsten aus ihrer Mitte wählten, um ihn dann in die Sklaverei dieser ominösen Purpurnen zu geben.

Und dennoch... Der Schrecken und das Grausen in ihrer Augen tauchten in seiner Erinnerung auf, als sie gesehen hatte, wie Frau und Kind verbrannten, war unbeschreiblich. So, als ob sie selbst fühlte und spürte, wie das Feuer nach ihr griff und die Angst und die Hoffnungslosigkeit über das Unvermeidliche ihr Herz zuschnürten.

Sie mochte anders sein, aber ihr das zum Vorwurf zu machen, hieße, sich selbst als etwas besseres zu erachten, und das war sicherlich ebenso falsch.

Und wenn er sie diesem Schrecken überlassen würde, er könnte nicht mehr vor sich selbst gerade stehen.

Amentio sah sich um und entdeckte, wie sich Fil'yana um den Verletzten kümmerte. Sie wirkte nicht mehr zornig, eher trotzig und ihre Bewegungen waren ab und an ein wenig zu derb, als sie die Verbände straffte oder ihm Wasser einflößte. Als sie seinen Blick bemerkte, wandte sie ihm dem Rücken zu und er konnte ihre Kälte regelrecht spüren, die davon ausging.

Ruckartig stand sie auf und kam zum Feuer.

„So. Wir sollten gehen, denn ich habe keine Lust einem purpurnen Späher vor die Augen zu laufen."

„Wirst Du mir helfen, ihn zu tragen?"

Die Shararrim schüttelte ungläubig den Kopf, nickte dann aber.

„Ich werde eine Trage bauen."

Sie packten ihre Sachen zusammen und bauten aus den Decken und zwei geeigneten Ästen eine Trage, auf der sie den Verwundeten und einige Vorräte transportieren konnten. Dann machten sie sich mit ihrer Last auf den langen Weg nach Sangarasso.

Einige Zeit später kroch ein kleiner Käfer aus einem der Leichenhaufen und die Fliegen und anderen Insekten, sogar die Wespen und Hornissen suchten so schnell wie möglich aus der nahen Umgebung des Käfers zu entkommen, denn selbst mit ihrem primitiven Hirn, vielleicht auch gerade deswegen, wussten sie, dass dieser Käfer vom Bösen beseelt war.

Der Käfer krabbelte unbehelligt auf den obersten Kadaver und blieb dort eine Weile auf den Nüstern eines Rehs hocken, dann wackelte er mit seinen Fächerfühlern, als schien er einen bestimmten Duft in der Luft zu suchen. Nach einer kleinen Weile war er wohl zu einem ihm genehmen Ergebnis gekommen zu sein, denn er spreizte die Deckflügel und schwirrte mit einem unheilvollen Brummen davon.

Der Käfer war purpurn mit goldenem Rand.

Sven hatte keine Tränen mehr. Um ihn herum tobte die Hölle, aber das interessierte ihn nicht. Das Haus von Tante Emma und Niob brannte. Doch da brannte nicht nur ein Haus, da brannte so viel mehr, mehr als er je würde in Worte fassen können. Da brannte ein Teil seines Lebens und seines Herzens. Überall hörte er die Schreie der Verbrennenden, überall sah er die huschenden Schatten der Orks, doch diese wurden immer weniger und weniger, bis schließlich alle verschwunden waren.

Schreie, der Geruch kochenden Blutes, das Prasseln des Flammensturmes um ihn herum – all das war zuviel für ihn. Er rannte, rannte hinaus aus der Stadt, in der er heute gestorben war. Er wollte nach Hause, doch er hatte keins mehr. Also blieb er bei seiner Räuberhöhle stehen, hinter sich die brennende Stadt, vor sich die lodernden Trümmer seines Zuhauses. Vor Erschöpfung, Trauer, Angst und Verzweiflung fiel Sven um.

Es war nass. Überall nass. Und Kalt. Sehr kalt. Auch überall.

Sven öffnete seine von Tränen verquollenen Augen und sah in einen tiefen, grauen Himmel. Wasser tropfte daraus herab und ließ immer wieder das Bild verschwimmen, wenn es seine geöffneten Augen traf. Er fror. Fror am ganzen Leibe, so dass sein Kiefer wie in einem Krampf zitterte. Er stand auf und merkte, dass er nicht nur einfach zitterte, sondern am gesamten Körper regelrecht schlotterte. Seine Zähne schlugen derartig schnell aufeinander, dass man hunderte Haselnüsse in wenigen Augenblicken hätte knacken können.

Dicker, schwerer Rauch trieb träge über die schmutzigen Hügel und schien kein Ende nehmen zu wollen. Gespeist wurde dieser aus den Trümmern des Hauses, in dem er einst gelebt hatte. Die Leiche seiner Mutter war weg. Die der Orks ebenfalls. Breite, tiefe Wagenspuren, die sich in den vom Regen aufgeweichten Boden gedrückt hatten, führten quer über die schlammige Wiese und hinunter ins Dorf. Oder dem, was davon übrig war. Er sah sich mit um den Körper geschlungenen Armen um.

Über Florentina wehten blaue Banner, auf dem eine Krone zu sehen war. Viele Ritter und sogar ein paar Magier waren zu sehen. Und ein paar Frauen, die Flügel und Schwerter aus Licht hatten.

Er lief so schnell er konnte wieder hinunter ins Dorf. Nur wenige Minuten später kam er zu den ersten Häusern.

Am Haus von Bauer Murre hielt ein Mann, etwa so alt, wie... wie sein Vater, wieder stiegen Sven die Tränen in die Augen... hielt dort Wache. Sven taumelte mehr, als das er lief, weiter.

„He!" schnauzte der Wächter. „Wer bist Du, und woher kommst Du?"

Sven sah ihn aus geröteten Augen an. Was dachte der sich eigentlich?

„Lass mich in Ruhe" nuschelte er und wollte weitergehen.

Der Mann herrschte ihn an:

„He! Junge! Du darfst nicht hier rein. Florentina ist militärisches Sperrgebiet. Verschwinde!"

„Na, und?" heulte Sven auf. „Hier hat Niob gewohnt. Und Tante Emma. Und ich. Und nun sind alle tot! Warum lebe ich noch? Warum bin ich nicht auch tot? Kannst Du mir das sagen? Ich will hier rein!"

Markus wusste nicht so recht was er machen sollte und schaute diesen Jungen, der ihn an seinen eigenen Sohn erinnerte vor sich verwirrt an. Er sah nicht so aus, als würde er sich mit einem „Nein" zufrieden geben, und zur sommerlichen Hitze, die Sonne hatte jetzt endgültig die Wolken vertrieben, der Wärme der rauchenden Trümmer kam jetzt auch noch die Verlegenheitshitze hinzu, die daher rührte, dass er sich eingestehen musste, dass er zwar mit einem Ork zurecht kam, aber nicht mit einem Jungen, der dieselben Augen hatte, wie sein Sohn, und der wie ein Häufchen Elend vor ihm im austrocknenden Schlamm hockte.

Der Junge hatte die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen und seine Schultern zuckten immer wieder unkontrolliert. Der leise wind trug stilles Schluchzen zu Markus herüber. Er raufte sich zusammen.

„Warte, warte" ging er langsam auf den Blondschopf zu. „Wo willst Du überhaupt hin?"

„Zu Niobs Haus."

„Gut. Warte hier, ich will sehen, was ich tun kann."

Markus ging zu einer Ruine, in der notdürftig die Wache eingerichtet worden war.

Sven war sprachlos. Hatte sich doch dieser ignorante Wächter dazu entschlossen ihm zu helfen. Er ging zu Bauer Thomas' Haus und sprach mit einem, der drinnen saß und kehrte dann zu seinem Posten zurück und kümmerte sich nicht weiter um ihn. Sven wollte gerade fragen, was los sei, da kam ein Magier aus dem verkohlten Türrahmen.

Er war recht alt und ein schmutziges Gesicht, in dessen tiefen sorgenvollen Falten sich Dreck und getrocknetes Blut hineingefressen hatten. Er hatte einen scharf geschnittenen Vollbart und komplett schwarze Augen. Seine scharlachrote Robe mit den goldenen und silbernen aufgestickten Runen war zerrissen und flatterte im immer stärker werdenden Wind.

Er blieb in einigen Schritt Entfernung stehen und murmelte etwas in seinen verfilzten Bart. Dann schüttelte er den Kopf und kam langsam näher.

Sven stand auf und deutete eine kleinen Verbeugung an, so wie er es bei Tante Emma gesehen hatte, wenn sie Magier in ihrem Laden begrüßt hatte. Tante Emma... Niobe...

Sven zog geräuschvoll die Nase nach oben und unterdrückte ein Schluchzen. Der Magier stand jetzt vor ihm und ließ sich in die Knie sinken.

„Wer bist Du denn, Junge?", fragte er barsch.

„Sven", sagte Sven. „Ich will zu Niobes Haus. Es steht am Markt. Alle sind fort."

„Nun ‚Sven-der-zu-Niobe-will', leider darfst Du nicht einfach so in die Stadt, hier gilt Militärrecht. Nur wenn Deine Eltern dabei sind, oder Du eine Erlaubnis Deiner Eltern hast – und etwas einkaufen willst, darfst Du hier rein", er schaute ihn an. „Nun...?"

Sven sah kläglich zu Boden. „Meine Eltern sind...", murmelte er. „... tot."

Der Magier schnaufte auf und seufzte tief.

„Das tut mir leid, Sven", sagte er leise. „Weißt Du, ob sie schon begraben worden sind?"

„Nein, sie liegen bestimmt noch oben."

Sven stand immer noch mit gesenktem Kopf da und wusste nicht, was er machen sollte. Er fühlte sich leer.

„Wo, oben?", fragte der Mann.

„Bei der Köhlerhütte – mein Papa war Köhler."

„Was!", entfuhr es dem Magier überrascht. „Warte hier!"

In Svens Gedanken stahl sich ein Schimmer Hoffnung. Was wäre, wenn sie gar nicht tot waren? Vielleicht lebten sie noch und der Magier war deshalb so überrascht? Ja! Bestimmt lagen sie in einem Siechenhaus und wurden von Ärzten behandelt!

Die Wolken zogen vor der Sonne weg und mit einem Male war es wieder brütend heiss. Der Magier kam zurück.

„Nun, Sven", meinte er. „Kannst Du mir sagen was da oben passiert ist?"

„Meine Eltern", wisperte er. „Sind sie noch am Leben?"

Traurig schüttelte der Alte den Kopf. „Nein."

Sven wollte in Tränen ausbrechen, aber er schaffte es nicht. Nicht einmal ein trockener Schluchzer kam über seine Lippen. Der Druck in seinem Kopf schwoll an, dass es sich anfühlte, als müsste dieser gleich platzen, aber das erleichternde Weinen kam nicht.

„Ich weiss nicht, was da passiert ist", flüsterte er heiser und setzte sich wieder auf den Stein.

Der Magier griff nach seinem Kopf und etwas prickelte auf Svens Haut.

„Oh-oh", machte der Magier

Seit drei Tagen waren sie nun schon unterwegs in Richtung Sangarasso. Und die Wälder, die Berge und die Stille schien kein Ende nehmen zu wollen. So schön die Wälder am Anfang gewirkt haben mochten, so eintönig waren sie jetzt.

Er und Fil'yana hatten nicht viele Worte gewechselt und sie überließ ihm die Versorgung des alten Mannes. Er sagte nichts dazu und kümmerte sich um ihn. Der Verwundete atmete regelmäßiger und die kalten Schweißausbrüche blieben heute das erste mal seit ihrem Aufbruch aus.

Die Shararrim hatte ein kleines Feuer angezündet und wärmte ein wenig Essen auf. Er setzte sich hinzu und schaute sie an. Sie sah müde aus, ihr Fell wirkte ein wenig zerzaust und ihre Augen hatten den Glanz verloren. Lustlos stocherte sie mit einem kleinen Ast im Feuer herum.

„Ich lege mich schlafen", ächzte Amentio und legte sich hin. Fli'yana nickte nur langsam.

Er legte sich ans Feuer und schloss die Augen.

Tief in der Nacht wurde er wach. Es war still, bis auf ein unterdrücktes Wimmern und Keuchen. Das Feuer war fast heruntergebrannt und der Mond schien durch die Baumwipfel.

Fil'yana lag zusammengekrümmt neben dem Feuer und weinte leise...

„Nein! Nein! Die Flammen, nicht... sie verbrennen... Tarathos! Geh nicht, nicht... Tarathos... bitte..."

Amentio stand auf und ging leise um das Feuer herum.

„Fil'yana?" flüsterte er. „Fil'yana, bist Du wach?"

Ihre Augen waren weit geöffnet, doch sie sah nicht diese Welt. Sie blickte in einen Albtraum, dem sie nicht entfliehen konnte. Flammen züngelten aus ihrem Geist.

Amentio sah auf die sich quälende Shararrim hinab und spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, sie weiter leiden zu lassen, so wie sie den Mann hatte weiterleiden lassen wollen.

LASS SIE. SIE VERDIENT ES NICHT BESSER! LASS IHR DIE QUAL, DIE SIE ANDEREN WÜNSCHT!

Doch schon im nächsten Augenblick schalt er sich selbst ein Monstrum – wie konnte er es wagen! Wie konnte er es wagen, einfach nur zuzusehen, wenn sie jemand quälte.

Er legte sich neben das wimmernde Wesen und schloss sie in die Arme. Im selben Augenblick seufzte sie tief und war ruhig eingeschlafen.

Am nächsten Morgen war sie fort.

Doch sie blieb nicht lange weg. Er lag noch da und war wach genug dafür mitzubekommen, dass er noch schlief, als sie wieder kam und ihn weckte, indem sie Fleisch briet.

Er richtete sich auf und sah sie an. Sie sah auf alle Fälle erholter aus, als gestern.

„Wie hast Du geschlafen?"

Sie sah ihn zunächst an, als wäre er ihr auf den Schwanz getreten, meinte dann aber leise:

„Gut. Danke."

Dann starrte sie wieder ins prasselnde Feuer.

„Fil'yana"

„Ja?", hob sie den Kopf.

„Ich hätte... er... es... es tut mir leid, was ich zu Dir gesagt habe.

„So?", sie verengte ihre Augen zu Schlitzen.

„Ja... ich... was ich zu Dir gesagt habe... war... nicht richtig."

„Das stimmt", pflichtete sie ihm bei.

„Aber es war auch nicht richtig, was Du machen wolltest."

Wieder sah sie ihn so seltsam an, nickte dann aber langsam und bedächtig.

„Ja... Es kann sein, dass Du Recht hast."

Sie seufzte tief und lehnte sich gegen den Baum. Der Alte Mann schlief immer noch.

„Früher waren wir anders", meinte sie. „Früher haben auch wir die Schwachen unseres Volkes geschützt. Und auch die anderer Völker. Heute verkaufen wir sie für unsere Freiheit, eine Freiheit, die keine ist."

„Hat Euch die Herrschaft der Purpurnen so verändert?"

Sie starrte ins Feuer und trank einen Schluck Wasser, bevor sie fortfuhr.

„Früher, so hat es mir mein Vater erzählt, waren wir ein stolzes Volk. Wir wahrten unsere Traditionen und Riten. Unsere Sitten und Gebräuche. Er sagte mir, dass wir nicht von uns aus, anderen halfen, es aber taten, wenn man uns darum bat. Der Brunnen auf unserem Dorfplatz, der ist ein Zeichen das Dankes eines Menschendorfes, dem wir eins aus bitterer Not geholfen haben. Aber das ist lange her. Lange, bevor meine Großmutter meinen Vater auf die Welt brachte, lange, bevor die Purpurnen kamen. Als sie kamen, stellten sie mein Volk vor die Wahl: entweder wir geben ihnen Sklaven oder wir würden vernichtet. Was hätten wir tun sollen? Wir opferten das Wohl weniger für das Wohl vieler. Eine grausame Wahl, aber die einzige die wir treffen konnten."

„Ihr hättes Euch wehren können!"

Fil'yana schnaubte verächtlich.

„Ha! Das sagen immer die, welche nicht dabei waren, die Situation nicht kennen. Schon lange, bevor die Armee der Purpurnen zu uns kam, erreichten uns Gerüchte, dann Nachrichten und schließlich Flüchtlinge, die berichteten, wie schrecklich die Herrschaft der Purpurnen war, und was sie mit widerspenstigen gemacht haben, mit denen, die sich gewehrt hatten!"

Amentio schwieg.

„Wir sind ein kleines Volk", fuhr die Shararrim fort. „Nur etwa jedes vierte Junge aus einem Wurf überlebt. Einen Krieg dieses Ausmaßes, selbst mit den Kräften aller Shararrimstämme, würde unser Volk nicht überleben, geschweige denn, gewinnen.

Und so hieß es für uns Sklaven liefern oder untergehen. Es mag sein, dass man die Freiheit liebt, aber noch mehr liebt man das Leben. Nach jedem Atemzug will man noch einen machen, nach jedem Augenblick noch einen erleben. Das kann man uns nicht vorwerfen!"

Sie sah ihn an und er nickte langsam: „Ja. Das kann man nicht."

„Also wurde der Wettbewerb weiterhin abgehalten, doch die Verlierer wurden um den Preis des Friedens an die Purpurnen gegeben."

„Wisst ihr, was mit ihnen passiert."

Fil'yana sah zur Seite und schluchzte leise... Ein Bild entstand vor Amentios Augen, wie sie in der Nacht dalag und wimmerte... Tarathos...

„Keiner von uns will es wissen... Es ist so, als ob wir alle die Augen verschlössen und immer noch behaupteten, wir wären sehend. Niemand fragt danach, denn alle ahnen, dass die Antwort den Frieden und die Freiheit, die wir so haben, nicht wert sind.

„Ist das nicht ein wenig kurzsichtig?"

„So kurzsichtig, wie die Menschen in ihren Städten und die nicht wissen wollen, woher im Endeffekt ihre Reichtümer kommen? Dass er weit außerhalb ihres Horizontes von Sklaven unter bedauernswerten Bedingungen geschaffen wird? Das zwei Sklaven dafür sterben, nur damit ein reicher Schnösel ein Brot wegwerfen kann, weil ihm die Kruste zu dick ist? Niemand in der Stadt, keiner der Menschen, keiner der Städter fragt sich, woher die Nahrung, der Reichtum und die seltenen Kräuter kommen! Auch sie verschließen die Augen!"

Sie sah ihn aus ihren blauen Augen an.

„Die Menschen sind nicht besser als wir. Und wir nicht besser als sie."

Er sah sie ein wenig erschrocken an – mit einem derartigen Ausbruch hatte er nicht gerechnet.

„Ja...", sagte er leise. „Wir sind nicht besser als ihr."

Und nach einer kleinen Weile sagte er leise, so dass nur er es hörte: „Und ich bin nicht besser als Du. Wie konnte ich das nur vergessen."

Sie frühstückten zu Ende und machten sie dann wieder auf den Weg nach Sangarasso. Sie würden bald auf eine Handelsstraße treffen, die direkt dorthin führte. Dort würde sie besser vorankommen und könnten, wenn sie Glück hatten, auf einen Wagen aufsteigen können, um so noch schneller voranzukommen.

Der Abstieg aus den Bergen war alles andere als leicht, und das Panorama, was sich ihnen bot, war alles andere als schön.

Ein schmaler Felsgrat führte über einer Schlucht zur Handelsstraße, die nach Sangarasso hineinführte. Sangarasso selbst lag auf einem Hochplateau, das sich über der „Brennenden Schlucht" erhob. Schwarzes Basaltgestein glänzte im Schein unzähliger kleiner Vulkane und Schwefelquellen. Unter ihnen, sicherlich mehr als eine Meile tief loderten unheimliche Lichter und stieg gelber Rauch auf. Was am meisten schockierte, war, dass da unten, in all den chaotisch wirkenden Naturgewalten, Dörfer waren!

Dörfer, in denen Sklaven hausten und Vulkanasche förderten, Edelsteine und magische Materialien, die es nur hier gab.

Vom Hochplateau, auf dem Sangarasso lag, führten unzählige Fahrstühle nach unten und reichten Förderbrücken bis zur Stadt.

Die Häuser waren alle Ruß und Schwefelbedeckt und aus den Toren der Stadt quollen, einem riesigen Heerwurm gleich, Karren und Wagen, die ihre kostbare Fracht über den gesamten Kontinent verteilten.

Die Sonne würde bald untergehen, ohne dass sie die Chance haben würden, die Straße zu erreichen. Also machten sie hier am Waldesrand eine letzte Rast. Ein karges Mal und frisches Wasser waren ihr Abendessen. Der Alte Mann war immer noch nicht wach, doch schien es ihm noch besser zu gehen. Sicher würde er morgen wach sein, dann würden sie ihn nicht mehr tragen müssen.

Sie machten das Feuer aus, um keine Räuber anzulocken und waren über die Warmen Winde, die aus der brennenden Schlucht heraufgeweht wurden, froh.

Er legte sich auf den Boden und deckte sich zu. Fil'yana schaute ein wenig unschlüssig, doch als er nickte, kam sie zu ihm und legte sich neben ihn.

Bald darauf waren sie beide eingeschlafen und träumten von ausbrechenden Vulkanen.

Am nächsten Morgen war der Alte, den sie gerettet hatten, verschwunden. Eine kleine Rose aus Achat lag in der Feuergrube und ganz in der Nähe flog ein purpurner Käfer auf und verschwand im schwefelgelben Rauch.