Kapitel 3
Am darauffolgenden Tage wartete ich vergeblich am Fluß.
Auch die ganze Woche lang ließ Ereinion – entgegen seiner Zusage – sich nicht sehen, und ich fing
langsam an, mir wirklich Sorgen zu machen.
Wenn ich heute so darüber nachdenke, dann denke ich, daß es doch wirklich seltsam war: Ich machte
mir Sorgen um jemanden, den ich kaum kannte, der wesentlich älter war als ich, und der
offensichtlich noch nicht einmal menschlich war.
Nach zwei Wochen gab ich es auf, jeden Nachmittag am Fluß zu sitzen, und begann, nur noch jeden zweiten Tag kurz vorbei zu sehen.
Einen Monat später dachte ich schon darüber nach, ob ich vielleicht eine Halluzination gehabt
hätte, und ging nur noch einmal wöchentlich zum Fluß; und das nicht notwendigerweise nachmittags.
Irgendwann machte ich meine Spaziergänge nur noch relativ selten, und konzentrierte mich nicht mehr
unbedingt darauf, jemanden zu finden, der vielleicht nicht da war.
Etwa zwei Jahre nach unserem letzten Treffen hatte ich die seltsamen Treffen und meinen "Sprachschüler" schon fast verdrängt, aber nicht wirklich vergessen.
Bei einem eher zufälligen Spaziergang am Fluß sah ich dann aber auf dem umgefallenen Baum, auf welchem ich Ereinion zum ersten Mal gesehen hatte, etwas in der Abendsonne aufblitzen.
Dort – an einem knorrigen Ast – hing ein Band mit einem Stern daran. Diese Sterne, vierzackig mit einem der Zacken langgezogen – kannte ich von Ereinion's Tunika, und ich wußte, daß er irgendwann in der Zeit, in welcher ich nicht da war, da gewesen sein mußte und offensichtlich auf mich gewartet hatte.
Ich kam mir, gelinde gesagt, schlecht vor. Andererseits fühlte ich aber auch so etwas wie Wut in mir, denn offensichtlich ging es ihm so gut, daß er herkommen konnte. Er wußte doch von unserem letzten Treffen, wo ich wohnte – wieso war er nicht zu mir gekommen?
Verzweifelt überlegte ich, wie ich ihm eine Nachricht zukommen lassen könnte, die er auch
verstehen würde; denn keineswegs hatte ich vor, wieder jeden Nachmittag sinnlos am Fluß zu
verbringen, falls er wieder nicht erscheinen würde.
Ich hatte ja keine Ahnung, wann er den Stern hinterlassen hatte, denn ich war schon mehrere Wochen
nicht mehr am Fluß gewesen.
Die einfachste Sprache, so hatte ich gelernt, ist die der Piktogramme. So rannte ich nach Hause,
holte mir ein Messer und schnitzte an der Stelle, wo ich den Stern am Band gefunden hatte, ein
einfaches Haus hinein, versah ein Fenster – welches, verglichen mit unserem Haus, mein Fenster war –
mit einem Pfeil und kerbte zudem einen Mond über das Haus.
Meiner Ansicht nach war dies ein sehr eindeutiges Piktogramm, welches er verstehen würde.
Dann legte ich das Band mit dem Stern um meinen Hals, versteckte es unter meinem Pullover und ging
seufzend wieder heim.
Diese ganze Aktion hatte eigentlich nur eines zur Folge: Daß ich nächtelang nicht besonders gut schlafen konnte, weil ich ständig darauf wartete, daß irgend etwas passieren würde. In den ersten Tagen ging ich trotz meiner festen Absicht, dies nicht zu tun, wieder täglich zum Fluß, um nachzusehen, ob sich an dem Baum etwas verändert hatte; aber nichts passierte.
Wieder etwa drei Monate später, und wieder hatte ich das alles fast verdrängt, aber dank dem Stern, welcher immer noch um meinen Hals hing, nicht vergessen, wurde ich nachts von recht seltsamen Geräuschen geweckt.
Im ersten Moment dachte ich, es wäre ein kleiner Vogel gegen mein Fenster geflogen, und wollte eigentlich weiter schlafen. Doch als sich zu dem kleinen Vogel offenbar noch ein zweiter gesellte, hielt ich es doch für angebracht, nachzusehen.
Ich öffnete das Fenster, was zur Folge hatte, daß der nächste ‚kleine Vogel', welcher eigentlich ein Steinchen war, an meiner Stirn landete.
"Autsch!" Stieß ich aus, während ich versuche, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
Dort unten, in der Dunkelheit zwischen den Bäumen, konnte ich eine Gestalt sehen; doch egal, wie ich die Augen zusammenkniff, ich konnte nicht genau erkennen, wer das war.
"Ereinion?" Zischte ich.
"Sarah," hörte ich jemanden antworten.
"Moment."
Ich glaube nicht, daß ich mich vorher jemals so schnell angezogen hatte, die Treppen herunter- und möglichst leise aus dem Haus hinaus gelaufen war.
Mit klopfendem Herzen ging ich auf die Baumgruppe zu. Einen Moment lang hatte ich ein wirklich schlechtes Gefühl – was, wenn es jemand ganz anderes als Ereinion war? Was, wenn Ereinion doch nicht so gut war, wie ich ihn in Erinnerung hatte?
An der Baumgruppe war niemand, und so lief ich in Richtung des Flusses weiter. Im Mondlicht sah ich eine Gestalt auf dem umgefallenen, alten Baum sitzen; das lange Haar bewegte sich im Nachtwind.
"Ereinion," begann ich.
"Nein." Die Antwort war eine fremde Stimme, und ich fror quasi auf der Stelle ein.
"Wer... wer bist du?" Fragte ich vorsichtig und begann, einige Schritte zurückzugehen.
"Elrond." Kam die Antwort.
Elrond? Dumpf erinnerte ich mich an das letzte Gespräch mit Ereinion, an denjenigen, welchen er seinen Freund genannt hatte, und welcher außer ihm dieses seltsame Lied beherrschte, was er an jenem Tag in der Küche gesungen hatte.
"Welches Lied können nur du und Ereinion?" Stellte ich ihn auf die Probe, bereit, wegzulaufen.
Er begann etwas zu singen, was ich nicht verstand; aber die Laute der Sprache kamen mir vertraut vor, genau, wie die Melodie, welche ich vor zwei Jahren nur ein einziges Mal gehört hatte.
"Elrond," nickte ich und ging langsam auf ihn zu, "gut, du scheinst es wirklich zu sein... wo ist Ereinion?"
Er schüttelte den Kopf, legte den Kopf in die Hände.
"Was?" Runzelte ich die Stirn. "Was ist passiert, Elrond?"
"Ereinion... Sorgen... Hilfe." Diese drei Worte, welche ich als einzige verstand, waren begleitet von einem Schwall von Worten, welche ich nicht verstand.
"Äh – langsam," unterbrach ich ihn, "Elrond, ich verstehe nichts. Ich kann diese Sprache nicht, und du offensichtlich meine auch nicht wirklich. Was..."
Er sprang auf, trat einige Schritte auf mich zu, stand Momente lang vor mir, griff mein Handgelenk und versuchte, mich mit sich zu ziehen.
"Hör auf! Was willst du? Ich gehe nirgendwo mit dir hin, wenn ich nicht weiß..."
Er ließ mein Handgelenk los, drehte sich zu mir um; sein Ausdruck war fast flehentlich. Ein einziges Wort verließ seine Lippen.
"Bitte."
Ich sah in seine Augen, welche ich im Mondlicht kaum erkennen konnte. Einen Moment lang zögerte ich, dann...
"Geh," wedelte ich mit meiner Hand nach vorn, "geh vor, ich gehe mit. Oh Gott, ich weiß so, daß ich das bereuen werde."
Und er ging, und ich folgte. Er brachte mich irgendwo durch den Wald, bis zu einer Lichtung, auf welcher ein seltsamer Nebel hing. Ohne zu Zögern ging er in den Nebel hinein; ich selber haderte nur den Bruchteil einer Sekunde mit mir und folgte ihm dann.
Der Nebel war seltsam, er schien die komplette Umgebung zu verschlucken; selbst das Gras, der Waldboden zu meinen Füßen schien zu verschwinden. Nur Elrond, der einige Schritte vor mir ging, wurde nicht vom Nebel verschluckt.
