Kapitel 4

Und dann traten wir aus dem Nebel heraus, in strahlendes Sonnenlicht.

Einen Moment lang blieb ich stehen, schockiert, betroffen, meines Atems beraubt. Es war späte Nacht gewesen, als ich in den Nebel hineingelaufen war; und ich war sicherlich nicht so lange dort drin gewesen, daß es schon heller Tag sein konnte.

Doch als ich mich umsah, begriff ich, daß ich auch nicht mehr in meinem hausnahen Wald war. Ich stand am Rande eines kleinen Wäldchens, dessen Bäume sich drastisch von dem unterschieden, in was ich hineingelaufen war.

Vor mir tat sich eine Schlucht, ein Abgrund auf, in welchem eine Stadt stand – eine Stadt, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte; mit hohen weißen Mauern, unzähligen verschnörkelten Türmen und einem regen Treiben der Bewohner. Zudem brannte die Stadt an einigen Stellen, die Mauern waren teilweise kaputt.

Elrond war schon weiter vor gelaufen; einen schmalen Pfad herunter, welcher offensichtlich in die Stadt führte. Kurz drehte er sich um, wies mir mit wedelnder Hand, ihm zu folgen, was ich stumm auch tat.

Beim Eintritt in die Stadt bemerkte ich, daß ich die spitzen Ohren Ereinions keineswegs nur als Halluzination erlebt hatte. Alle Bewohner dieser Stadt hatten diese Art Ohren – einschließlich Elrond. Alle in dieser Stadt waren außergewöhnlich groß und schön, und natürlich schien niemand meine Sprache zu sprechen.

Die Leute waren sehr damit beschäftigt, Dinge aus den Häusern zu schaffen und auf Wagen mit Pferden zu laden. Sie waren hektisch, eilig, manche von ihnen waren verletzt.

Elrond führte mich zu einem großen, weißen Haus – nein, Palast war wohl der bessere Ausdruck.

Nachdem wir durch unzählige Gänge gelaufen waren, viele Türen passiert hatten, öffnete Elrond endlich eine und wedelte mir mit der Hand, einzutreten, während er davor stehen blieb.

Langsam betrat ich den Raum, der eher eine Art Saal war. Am Anfang stand ein beeindruckend großer Schreibtisch. Die unzähligen Fenster waren aus wunderbarem Buntglas gemacht und zeigten seltsame Szenen; ein oder zwei waren an einigen Stellen zerbrochen.

Am Ende des Saales stand ein gewaltiges Bett, in welchem jemand lag. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich langsam darauf zuging.

Die Gestalt war fahlweiß, das rote Haar wie ein Heiligenschein auf dem Kissen ausgebreitet. Die Arme waren schmutzig und teilweise verletzt, genau wie das Gesicht. Mit leicht geöffnetem Mund lag dort Ereinion, voll angezogen, und schlief offensichtlich.

"Ereinion?" Sagte ich leise, doch er antwortete mir nicht.

Angesichts der Tatsache, daß er offensichtlich verletzt und erschöpft war, dachte ich, daß Schlaf wohl das Beste für ihn wäre; und so zog ich mir einen Stuhl heran, setzte mich einfach neben das Bett und wartete.

Es kam mir wie Stunden vor, doch es konnte nicht wirklich so lange gedauert haben, bis er aufwachte; sein Gesicht hatte mittlerweile eine etwas gesündere Farbe angenommen.

"S...Sarah?" Fragte er, doch es war wohl eher eine Feststellung als eine Frage.

"Ich bin da." Stellte ich wiederum fest.

Ein leichtes Lächeln kam auf seine Lippen. "Ich bin... glücklich, dich zu sehen."

Nun mußte auch ich lächeln.

"Du hast die Bücher offenbar gelesen, die ich dir gegeben habe? Deine Sprache ist gut geworden."

"Danke."

Wir sahen uns mehrere Minuten lang an.

"Du bist... größer geworden. Erwachsener."

"Ja, und ich habe Pubertätspickel," stellte ich fest.

"Was sind denn...?"

"Vergiß es. Äh – Ereinion – ich will nicht respektlos erscheinen, tolle Hütte hier und so, echt beeindruckend – aber wo zur Hölle bin ich eigentlich, was ist hier los und vor allem: Warum zum Teufel hast du dich so lange nicht blicken lassen?"

Er hob die Brauen. "Lange?"

"Naja – seit du das letzte Mal gesagt hast, daß wir uns ‚morgen' wieder sehen, sind schon mehr als zwei Jahre vergangen..."

Seufzend sank er in sein Kissen zurück. "Zwei Jahre? Nur?"

"NUR? Äh – ich finde, das ist schon ganz schön viel..."

"Du hast sicherlich schon begriffen, daß du nicht mehr so ganz da bist, wo du eigentlich herkommst?"

"Schon?"

"Würde dir da auch der Gedanke einleuchten, daß hier die Zeit etwas anders läuft als bei euch?"

"HÄH?"

"Bei dir sind zwei Jahre vergangen – bei mir ein paar mehr... "

"Ein paar mehr heißt was genau?"

"Fast zweihundert."

Uff. Ich muß ja zugeben, daß er mich schon sehr überraschen konnte...

"Das heißt, die Zeit hier vergeht viel schneller als bei mir zuhause?"

"Ja. Etwa achtundachtzig mal so schnell, um genau zu sein."

"Das heißt, ich könnte theoretisch... mmmh... dreieinhalb Tage hier sein, und zuhause vergeht nur eine einzige Stunde?"

"In etwa..."

"Du machst Witze?"

Er lachte, aber es war kein fröhliches Lachen.

"Sarah – sehe ich für dich so aus, als wäre ich in der Laune, Witze zu machen?"

Ich schwieg, starrte auf die Bettdecke. "Nicht wirklich," antwortete ich schließlich.

"Hm," brummte er und starrte ebenfalls auf die Bettdecke.

"Was genau soll ich eigentlich hier?" Fragte ich nach einer Weile.

"Ich wollte... mich verabschieden." Sagte er. "Wir werden uns wahrscheinlich niemals wieder sehen, und im Moment ist es mir absolut unmöglich, hier wegzukommen; also habe ich Elrond geschickt, dich zu mir zu bringen."

"Du erklärst mir das?"

"Sieh mal, dir ist aufgefallen – die Stadt ist kaputt. Wir befinden uns im Krieg. Ich habe dir schon mal versucht zu erklären, was ich bin; doch damals wußte ich die Worte nicht; heute kann ich es besser."

Er setzte sich ein Stück auf.

"Ich bin Ereinion Gil-galad, König der Eldar – das sind die, die so wie ich aussehen, oder zumindest ähnlich. Das ist das Wort, was ich dir nicht erklären konnte: Aran; das heißt König. Diese Stadt hier ist Lindon; dieses Land hier nennen wir Eregion."

Einen Schluck aus einem Becher nehmend, welcher auf einem kunstvoll geschnitzten Tischchen am Bettrand stand, fuhr er fort.

"Wir befinden uns im Krieg – mit jemandem, der so böse ist, wie du es dir niemals vorstellen könntest – wie ich mir niemals vorstellen konnte, bis ich ihn traf."

Ein langer, verzweifelter Blick zum Fenster; ein tiefer Atemzug; und ich hatte das Gefühl, als kämpfe er mit Tränen.

"So viele sind tot; so viel ist hier passiert. Wir müssen hier weg, woanders hin, ich sehe keine Möglichkeit, die Leute hier zu behalten und zu siegen. Es ist so viel passiert... viel zu viel."

Ein trauriges Lächeln.

"Ich hätte so gerne mehr von dir gewußt; so gerne mehr von dir gelernt, von den Dingen in deinem Haus, der Kasten, der so seltsame Musik machte. Es tut mir leid, daß ich so lange nicht kommen konnte; aber ich wollte dir wenigstens auf Wiedersehen sagen, bevor wir gehen müssen. Denn wenn wir hier weggehen, dann bin ich nicht mehr in der Nähe des... Nebels, und kann auch nicht mehr zu dir kommen."

Nun war es an mir, einen langen, verzweifelten Blick zum Fenster zu werfen. Dieses Wesen, was ich eigentlich so wenig kannte, verabschiedete sich von mir – und zwar auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, um einer Zukunft entgegen zu sehen, die – wenn ich mir den Zustand seiner Stadt betrachtete – nicht wirklich rosig aussah.

"Nie wieder?" Hakte ich vorsichtig nach.

"Wahrscheinlich nicht, nein. Es wäre viel zu schwierig, eine Zeit zu vereinbaren."

"Laß es uns doch versuchen – sagen wir – wir treffen uns – oder versuchen das zumindest – alle paar Jahre? Bitte." Sagte ich sanft. Nun, daß ich ihn ‚wiedergefunden' hatte, wollte ich ihn nicht so schnell wieder durch meine Finger rutschen lassen.

"Sarah... ich kann es nicht versprechen... ich weiß ja nicht einmal, ob ich morgen noch..."

Er verstummte; doch ich griff seine Hand.

"Alle 5 Jahre? Das sind – mmmh – alle 440 Jahre für dich. Kann das zu schwer sein? Es muß ja nicht auf den Tag genau sein... ich werde einfach alle 5 Jahre einen Monat lang jeden Nachmittag zum Fluß gehen, oder so. ‚Morgen noch' oder nicht ist nicht wichtig, sag doch einfach, wenn du es schaffst, dann schaust du in 440 Jahren noch mal vorbei – wenn du dich dann nicht zu alt fühlst?"

Sein Lächeln hatte nun etwas weniger gequältes.

"440 Jahre hört sich gut an... Plan also: 440 Jahre überleben. Wenn ich das schaffe, freue ich mich, dich wiederzusehen."

An der Türe klopfte es, und Elrond trat ein.

Ereinion sagte etwas zu ihm, und er nickte nur kurz, um mich dann anzusehen.

"Ich habe ihm gesagt, er soll dich wieder heimbringen." Sagte Ereinion zu mir.

"Aber – Ereinion – ich bin doch erst so kurz hier und habe noch so viel Zeit, so viele Fragen, soviel..."

Er schüttelte den Kopf.

"Nein, nicht heute. Zu wenig Zeit. In fünf Jahren siehst du mich vielleicht wieder, dann kannst du immer noch alles fragen. Und ich habe dann bestimmt auch eine Menge Fragen." Er zwinkerte mir zu.

"Aber..."

"Kein Aber. Geh jetzt. Und versuche unter keinen Umständen jemals allein durch den Nebel zu gehen – denn solltest du den Weg tatsächlich finden und hier landen, so weißt du nicht, was dich erwartet. Warte auf mich in fünf Jahren, ich gebe mir Mühe, die Verabredung einzuhalten."

Ich seufzte nur und sackte dabei etwas nach vorne, legte meinen Kopf in die Hände.

"Geh jetzt, ich will dich sicher auf der anderen Seite wissen, wenn der nächste Angriff kommt. Hast du den Stern noch?"

Wortlos zog ich den Stern an seinem Band unter meinem Shirt hervor, und zum ersten Mal an diesem Tag schien er ein einigermaßen befreites Lächeln zu haben.

"Pass gut auf ihn auf; vielleicht komme ich eines Tages und will ihn zurück. Nun geh mit Elrond, beeile dich. Pass gut auf dich auf."

"Du auch," sagte ich, stand auf und ging langsam, aber sicher zur Türe, ohne mich ein einziges Mal umzudrehen.

Der Weg zurück kam mir unendlich lang vor; und als wir aus dem Nebel heraus wieder ‚bei mir' landeten, da fiel es mir zunächst wahnsinnig schwer, irgendetwas zu sehen, da meine Augen sich nun bereits an das Tageslicht gewöhnt hatten und ich ja nun wieder mitten in der Nacht landete.

Ich drehte mich kurz um, zu Elrond, der sich eigentlich ebenfalls schon wieder zum gehen umgewandt hatte.

"Elrond?"

Er wendete seinen Kopf; seinen Ausdruck konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen.

"Pass gut auf ihn auf, ja?"

"Das werde ich wohl tun," nickte er, "du passe bitte aber auch gut auf dich auf."

Kurz nickte ich, dann fiel mir etwas auf und meine Augen wurden riesig.

"Was ist das denn? Du sprichst meine Sprache ja besser als er? Was war denn das vorhin, als du mich geholt hast, wo du so getan hast, als würdest du praktisch gar nichts von meiner Sprache beherrschen?"

Ich hörte ihn glucksen.

"Nun, einerseits war das vorhin einfacher für mich, um dich schnell und ohne lange Verzögerung mit mir zu bekommen. Und das ‚warum' kann ich dir auch erklären: Eigentlich bin ich nämlich der Bücherwurm, nicht Ereinion. Was denkst du, wer ihn in den vergangenen Jahren aus deinen Büchern unterrichtet hat? Der liest ja kaum die Staatspost, weil er so viel zu tun hat und käme niemals auf die Idee, in seiner ohnehin knappen Freizeit allein ein Buch anzufassen..."

Irgendwie war ich ja jetzt etwas angefressen und beleidigt, aber andererseits mußte ich auch grinsen.

"So was. Nicht zu fassen. Sehe ich dich auch beim nächsten Mal?"

"So Eru will."

"Und wer ist nun wieder ‚Eru'?"

"Das erzähle ich dir dann auch beim nächsten Mal," sagte er und verschwand wieder zwischen den Bäumen.

Auf dem Weg nach Hause dachte ich über verschiedene Dinge nach.

Erstens war es für mich sehr erstaunlich, daß es offenbar tatsächlich so was wie ‚Parallelwelten' gab – ich hatte darüber schon in Büchern gelesen, aber niemals wirklich daran geglaubt.

Zweitens tat mir Ereinion unendlich leid, denn nun konnte ich den Druck vage verstehen, unter dem er stand. Allein der Unterschied zwischen seinem Aussehen vor zwei Jahren und deute war gewaltig; er hatte völlig fertig ausgesehen.

Drittens dachte ich darüber nach, daß ich in fünf Jahren länger als nur ein paar von ‚meinen' Stunden mit Ereinion verbringen wollte, und beschloß, daß ich, falls ich mit 21 Jahren einen Beruf haben würde, recht frühzeitig an die Einreichung von etwas Urlaub denken sollte.

Und viertens schließlich beschloß ich, mich am nächsten Tage von irgendjemand in die Stadt fahren zu lassen, um einen Juwelier aufzusuchen, der mir ein Datum, welches fünf Jahre in der Zukunft lag, in einen silbernen Stern gravieren zu lassen...