Kapitel 5
Fünf Jahre!
Die Jahre vergingen. Ich machte mein Abitur, begann, in einer anderen Stadt Kunst zu studieren.
Kurz vor meinem 20. Geburtstag verunglückten meine Eltern bei einem Autounfall. Es war der traurigste Geburtstag meines Lebens; ich saß abends allein in meinem Elternhaus und weinte mir praktisch die Augen aus.
Meine Eltern hinterließen mir ein ansehnliches Vermögen, welches zwar die Trauer nicht milderte, mir aber eigentlich ein Leben ohne Arbeit ermöglicht hätte. Doch ich wußte, daß ich, wäre ich nur noch zuhause geblieben, wohl wahnsinnig geworden wäre; und so setzte ich mein Kunststudium fort.
Ich lernte während des Studiums einige Männer kennen, aber irgendwie verglich ich sie – wohl mehr
unbewußt – alle mit Ereinion, was ja eigentlich ein Witz war, denn ich kannte ihn ja kaum und wußte
ja auch nicht, ob ich ihn jemals wiedersehen würde. Zudem war zwischen uns ja wirklich nie mehr
gelaufen als Gespräche; ich hätte in meiner Partnerwahl also eigentlich gar keinen Grund gehabt,
alle an ihm zu messen, der er doch wohl eigentlich noch nicht mal ein Mensch war.
Dennoch kam es zu einigen Beziehungen bei mir, die aber eher One-Night-Stands waren, aber nichts
wirklich ernsthaftes.
Der Fünfjahrestag kam. Schon Zwei Wochen zuvor richtete ich mir ein kleines Zelt am Fluß ein; unter keinen Umständen wollte ich in irgendeiner Form verpassen, wenn er kam – oder wenn Elrond kam, um mir wirklich schlechte Neuigkeiten zu bringen...
Zwei Wochen lang wohnte ich praktisch ununterbrochen in dem Zelt. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn er erschiene. Auch, wie es wäre, wenn er genau das nicht tun würde. Ich begann darüber nachzudenken, wie lange ich wohl warten würde, bis ich aufgeben müßte.
Auch fragte ich mich, wie er sich wohl verändert hatte. Für mich waren fünf Jahre vergangen; ich war von einem pickeligen Teenager zu einer jungen Frau geworden; aber er hatte bereits 440 Jahre verlebt – ob er deutlich gealtert war?
Und eines Morgens wachte ich auf, und am Fuße meines Schlafsackes saß eine Gestalt und lächelte mich an.
Ich rieb mir die Augen, um sicherzustellen, daß ich nicht eigentlich noch schlief.
Er hatte sich fast überhaupt nicht verändert. Er war noch nicht mal älter geworden; nur ein paar kleine Narben zierten seine Wange und Stirn. Die Haare waren feuerrot wie eh und je; das bleiche Gesicht, was ich vom letzten Mal in Erinnerung hatte, war einer etwas gesünderen Hautfarbe gewichen – und er lächelte.
"Ereinion!" Ich hätte mich beinahe überschlagen bei dem Versuch, mit einem Sprung aus dem Schlafsack zu kommen, und fiel ihm um den Hals.
"Sarah!" Stellte er etwas ruhiger fest und brachte mich erst einmal auf eine Armeslänge Abstand. Unverständig schüttelte ich den Kopf.
"Was?"
Er schaute mich prüfend, ernst, an, schaute kurz zu Boden und lächelte dann.
"Du bist... älter geworden. Ich dachte erst, du wärest jemand anders, aber dann habe ich das hier gesehen." Er zeigte auf meinen Stern, der unverändert, aber mittlerweile an einer Kette, um meinen Hals hing.
"Du hast dich überhaupt nicht verändert." Stellte ich fest. "Nur ein paar Narben, aber sonst – du siehst nicht wirklich aus, als wärest du 440 Jahre gealtert – ehrlich..."
"Ich habe da mal eine Frage," sagte er, "wie alt werdet ihr Menschen normalerweise?"
"Mh – so etwa 80 bis 100 – höchstens. Wieso?"
Ich sah, wie er schlucken mußte.
"Du bist jetzt wie alt?"
"Einundzwanzig, und selbst?
"Zweitausendeinundertund – das tut nicht wirklich was zur Sache, Sarah. Dich anzusehen zeigt mir, wie..."
"Alt und faltig du sein müßtest, wenn du das wärest, was ich bin, und genauso alt wärest, wie du jetzt bist?" Fragte ich.
Unwirsch schüttelte er den Kopf.
"Nein, wie kostbar und kurz und wichtig jeder einzelne Tag des Lebens ist – denn es kann so schnell vorbei sein."
Bei diesen Worten legte sich ein Schatten über meine Gedanken, denn ich dachte an meine Eltern.
"Meine Eltern sind letztes Jahr gestorben," sagte ich leise. "Es war... ein Unfall."
"Das tut mir leid."
"Und mir erst."
Wir sahen uns eine Weile schweigend an, bis ich fand, daß es an der Zeit wäre, das Schweigen zu brechen.
"Frühstück?"
"Gerne."
Das Schweigen ging weiter, bis wir am Haus angekommen waren.
