Verzweiflung

Legolas wusste nicht einmal, wo er war. Leise hörte er vertraute und fremde Stimmen. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Die Augen vermochte er nicht zu öffnen. Selbst das Licht der Nacht war zu hell. Sein Körper fühlte sich schwach und geschunden an, seine Gedanken waren wirr und befremdend. Er spürte, dass etwas mit ihm geschah, aber er wusste nicht, was. Er konnte nicht verstehen, was über ihn gesprochen wurde, obwohl es seine Heimatsprache war. Aber sein Geist ließ es nicht hinein. Warum war ihm so kalt? Er sehnte sich auf einmal nach der Wärme seiner Mutter und spürte ein verzweifeltes Verlangen aufkommen, ihre Stimme wahr zu nehmen und ihre Nähe zu spüren. Ein lauter Schrei formte sich in seinem Kopf, der Schrei eines Kindes, dass in der Nacht ängstlich nach seiner Mutter ruft, da ihn ein böser Traum heimgesucht hat. Legolas merkte nicht, dass dieser Schrei soeben über seine Lippen gekommen war.

Die Elben erschraken um ihn herum, Haldir beugte sich über ihn und legte die Hand auf seine schweißnasse Stirn. „Beruhige dich…Legolas". Aber Legolas zitterte am ganzen Leib, nachdem ihm der Schrei seine letzten Kräfte geraubt hatte, wimmerte er nur noch. Wieder wurde ein Becher an seinen Mund gehalten. Eine seltsam schmeckende Flüssigkeit wurde ihm eingeflößt. Er spürte bereits jetzt, wie sein Magen dagegen rebellierte. „Bitte, behalte es bei dir. Es ist so wichtig…." Wieder diese Stimme….Legolas versuchte die Augen zu öffnen, aber sein Kopf tat so weh. Er spürte ein glühendes Gefühl in ihm aufsteigen, dann wurde sein Kopf wieder sanft zur Seite gedreht. „Es hat alles keinen Sinn…" Haldirs Stimme klang verzweifelt und betrübt.

Gimli hatte sich derweil etwas vom Geschehen entfernt. Er brauchte einen ruhigen Ort zum Nachdenken. Darum hatte er sich eine abgelegene kleine Lichtung gesucht und sich unter einen der umliegenden Bäume gesetzt. Nur der Mond sah auf ihn herab und wachte über ihn. Er hatte solche Angst um seinen Elbenfreund. Sollte der weite Ritt wirklich umsonst gewesen sein? Würde Legolas vor seinen Augen sterben, sein bisher so kurzes Leben beenden? Aus welchem Grund litt seine Seele derartig? Waren es vielleicht die schrecklichen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit? Gimli konnte es sich kaum vorstellen, Legolas war während des Krieges zu einem tapferen und starken Elben herangewachsen. Er war für einen Elben unglaublich jung und trotzdem hatte er Aufgaben gemeistert, die manche seiner ältesten Verwandten nicht geschafft hätten.

Eine Unmenge von weiteren Fragen schoss ihm durch den Kopf. Hatte es einen anderen Grund? Von dem niemand wusste?

Gimli lehnte den Kopf an den Baum und schloss die Augen. Legolas musste kämpfen. Lautlos betete er für seinen Gefährten.

„Ich habe dich gesucht, Gimli" die melodische Stimme Galadriels erklang in seinen Ohren. Er öffnete die Augen und sah in dieses engelsgleiche Gesicht. „Begehrst du, in meinen Spiegel zu blicken? Vielleicht könnten sich einige Fragen klären. Ich selber vermochte nichts zu sehen, aber du als engster Vertrauter Legolas' wirst vielleicht einen Einblick in das Vergangene einfangen." Gimli zögerte. War es in Legolas' Sinne, dass er Dinge erfuhr, die er ihm niemals aus eigenem Antrieb erzählt hatte? „Frau Galadriel, ich bin Euch sehr dankbar für das Angebot, aber ich befürchte, dass Legolas dies nicht möchte."

Galadriel nickte und senkte betrübt den Blick. „Ich habe geahnt, dass du diese Antwort gibst. Und ich kann sie verstehen. Ich befürchte, wir werden Legolas verlieren. Es wurde bereits nach seinem Vater und seiner Mutter geschickt, damit sie ihn in seinen letzten Stunden begleiten können. Er hat bereits aufgehört zu kämpfen. Er ist bereit, sein junges Leben zu verlassen. Ich spüre es. Sein Lebenswille ist ausgehaucht. Nur wenn wir den Grund seines Leidens in Erfahrung bringen, können wir ihm helfen." Gimli spürte wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. „Ich möchte wieder an sein Lager gehen. Er muss weiter kämpfen, er darf nicht aufgeben!" Er stand auf und schritt hinter Galadriel durch den Wald. „ich fürchte, das liegt nicht in unserer Macht. Legolas alleine kann aufgeben oder kämpfen…" sagte sie sehr leise.

Gimli verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung, als sich ihre Wege trennten. Mit traurigem Blick trat er an das Krankenlager heran. Nur noch Haldir saß etwas abseits und schien zu meditieren, oder zu beten. Gimli wusste nicht, ob Elben beteten. Legolas lag auf dem Rücken, seine Haare waren zu einem Zopf geflochten worden. Die schlanken Hände lagen zusammen gefaltet auf der Brust. Ein Ausdruck von Bedrücktheit entstellte sein wunderschönes Gesicht, seine Stirn war in Falten gelegt. Die Elben hatte seine Kleidung gewechselt, er trug nun ein dünnes, weißes Leinenkleid. Kein richtiges Kleid, sondern eine Art Robe, wie sie die männlichen Elben Loriens zu tragen pflegten. Man konnte kaum den Unterschied zu seiner Gesichtsfarbe erkennen. Gimli strich über seinen Arm. Er spürte, dass Legolas leicht zitterte. Vielleicht fror er, immerhin hatte er eine Art Fieber. Eine Decke war nicht vorhanden, also zog Gimli seinen Elbenumhang aus und legte ihn über Legolas' Beine. „Damit du nicht frierst." sagte er nur. Andere Worte wollten nicht über seine Lippen. Eine Träne kullerte über seine Wange und landete im Bart. ‚Legolas, verlass mich nicht….bleib hier….' dachte er. Wann würde Elrond eintreffen? Gimli wusste nicht mehr, wie weit Bruchtal genau entfernt war, aber er war sich sicher, dass der Heiler schnellstens aufbrechen würde. Und was war mit Legolas' Eltern? Würden sie rechtzeitig ankommen, sollte er tatsächlich beschließen für immer zu gehen? Es würde ihnen das Herz brechen, zu sehen, dass ihr junger Sohn sie so schnell wieder verlassen würde, obwohl sie ihm ein ewiges Leben geschenkt hatten. Aber umso mehr würde es ihnen schmerzen, wenn sie zu spät kämen.

Legolas hatte nie über seine Eltern gesprochen, fiel Gimli auf. Warum nur? Er hatte einiges über seine Heimat berichtet, aber niemals seinen Vater oder seine Mutter erwähnt. Gimli wusste nicht einmal, ob Legolas Geschwister hatte. Es war schon etwas seltsam, schließlich hatten sie viele Nächte gemeinsam am Lagerfeuer gesessen und sich unterhalten. Erst jetzt bemerkte er, dass eigentlich immer nur er gesprochen hatte. Legolas hatte niemals viel erzählt. So als hätte er gar nicht daran denken wollen.

„Wenn du ein Geheimnis hast, dann sprich es aus. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dir zu helfen." sagte er leise zu seinem schlafenden Freund.

Auf einmal regte sich Legolas, langsam öffnete er die Augen und blinzelte Gimli an. „du…kannst… mir… nicht… helfen…" sagte er kaum vernehmbar und unter größter Anstrengung. „Er soll nicht sprechen…das ist zu anstrengend…" sagte Haldir auf einmal. „Aber ich muss doch wissen, was los ist. Es muss doch irgendwas sein!" Gimli schrie beinahe vor Verzweiflung. Haldir trat hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Beruhige dich, kleiner Freund, wir werden mit Sicherheit erfahren, was deinen Freund derart bedrückt. Du solltest etwas zu dir nehmen und dich ein wenig zur Ruhe legen. Ich werde über Legolas wachen." Gimli schüttelte beinahe entrüstet den Kopf. „ich möchte ihn nicht alleine lassen…ich habe es versprochen."

„Wenn dies dein Wunsch ist, dann darfst du natürlich hier bleiben…"

Er stellte einen Stuhl direkt an das Bett und Gimli setzte sich. Haldir setzte sich neben ihn. „Es wird ihm gut tun, zu spüren, dass du in seiner Nähe bist."