Kapitel 1
„Kagome! Wie lange dauert das denn noch?" Inuyasha saß auf einem Baum, von dem er einen guten Blick auf Kagome hatte, die auf einer kleinen Waldlichtung aufgeregt von einer Ecke zur anderen rannte und eifrig Kräuter sammelte. Sie hielt inne, schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Aber er hatte länger durchgehalten, als sie gedacht hätte. „Ich hab dich gewarnt! Also, nerv mich nicht." Die Heilpraktikerin in Ausbildung ignorierte den quengeligen Halbdämon im Baum und setzte ihre Tätigkeit fort. Ihr Korb war bereits sehr voll. Ihr Meister würde staunen über die Qualität der Pflanzen, denn in ihrer Zeit war es sehr schwierig von Schadstoffen unbelastete Pflanzen zu bekommen. Wenn sie nicht die Möglichkeit gehabt hätte, mit dem Brunnen in die Vergangenheit zu reisen, müsste sie die Pflanzen in einem teuren Reformhaus in getrockneter Form kaufen. Und weil sie wusste, dass ihr Meister frische Pflanzen bevorzugte, nutzte sie ihre Connections zur Vergangenheit und konnte nebenher noch Geld sparen. „Keh, wenn ich dich allein gelassen hätte, wärst du nur in Schwierigkeiten geraten. Nun mach schon, es kann doch nicht ewig dauern, so blöde Pflanzen zu pflücken!" Das waren die Momente, in denen Kagome es zutiefst bereute, ihm die Kette abgenommen zu haben.
Was ist denn nur mit ihm heute los? So unleidlich war er schon lange nicht mehr gewesen. Das ist das erste Mal seit sechs Monaten, dass er wirklich ekelhaft zu mir ist.
Sie hob den Blick und suchte nach seiner Gestalt in einem der näheren Bäume.
Ob er schon genug von mir hat? Aber wir sehen uns doch bloß einmal die Woche. Oder hat er eine andere...? Nein, Inuyasha würde so etwas niemals tun.
Aber der Gedanke wollte nicht ganz aus ihren Gedanken verschwinden. Gegen ihren Willen stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie sofort ärgerlich wegwischte.
Reiß dich zusammen, Kagome! Er ist schließlich nicht wie Miroku. Aber wenn sein Verhalten auf ihn abgefärbt hat? - Was rede ich da nur? Ich bin ja schlimmer als Inuyasha.
Frustriert hielt sie inne und kramte nach ihrem Taschentuch. Als sie ihre Nase geputzt hatte, zuckte sie erschrocken zusammen: Inuyasha saß plötzlich vor ihr und seine goldfarbenen Augen blickten sie aufmerksam an. „Ich habe es nicht so gemeint, ist doch kein Grund zum Heulen." Es klang nicht so abwertend, wie zu Beginn ihrer Freundschaft, aber die Worte allein verletzten sie sehr.
Er fällt wieder in alte Verhaltensmuster zurück, stellte sie bekümmert fest. „Ich gehe wieder nach Hause", teilte sie ihm tonlos mit. „Was? Aber du hast doch gesagt, du bleibst bis morgen!", erwiderte er. Sie zupfte die letzten Blätter ab und stand ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, auf. „Kagome? Hab... ich was falsch gemacht?" Er sah sie wie ein verlorenes Hündchen an.
Typisch! Ich muss ihm seine Fehler auf dem Silbertablett servieren!
„Sei ehrlich: bedeutet dir unsere Beziehung noch etwas?" Verärgert zog er die Augenbrauen zusammen und sprang auf. „Wieso zweifelst du daran?"
„Nun...na ja...du könntest etwas freundlicher sein." Wie sie erwartet hatte, gefiel ihm die Antwort nicht.
„Ich bin kein Süssholzraspler wie Miroku!"
„Das habe ich nicht gemeint."
„Keh, natürlich hast du das gemeint! Ihr Weiber seid in diesen Dingen alle gleich!"
„Das habe ich gemeint! Du bist so...unsensibel...ungehobelt wie früher! Ich fühle mich so herabgesetzt und ‚Weib' ist bestimmt kein Wort, mit dem man den Menschen bezeichnet, den man liebt!" Er wollte sie schon anblaffen, als er es sich noch einmal anders überlegte. Schuldbewusst sah er sie an. „Das ist nicht leicht für mich", begann er langsam. „Vor was hast du angst? Nach allem was wir miteinander durchgemacht haben, vertraust du mir immer noch nicht ganz?" Der Gedanke verletzte sie sehr. „Kagome...das ist es nicht! Ich will dich nur beschützen."
„Das ist wirklich die idiotischste Entschuldigung, die ich jemals von dir gehört habe."
„Hey, ich habe mich noch nie für irgendetwas entschuldigt!"
„Bist du darauf etwa stolz? Und außerdem ist das nicht richtig."
Sein ungeduldiges Grollen brachte sie innerlich zum Lachen. „Ich will dich doch nur vor mir beschützen!", brach es aus ihm heraus. „Was meinst du damit?"
„Wir haben uns verändert. Du bist kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau und ich bin...nun ja..."
„Ein Mann?", ergänzte sie und errötete leicht, als sie begriff, worauf er hinaus wollte. Verlegen zupfte sie am Saum ihres T-Shirts.
„Ja. Es ist nicht leicht für mich in deiner Nähe zu sein, ohne..." Verlegen schaute er zu Boden und lief rot an. Kagomes Augen wurden immer größer. Ihre Knie fingen an zu zittern, als sie seinen Gedanken fortspann. „Oh, wenn das so ist." Sie lächelte und hauchte ein ‚Danke'. Verwundert sah er sie wieder an. „Du...bist nicht mehr böse auf mich?"
„Nicht mehr so sehr. Vielleicht sollte ich wirklich nach Hause gehen. Aber nicht weil ich auf dich böse bin." Bevor sie ihren Rucksack nehmen konnte, hatte Inuyasha ihn schon auf seinen Rücken geschwungen. Zuerst befürchtete sie, er würde wieder eine Szene machen, doch er lächelte sie an, nahm ihre Hand und sagte: „Ich werde dich zum Brunnen begleiten." Überglücklich ergriff sie seine Hand und zusammen machten sie sich auf den Weg zum Brunnen. Als sie ihn erreichten, hob er sie plötzlich auf seine Arme und sprang auf den Brunnenrand. „Inuyasha?" Kagome sah ihn fragend an. „Ich bring dich nur nach Hause und der Rucksack ist zu schwer für dich", antwortete er bestimmt. Plötzlich hob er seine Nase in die Luft und schnupperte aufgeregt. Einen Moment später brach aus dem Dickicht eine junge Frau hervor, verfolgt von einem riesigen Schlangendämon. Das hervorstechenste Merkmal an ihr, waren die feuerroten, langen Haare. Zuerst glaubte Kagome, es wäre Ayame, aber dann wäre sie schneller gewesen. Das war ein Mensch.
Eine Ausländerin? Wie kommt sie denn hierher?
Bevor Kagome etwas sagen konnte, ließ Inuyasha sie plötzlich los und sie fiel schreiend der Zukunft entgegen. In ihrer Zeit angekommen rappelte sie sich sofort wieder auf. „Idiot! Na warte, der kann was erleben!" Und reiste sofort wieder in die Vergangenheit zurück. Als sie aus dem Brunnen geklettert kam, war sie nicht überrascht, die Überreste des Schlangendämons über die ganze Wiese verstreut zu sehen. Was sie allerdings sehr überraschte, war Inuyasha, der neben dem fremden Mädchen kniete und beruhigend auf sie einsprach. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und versuchte das weinende Mädchen zu beruhigen. Kagome fiel die Kinnlade herunter. Normalerweise war das ihr Job, während Inuyasha daneben stand und für weinende Frauen wenig Mitgefühl zeigte.
Hat er sich doch mehr verändert, als er uns zeigen will? Soll ich jetzt stolz oder wütend auf ihn sein? Aber er könnte sie langsam mal loslassen.
Als hätten die beiden ihre Gedanken gehört, schlang das Mädchen plötzlich ihre schlanken Arme um seinen Hals und verbarg das Gesicht an seiner Schulter.
Vergeblich wartete Kagome auf eine schroffe Zurechtweisung ihre Freundes. Statt dessen schloss er das zitternde Mädchen in seine Arme und wiegte sie sanft.
Das war für Kagome zu viel. Erzürnt kletterte sie aus dem Brunnen heraus und stapfte zu den am Boden knienden Halbdämon mit einem weinenden Mädchen in seinen Armen. „Würdest du mir mal erklären, was das alles soll?", fuhr sie ihn an und die wachsende Eifersucht in ihr drohte die Oberhand zu gewinnen und jeden vernünftigen Gedanken im Keim zu ersticken. Inuyasha erwiderte ungerührt ihren Blick. „Nicht so laut, du erschreckst sie noch mehr. Sie hat sehr viel durchgemacht. Ich werde sie zu Kaede bringen. Entschuldige, dass ich dich einfach fallen gelassen habe. Dein Rucksack liegt dort drüben. Wir sehen uns in einer Woche." Er hob das fremde Mädchen auf seine Arme und machte sich auf den Weg Richtung Dorf. Kagome kochte vor Wut. „Inuyasha!", brüllte sie und er drehte sich unwirsch zu ihr um. „Jetzt nicht, Kagome! Du siehst doch, dass sie schwer verletzt ist! Wenn du ihr nicht helfen willst, dann geh." Unfähig sich auch nur einen Schritt zu bewegen, starrte Kagome ihm hinterher. „Was war denn das?" Wieso war ihm dieses Mädchen so wichtig? Langsam lief Kagome zum Brunnen zurück.
Ich habe kein gutes Gefühl dabei.
