Kapitel 2

Kagome konnte in der folgenden Woche keinen klaren Gedanken fassen. Ständig tanzte ihr das gleiche Bild im Kopf herum:

ein überfürsorglicher Inuyasha mit einem fremden, weinenden Mädchen in seinen Armen.

Mehrere Male war sie versucht, in die Vergangenheit zu reisen, um nach dem Rechten zu sehen. Aber sie hielt sich zurück.

Sie wollte nicht diejenige sein, die ihre eigenen Regeln verletzte.

Doch irgendwann gehen auch die längsten Tage vorbei und der Sonntag stand vor der Tür. Kagome konnte die Nacht kaum schlafen, bis sie es nicht mehr länger aushielt und um 0.01 Uhr in der Frühe sprang sie in den Brunnen, zurück in die Vergangenheit. Dort war es ebenfalls noch dunkel. Sie wartete einen Moment und hoffte, dass Inuyasha, angelockt von ihrem Geruch, auftauchen würde, um sie sicher ins Dorf zu geleiten. Denn so ganz allein in einem dunklen Wald, der von Dämonen bewohnt wurde gruselte es sie nach all den Abenteuern immer noch ein wenig.

Nach zehn Minuten vergeblichen Wartens schüttelte Kagome den Kopf. „Was mache ich hier eigentlich? Natürlich kommt er nicht, er wird bestimmt schlafen! Ich bin ja schon schlimmer als er. Ich sollte nach Hause gehen und morgen früh wieder kommen. Dann wird er bestimmt schon wieder ungeduldig auf mich warten." Sie musste bei diesem Gedanken lächeln und kehrte beruhigt in ihre Zeit zurück. Doch gleich am nächsten Morgen, kaum war die Sonne aufgegangen, war sie schon wieder in die Vergangenheit zurückgekehrt.

Während sie den Brunnen hochkletterte, rief sie frohgelaunt hinauf: „Ich wette, so früh hast du mit mir nicht gerechnet! Kannst du mir bitte helfen? Ich hab so viele Sachen mitgebracht für euch alle..." Mittlerweile war sie aus dem Brunnen herausgeklettert und hatte vergeblich auf ein verächtliches ‚Keh' und eine helfende Hand gewartet.

Die Morgensonne wärmte bereits das Gras, die Vögel trällerten ihr fröhliches Lied, die Blumen und Bäume verströmten ihren natürlichen Duft, die Bienchen waren eifrig am Honigsammeln...aber von einem rotgewandeten Halbdämon war keine Spur zu sehen. Der Rucksack lag nun neben dem Brunnen auf dem Boden und daneben stand eine ratlose Kagome.

Er ist nicht hier? Aber er war doch immer hier. Inuyasha wusste doch, dass ich heute komme. Es wird doch nichts passiert sein? Wurde das Dorf angegriffen?

Von eiskalter Panik erfasst rannte Kagome los, den Rucksack ließ sie achtlos zurück. Bei der Vorstellung, ihren Freunden könnte etwas zugestoßen sein, stiegen ihr Tränen in die Augen. Kurze Zeit später hatte sie das Dorf erreicht und ließ ängstlich ihren Blick darüber schweifen.

Alles war in Ordnung, von einem Angriff keine Spur zu sehen.

Erleichtert suchte sie Kaedes Hütte auf. Die alte Miko war bereits wach und braute gerade eine Salbe zusammen. „Guten Morgen, Kagome. Du bist heute aber sehr früh dran."

„Guten Morgen, Kaede! Ist alles in Ordnung?"

„Na ja, was man so in Ordnung nennen kann."

„Wieso?" Kagome runzelte die Stirn.

„Ich möchte nicht vorgreifen, noch möchte ich irgendetwas in Dinge hineininterpretieren, die vielleicht gar nicht so sind." Kagome schluckte. Das klang gar nicht gut.

„Wo ist Inuyasha?" Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, ein sicheres Anzeichen für ihre Unsicherheit, was Kaede nicht entging. Die ältere Frau rührte schweigend ihre Salbe. Kagome wurde ungeduldig. „Sag es mir, ich kann es mir ja schon denken." Kaede hielt inne und sah sie an. „Er ist mit dem Mädchen heute nacht im Wald verschwunden. Das haben sie jede Nacht getan, seid sie hier ist."

„Was?" Jede Nacht? Ihre Reaktion überraschte sie. Statt Verzweiflung flammte brennende Eifersucht in der jungen Frau auf. Ihr ungutes Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Aber vielleicht gab es ja wirklich einen plausiblen Grund, weshalb Inuyasha mit einem anderen Mädchen nachts im Wald verschwand...

Ja, natürlich! Wie er schon sagte, er ist ein Mann. Der kann was erleben!

Wutentbrannt stapfte Kagome blindlings los, doch kaum hatte sie die Hütte verlassen, tauchte das Objekt ihres Zornes plötzlich vor ihr auf. „Du bist schon da?", war alles, was er sagte, als er vor ihr landete und sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. „Wo ist sie?", fuhr sie ihn an und ließ den Blick um sich herum schweifen. „Scarlet wird in wenigen Minuten nachkommen." Er leugnete es nicht einmal? Kagome versuchte sich zu beruhigen. Vielleicht waren die Dinge nicht so, wie sie glaubte. Inuyasha würde sie niemals auf diese Weise hintergehen, er war treu.

Er ist treu!

„Dürfte ich erfahren, was du nachts im Wald mit ihr zu suchen hast?" Ihr sanfter Ton täuschte über die unbändige Eifersucht in ihr hinweg, die sich nur in ihren geballten Fäusten äußerte. „Sie wollte nicht im Dorf schlafen." Inuyasha war noch nie ein Meister der Sensibilität gewesen, doch irgendwas war in seinem Verhalten dieses Mal anders. Normalerweise reagierte er auf ihre Wutausbrüche mit Furcht oder großem Geschrei, doch jetzt war er so...gleichgültig. Als wäre es ihm egal, was sie im Moment fühlte.

„Und warum bist du dann mit ihr gegangen?", fragte sie leise.

„Hätte ich sie vielleicht da draußen allein lassen sollen? Du weißt doch selbst, wie gefährlich das für Frauen ist!" Da hatte er recht. „Ist das alles?", fragte sie kleinlaut. Beleidigt hatte er seine Arme vor seiner Brust verschränkt und den Kopf zur Seite gedreht, die Nase in die Luft gereckt. „Fürs erste." Seine beleidigte Pose brachte sie zum Lächeln.

Ich habe einfach nur überreagiert, es läuft nichts zwischen ihm und ihr!

Erleichtert trat sie auf ihn zu und wollte ihn umarmen. Doch Inuyasha wich ihr aus, verweigerte ihre Berührung. Das war wie ein Schlag in ihr Gesicht. Kagomes Ärger flammte wieder auf und sie packte sein linkes Ohr, zog seinen Kopf herunter und schrie: „Du bist ein verdammter Lügner!"

„Lass ihn sofort los!", rief eine helle Stimme und aus dem Dickicht kam jenes rothaariges Mädchen gestürmt, stürzte sich auf Kagome und warf sie zu Boden. Völlig überrascht wehrte Kagome sich nicht und wurde von dem Mädchen auf den Boden gepinnt. „Wage es nicht noch einmal Hand an meinen Gefährten zu legen, Mensch!", zischte sie drohend. „Scarlet, lass sie los, sie ist keine Gefahr für mich oder dich", sagte Inuyasha und zog Scarlet von Kagome herunter. Fassungslos starrte sie die beiden an. Inuyasha hatte nun einen Arm um Scarlets Taille geschlungen und flüsterte ihr etwas zu. „Was ist hier los?" Kagome versuchte das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Sein seltsam gleichgültiges Gesicht ließ sie erschauern. „Geh wieder nach Hause, Kagome. Kehre in dein altes Leben zurück, ich kann dich nicht länger zwingen, her zu kommen."

Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Was...was redest du da? Inuyasha?" Zögernd trat sie einen Schritt auf ihn zu, doch sofort schob sich Scarlet dazwischen und ihre grünen Augen blitzten vor Zorn. „Hast du es nicht verstanden? Inuyasha ist mein Gefährte, auch wenn ich noch nicht seine Markierung trage!"

Ungläubig starrte Kagome das Mädchen an. Doch eine Sekunde gewann der Zorn in ihr erneut die Oberhand. „Was hast du mit ihm gemacht? Inuyasha würde mich niemals hintergehen!" Scarlet lächelte sie an. „Hör zu, Kagome. Ich bin von weit hergekommen, um ihn zu finden. Er wird wieder Frieden in mein Territorium bringen. Ich bin die Anführerin eines mächtigen Clans, aber ich brauche einen starken Führer an meiner Seite und Inuyasha war der einzige, der in diese Rolle passt. Es tut mir leid, dass dein Herz gebrochen wird, aber wenn er nicht mit mir kommt, werden hunderte unschuldige ihr Leben in einem sinnlosen Krieg lassen." Scarlet hatte sich wieder beruhigt und sah sie beschwörend an. „Verstehst du? Ich brauche ihn mehr, als du. Und nein, ich habe ihn nicht verhext."

Das überzeugte Kagome nicht. „Warum antwortet er nicht selbst?"

Inuyasha seufzte. „Kagome, mach es für dich nicht schwerer. Willst du wirklich von mir hören, dass es ...aus ist?"

„Ich glaube dir kein Wort. Sie hat dich irgendwie verhext..." Bevor sie weitersprechen konnte, trat er auf sie zu, nahm ihre Hände und sah ihr tief in die Augen. „Kagome, ich möchte dir wirklich nicht weh tun, aber es ist besser, wenn du in deine Zeit zurückkehrst. Ich werde mit Scarlet gehen und Japan verlassen. Sie braucht mich."

Sie fühlte sich wie in einem schlimmen Albtraum. Tapfer kämpfte sie gegen ihre Tränen und die aufsteigende Panik an. „Aber...ich brauche dich auch...zählt das denn gar nicht?"

Er lehnte seine Stirn an ihre. „Kagome, ich...ich...was..." Sie spürte, wie er anfing zu zittern. Inuyasha vergrub plötzlich sein Gesicht in ihren Haaren und atmete tief ein und aus. Seine Arme schlossen sich um ihren Oberkörper und er hielt sie fest, als würde sein Leben davon abhängen.

Ich wusste doch, sie hat ihn verhext!

„Keine Angst, Inuyasha, ich werde dich beschützen", flüsterte sie ihm zu.

„Inuyasha, du kannst sie wieder los lassen", hörte sie Scarlet sagen. Kagome hielt ihn fester. „Er kann mich umarmen, so lange er will. Oder hast du vor irgendwas angst!"

Scarlet zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Von mir aus. Am Ende wird er sowieso mit mir kommen." Sie drehte sich um und kehrte in den Wald zurück.

„Würdest du mir jetzt mal erklären, was das alles soll?" Kagome schob Inuyasha von sich und stemmte die Hände auf die Hüften. Er mied ihren Blick. „Ich weiß es nicht. Jedesmal, wenn ich sie sehe, möchte ich sie beschützen."

„Das ist alles? Du liebst sie nicht?"

„Was? Natürlich nicht!", erwiderte er empört. „Aber...ich muss ihr helfen."

„Wenn du ihr nur helfen willst...warum hast du mich vorhin zurückgewiesen? Warum warst du nicht beim Brunnen, als ich gekommen bin?" Kagome biss sich auf die Zunge. Die letzte Bemerkung war ihr einfach herausgerutscht und sie fühlte sich dabei kindisch. Betroffen sah er sie an. „Keine Ahnung. Hab wohl die Zeit vergessen", murmelte er. Kagome schlang ihre Arme um seinen Oberkörper und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. „Bitte geh nicht mit ihr", flüsterte sie. Seine rechte Hand streichelte sanft ihren Kopf, während sein linker Arm beschützend um ihre Taille geschlungen war. „Ich werde dich nicht verlassen, das verspreche ich dir."

Scarlet ließ sich den Rest des Tages nicht mehr blicken und Inuyasha war wieder er selbst. Doch Kagome bemerkte, wie Sango und Miroku ihr hin und wieder verstohlene Blicke zuwarfen. So als würden sie nach Anzeichen bei ihr suchen... aber Anzeichen wovon? Wussten die beiden etwas, dass sie nicht wusste? Als sie ihr Picknick beendet hatten, griff Kagome nach Sangos Hand und zog sie mit sich fort. „Lass uns baden gehen", rief Kagome ihrer Freundin fröhlich zu. „Aber...ich habe erst heute morgen...", wollte Sango widersprechen, doch Kagome ließ sie nicht los und zog sie erbarmungslos mit sich fort. Miroku sah den beiden verwundert nach. Inuyasha hatte sich auf dem Gras ausgestreckt und die Augen geschlossen. Shippo war den Mädchen bereits gefolgt. Vorsichtig schielte der Mönch zu dem entspannten Hanyou hinüber und wollte sich gerade davon schleichen. „Unterstehe dich, Miroku", grollte Inuyasha, ohne die Augen zu öffnen. „Du kannst mich nicht ewig von ihr fernhalten. Eines Tages wird sie meine Frau sein und dann werde ich sie sowieso beim Baden begleiten. Also spielt es doch keine Rolle und ich verspreche dir, auch keinen einzigen Blick auf Kagome zu werfen."

„Aber du bist noch nicht mit Sango verheiratet. Hast du sie überhaupt schon gefragt?" Es folgte Stille. Inuyasha öffnete ein Auge und sah prüfend zu seinem Freund hinüber, der plötzlich ein sehr ernstes Gesicht hatte. „Was glaubst du denn? Natürlich habe ich sie gefragt...und sie hat mich abgewiesen", antwortete er dumpf. „Keh, selbst schuld. Wahrscheinlich konntest du mal wieder deine Hände nicht bei dir lassen und hast damit alles zerstört." Miroku schwieg einen Moment. Seine Augen waren geschlossen und er war sichtlich um Fassung bemüht. Als er seinen Blick wieder auf Inuyasha richtete funkelten seine Augen wütend. „Wenigstens betrüge ich Sango nicht hinter ihrem Rücken", zischte Miroku wütend. Inuyahsa schnellte hoch. „Pass auf, was du sagst! Ich betrüge niemanden!"

„Ach so? Und was ist mit Scarlet? Du bist ihr seit sie hier ist, nicht mehr von der Seite gewichen. Hast du dabei ein einziges Mal an Kagome gedacht?" Inuyasha zuckte schuldbewusst zusammen. „Das geht dich gar nichts an!", fuhr er den Mönch an. „Kagome ist auch meine Freundin und ich lasse nicht zu, dass du sie verletzt!" Inuyasha packte Miroku am Kragen. „Deine Art zu reden, gefällt mir nicht."

„Halte Kagome nicht für so einfältig, dass sie nicht merkt, was vor sich geht. Was glaubst du, warum sie mit Sango verschwunden ist? Bestimmt nicht, um zu baden!" Inuyasha ließ ihn mit einem Knurren los. „Wenn sie Scarlet auch nur ein Haar krümmt!" Und mit diesen Worten folgte er den Mädchen. „Verdammt, ich habe es doch gewusst. Wenn er sich wieder in einen Dämon verwandelt..." Miroku folgte ihm.

„Was ist in der Zeit geschehen, als ich nicht da war?" Kagome hatte Sango tief in den Wald geführt, um ungestört mit ihr reden zu können. „Äh, was meinst du?" Sangos Ausweichmanöver bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. „Wer ist diese Scarlet?"

Der Dämonenjägerin war die Situation unangenehm, aber sie wollte ihrer Freundin nicht länger etwas vormachen. „Wir wissen nur, dass sie aus einem fernen Land kommt und dass ihr Clan im Krieg mit einem anderen ist. Inuyasha soll ihren Clan zum Sieg führen."

„Das ist alles? - Das hat sie mir auch erzählt. Glaubst du ihr diese Geschichte?"

Ratlos zuckte Sango mit den Schultern. „Na ja, ich frage mich nur, wie Inuyasha da reinpasst."

Die Mädchen versanken für ein paar Minuten in ihren Gedanken.

„Ist sie ein Mensch?", fragte Kagome. Ein verhexter Inuyasha war immer noch besser, als ein...sie konnte an diese Möglichkeit nicht einmal denken.

„Wir haben kein Youki bei ihr spüren können." Das war niederschmetternd.

„Warum verschwindet Inuyasha mit ihr nachts im Wald?" Kagome wollte darauf nicht wirklich eine Antwort.

„Inuyasha will sie vielleicht nur beschützen." Es war eine lahme Antwort und sie wussten es.

„Vor was?"

Wie als Antwort auf Kagomes Frage brach aus dem Dickicht plötzlich eine schreiende Scarlet hervor, verfolgt einem grässlichen Monster, das wie eine alte Frau aussah, mit langen weißen Haaren und rot glühenden Augen. Der fremde Dämon schwebte über dem Boden und hatte Scarlet fast eingeholt. „Bringt euch in Sicherheit! Sie hat uns gefunden!", schrie Scarlet ihnen zu und im nächsten Moment erfüllte ein ohrenbetäubendes Kreischen den Wald. Die jungen Frauen hielten sich die Ohren zu. Sie waren nicht mehr in der Lage sich zu bewegen. „Sind das deine neuen Freunde, Scarlet?", schrie der Dämon mit schriller Stimme, die einem durch Mark und Bein fuhr. „Wie schade, dass ihr euch nicht mehr näher kennen lernen könnt!"

Ein anderer Kampfschrei durchdrang den Wald. „Halt dein Maul, du alte Hexe! Von deiner Stimme wird einem ja schlecht!" Kagomes Herz jauchzte vor Freude, als Inuyasha von der anderen Seite aus den Bäumen hervorbrach, sein Tessaiga zog und mit einem gezielten Kaze no Kizo den Dämon vernichtete. Sie wollte zu ihm laufen, doch sie blieb wie erstarrt stehen.

Seine Augen waren rot.

Sein Gesicht trug die dämonischen Zeichen.

Seine Fangzähne waren länger.

Seine Klauen tödlicher.

Und obwohl er Tessaiga fest in seinen Händen hielt, stand vor ihr ...

der Volldämon Inuyasha.