Kapitel 6
Die wenigen Banshees, die, wie Kagome, ungeschoren davon gekommen waren, trugen ihre verletzten Schwestern in den großen Versammlungsraum, um dort ihre Wunden behandeln zu können. Kagome konnte nicht viel beitragen, tat aber, was in ihrer Macht stand.
Und es lenkte sie für kurze Zeit ab.
Inuyasha hatte die wahre Dämonengestalt angenommen, so wie sie es bei Sesshoumaru einmal gesehen hatte. Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut. Und wieso, bei allen Göttern, war er überhaupt dazu in der Lage? Dass Scarlet es ihm ermöglicht hatte, sich in einen Dämon zu verwandeln, konnte sie noch nachvollziehen. Aber das? Hatte sie ihn für immer verloren? Immerhin, jetzt hatte er das, was er wollte, ohne seinen Verstand dabei verloren zu haben.
Moment, das nehme ich zurück! Er hat seinen Verstand verloren! Wie sonst kann man so dämlich sein und sich in einen Krieg hineinziehen lassen, mit dem man nichts zu tun hat, ohne zu versuchen die Parteien miteinander auszusöhnen! Aber ich bin nicht viel besser. Jetzt bin ich hier, bei den Banshees...blöder Inuyasha!
Wütend wrang sie ein Tuch aus und presste es etwas zu fest auf die Stirn einer Verletzten. Zum Glück war die Banshee bewusstlos.
"Kagome, vorsicht!", sagte Keira warnend und nahm ihr das Tuch ab.
"Vergiß Inuyasha, er ist jetzt einer von ihnen", erklärte die Banshee.
"Es ist nicht das erste Mal, dass er sich verwandelt hat und ich war immer in der Lage, ihn zurückzuverwandeln. Was soll dieses Mal anders sein?" Trotzig hob Kagome ihr Kinn. Keira schüttelte den Kopf. "Sie haben ihn in ihren Clan aufgenommen. Er benutzt die magische Kraft einer mächtigen Druidin, wie willst du sie ihm wieder wegnehmen? Beim nächsten Angriff wird er dich töten." Es herrschte für einige Minuten bedrücktes Schweigen. Bis Kagome eine Idee kam.
„Keira, wie gelange ich du den Hundedämonen?" Ihre unschuldige Frage brachte die Todesfee leicht aus der Fassung. „Ist das dein Ernst? Glaubst du, sie werden dir nichts tun? Hast du nicht gesehen, was sie angerichtet haben!" Keiras Augen begannen auf einmal zu glühen und sie verwandelte sich in eine hässliche Kreatur. Kagome zuckte erschrocken zusammen. „Deshalb bin ich doch hergekommen...", erwiderte sie kleinlaut, doch als sie wieder die tröstende Wärme vom Ring spürte, wurde sie wieder mutiger. „Inuyasha hat mit diesem Krieg nichts zu tun, ebenso wenig wie ich! Dass er sich jetzt sogar noch in einen Hund verwandeln kann, gefällt mir gar nicht und ich will ihn wieder haben! Und es hat überhaupt nichts damit zu tun, dass er mein Geliebter ist, ich wäre auch gekommen, wenn es nicht so wäre! Er ist mein Freund und ich werde ihn nicht in sein Verderben rennen lassen! Und jetzt sag mir, wie ich zu den Hundedämonen gelange!" Erstaunt verwandelte Keira sich wieder zurück. „Ich habe wohl deine Gefühle für ihn unterschätzt. Aber in einem Punkt hast du unrecht: du bist jetzt eine von uns und damit ist dieser Krieg deine Sache. Du hast einen Eid geschworen und du bist an ihn gebunden."
Kagome ballte ihre Hände zu Fäusten. So einfach würde sie nicht aufgeben.
Sobald es dunkel war, und die letzte verletzte Banshee versorgt war, verließ Kagome die Burg der Banshees und begab sich auf die Suche nach ihrem Gefährten.
Kagome lief einen Tag und eine Nacht. Sie ließ sich von ihrem Gefühl leiten und der Ring unterstützte sie, wenn sie sich über die Richtung unschlüssig war. Am Morgen des zweiten Tages gelangte sie in ein kleines Dorf. Die Menschen beobachteten sie misstrauisch. Eine Japanerin war für sie kein alltäglicher Anblick. Doch Kagome, an derartige Blicke gewohnt, ignorierte die Menschen. Sie wollte ihren Weg unbeirrt fortsetzen, als sie leidvolles Klagen aus einem der Häuser vernahm. Wie von einer unsichtbaren Macht angezogen folgte sie den Lauten und betrat das Haus. Dort fand sie eine kleine Gruppe von Menschen um ein Bett gescharrt, auf dem ein alter Mann im Sterben lag. Seine Familie drehte sich neugierig um und die Frauen begannen nun leise zu weinen. Eine der älteren trat auf sie zu. „Ehrwürdige Banshee, wir haben euch bereits erwartet. Bitte geleitet meinen geliebten Mann in die andere Welt. Er war ein guter Mensch, bitte lasst Gnade walten."
Kagomes Haare sträubten sich. Ich soll was tun? Ist die verrückt? Doch dann kam ihr ein anderer unliebsamer Gedanke. Hat mich mein Instinkt deshalb hierher geführt? Schließlich bin ich jetzt eine Todesfee und es ist meine Aufgabe, die Seelen ins andere Reich zu führen. So werde ich Inuyasha nie finden.
Der Gedanke deprimierte sie. Doch, wie sollte sie überhaupt die Seele in das andere Reich geleiten? Würde seine Seele vor ihr erscheinen? Keira hatte ihr alles mögliche über die Banshees erzählt, aber dieses 'winzige' Detail ausgelassen.
„Ich bin bereit, ehrwürdige Banshee", vernahm sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Erschrocken drehte sie sich um und sah den alten Mann vor ihr stehen. Sie nickte unsicher. „Folge mir."
„Darf ich vorher noch um einen letzten Gefallen bitten? Sagt meiner Familie, wie sehr ich sie liebe und dass ich auf sie warten werde." Ein dicker Kloß steckte ihr im Hals. Sie hatte sich noch nie Gedanken über den Tod gemacht, was danach sein könnte, ob überhaupt etwas danach kam. Natürlich war sie fast täglich mit Tod und Sterben konfrontiert, seit sie in das Mittelalter reiste, aber sie war mit anderen Dingen zu beschäftigt gewesen, um sich Gedanken darüber zu machen. Das Mirokus Job gewesen. Zögernd drehte sie sich zu der alten Frau um und atmete tief durch. „Seine Seele ist jetzt bei mir. Er möchte, dass Sie wissen, wie sehr er sie alle liebt, und dass er auf sie warten wird." Kagome nahm die Hände der alten Frau. „Sie werden ihn bald wiedersehen", sagte sie leise und die Augen der Frau waren voller Glück und Frieden. Doch Kagome erschrak über ihre eigenen Worte. Ich habe der Frau gesagt, dass sie bald sterben wird! Woher will ich das denn wissen? Aber...es scheint sie glücklich zu machen. Dann drehte sie sich um und verließ mit der Seele das Haus.
„Ich wusste nicht, dass Banshees Pfeil und Bogen mit sich tragen", bemerkte der alte Mann und sah sie neugierig an. Kagome lächelte. „Oh, das tun sie auch nicht. Ich bin die einzige."
Sie vertieften sich in ein anregendes Gespräch, über das Kagome ihren Kummer vergaß und leider auch die drohende Gefahr zu spät erkannte. Aus den Büschen sprangen plötzlich kleine Gestalten und legten dem alten Mann Ketten an. Kagome zögerte nicht, und schoss ihre Pfeile auf die Angreifer. Doch sie wurde von ihnen überrannt. Sie wäre von ihnen getötet worden, hätte Inuyashas Ring sie nicht ein weiteres Mal vor Schlimmerem bewahrt. Erneut bildete sich eine Barriere um sie herum, welche die Angreifer abwehrte. Als die merkwürdigen Wesen wieder verschwunden waren, war sie allein. Von dem Kampf erschöpft, verlor sie das Bewusstsein.
Nach seiner Rückkehr in die Festung hatte Inuyasha sich sofort in sein Gemach zurückgezogen und wollte niemanden sehen. Er hatte sich wieder zurückverwandelt und wanderte nun ruhelos in seinem Zimmer auf und ab. Dabei stieß er hin und wieder einen deftigen Fluch aus. Als sein Zorn den Höhepunkt erreichte, schlug er seine Faust in einen Bettpfosten ein, der der rohen Gewalt nicht standhalten konnte und zerbrach. Das Bett war beschädigt, aber Inuyasha fühlte sich etwas besser. "Was hat sich diese dumme Gans bloß dabei gedacht? Sie hat alles kapputt gemacht! Jetzt kann ich nie wieder zu ihr zurück!" Der zweite Bettpfosten war Geschichte. "Verdammt, wenn Miroku doch hier wäre, oder Kaede. Aber zu denen kann ich auch nicht mehr gehen, so wie ich mich verhalten habe. Verdammt!" Der dritte Bettpfosten wurde auch nicht verschont. Frustriert setzte er sich auf das malträtierte Bett und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Wenn ich nicht mehr weiß, was ich tun soll, höre ich auf das, was mein Herz mir sagt und das hat mich noch nie im Stich gelassen, hallten ihm Kagomes Worte im Kopf. Damals hatte er ihren gutgemeinten Ratschlag mit einem verächtlichen 'Keh!' abgetan und für albernes Weibergewäsch gehalten. Wenn er Entscheidungen treffen musste, konnte er nicht stundenlang vor sich hin brüten, Leben hingen von seinen Entscheidungen ab und es hatte für ihn immer nur ein entweder-oder gegeben. Doch jetzt war eine Situation eingetreten, die eine differenzierte Entscheidung verlangte. Die Banshees mussten vernichtet werden, das war keine Frage, aber das bedeutete auch, Kagome würde sterben. Und Kagome gehörte doch nicht zu den Bösen! Sie würde niemals einem unschuldigen Menschen Schaden zufügen, nicht einmal um ihn zu retten. Warum hatte sie sich dann diesen kreischenden Weibern angeschlossen?
Nun hatte es auch den vierten Bettpfosten erwischt.
"So werde ich das Problem nicht lösen. Keh, ich glaube Kagome hat recht gehabt." Er schmollte noch einen Moment und traf anschließend eine Entscheidung.
