Kapitel 10
Kagomes Plan war fehlgeschlagen. Sie hatte ein Versteck gefunden, aber Inuyasha konnte sie nicht aus dem Bann befreien, so sehr sie sich bemühte. Und ihre Zeit war abgelaufen. Seamus war wieder zu sich gekommen und voller Wut auf die Suche gegangen. Es dauerte auch nicht lange, bis er sie gefunden hatte. Kagome blieb nichts anderes übrig, als Inuyasha in seinem Versteck zurückzulassen und Seamus von ihm wegzulocken. Vielleicht wurde der Bann gebrochen, wenn sie in Gefahr schwebte. Es war ein gefährlicher Plan, aber ihre letzte Hoffnung.
Kagome beugte sich über sein Gesicht und küsste ihn. "Du wirst mir nachher eine Menge erklären müssen! Ich möchte bloß wissen, was du da träumst! - Bitte komme wieder zu mir zurück, ich kann nicht allein gegen den Dämon kämpfen, hörst du? Ich muss jetzt gehen, Seamus hat sich von meinem Angriff erholt und sucht mich. Lass mich nicht im Stich, Inuyasha."
"Es hat keinen Sinn, dich zu verstecken, Priesterin! Ich kann deine Macht spüren! Du kannst mir nicht entkommen!", hörte sie den König der Kobolde rufen und er klang etwas verärgert. Tapfer versuchte sie die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen und sich auf ihren Plan konzentrieren. Dann stand sie auf und rannte los, versuchte auf dem schnellsten Wege die Burg zu verlassen.
Es war ein Wunder, dass Seamus nicht plötzlich an irgendeiner Ecke ihr aufgelauert hatte, statt dessen beschränkte er sich darauf sie mit seinen Drohungen zu verängstigen. Nicht einmal die Kobolde griffen an. Was waren das nur für seltsame Dämonen? In Japan wären ihr schon längst hunderte grässliche Monster auf den Fersen, aber das war in Irland wohl nicht üblich?
Aber das hieß nicht, dass es einfacher war. Seamus spielte mit ihr, er griff sie emotional und psychisch an, was viel schlimmer als eine körperliche Attacke war.
Sie verlor jegliches Zeigefühl und sie hatte das Gefühl schon seit Stunden durch die finsteren Gänge der Burg zu laufen und dabei völlig die Orientierung verloren, immer Seamus Stimme in den Ohren oder seinen Atem im Nacken.
"Ich kann nicht mehr", wimmerte sie und sank erschöpft auf die Knie. Sie wollte gerade in Selbstmitleid zerfließen, als sie leichte Schritte hörte.
Schritte, die gefährlich nahe waren.
Die aufsteigende Furcht machte ihr das Atmen schwer und ihr wurde schwindelig. Langsam hob sie den Kopf und sah die große, bedrohlich wirkende Gestalt des Königs vor sich stehen, mit einem triumphierenden Lächeln auf seinen Lippen. "Gib auf, kleine Priesterin, niemand kann aus meiner Burg fliehen. Warum widersetzt du dich mir immer noch? Ist es nur wegen dem Halbdämon?" Sein boshaftes Lachen dröhnte in ihren Ohren. Doch dann fuhr er in seinem samtweichen Ton fort und lullte sie wieder ein: "Törichtes, kleines Mädchen! Möchtest du wissen, was er träumt? Was sein sehnlichster Wunsch ist?" Graziös schwang er seine rechte Hand einmal im Kreis und es bildete sich wie von Zauberhand ein rundes Fenster, das einen netten Einblick in Inuyashas Traum gewährte. Sie wollte es nicht sehen, doch war die Neugier größer als die Furcht und Kagome blickte in das Fenster.
Sie sah Inuyasha und Kikyo in einer leidenschaftlichen Umarmung. "Endlich sind wir wieder vereint, Kikyo", hörte sie Inuyasha leidenschaftlich flüstern. Kikyo seufzte hingebungsvoll. "Mein Inuyasha, endlich sind wir wieder vereint."
Diese leidenschaftliche Szene war wie ein Schlag ins Gesicht. Das war mehr, als sie ertragen konnte, aber weinen konnte sie nicht mehr. Ihr dumpfer Blick richtete sich auf den Boden. Dieses Mal war mehr als nur ihr Herz in ihr zerbrochen.
Der Abgrund, an dem sie schon einige Male stand, tat sich vor ihrem geistigen Auge wieder auf, doch dieses Mal hatte sie einfach nicht mehr die Kraft, sich gegen die Dunkelheit in ihrem Herzen zu wehren.
Träume lügen nicht und Inuyasha träumte von Kikyou, nicht von ihr.
Seamus zog sie wieder auf ihre Füße und schloß tröstend seine Arme um ihren Körper. Kagome wehrte sich nicht länger, es war ihr gleichgültig. Inuyashas Verrat hatte jegliches Gefühl in ihr zerstört. "Tue was du willst, es ist mir gleichgültig", sagte sie leise. Seamus streichelte liebevoll ihren Kopf. "Du wirst es nicht bereuen."
Doch dann spürte sie Wärme. Es war die gleiche tröstende Wärme, die von Inuyashas Ring ausgegangen war, wenn sie sich fürchtete.
Aber ich habe den Ring doch gar nicht mehr. Und ich will ihn auch nicht mehr.
Seamus Hand glitt nun sanft über ihren Rücken. "Es wird alles wieder gut, laß dich fallen, kleine Priesterin, ich werde dich auffangen." Bereitwillig ließ sich Kagome tiefer in die Dunkelheit fallen und spürte die Wärme nicht mehr.
Inuyashas Ring, den Seamus in seine Brusttasche eingesteckt hatte, begann zu glühen.
Seine Wärme drang durch den Stoff hindurch und erreichte die gebrochene junge Frau, die in den Armen ihres Feindes lag. Das Glühen des Ringes übertrug sich allmählich auch auf ihren Körper und hüllte ihn vollkommen ein.
Kagome spürte, wie die Dunkelheit sich allmählich auflöste und nur tröstendes, sanftes weißes Licht sie umgab.
'Keh, Weiber sind so leicht hinters Licht zu führen. Jetzt hör mir mal zu: egal, was dir dieser Knilch gesagt hat, es stimmt nicht! Gib nicht auf, kämpfe!', hörte sie Inuyashas Stimme. 'Wofür? Dass du mir wieder das Herz brechen kannst? Ich kann nicht mehr, ich habe nicht mehr die Kraft dazu', erwiderte sie müde.
'Zweifle nicht mehr an meinen Gefühlen für dich. Ich liebe dich.' Das Licht schien intensiver zu werden, und Kagome fühlte sich nicht länger allein.
Und da verstand Kagome endlich: dieses warme, weiße Licht waren seine Gefühle für sie. Seine Liebe zu ihr, nicht zu Kikyou.
Das Licht und die Wärme umhüllten sie wie einen Kokon, in dem sie sich sicher, geborgen und geliebt fühlte. Sie streckte die Hand danach aus und im gleichen Moment schoss ein gleißender Strahl aus ihrer Hand hinaus.
Kagome öffnete blinzelnd die Augen. Seamus starrte sie verblüfft an und dort, wo ihre Hand hinzeigte, war ein großes Loch in der Wand zu sehen...und dahinter die Freiheit.
Sie hatte den Ausgang gefunden!
Kagome riss sich von Seamus los. "Du hast wirklich ganz außergewöhnliche Kräfte. Meine kleine Illussion hat dich nur für kurze Zeit beeinflusst, aber wieder einmal hast du es geschafft, dich daraus zu befreien." Seamus versuchte sie wieder festzuhalten, doch Kagome war aus ihrer Starre erwacht, wich seinen Armen aus und hechtete durch den Ausgang ins Freie hinaus, der König nur wenige Meter hinter ihr. Er trieb sie auf die Klippen am Meer zu, in eine Sackgasse, aus der sie nicht entkommen konnte.
Zu spät durchschaute sie seine Taktik und mit klopfenden Herzen blieb sie am Rande der Klippen stehen und drehte sich zu Seamus um. "Es gibt keine Fluchtmöglichkeiten für dich. Komm wieder mit mir zurück, Priesterin."
"Du hast mich wieder angelogen! Du wolltest mir einreden, Inuyasha träume von Kikyou!" Sie zitterte am ganzen Körper vor Angst, in die sich jetzt auch Wut mischte. "Nein, das hast du dir selbst eingeredet. Es waren deine Zweifel, die du gesehen hast. Ich habe sie nur sichtbar gemacht. Und wenn du sie so bereitwillig akzepiert hast, solltest du dich selbst fragen, wieviel Vertrauen du in ihn hast."
Kagome ballte ihre Hände zu Fäusten. "Vorhin mag ich gezweifelt haben, aber er hat mich nicht im Stich gelassen und ich werde ihn auch nicht im Stich lassen! Ich werde eher sterben, als mich noch ein einziges Mal von dir anfassen zu lassen!", schleuderte sie ihm entgegen. Seamus streckte nur seine Hand aus und plötzlich begann der Boden unter ihren Füßen auseinanderzufallen. "Ich bin wirklich neugierig, ob du bereit bist zu sterben."
Kagome schloss die Augen.
Es ist aus! Vorbei! Ich werde sterben und dieses Mal wird mich nichts davor bewahren!
Der Boden unter ihren Füßen sackte plötzlich weg und sie begann in die Tiefe zu stürzen, in ihren Gedanken ein letzter, verzweifelter Hilferuf:
INUYASHAAAAAA!
Dieser letzte Ruf fuhr ihm durch Mark und Bein. Kagome hatte Angst, Todesangst und wenn er nicht sofort zu ihr eilte, würde sie sterben!
Er schüttelte die schlafende Kagome an seiner Seite unsanft wach. "Hey, Weib, wach auf! Sag mir, wie ich hier rauskomme!" Langsam kam sie zu sich und blinzelte ihn verwundert an. "Was willst du?"
"Sag mir, wie ich dieser trügerischen Welt entkommen kann! Oder soll ich dich in Stücke reißen?" Er ließ drohend seine Fingerknöchel knacken. Ängstlich war sie von ihm weggerutscht. "Ich..ich weiß nicht, was du meinst. Bitte, tu mir nichts!"
"Keh, ich war wirklich ein Idiot gewesen. Meine Kagome hat noch nie angst vor mir gehabt! Wer bist du?" Als sie immer noch nicht antwortete und ihn nur ängstlich anstarrte, verlor er die Geduld, sprang aus dem Bett und demolierte wieder den Bettpfosten. Das Schlafzimmer verschwand plötzlich und Inuyasha fand sich auf einem kalten Steinboden wieder. Er brauchte einige Sekunden, um die Orientierung zu finden, doch dann schreckte er auf. Inuyasha reckte die Nase in die Luft und schnupperte aufgeregt. Ohne Zweifel befand er sich noch im Schloss dieses verräterischen Kobolds und...Kagome war hier, bei ihm gewesen, er konnte noch ihren Geruch wahrnehmen, der mit Furcht durchzogen war.
"Kagome!"
Natürlich bekam er keine Antwort. Er lief los, seine Ohren zuckten alarmiert in jede Richtung, aus der er ein Geräusch hören konnte, in der Hoffnung seine Freundin zu finden. Dabei verlor er niemlas ihren Geruch aus der Nase und folgte ihm unbeirrt. Sein ungutes Gefühl im Bauch ließ ihn immer schneller laufen.
Die Verzweiflung in ihrer Stimme, als sie nach ihm gerufen hatte, ließ ihn das Schlimmste befürchten. "Kagome, halte noch ein bisschen durch!" Er griff nach Scarlets und seinem Medaillon und beschwörte seine dämonischen Kräfte herauf.
Ich muss schneller sein als sonst!
Er wurde immer schneller, bis er nur noch ein weißer Ball war, der mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Mauern der Burg brach.
Was jetzt? Ich habe ihre Spur verloren!
Da hörte er Seamus wutentbrannten Schrei und flog in die Richtung, aus der er gekommen war.
Verdammter Dreck, wenn ich nicht schnell genug bin?
Ihm blieb das Herz stehen, als er Seamus erreicht hatte und von Kagome keine Spur zu sehen war.Der König der Kobolde stand am Rande der Klippen und schrie wütend ihren Namen.
"Kagome, nein!", rief Inuyasha entsetzt und schoss über den Rand der Klippen hinaus und stürzte sich in die Tiefe.
Eine Sekunde später und Kagome wäre auf den Felsen zerschellt.
Er fing ihren Körper gefährlich nahe der Felsen, die wie spitze Nadeln aus dem Meer herausragten, auf und stieg sofort wieder nach oben. Er war in sicherer Entfernung zu dem König gelandet und nahm wieder seine wahre Gestalt an. Erschöpft sank er auf die Knie, in seinen zitternden Armen eine bewusstlose Kagome. Vergeblich versuchte er gegen die drohende Ohnmacht anzukämpfen, doch die Anstrengung und der Schock waren selbst für ihn zuviel. Er sank zu Boden, doch Kagome ließ er dabei nicht los.
Kagome wachte wenige Minuten später wieder auf und fand sich in den Armen ihres treuen Freundes wieder. Im ersten Moment war sie verwirrt, bis sie begriff, was passiert war. „Wie hat er das geschafft? Er hat mich gerettet! Inuyasha!" Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen und sie küsste ihn auf die Wange. Doch als er nicht auf sie reagierte, bekam sie erneut angst. Sein Gesicht war schweißüberströmt und unnatürlich weiß. Sein Atem war flach.
„Er hat seinem Körper zuviel zugemutet. Die Verwandlung in einen Dämon verkraftet das schwache Halbdämonenblut nicht." Kagome befreite sich aus Inuyashas Armen und stand auf. Die Augen des irischen Dämons glühten rot. Jetzt war er richtig sauer. "Meine Geduld ist nicht grenzenlos, Kagome. Ich habe dir mehr als nur einmal angeboten dir deine wahre Macht begreiflich zu machen. Und du? Statt dessen klammerst du dich an die Gefühle eines schmutzigen Halbdämons, der deine Reinheit nur besudelt!" Kagome warf ihm finstere Blicke zu. Sie hatte jetzt keine Angst mehr. "Ich habe dir schon einmal gesagt, sprich nicht in diesem herablassenden Ton über ihn!" Der unbändige Zorn, der in ihr aufwallte, entlud sich in einem gewaltigen Energiestrahl, der Seamus unvorbereitet traf. Er vernichtete ihn nicht, brachte ihn aber zum Taumeln. Hinter ihr regte Inuyasha sich wieder. Langsam stand er auf. "Kagome? Alles in Ordnung?"
"Ja, aber bleib hinter mir. Seamus ist noch nicht besiegt!", erwiderte sie und ließ den König keine Sekunde aus den Augen. Schwankend zog Inuyasha sein Schwert und stellte sich neben sie. "Ich erledige den Rest", knurrte er.
"Seht euch doch an! Ihr seid so jämmerlich. Die Priesterin, die sich ihrer wahren Macht verweigert aus Liebe zu einem Halbdämon, und der Halbdämon selbst, der..." Seamus stockte einen Moment, neigte seinen Kopf leicht zur Seite und grinste dann. "He, dein Traum wird ein Traum bleiben. Sieh dich doch an! Was glaubst du, werden sie mit ihr, oder euren Kindern machen? Glaubst du die Welt wird sie akzeptieren? Du kennst die Antwort besser als jeder andere, Inuyasha!" Sein schadenfrohes Gackern brachte Inuyasha zur Weißglut. "Wir werden ja sehen, wer zuletzt lacht!" Mit einem wütenden Schrei holte Inuyasha mit seinem Schwert aus und vernichtete den König der Kobolde mit einem gezielten Kaze no Kizu. Dort wo der König eben noch stand, waren nun vier große Narben im Boden zu sehen. "Ist es endlich vorbei?", fragte Kagome unsicher. "Ja..." Die Kraft verließ ihn abermals und ohnmächtig sank er zu Boden. Kagome fing ihn auf und legte ihn vorsichtig auf den felsigen Untergrund. Dann forderte die Anstrengung auch ihren Tribut von ihr und sie legte sich neben ihn. "Muss...mich ...nur einen Augenblick...ausruhen...", murmelte sie und schlief ein.
So fanden sie Keira und Scarlet eine halbe Stunde später. Sie waren aus ihrem magischen Schlaf erwacht, nachdem Seamus vernichtet worden war. Sofort hatten sie sich auf die Suche nach Inuyasha und Kagome gemacht und die beiden schlafend, jeweils die eine Hand des anderen festhaltend, gefunden.
