Kapitel 2
Hausaufgaben

„Na, Kleine", sagte Draco Malfoy, als er dem rothaarigen Mädchen über die Schulter blickte. „Was hast du heute in Kräuterkunde nicht verstanden?"

Ginny Weasley seufzte und warf ihre dicken Zopf über ihre Schulter. Ihre Notizen aus Kräuterkunde und ihr Buch waren vor ihr ausgebreitet, aber die Rolle, auf die sie ihre Hausaufgabe zu schreiben versuchte, war gähnend leer.

„Wie wär's mit „alles"?" schnappte sie und blickte zu dem großen, blonden Slytherin auf, der sich im Moment über ihren Stuhl beugte. „Wie kannst du das so gut verstehen, Malfoy? Es ergibt keinen Sinn!"

Draco zog sich grinsend den Stuhl neben ihr heraus und setzte sich. „Die Antwort darauf kennst du bereits, Kleine", erwiderte er in weichem Tonfall. „Ich bin unglaublich klug und herausragend in allem, was ich tue." Er zog ihre Notizen zu sich herüber und besah sie sich mit einem Ausdruck von Abscheu. „Wie kannst du das Zeug lesen? Kein Wunder, daß du es nicht verstehst. Du kannst nicht mal deine eigene Handschrift lesen!"

Ginny warf ihm einen wütenden Blick zu und holte sich die Aufzeichnungen zurück. „Ich kann das sehr gut lesen", erwiderte sie scharf. „Ich versteh nur nicht, was Sprout zu sagen versucht. Und hör auf, mich „Kleine" zu nennen."

Draco grinste sie an und sagte: „Na dann, Kleine, lies sie mir vor, und ich werde sehen, ob ich's erklären kann."

Ginny konnte nicht anders, als ebenfalls zu grinsen. Seit sie Pansy Parkinson vor ein paar Wochen diesen kleinen Streich gespielt hatten, waren sie beide an den meisten Abenden nach dem Unterricht in der Bibliothek. Sie gingen nicht wirklich hin, um sich dort zu treffen; machmal ignorierten sie einander vollkommen. Aber von Zeit zu Zeit kam er zu ihr herüber und machte sich über sie lustig, neckte sie oder unterhielt sich mit ihr. Und seit er in der vergangenen Woche entdeckt hatte, wie sie sich mit ihren Hausaufgaben für Kräuterkunde abplagte, hatte er sie dazu gebracht, den Stoff mit ihm durchzugehen.

Sehr bald nach dem „Pansy-Vorfall" hatte er angefangen, sie „Kleine" zu nennen, denn das sei, wie sie sich benommen hatte. Aber Ginny machte das eigentlich nichts aus. Es war auf jeden Fall besser, als immer mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden. Sie für ihren Teil blieb bei „Malfoy", geäußert im einem Tonfall, den nur Gryffindors fertigzubringen schienen, teils Verachtung, teils Resignation und ein gute Portion Spott. Er akzeptierte es erstaunlicherweise mit Humor, und für diese spezielle Gryffindor und diesen Slytherin schien Waffenstillstand zu herrschen.

Ginny warf einen Blick auf den gutaussehenden Jungen neben sich und seufzte. Er liebte es, überlegen aufzutreten, aber er war tatsächlich gut in Kräuterkunde, und es gelang ihm meistens, ihr alles so zu erklären, daß sie das Wieso und Weshalb verstand. Aber er mußte dabei nicht so verdammt selbstzufrieden aussehen, oder?

Mit einem leichten, resignierenden Schulterzucken zeigte sie auf das, was sie momentan verwirrte.

„Also gut, ich verstehe, daß Fingerhut giftig ist, besonders der grüne. Aber wenn es Gift ist, weshalb benutzt man ihn in so vielen Gegenmitteln und Medikamenten? Ich meine, man benutzt ihn, um diversen Lähmungstränken entgegenzuwirken, und er hilft Leuten mit Herzproblemen, also, ich versteh's einfach nicht."

Draco dachte eine Minute darüber nach, dann lächelte er.

„Na gut. Erinnerst du dich, wie dir deine Mutter letztes Jahr zu Weihnachten diesen Buttertoffee geschickt hat?"

Ginny setzte eine finstere Miene auf. Sie erinnerte sich. Der Blödmann, der gerade neben ihr saß, hatte ihn ihr aus der Hand gerissen, als sie ihn letztes Jahr zum Frühstück mitgebracht hatte, und hatte sich geweigert, ihn zurückzugeben. Er war der größte Idiot gewesen, obwohl er das ganze sofort in den Mülleimer geworfen hatte, sobald er in Slytherin angekommen war, da war Ginny sicher.

„Ja", grummelte sie. Zum ersten Mal seit Wochen war sie wirklich verärgert über ihn.

„Hey, reiß mir nicht den Kopf ab. Es war Toffee, du hättest es besser wissen sollen, als ihn mitzubringen. Der Toffee deiner Mutter ist jedenfalls der beste, den ich je probiert hab."

„Du meinst, du hast ihn tatsächlich gegessen?"

„Natürlich! Was hast du gedacht, was ich damit gemacht hab?"

Ginny wandte schuldbewußt den Kopf ab. „Ich dachte, du hättest ihn vermutlich in den Müll geworfen."

„Ich würde niemals solch guten Toffee verschwenden", schalt er. „Aber zurück zu dem, was ich sagen wollte. Der Toffee war großartig, aber ich hab alles davon auf einmal gegessen. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir schon mal so übel war! In einer kleinen Portion ist er also himmlisch. Aber zuviel, und er ist wie Gift. Genau wie der Fingerhut. Wenn man ihn abbaut, um die medizinischen Wirkstoffe zu erhalten, nur kleinste Dosen, dann ist alles in Ordnung. Aber wenn man zuviel nimmt, ist es Gift. Verstanden?"

Ginny runzelte die Stirn. Wenn er es so formulierte, war es absolut einleuchtend. Warum hatte sie diese Verbindung nicht selbst herstellen können?

„Weißt du, dein Gesicht wird so erstarren, wenn du das noch länger machst, Kleine", bemerkte Draco, während er sie beobachtete.

„Und, was interessiert's dich? Dann hättest noch mehr Munition, oder?" gab sie zurück.

„Ja, schon, aber ich habe einen Ruf aufrechtzuerhalten. Ich kann mich nicht dabei sehen lassen, wie ich jemanden fertigmache, dessen Gesicht zerknautscht ist, nicht wahr? Und mach dir nicht so viele Gedanken wegen Kräuterkunde. Sprout sagt, du bist viel besser geworden. Wir reden später weiter, Kleine."

Er erhob sich, zupfte kurz an ihrem schweren Zopf und warf ihn dann über ihre Schulter, so daß er ihr auf die Brust baumelte. Das zog einen automatischen Protest nach sich, über den er nur lachte.

„Du bist ein Idiot, das weißt du, nicht wahr?" fragte sie, jetzt lächelnd.

„Ja, aber ein gutaussehender, kluger, genialer Idiot."

Er nickte ihr kurz zu, bevor er davonging. Ginny schüttelte den Kopf. Sie wandte sich wieder ihren Hausaufgaben zu und bestaunte, wie es ihr jetzt alles logisch vorkam. Ginny warf ihren Zopf ungeduldig zurück über ihre Schulter und machte sich an die Arbeit.