Kapitel 4

Nicht das wahre Leben

Das Leben ist das, was passiert, während man gerade andere Pläne macht.

- Unbekannt

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„Du hast gesagt, diese Romane, die ich lese, hätten nichts mit dem wahren Leben zu tun, richtig, Malfoy?"

Ginny Weasley hatte sich auf einem der plüschigen Fensterbanksitze niedergelassen, ihre kleine Gestalt über den Kissen ausgestreckt und den Rücken an eine der kühlen Steinwände gelehnt. Im Augenblick war ihr flammend rotes Haar in ihrem üblichen Zopf zurückgebunden und von einem grün-roten Band gehalten, zu Ehren der Weihnachtssaison. Sie hielt einen dicken Liebesroman in einer Hand, während sie mit der andern in Richtung des großen, gutaussehenden Blonden, der an die nahen Bücherregale gelehnt stand, gestikulierte.

„Ja, das stimmt, Weasley. Ich kann nicht fassen, daß du dir immer noch das Hirn verdirbst mit diesem Mist. Was siehst du bloß in denen?"

Er grinste geradezu hämisch, während er die neueste Ausgabe der „Vierteljahresschrift für Quidditch" durchblätterte, das Handelsblatt der Quidditchenthusiasten.

Ausnahmsweise erwiderte Ginny die Beleidigung nicht. Statt dessen starrte sie ausdruckslos auf die Seiten vor sich. Ihr Gesichtsausdruck war weder wie gewöhnlich fröhlich noch lächelte sie schelmisch wie so oft, wenn sie in Malfoys Gesellschaft war. Im Moment sah sie nachdenklich aus. Als sie ihm nach ein paar Minuten nicht geantwortet hatte, faltete Draco seine Zeitung unter seinem Arm zusammen und kam zu ihr herüber.

„Also gut, Balg, raus damit. Was ist los?"

„Was meinst du damit? Nichts ist los", sagte sie und wich seinem Blick aus.

Er schnappte ihr das Buch aus den Händen und warf es neben ihr auf den Sitz. Er bedeutete ihr mit einer Geste zu rücken, setzte sich nahe an ihren Knien neben sie und sah sie wütend an.

„Hör zu, Balg, du läßt nie eine Chance, mit mir zu streiten, ungenutzt. Wenn ich dich frage, was du an diesen ätzenden Büchern findest, hast du immer eine schlagfertige Bemerkung parat. Wenn du mir also nicht den Kopf abbeißt, weil ich sie als Schrott bezeichne, dann stimmt was nicht. Ich muß nur rausfinden, was es ist. Wieder durch eine Kräuterkunde-Prüfung durchgefallen?"

Ginny seufzte. Sie zog die Knie hoch und schlang die Arme darum. Dann legte sie ihr Kinn auf ihre Knie und legte die Stirn in Falten.

„Niedlicher Trick, Balg", bemerkte Draco und streckte den Arm aus, um leicht an dem Zopf zu ziehen, der ihr über die Schulter baumelte. „Gerade siehst du aus, als wärst du zehn Jahre alt. Und dein Gesicht wird mit diesem Ausdruck erstarren, wenn du weiter so die Stirn runzelst."

Ginny antwortete einen Moment lang nicht, und Draco wunderte sich, was dieses normalerweise so lebhafte Mädchen so still werden lassen konnte. Schließlich hob sie den Kopf.

„Was ist für dich das wahre Leben, Malfoy? Ich meine nicht, einem Mädchen den Hals zu brechen, während du ihr sagst, daß du sie liebst, sondern andere Sachen. Wie ist es für dich bei dir zu Hause? Wenn du etwas willst, aber deine Eltern können es sich nicht... Mist. Vergiß es. Das kannst du nicht mal wie eine normale Person beantworten."

Draco zog die Augenbrauen in die Höhe. Sie diskutierten selten etwas „Privates", und er sah überall Landminen bei diesem speziellen Thema. Es hörte sich ganz so an, als würde Weasley anfangen, über Geld zu reden. Er räusperte sich.

„Hm, tja, Weasley, ich habe nie behauptet, daß ich „normal" bin", stellte er fest, wobei er sich unerträglich pompös anhörte. „Ich strebe danach, über dem Gewöhnlichen zu stehen, außergewöhnlich zu sein."

Ihr Mundwinkel zuckte ein klein wenig, also sprach Draco weiter. „Außerdem kann ich mir vorstellen, daß ein paar unserer Probleme die gleichen sind. Ich will einen neuen Besen, aber mein Vater sagt, daß ich gerade erst einen bekommen habe und nicht noch einen brauche. Ich will ein zweites Stück Kuchen, aber Mutter sagt „nein", mir würde schlecht werden. Meine Eltern streiten sich, wenn auch wahrscheinlich über andere Dinge. Sie streiten, Mutter wirft Sachen. Manchmal will ich die beiden einfach nur anschreien. Was ist mit dir?"

Ginny hatte bei diesen schockierend persönlichen Offenbarungen den Kopf gehoben. Sie hätte niemals gedacht, daß Malfoy zugeben würde, daß sein Leben nicht perfekt war wie gemalt. Sie verdrängte ihr Erstaunen und antwortete: „Na ja, Mum wirft nichts, aber sie ist sehr gut mit dem Holzlöffel."

Draco grinste selbstzufrieden. Das war schon besser. Wenngleich seine Eltern ihm nie ein zweites von irgendwas versagt hatten, sie stritten sich tatsächlich, und einige dieser Auseinandersetzungen waren verdammt schrecklich. Und auch wenn er nicht vorgehabt hatte, der jüngsten Weasley diese spezielle Tatsache anzuvertrauen, immerhin sah sie nicht mehr aus wie ein mitleiderregendes Straßenkind.

„Komm schon, Balg", sagte er aufmunternd. „Was ist los?"

Sie schnalzte mit der Zunge. „Es klingt jetzt so kindisch", erwiderte sie zögerlich.

„Das ist nichts Neues."

„Du bist wirklich ein Idiot, das weißt du, oder?"

„Das sagst du mir jedenfalls immer. Was ist los?"

Mit einem Augenrollen sagte Ginny schließlich: „Ein wirklich hartnäckiger Idiot. Es geht um die Ferien. Mum und Dad werden Charlie besuchen, Ron verbringt die Ferien mit Hermine und ihrer Familie in irgendeinem Urlaubsort, aber ich muß meine mit Fred und George in London verbringen."

Draco zuckte die Schultern. „Und das ist schlecht, weil? Ich meine, du sitzt nicht hier fest, richtig?"

Sie betrachtete ihn mit verengten Augen und fragte: „Sind jemals all deine Geschenke in dein Gesicht explodiert? Versuch mal, den ungenießbaren Mansch zu essen, den sich diese zwei fürs Essen einfallen lassen. Am Ende werde ich kochen. Und ich werde nicht mal damit anfangen, was wohlmöglich aus meiner Zahnpastatube kommt oder aus meiner Deoflasche. Es wird ein Alptraum werden!"

Draco verspürte plötzlich eine Aufwallung von Mitleid und etwas Verärgerung. Es war Pech, daß sie die Ferien mit ihren nervigen, idiotischen Brüdern verbringen mußte, aber wenigstens hatte sie eine Familie, mit der sie die Ferien verbringen konnte. „Nun, dann bleib hier, Balg", sagte er, harscher als beabsichtigt. Milder fügte er hinzu: „Ich könnte jederzeit noch ein Ziel für meine verzauberte Schneeballschlacht gebrauchen."

Sie schnaubte. „So verlockend das ist, Malfoy, ich werde verzichten müssen. Mum und Dad haben bereits verfügt, daß ich den Jungs in den Ferien in ihrem Geschäft helfen werde, damit ich etwas zusätzliches Geld verdiene. Es ist einfach nicht fair!"

Ginny legte den Kopf auf die Knie und war überrascht, ihn wütend hervorstoßen zu hören: „Warum wirst du nicht erwachsen, Weasley? Das Leben ist kein Buch, und es ist nicht fair! Die Handlung in deinen dämlichen Büchern ist albern, so was würde echten Leuten in hundert Jahren nicht passieren. Das ist nicht das wahre Leben. Im wahren Leben interessiert sich deine Mutter mehr für ihre Maniküre als für ihren Sohn. Im wahren Leben glaubt dein Vater, er könne alles auf der Welt kaufen, aber er würde nie mit seinem Kind zu einem Spiel gehen, außer es bringt politische Vorteile. Im wahren Leben ist man von einer Familie umgeben, der es egal ist, ob man lebendig oder tot ist! Du glaubst, dir geht's schlecht!" Draco rückte näher, sein Gesicht so nah, daß sich ihre Nasen fast berührten. „Es ist ja nicht so, als würdest du in eine Leprakolonie geschickt oder so was, richtig? Du wirst die Ferien mit Brüdern verbringen, die dich lieben. Was ist schon dabei, wenn du ein explodierendes Geschenk kriegst oder welche von ihren verhexten Süßigkeiten? Immerhin weißt du, daß sie da sein werden, um sich um dich zu kümmern, falls dir mitten in der Nacht was zustoßen sollte. Bei dir wird nicht zu jeder Tages- oder Nachtzeit ein Monstrum vorbeischauen, um deinen Brüdern zu befehlen, einen armen Tölpel zu erledigen, richtig? Großer Gott, Leute wie du machen mich krank, immer meckern, wie schlecht es euch geht, dabei habt ihr verdammt noch mal alles! Weißt du was, Weasley? Erzähl das jemandem, den's interessiert."

Er hatte leise gesprochen, aber die Worte beinah ausgespuckt. Ginny war mit jedem Wort etwas weiter von ihm abgerückt, bis sie in einer Ecke kauerte. Er richtete sich abrupt auf, sein Gesicht plötzlich ausdruckslos. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und verließ die Bibliothek.

Ginny biß sich heftig auf die Lippe. Hätte sie das nicht getan, hätte sie jetzt schon wie ein Baby geheult. Das Problem war, daß sie nicht wußte, ob sie um ihrer selbst willen geheult hätte oder um seinetwillen. Ginny entschied, daß das keine Rolle spielte, rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen und hob ihr Buch auf. Es dauerte zehn Minuten, bis sie bemerkte, daß sie das verfluchte Ding falsch herum hielt.