Kapitel 6
Dafür sind Freunde da

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Rechtfertige dich nie. Deine Freunde erwarten das nicht, und deine Feinde werden dir sowieso nicht glauben.

– Belgicia Howell

Ein Freund hilft dir, etwas zu bewegen. Ein wirklich guter Freund wird dir helfen, Institutionen zu bewegen.

– Unbekannt

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Ginny saß an einem Tisch im hinteren Teil der Bibliothek, Federn und Pergament vor sich ausgebreitet. Ihr Kräuterkundebuch war aufgeschlagen, aber Ginny konnte es nur mit leerem Blick anstarren. Wieder einmal ergab die Hausaufgabe für Kräuterkunde keinen Sinn. Draco Malfoy konnte sie nicht um Hilfe bitten, da er nicht länger in die Bibliothek kam. Nicht daß sie das getan hätte. Er war abscheulich und gemein gewesen, als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Nicht nur das, er hatte auch nicht mit ihr geredet, seid sie vor einem Monat aus den Ferien zurückgekommen war, nicht mal auf den Fluren. Als Ginny wieder einfiel, was ihr Freund Bob gesagt hatte, erkannte sie, daß er recht gehabt hatte: Es war schließlich Malfoys Pech. Ginny brauchte seine Gesellschaft ohnehin nicht. Jedenfalls sagte sie sich das.

All ihre übrigen Hausaufgaben waren fertig, und mit Kräuterkunde kam sie nicht weiter, also packte Ginny alles wieder in ihre Tasche. Es war sowieso Zeit zurückzugehen. Noch bevor sie aufstehen konnte, hörte sie eine vertraute Stimme.

„Du fällst in Kräuterkunde durch? Wer zur Hölle fällt durch in Kräuterkunde?"

Ginny beachtete den großen, blonden Jungen, der hinter ihrem Stuhl stand, kaum, schob ihren Stuhl vom Schreibtisch weg und stand auf. Sie schulterte ihre Tasche, warf sich ihren langen Zopf über die Schulter und ging auf dem Weg zum Ausgang der Bibliothek um ihn herum.

„So ist das also, Weasley? Wir haben einen kleinen Streit, und schon redest du nicht mehr mit mir? Gut, Weasley, dann stell dich eben an."

Ginny ging weiter und ignorierte ihn.

„Ach, komm schon, Kleine", sagte er, während er sie einholte und neben ihr herlief. „Jetzt sei nicht so. Komm und setz dich."

Es war fast ein Echo dessen, was sie zu ihm gesagt hatte, als sie ihn ausgelacht hatte, weil er so eingebildet war. Sie war immer noch verärgert über seinen gehässigen Ausbruch vor den Ferien, aber Ginny konnte spüren, wie ihr ein Lächeln um die Mundwinkel zuckte. Als sie stehenblieb und den großen jungen Mann neben sich ansah, bemerkte sie nicht, daß andere sie beobachteten und hinter vorgehaltener Hand flüsterten.

„Wie soll ich nicht sein, Malfoy? Du meinst, ich sollte es nicht persönlich nehmen, daß du mich angeschrien hast, ich solle erwachsen werden und es jemandem erzählen, den es kümmert? Ich hatte nicht vor, etwas zu sagen, aber du hast gebohrt und gebohrt, bis ich es dir erzählt habe. Du hättest nicht fragen sollen, wenn du nur vorhattest, so schroff darauf zu reagieren!" Ginny sah zu, wie er mit den Augen rollte.

„Großer Gott, Kleine, geht's immer noch darum? Hach, ich nehm' an, du wirst darüber meckern, bis ich mich entschuldige, richtig? Na gut. Es tut mir leid, daß ich dich angeschrien hab, obwohl ich meine Stimme eigentlich nicht erhoben habe. So, zufrieden? Meine Güte, ich dachte wir wären Freunde. Ich gebe nicht vor, auf dem Gebiet der Freundschaft allwissend zu sein, aber ich dachte, Freunde könnten sich gegenseitig sagen, was sie fühlen, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen. Scheiße, Weasley, du nennst mich andauernd einen arroganten, eingebildeten Idioten, und ich beschwer mich nicht dauernd, oder?"

Ginny spürte wieder das Lächeln um ihrem Mund zucken. „Das sage ich dir nur, weil irgend jemandversuchen muß, deine Bescheidenheit zu erhalten, Malfoy. Wenn ich nicht wäre, würde dein aufgeblasenes Ego nicht durch die Tür passen. Außerdem ist es nicht dasselbe, ob ich dir sage, daß du ein Idiot bist oder ob du mich bezichtigst, ich würde „meckern", wie schlecht es mir geht, wenn ich eigentlich „verdammt noch mal" alles habe."

Er legte die Stirn in Falten, offensichtlich in Gedanken.

„Also, ich schätze, wenn du mich beleidigst, dann ist das im Sinne der Allgemeinheit, und ich sollte nicht beleidigt sein? Ist es das?"

„So was ähnliches, Malfoy", stimmte Ginny zu, überkreuzte die Arme und lächelte ihn süßlich an. „Sogar du solltest den Unterschied erkennen."

„Sein eigener Mund zuckte ebenfalls, aber er versuchte, es zu verbergen. „Zuallererst mal, Kleine", sagte er schließlich, „sag nicht „verdammt". Das ist kein nettes Wort, und es ist einfach falsch, es dich sagen zu hören. Zweitens, du hast recht. Es gibt einen Unterschied. Aber noch einmal, ich dachte, wir wären Freunde."

Ginny starrte ihn an, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Draco Malfoy hielt ihr einen Vortrag über ihre Ausdrucksweise? Das war witzig! Sie versuchte, nicht zu kichern, das tat sie wirklich, aber sie konnte sich nicht helfen. Der junge Mann, der sie beobachtete, war hin und her gerissen. Sie lachte ihn schon wieder aus, etwas, das diese kleine Gryffindor allzu oft zu tun schien. Auf der anderen Seite stürmte sie nicht mehr mit wütend verzogenem Gesicht aus der Tür, das war die gute Seite.

Mit seinem besten arroganten Grinsen sagte er: „Hab ich was Komisches gesagt, Kleine?"

Ginny nickte lächelnd. „Ich kann nicht glauben, daß ausgerechnet duden Nerv hast, über meine Ausdrucksweise zu reden! Ich habe nur wiederholt, was du gesagt hast. Und wenn wir Freunde sind, Malfoy, weshalb hast du dir dann im vergangenen Monat nicht die Mühe gemacht, mit mir zu sprechen?"

„Warum hast du dich nicht bequemt, mit mir zu sprechen, Kleine?" gab er zurück. „Es gehören immer zwei zu einem Gespräch, weißt du."

‚Selbstgefällig', dachte Ginny. Er sah im Augenblick so verflucht selbstgefällig aus. „Weil ichdiejenige war, die verletzt war. Du hättest zuerst zu mir kommen sollen", verkündete Ginny mit erhobenem Kinn.

„Was zum Teufel, glaubst du, hab ich gerade getan, Weasley? Du hast also gekriegt, was du wolltest. Ich hab mich entschuldigt, und ich bin zuerst auf dich zugekommen. Gibt's noch irgendwelche anderen Kleinigkeiten, die ich wissen sollte, damit wir aus der Mitte des Raums verschwinden und aufhören können, Aufmerksamkeit zu erregen?"

„Nun ja, du könntest aufhören, mich „Kleine" zu nennen, das wäre nett."

Draco schüttelte grinsend den Kopf. „Tut mir leid, Weasley, aber du kannst nicht alles haben."

Ginny konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Er hatte ein furchtbar ansteckendes Lächeln, auch wenn sie es nur selten sah. Trotz Dracos Worten, bemerkte keiner von ihnen die Aufmerksamkeit, die sich auf sich zogen.

„Und da du mir dieses wunderschöne Lächeln geschenkt hast, muß ich jetzt deinem zweifelhaften Charme zum Opfer fallen und dir vergeben, daß du ein unerträglicher Trottel warst? Ist das so, Malfoy?"

„Der Tag, an dem du meinem Charme „zum Opfer fällst", wird ein sehr frostiger Tag in der Hölle sein, Weasley. Sogar ich weiß das. Aber wegen des Vergebens, daß ich ein unerträglicher Trottel war, dafür sind Freunde da, oder, Kleine?"

Er streckte einen Arm aus, legte seine Hand um ihren Nacken und zog sie an sich. „Und wir sind Freunde, stimmt's, Kleine?"

Ginny seufzte, konnte aber ihr breites Lächeln nicht unterdrücken. „Tja, Malfoy, wenn du es so formulierst, ich schätze schon."

„Gut!" erwiderte er und ließ sie los. „Und jetzt, Kleine", fuhr er fort und zeigte auf den Tisch, „wie wär's, wenn du mir zeigst, was du in Kräuterkunde diesmal nicht verstehst?"