Kapitel 7
Deine Augen täuschen dich

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Es ist immer die beste Methode, die Wahrheit zu sagen – außer natürlich, man ist ein außerordentlich guter Lügner.

– Jerome K. Jerome

Die Wahrheit ist zweifellos schön, aber das sind Lügen auch.

– Ralph Waldo Emerson

Ich hätte ja die Wahrheit gesagt, aber Lügen war komischer.

– Kelly Felix aka Davesmom

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Ginny blickte mit einem Ausdruck von Resignation von dem Buch auf, das sie gelesen hatte. Er hatte sie gefunden. ‚Verdammt', dachte sie. Sie hatte gehofft, sie hätte ihn auf der Treppe abgeschüttelt. Seufzend klappte Ginny ihr Buch zu und legte es beiseite. Dann sah sie zu, wie ihr älterer Bruder auf sie zustampfte.

„Ich war noch nicht fertig", sagte er, ohne Einleitung und setzte die Unterhaltung von vorhin fort – nein, keine Unterhaltung, es war ein Wortschwall gewesen, sagte sich Ginny. Für eine Unterhaltung brauchte es zwei Leute, und Ron hatte sie nicht zu Wort kommen lassen. Er schwenkte einen Finger in ihre Richtung.

„Mindestens ein Dutzend Leute haben mich gefragt, was meine Schwester damit beabsichtigt, mit solchem Abschaum wie Malfoy auszugehen. Ich werde das nicht hinnehmen, Gin! Du weißt, wie er und seine Bande sind. Du sagst ihm einfach, er soll sich verziehen! Verstanden?"

Ginnys Geduld war bis zum Äußersten gedehnt worden. Es war nicht genug, daß Ron gerade ihr Abendessen verdorben hatte, jetzt mußte er ihr zu ihrer Zufluchtsstätte folgen. Sie ging in die Bibliothek, um von der üblichen Gruppe von Leuten, die sie jeden Tag im Gemeinschaftsraum sehen mußte, wegzukommen. Nicht nur das, der Riesenidiot versuchte tatsächlich, ihr vorzuschreiben, mit wem sie ihre Zeit verbringen konnte! Das würde sie nicht tolerieren!

„Wenn ich irgend jemandem sage, daß er sich verziehen kann, dann bist du das, Ron! Wie kannst du es wagen zu versuchen, mir vorzuschreiben, mit wem ich reden darf! Was zum Teufel glaubst du eigentlich, wer du bist?"

Ginny war wütend, ja, aber sie war es auch leid, nach Malfoy gefragt zu werden. Seid sie und Malfoy nach den Ferien wieder angefangen hatten, miteinander zu reden, schienen die Leute davon Notiz zu nehmen. Zuerst hatte Ginny diese eifersüchtige Katze Pansy Parkinson dafür verantwortlich gemacht, aber es sah so aus, als würde jeder darüber reden. Jeder schien zu glauben, daß er oder sie ein Recht hatte, Ginny auszufragen, und alle schienen zu glauben, daß mehr vor sich ging, als wirklich da war. Sie mochte Malfoy, obwohl sie wußte, was für ein scheußlicher Arsch er zu den meisten war. Sie behandelte er gut, und es war Tatsache, daß sie Freunde waren.

„Was meinst du damit, was ich glaube, wer ich bin?" schnauzte Ron. „Ich bin dein Bruder! Ich bin dazu da, dich zu beschützen! Und das bedeutet, Abschaum wie Malfoy von dir fernzuhalten!"

Ginny schluckte die Antwort hinunter, die ihr automatisch einfiel: daß er in ihrem ersten Schuljahr nicht sonderlich gut darin gewesen war, sie zu beschützen, nicht mal in der zweiten Klasse, als im Zug beinahe ihre Lebenskraft von den Dementoren aufgezehrt worden war. Sie änderte statt dessen ihre Taktik.

„Woher willst du eigentlich wissen, daß ich es bin, um die du dir Sorgen machen mußt, Ron? Ist dir jemals der Gedanke gekommen, daß ich diejenige bin, die sich an Malfoy ranmacht? Vielleicht braucht Malfoy deine Hilfe, denn ich brauch sie mit Sicherheit nicht!"

Ron gaffte sie einige Sekunden lang an, anscheinend unfähig, das als Möglichkeit zu akzeptieren. Bevor er irgendeine Art von Antwort formen konnte, sah Ginny, wie sich hinter ihm eine vertraute und sehr willkommene Gestalt bewegte.

„Belästigt dich dieser Trottel, Kleine? Kann ich helfen?" fragte Draco geschmeidig.

Ginny lächelte mit einem listigen, boshaften Glanz in den Augen. „Mein Bruder scheint den Eindruck zu haben, daß dumich belästigst, Malfoy. Ich habe ihm gerade mitgeteilt, daß du ein unschuldiges Opfer bist, und daß ich diejenige mit schlimmen Absichten auf dein reines, unberührtes Selbst bin. Ist es nicht so?"

Dracos Augenbrauen hoben sich, als er ihr ein Grinsen zuwarf. Dann wandte er sich dem stammelnden, entrüsteten älteren Bruder zu. „Sie hat vollkommen recht, Weasley", sagte er. „Ich habe ihr wieder und wieder gesagt, daß ich nur mit ihr befreundet sein will, aber sie hört nicht auf, meine Tugend auf die Probe zu stellen. Nun, ich bin es müde zu kämpfen, daher habe ich beschlossen, ihren lüsternen Forderungen nachzugeben."

Draco griff nach Ginnys Hand und zog sie von ihrem Platz hoch. „Also gut, Kleine", verkündete er feierlich. „Nimm mich, ich bin dein!"

Ginny kicherte hilflos, als Draco sich in ihre Arme warf und seinen Kopf auf ihre Schulter legte. „Bitte geh sanft mit mir um, Liebling. Es ist mein erstes Mal", flehte er sie an, einen sehnsüchtigen, bittenden Ausdruck im Gesicht, bevor er in einem gespielten Ohnmachtsanfall auf sie fiel.

Ron sah sprachlos zu, seine Augen so groß wie Untertassen.

„Nein!" brachte er hervor. „Das kann nicht wahr sein! Oh mein Gott! Mum wird durchdrehen! Ginny …"

Er unterbrach sich, als er sah, wie Ginny und Draco auf dem Fenstersitz zusammenbrachen. Beide lachten hysterisch und hielten sich aneinander fest, um nicht umzufallen. Draco konnte gerade lange genug aufhören zu lachen, um Ron zu sagen, er solle Leine ziehen, bevor er wieder losprustete.

Ron schien unsicher, ob er versuchen sollte, Draco in Stücke zu reißen, oder Ginny zurück nach Gryffindor zu schleifen. Er überlegte einen Moment hin und her, bevor er sich mit beiden Händen an den Kopf griff.

„Kopfschmerzen, Ron?" fragte Ginny mit falscher Besorgnis, bevor sie sich in einem erneuten Lachanfall auflöste. „Vielleicht kann Madame Pince dir helfen. Da kommt sie schon", fügte sie zwischen Glucksern hinzu. Ron machte eine ausgesprochen finstere Miene, zog sich aber zurück.

„Die Sache ist noch nicht vorbei", sagte er. Er schien zu wissen, daß er im Augenblick von keinem der beiden eine sinnvolle Antwort erhalten würde, also stürmte er davon.

Madame Pince sah den verwirrten Jungen an sich vorbeistelzen, während sie herbeieilte, um nachzusehen, woher dieser Aufruhr kam. Ginny und Draco nahmen sich augenblicklich zusammen und ließen sich nur noch hin und wieder einen seltsamen Schluckauf vernehmen, während Madame Pince ihnen die Leviten las, weil sie so eine Unruhe erzeugt hatten. Als sie Ginny und Draco schließlich allein ließ, sahen sie sich an und brachen um ein Haar wieder in Gelächter aus.

Als sie sich endlich wieder ansehen konnten, ohne vor Lachen zu brüllen, schenkte Draco Ginny ein boshaftes Grinsen. „Schlimme Absichten auf mein „reines, unberührtes Selbst"? Weasley, du bist so genial böse. Das war so viel besser als das, was wir mit Pansy gemacht haben. Ich fühle, daß ich in der Gegenwart einer Meisterin bin!"

Sie konnte nicht anders, als zu lachen. „Ich fand es auch ziemlich gut", gab sie zu. „Und was die Meisterschaft betrifft, muß ich sagen, Malfoy, ich habe von dem besten gelernt, nicht wahr?"

Draco sah unbeschreiblich selbstgefällig aus, als er nickte. „Das hast du." Er zeigte auf ihre Tasche und ergänzte: „Und jetzt, Kleine, laß uns mal sehen, ob du deine Hausaufgaben für Kräuterkunde ‚meistern' kannst."