Kapitel 10
Man kann nicht immer haben, was man will
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Man kann nicht immer haben, was man will. Aber wenn man es sucht, findet man manchmal vielleicht genau, was man braucht.
– The Rolling Stones, You Cant Always Get What You Want
Die Liebe wird verhüllt unter dem Deckmantel der Freundschaft eintreten.
– Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.)
Nichts nimmt Erdnußbutter so den Geschmack wie unerwiderte Liebe.
– Charles M. Schulz (1922–2000), Charlie Brown in
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Ginny Weasley blickte nervös von dem zerknüllten Brief in ihrer Hand zu dem großen, blonden jungen Mann, der vor ihr stand. Der Brief war beim Frühstück gekommen, und Ginny war zu dem Zeitpunkt unfähig gewesen, einen kleinen Freudenschrei zu unterdrücken. Das war vor drei Stunden gewesen. Jetzt wälzten sich die heißen Frühstücksflocken mit Sahne und Honig, die sie gegessen hatte, unangenehm mit der speziellen Kaffeemischung herum, die sie vor kurzem getrunken hatte. Ihr Magen schäumte, und das lag alles an dem hochmütigen, belustigten Blick, mit dem Draco Malfoy sie ansah.
„Also hat dir der Typ endlich geschrieben? Es hat ja auch nur, hm, vier Monate gedauert. Und du hast direkt zurückgeschrieben und ihm gesagt, daß er sich verziehen kann, richtig, Kleine?"
Trotz ihrer Nervosität weigerte sich Ginny, den Blick abzuwenden. Statt dessen schüttelte sie fest den Kopf, wodurch ihr langer Zopf von ihrer Schulter rutschte und ihr den Rücken hinunterbaumelte.
„Ich habe nichts dergleichen getan", sagte sie und versuchte, das leichte Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Ich habe ihm eine Nachricht geschickt, die besagt, daß ich mich sehr gern mit ihm treffen würde. Heute. In Hogsmeade."
Dracos Mundwinkel hoben sich. „Ja, klar hast du das", sagte er leichthin. Vor sich hinlachend streckte er die Hand aus, zupfte an ihrem Zopf und schnippte ihn wieder über ihre Schulter. „Nein, ernsthaft, Weasley. Was genau hast du ihm gesagt? Ich würde zu gerne wissen, wie es sich typischerweise anhört, wenn man von einer Gryffindor einen Korb kriegt."
„Hör auf damit!" schnappte Ginny, warf sich ihren Zopf ungeduldig wieder über die Schulter und wich von dem jungen Mann zurück, der sie in letzter Zeit so nervös machte. „Ich hab ihm gesagt, daß ich ihn nach ein paar Erledigungen auf einen Kaffee in diesem neuen Café treffen würde. Vielleicht essen wir zu Mittag. Warum ist das eigentlich so eine große Sache?"
Ginny ließ sich auf den Fensterplatz fallen, den sie gewöhnlich einnahm und schob den Brief in den Roman, den sie wie immer dabeihatte. Ein Teil von ihr wollte nicht hier sein, da ihre Freundschaft nach dem zweiten Pansy-Vorfall nie wieder wie vorher gewesen war. Ein anderer Teil von ihr wollte verzweifelt einfach nur mit diesem jungen Mann zusammensein, der früher ihr Feind gewesen war und inzwischen wesentlich mehr als ein Freund. Aber das würde sie niemals vor ihm zugeben. Sie wußte bereits, daß er nicht auf diese Art an ihr interessiert war. Hatte er das nicht zu diversen Gelegenheiten deutlich gemacht? In dem Bemühen, etwas von ihrer früheren Gelassenheit in seiner Gegenwart zurückzuerlangen, öffnete sie ihren Liebesroman und fragte: „Also, irgendwelche großen Pläne für heute?"
Draco starrte sie an. Der Unglaube stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das konnte sie unmöglich ernst meinen. Er trat näher an den Fenstersitz, auf dem sie saß, und sagte: „Das glaub ich nicht!" Sogar für seine eigenen Ohren klang er zu laut, aber er fuhr dennoch fort. „Ich meine, du hast gesagt, daß er sich nie die Mühe gemacht hat, die Nachrichten zu beantworten, die du ihm geschickt hast, dann plötzlich, aus heiterem Himmel, schreibt er, daß er dich treffen will. Und du stimmst zu? Du sagst nicht nur zu, du quietschst auch noch wie ein Mädchen, wenn du das verdammte Ding kriegst! Hast du den Verstand verloren?"
Was war sein Problem? Warum mußte er sich ausgerechnet heute aussuchen, um so ein Idiot zu sein? Ginny wußte, daß es nicht so was wie Eifersucht war, was dieses plötzliche Interesse an ihren Aktivitäten hervorrief, also suchte er wahrscheinlich nur Streit. Verstimmt erwiderte sie: „Ich weiß nicht, wovon du redest, Malfoy! Was geht dich das überhaupt an? Ich hätte gar nichts gesagt, hättest du nicht angefangen, mich wegen dieses dummen Briefs zu nerven!"
Draco ergriff die Gelegenheit. „Dummer Brief? Siehst du!?" fragte er. „Sogar du findest, daß er ein blöder Idiot ist! Wo ist dein Stolz? Warum um alles in der Welt willst du dich mit irgendeinem Blödmann treffen, der meint, er könnte einfach wie aus dem Nichts auftauchen und mit den Fingern schnipsen, und du kämst angerannt?"
„Okay, Malfoy, jetzt reicht's!"
Ginny sprang von ihrem Platz auf und ging steif auf ihn zu. Sie schupste ihn zurück und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Es geht dich verdammt noch mal nicht das geringste an, aber er hat nicht verlangt, daß ich mich mit ihm treffe, er hat nur darum gebeten." Sie schupste ihn noch einmal, woraufhin er den Schwung auf den Fersen abrollte und einen Schritt zurück machte. „Er hat nicht zurückgeschrieben, weil er gedacht hat, er wäre im Sommer außer Landes, aber jetzt ist er das nicht." Ein weiterer Stoß ließ Draco mit geweiteten Augen und offenem Mund noch weiter zurückweichen. „Ich mag ihn, und ich will ihn wiedersehen. Wenn mir also danach ist, mit ihm zu Mittag zu essen, oder ihn um den Verstand zu knutschen, dann werd ich das tun! Kapiert?"
Draco schloß den Mund und schüttelte den Kopf. „Nein, Kleine", brummte er schließlich. „Ich kapier's nicht! Du willst dich mit irgend so einem häßlichen Typen treffen, den du seit Monaten nicht mal gesehen hast! Er hatte nicht den Anstand zurückzuschreiben, und er ist Jahre älter als du. Er hat wahrscheinlich keine zwei Sickel zum Aneinanderreiben, und er arbeitet in einem Café, um Himmels willen! Was siehst du in ihm? Glaubst du nicht, du könntest jemand Besseres finden?"
„Oh, ich kann's nicht fassen!" sagte Ginny erstaunt. „Du … Du … Ach, es gibt einfach kein Wort, das schlimm genug ist! Ich habe nie gesagt, Bob wäre häßlich. Ich habe nur gesagt, daß er nicht die Art von Aussehen hat, die die Blicke anderer auf sich zieht. Aber du kannst das natürlich nicht verstehen, nicht wahr, Mr-ich-seh-so-gut-aus? Und während der Zeit, die ich mit ihm verbracht habe, war er immer ein Gentleman und außerordentlich nett zu mir! Und es interessiert mich nicht im mindesten, wie alt er ist. Ich werde gehen, und ich brauche dafür nicht deine Erlaubnis!"
Sie setzte dazu an, ihn erneut zu schubsen, aber Draco packte ihre Handgelenke und zwang sie, ihn anzusehen. Mit finsterer Miene öffnete er den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie zog ihre Hände weg und unterbrach ihn.
„Außerdem, Malfoy", sagte sie spöttisch, „es ist ja nicht so, als würde es dich interessieren, abgesehen davon, daß du dich tatsächlich alleine beschäftigen müßtest, ohne daß ich hier bin und an deinen Lippen hänge! Tja, tut mir leid, aber ich werde nicht länger zu den Massen gehören!"
Sie schob sich an ihm vorbei und eilte aus der Bibliothek hinaus, wandte sich aber noch ein letztes Mal um. „Oh, und zu deiner Information, Geld zu haben, bedeutet für mich auch, daß man eine Verpflichtung hat. Für uns einfache, arme Leute ist es leicht zu erkennen, wenn uns jemand um unserer selbst willen mag."
Sie wirbelte mit fliegendem Zopf herum und stampfte aus der Tür, aber nicht bevor Draco die Tränen gesehen hatte, mit denen sich ihre Augen gefüllt hatten.
„Ginny!" Er macht ein paar Schritte, um ihr zu folgen, blieb dann aber unvermittelt stehen, als ihm die Bedeutung ihrer Worte bewußt wurde. Was hatte sie gemeint, als sie gesagt hatte, sie würde nicht mehr „zu den Massen gehören"? Mochte sie ihn wirklich? Trotz ihres sarkastischen Tonfalls und der wütenden Worte, spürte Draco, wie ein dämliches Grinsen sein Gesicht überzog.
Dann kam ihm eine ganz andere Art von Erkenntnis. Er sank auf den nächsten verfügbaren Stuhl, vergrub sein Gesicht in seinen Händen und seufzte. „So ein Mist", murmelte er, „ich hab gerade alles vermasselt!"
