Neubeginn


Engel, ein etwa 18 oder 19 Jahre alter Junge rannte die Strasse hinab, seine zerzausten pechschwarzen Haare schimmerten im hellen Sonnenlicht bläulich und die grünen, leicht verträumt wirkenden Augen welche hinter Brillengläser hervorblitzten sahen freudig der Gestalt entgegen welche am anderen Ende der Strasse auf ihn wartete.
„Da bist du ja, Alter! Dachte schon du würdest wieder zu spät kommen!" Witzelte der andere Junge, Engel lächelte nur verschmitzt und ging dann schweigend neben seinem besten Freund Seraphin her.
Vielleicht war es Zufall, dass sie beide den gleichen Namen trugen, nur eben in einer anderen Sprache, aber Engel war fest davon überzeugt dass es Schicksal war. Manchmal dachte er Seraphin schon viel länger zu kennen als nur drei Jahre, obwohl er sich an nichts vor seinem sechzehnten Geburtstag erinnern konnte.
„Was meinst du Engel, wollen wir die Schule, Schule sein lassen und uns ein paar gemütliche Stunden machen?" Fragte plötzlich Seraphin und durchbrach die angenehme Stille welche bis dahin zwischen den beiden Jungen geherrscht hatte. Wieder nickte Engeln nur lächelnd und die beiden rannten lachend in die Entgegengesetzte Richtung in der die Schule lag.
„Hier ist es schön hier bleiben wir!" Bestimmte Seraphin und ließ sich ins weiche Gras fallen. Sie waren in einem kleinen und fast Menschenleeren Park angelangt, welcher nahe der Stadtgrenze lag.
„Was meinst du Engel, wird die olle Fetscher verdacht schöpfen?" Engel lachte nur darauf und nickte mit dem Kopf. „Ja du hast wohl Recht, aber es ist so schönes Wetter da kann man eben nicht widerstehen!" Engel bestätigte die Worte seines Freundes mit einem Nicken und ließ sich rücklings ins Gras fallen, die Arme verschränkte er hinter seinem Kopf, verträumt blickte er in den Himmel, welcher so blau war wie der Ozean.
Seraphin betrachtete seinen Freund von der Seite. Er teilte das gleiche Schicksal wie Engel. Auch er konnte sich an nichts vor seinem sechzehnten Geburtstag erinnern, vielleicht war es gerade diese Tatsache, welche sie so fest Miteinader verband?
Engel war stumm.

Natürlich, die Ärzte sagten er könne sprechen, wenn er wollte, doch wäre Engels Schweigen psychischen Ursprungs. Die Ärzte meinten, es würde mit seiner Vergangenheit zusammen hängen und seiner Amnesie. Viele Kinder schützen sich so vor den schrecklichen Erlebnissen die sie in der Vergangenheit erlebt hatten.
Doch bei ihm, Seraphin, traf dies alles nicht zu. Er war lebensfroh und beinahe schon hyperaktiv, hatte keine Probleme in der Schule (außer das er gelegentlich Nachsitzen musste, aber welche Jugendlicher musste das nicht?), bei ihm war alles in bester Ordnung und doch war da ein Schatten in seinem Bewusstsein, welcher in oft den Schlaf raubte und ihm schreckliche Alpträume bescherte. Seraphin wusste nicht woher diese kamen, doch eins wusste er genau: Engel hatte dieselben Alpträume wie er. Aber da war noch etwas was sie beiden von den anderen unterschied… etwas, etwas was nicht wirklich normal war. Seraphin und Engel konnten Dinge die andere nicht konnten. Es war schwer zu beschreiben, oft waren es nur kleine Dinge, wie ein Icetea zum kochen zu bringen (Seraphin hatte dieses Kunststück einmal fertig gebracht als er wirklich verdammt wütend war) oder Vorahnungen welche sich bewahrheiteten… all solche Sachen. Seraphin konnte sich nicht erklären woher oder wieso sie solche ‚Kräfte' besaßen, aber sie machten ihm keine Angst, er wusste sie hatten etwas mit ihrer beiden Vergangenheit zu tun.
Weshalb Seraphin sein Gedächtnis verloren hatte? Seine Amnesie war Unfall bedingt und nichts Außergewöhnliches. Es geschah oft, dass bei einem schweren Unfall ein Teil des Gedächtnis verloren ging, nun, in den meisten Fällen kamen die Erinnerungen nach wenigen Monaten wieder zurück, doch Seraphin kann sich bis heute an nichts erinnern.
Seufzend strich Seraphin sich eine weißblonde Strähne hinters Ohr. Ein Stupfen an seiner Seite ließ ihn zu Engel hinabblicken, welcher ihn fragend ansah. „Ach nichts… ich hab nur über die seltsamen Begebenheiten die uns verbinden nachgedacht." Auch wenn Engel nicht sprach so verstanden sie sich ohne Zeichensprache und all den Krempel. Seraphin musste lächeln als er daran dache wie sich Engel gesträubt hatte die Zeichensprache zu lernen, er war dafür viel zu stolz. Ein erneutes Stupsen und Seraphin erklärte: „Kannst du dich noch an das Theater erinnern welches du aufgeführt hast als du die Zeichensprache lernen solltest?" Leises Lachen antwortete ihm.
Seraphin ließ sich nun ebenfalls rücklings ins Gras fallen. Es war schön die Zeit zu genießen und die Gedanken treiben zu lassen.
Engel betrachtete seinen Freund. Die weißblonden Haare waren eine Spur zu kurz fand er (sie waren kaum drei Zentimeter lange und standen wirr vom Kopf ab) jedoch konnte man so ungehindert die auffälligen Augen von Seraphin bewundern, welche die Farbe von flüssigem Silber hatte oder grau, wenn er sauer oder beleidigt war. Die Kleider waren auch gewöhnungsbedürftig, trug Seraphin ja nur schwarze Sachen mit viel Nieten und Ketten (ein richtiger Goth eben).
„Na gefall ich dir?" Schnurrte Seraphin und schmiegte sich an den anderen Jungen. Für einen Außenstehenden würden sie wie ein niedliches Schwulenpärchen wirken, doch in Wirklichkeit waren sie nicht zusammen (so dachten sie jedenfalls). „Würdest du die Vergangenheit wissen wollen?" Engel schüttelte den Kopf, „ich auch nicht. Irgendwie hab ich Angst davor…"
Eine Zeit verbrachten sie schweigend miteinander dann hob Seraphin plötzlich den Kopf und fragte: „Hast du schon einmal darüber nachgedacht?" Verständnislos sah Engeln seinen Freund an, dieser erklärte sich: „Naja, ich meine, mit mehr als Freundschaft…" Engel begann zu grinsen und legte seine Hände in Seraphins Nacken um ihn dann sanft herunter zu ziehen. Ihre Lippen trafen sich zu einem ersten scheuen Kuss (oder war er gar nicht ihr erster?).
Ein Außenstehender konnte nun ein glückliches, frisch verliebtes schwules Pärchen sehen, doch war das schon alles?