9.

Rûmil betrachtete das Orkschwert in seinen Händen aufmerksam, ließ seine Finger prüfend über die gut gepflegte Klinge gleiten. An der seltsam geformten Spitze hielt er inne und sah zu Kharek, der gerade damit fertig war, seine Bogensehne zu wachsen.

„Kharek, wofür ist dieser Dorn hier?"

Kharek ließ seine Fänge aufblitzen, als er ein Lächeln probierte.

„Das ist ein Allzweckwerkzeug. Ich kann dir im Kampf damit den Bauch aufschlitzen und deine Eingeweide rausholen oder ich entreiße dir einfach dein Schwert damit."

Rûmil schüttelte den Kopf.

„Niemand hat mir je die Waffe entwendet, ich glaube nicht, dass du das schaffen könntest."

Die andere Möglichkeit mochte er nicht näher ausführen. Kharek nickte ernsthaft.

„Doch, ich denke, ich könnte es. Willst du es ausprobieren?"

Fragend neigte er den Kopf und schaute den Elben an. Der überlegte einen Moment. Das Bein war gut geheilt und irgendwie war er schon neugierig, wie der Uruk es schaffen wollte ihm das Schwert abzunehmen.

„Ja, warum nicht? Aber es geht wirklich nur darum, ob du mich entwaffnen kannst, das möchte ich ganz klar sagen."

Kharek nickt.

„Ja natürlich, es liegt nicht in meinem Interesse, dich zu verletzen. das solltest du inzwischen aber wissen." Beinahe vorwurfsvoll klangen diese Worte.

„Es ist nicht so einfach alte Gewohnheiten abzulegen, Kharek. Aber ich werde mich bemühen, versprochen."

Rûmil erhob sich und gab dem Uruk das Schwert zurück, um sein eigenes zu ziehen. Kharek legte den Bogen beiseite und griff die Waffe. Er blickte sich um.

„Nicht genug Raum hier, vielleicht gehen wir nach draußen?"

Rûmil zögerte. Sicher, die Höhle lag etwas verborgen hinter einem Hügel und war nicht direkt einzusehen vom Waldrand aus. Aber die Geräusche, die sie verursachten würden zu hören sein. Andererseits war niemand hier, es war seine Wache und die anderen Elben hatte keinen Anlass sich der Moria zugewandten Seite des Waldes zu nähern. Und es würde nicht lange dauern. Er gab sich einen Ruck.

„Ja, gehen wir nach draußen…"

Fünf Tage war es nun her, dass er den Uruk in die Höhle gebracht hatte. Die Wunden von den Pfeilen waren kaum mehr zu sehen und sogar die tiefe Bisswunde hatte sich geschlossen, war zwar noch empfindlich bei direkter Berührung, aber die Entzündung war überstanden. Kharek freute sich darauf wieder frische Luft unter freiem Himmel zu atmen und nebenbei dem selbstsicheren Elben noch eine kleine Lektion zu erteilen…

***

Rûmil unterdrückte einen Fluch, als die breite Orkklinge hart gegen sein Schwert prallte. Kharek war schneller, als man es vermuten würde und dass er nicht kämpfen mochte hieß nicht, dass er es nicht konnte. Immer wieder hatte er Angriffe des Elben gegen seine Waffe pariert und Rûmil hingegen in Schwierigkeiten gebracht. In ihrem Eifer hatten sie sich längst ein gutes Stück von der Höhle entfernt und näherten sich nun der Lichtung, auf welcher der Elb den Ork zum ersten Mal gesehen hatte. Doch das merkten sie nicht, sonst hätten Rûmils Instinkte ihn womöglich gewarnt.

Aber gerade jetzt schaffte Kharek es den Dorn an Rûmils Schwert zu verhaken und mit einer geschickten Drehung im Handgelenk entwendete er dem Elben die Klinge und schleuderte sie zur Seite, ein triumphierendes Knurren ausstoßend.

Völlig überrascht strauchelte Rûmil und landete unsanft auf dem Hintern. Kharek beugte sich vor, um ihm gleich wieder auf zu helfen und entging so dem tödlichen Pfeil der Zentimeter über ihn hinwegzischte, auf der Höhe, wo eben noch seine Brust war.

Rûmil schrie erschrocken auf, packte Kharek am Handgelenk und riss ihn mit aller Kraft zu Boden, als er die drohende Gefahr in Gestalt von sechs Elbenkriegern mit gespannten Bögen erkannte, die ihre Pfeilspitzen auf den Uruk richteten.

„BAW! Hört auf!" rief er verzweifelt, denn ihm war durchaus bewusst, wie ihr Schaukampf auf Unwissende gewirkt haben musste. Der Uruk-hai hatte ihn entwaffnet und wollte ihn nun packen, um ihn zu töten…

Zu seiner großen Erleichterung hielten die Bogenschützen wirklich inne und einer von ihnen kam näher, noch immer auf Kharek zielend, der reglos hinter Rûmil im Gras kniete und nervös zwischen seinem Freund und den anderen Elben hin und her blickte. Sein Schwert hatte er fallen lassen, als der Elb ihn niederriss.

Der Bogenschütze ergriff das Wort:

„Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung Rûmil, warum du deinen Wachposten seit Tagen verlässt, um dich in der Bärenhöhle mit dieser Kreatur zu treffen. Nenn mir einen Grund, warum ich dieses Wesen nicht auf der Stelle zurückschicken soll in die Finsternis, aus der es gekrochen ist?"

Wie eine Ohrfeige traf Rûmil die Erkenntnis, dass sein Tun nicht unbemerkt geblieben war. Die anderen Elben hatten sein Geheimnis entdeckt und ihm nachgestellt, auf eine gute Gelegenheit wartend, die er ihnen heute geliefert hatte. Nun würde er alle in seiner Kraft stehende tun müssen, um Kharek vor dem sicheren Tod zu schützen. Aber Feonen, denn dieses war der Sprecher, kannte sicher kein Mitleid mit dem Ork. Rûmil konnte es in den Augen des anderen Elben sehen.

„Also, da dir kein Grund einzufallen scheint, regeln wir diese Angelegenheit gleich. Führt Rûmil vor den Rat, ich werde mich um diesen Orkabschaum kümmern."

Ehe Rûmil noch einen klaren Gedanken fassen konnte, waren schon zwei weitere Elben herangetreten und ergriffen ihn, zogen ihn hoch und nahmen ihn in ihre Mitte.

Sie wollten ihn fortbringen, zurück in den Wald, doch Rûmil stemmte sich gegen ihren Griff und wandte seinen Kopf verzweifelt zu Feonen um.

„Du musst ihn anhören Feonen. Bitte, urteile nicht vorschnell, hör ihn wenigstens an…Feonen?...Feonen! FEONEN!"

Unerbittlich schleiften die Wächter Rûmil fort, während seine Stimme zwischen den Bäumen verhallte.

Kharek blickte ihm nach, ehe er den Blick auf den Elbenkrieger richtete, der seinen Bogen zur Seite gelegt und sein Schwert gezogen hatte. Hasserfüllt richteten sich die eisblauen Augen auf den Uruk und Feonens Stimme war ebenso kalt wie sein Blick.

„Steh auf, du Abschaum und nimm deine Waffe, ich werde dir den letzten Kampf deines unwürdigen Daseins liefern."

Kharek runzelte die Stirn. Er sollte seine Waffe nehmen, gegen den Elben kämpfen, der nun die Möglichkeit hatte ihn mit einem Schwertstreich zu töten?

Plötzlich kamen ihm Rûmils Worte über den Kodex der Galadhrim in den Sinn und er verstand. Der Elb konnte ihn nicht einfach töten, solange er wehrlos vor ihm kniete, ihn nicht angriff. Hier konnte seine Rettung liegen.

Er blieb so wie er war, auf den Knien, das Gesicht Feonen zugewandt und bewegte sich nicht, was den Elben tatsächlich zu verwirren schien.

„Verstehst du meine Worte nicht, Orkbrut? Du sollst dein Schwert nehmen und dich verteidigen."

Feonen machte einen provozierenden Hieb in Khareks Richtung, gut platziert, denn die Klinge rauschte um Haaresbreite an der Nase des Uruks vorbei, der allerdings nicht mal mit der Wimper zuckte und in seiner Haltung verharrte. Feonens Augen verengten sich zu engen Schlitzen, er nahm das Verhalten des großen Orks fast schon als persönliche Beleidigung.

Kharek holte tief Luft um sie dann mit seinem tiefen Grollen in der Brust wieder freizugeben, rührte sich jedoch nicht. Er bedachte Feonen mit einem ruhigen Blick, in dem nicht wenig Stolz lag.

„Ich verstehe deine Worte klar und deutlich Elb, und mir ist auch ihre Bedeutung bekannt. Doch wenn du mein Leben nehmen willst, dann wirst du es ohne Gegenwehr tun müssen, denn ich werde meine Waffe nicht gegen dich erheben. Ich habe keinen Grund dazu und dein aus Unwissenheit entspringender Hass reicht nicht aus. Töte mich und verstoße gegen den Eid, den du geleistet hast oder sei endlich bereit zuzuhören, wie es Rûmil erbat. Du hast die Wahl, Grenzwächter der Galadhrim."

Feonens Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an, als er diesen wohl gewählten Worten lauschte, die er sicher nicht aus dem Mund einer solchen Kreatur erwartet hatte. Doch der kalte Ausdruck in seinen Augen blieb. Der Ork wusste um seinen Eid, vermutlich hatte Rûmil ihm davon erzählt, woher sonst konnte er solch ein detailliertes Wissen über die Sitten und Bräuche der Galadhrim haben, geschweige denn diese Bezeichnung kennen.

Es stimmte, er konnte den Uruk nicht einfach töten, wenn der sich ihm ergab, ihn nicht angriff oder provozierte. Damit würde er gegen seinen Eid verstoßen und daran hinderte ihn sein Ehrgefühl. Es war eine Zwickmühle, geschickt platziert von jenem dunklen Wesen, welches dort vor ihm kniete.

Ein tiefer Seufzer entrang sich Feonens Brust. Es war nicht länger an ihm hier eine Entscheidung zu treffen.

„Ich habe eine Wahl getroffen. Da es mir untersagt ist einen Gegner, der sich mir ergibt zu töten, wie du richtig erkannt hast, werde ich dich dem Urteil des Rates übergeben. Zu diesem Zweck wirst du von mir in Gewahrsam genommen und dem Rat vorgestellt. Hast du das soweit verstanden?

Kharek nickte und streckte dann seine Arme nach vorne. Feonens fragenden Blick bemerkend meinte er noch immer sehr ruhig.

„Du nimmst mich in Gewahrsam sagtest du. Also solltest du mir die Hände fesseln, oder?"

Feonen runzelte die Stirn, während er überlegte, ob der Uruk ihn eben verulkt hatte, aber dann löste er das Seil von seinem Gürtel und fesselte Khareks Hände zusammen, wobei er nicht gerade zimperlich vorging.

Kharek erhob sich langsam, bereit Feonen zu folgen. Der hob das Orkschwert auf und nahm es an sich, ehe er Kharek durch einen Ruck am Seil anhielt ihm voraus zu gehen.

„Du bleibst immer zwei Schritt vor mir, gehst wohin ich es sage ohne zu zögern, ohne zu fragen. Beim kleinsten Anzeichen einer Bedrohung durch dich, wirst du deine eigene Klinge spüren, verstanden?"

Kharek nickte nur und nahm die befohlene Entfernung zu Feonen ein. Sie gingen los, der Elb hinter dem Uruk, in sicherer Entfernung zu dessen Pranken und Zähnen. Feonen konnte sich kein anderes Urteil des Rates vorstellen, als den Tod der elenden Kreatur dort vor ihm und er freute sich insgeheim darauf den Befehl der Eliminierung auszuführen. Schließlich hatten die Uruks seinen Vater und seinen Bruder getötet und dies würde seine eigene kleine Rache werden. In grimmiger Vorfreude verzog sich sein schönes Gesicht zu einer kalten Grimasse des Hasses…schon bald würde er seine Rache bekommen…