35. Vertrauter Feind, fremder Freund?
Er rührte sich nicht, kein Muskel zuckte. Das leise Beben seiner Nüstern war die einzige Regung seines Körpers: Ihr Geruch war stark, vertraut und doch fremd, nicht unangenehm. er weckte Erinnerungen, längst vergessen geglaubte Bilder und Gefühle. Er spürte ihren heißen Atem an seinem Ohr, als sie sprach. Trotz der Überraschung dieses Überfalls konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass es sich bei seinem Gegner um einen weiblichen Uruk handelte. Er wusste es einfach, er hatte es in jenem Moment gewusst, als er ihre Witterung aufnahm. Die Uruk-hai von Mordor lebten in jenem unwirtlichen Landstrich, dass hatte er schon gewusst, aber er hatte sich nie wirklich damit beschäftigt, wie dieses Leben aussehen konnte. Sie hatten wohl Familienverbände, es gab Kinder und Alte, Krieger und Jäger. Alles was in einer eher primitiven Lebensart vonnöten war.
Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn ungeduldig stieß sie ihm einen Ellenbogen in den Rücken. „Also, kannst du nicht sprechen oder willst du nicht? Ist mir egal, ich werde dich sowieso töten, du kannst nichts dagegen tun."
Kharek hob eine Braue, von ihr ungesehen, als er die Überheblichkeit in ihrer Stimme hörte. Er konnte also nichts tun? Sie war sich ihrer Sache sehr sicher, denn sie war nicht sehr aufmerksam. Er hatte nämlich seinen Fuß langsam nach hinten geschoben, zwischen ihren Beinen hindurch und nun hinter ihrem Fuß platziert. Mit einem kräftigen Tritt gegen ihren Knöchel schaffte er es sie zu Fall zu bringen.
Die Urukfrau landete auf dem Rücken und zog sofort die Beine an, um nach ihm treten zu können. Aber irgendwie hatte er mit einer solchen Reaktion gerechnet und war einen Schritt zur Seite getreten, so dass er nun einen ihrer Füße ergreifen konnte. Ehe sie noch wusste, was ihr geschah, hatte er sie mit einem kräftigen Ruck hoch und herum gerissen, so dass sie auf dem Bauch zu liegen kam. Dann löste den Griff um ihren Fuß und ließ sich dann auf sie fallen, seinen Dolch in der Hand, der nun den Weg an ihre Kehle fand.
„Nicht so schnell mit deinem Urteil, du dunkle Furie." knurrte Kharek heftiger, als er es vorgehabt hatte. Die Wut darüber, dass sie ihn so leicht hatte überrumpeln können verlieh seiner Stimme Schärfe.
„Also, reden wir noch mal darüber, wer von uns nichts tun kann, ja? Du willst mich töten? Das haben schon andere vor dir versucht." fuhr er fort, während er sein Gewicht einsetzte, um sie am Boden zu halten, auch wenn sie sich zu wehren versuchte. Er war größenmäßig eindeutig überlegen, aber sie wand sich wie eine Schlange unter ihm. Er presste den Dolch stärker gegen ihre Haut, bis ein feines Rinnsal dunklen Blutes über die Klinge lief und sie aufkeuchte.
„Ein Ruf von mir und du siehst dich der gesamten Horde gegenüber." grollte sie. Kharek lachte leise und kalt.
„Ein Schrei von dir und du siehst dich deinem Schöpfer gegenüber, wer auch immer das ist. Wenn du das willst. soll es mir Recht sein. Ich fürchte deine tapferen Krieger nicht, denn ich sah sie kämpfen…und ich sah sie fliehen. Das sind keine Gegner, das sind Opfer."
Sie schwieg, tatsächlich schien er sie für einen Moment zum Schweigen gebracht zu haben. Sie senkte den Kopf ein wenig, schien nachzudenken. Ein leises Murmeln war alles, was er hören konnte und er neigte den Kopf, um sie besser zu verstehen.
Ein harter Stoß ließ ihn aufkeuchen, er sah helle Lichtblitze vor seinen Augen tanzen, als sie ihm den Hinterkopf mit voller Wucht ins Gesicht stieß. Ein blutiges Rinnsal lief aus seiner Nase und kurz lockerte er den Griff um sie. Darauf hatte sie nur gewartet, denn sie bockte wie ein unbändiges Pferd und schaffte es ihn von sich abzuschütteln.
Kharek fand sich auf dem Boden wieder, rollte sich instinktiv herum und kam auf alle Viere, um seine Gegnerin in derselben Position zu finden. Sie kniete ihm gegenüber, ihre Augen blitzten und sie hatte ihre Fänge entblößt. Ihr langes schwarzes Haar war im Nacken gebunden, was er schon zuvor bemerkt hatte. Sie trug eine Rüstung aus gehärtetem Leder, der seinen nicht unähnlich, wenn auch an ihren weiblichen Körper angepasst.
Wie zwei Raubtiere hockten sie sich gegenüber, jeder den anderen wachsam beobachtend. Sie sog die Luft ein und schnaubte verächtlich. „Du kannst mir nicht entkommen, ich werde dich töten."
Kharek sah das Aufblitzen einer langen schmalen Klinge, ein Stiefeldolch, den sie gezogen hatte. Doch sie machte ihm nicht wirklich Angst, was sein ruhiges Kopfschütteln deutlich zeigte.
„Nein, du wirst mich nicht töten…" sagte er leise und ließ sich nach hinten fallen. Er hoffte inständig, dass ihn sein Gefühl nicht trog. Abwartend blieb er sitzen und beobachtete sie leicht angespannt.
Sie hielt inne als sie sich gerade erneut auf ihn stürzen wollte. Seine Worte klangen absolut ernsthaft und ruhig. Sie konnte keine Angst an ihm wittern, was sie in ihrer Hoffnung bestärkte, dass sie hier mehr gefunden hatte, als einen Spion.
„Warum sollte ich dich nicht töten? Du bist ein Spion, du bist in unser Lager eingedrungen und ich werde dich sicher nicht gehen lassen, um deinen Elbenfreunden Bericht zu erstatten."
Kharek schüttelte den Kopf erneut. „Nein, du wirst mich nicht töten. Wenn du das wirklich gewollt hättest, dann hättest du es gleich getan, vermutlich sogar ohne dich mir zu zeigen. Aber du bist neugierig, du willst wissen, warum ich hier bin, weil du deinem eigenen Urteil nicht traust. Und sollte ich mich irren…nun, dann wirst du mich töten."
Jetzt war es an ihr den Kopf zu schütteln. Einen Moment lang schien sie einfach nur überrumpelt zu sein, doch dann lachte sie, sie lachte tatsächlich. Ein raues, heiseres Lachen erklang, während sie sich langsam ihm gegenüber setzte und das Messer neben sich in den Boden rammte. Dann lächelte sie grimmig, wobei sie ihr prächtiges Gebiss präsentierte.
„Vielleicht ist das so, vielleicht auch nicht. Aber nehmen wir mal an, du hast Recht. Dann würde ich dich fragen, warum du hier bist, wenn nicht, um zu spionieren. Und was würdest du mit antworten?"
Kharek konnte sich ein Schmunzeln kaum verkneifen, denn dieses Gespräch begann ihm Spaß zu machen. Er war sich nun sicher, dass sie ihn nicht töten würde und sie hatte Fragen, das war offensichtlich. Nun, er hatte Antworten.
„Ich würde dir antworten, dass ich wohl hierher kam, um etwas heraus zu finden. Aber ich wollte nicht den Standpunkt eures Lagers wissen, um ihn weiter zu sagen. ich wollte euch finden. Meine Neugier brachte mich her, kein Befehl."
Ihre Stimme war nicht mehr ganz so kühl, als sie weiter sprach: „Du wolltest uns also finden? Neugierig? Ist es dir langweilig geworden bei deinen Elbenfreunden? Du könntest es wirklich brauchen hier zu sein. Du hast nicht mal gekämpft, nicht wahr? Du stinkst wie ein Elb und wie es aussieht steckt in dir kein Funke Kampfgeist. Du bist ja eine Schande für unsere Rasse."
Knurrend fuhr Kharek nach vorn, doch ihre Hand an seiner Brust hielt ihn zurück.
„Das nimmst du zurück. Du verbündest dich mit Menschen, du hast nicht mal Krieger in deiner Rotte, nur Weiber und Kinder, Halbwüchsige allenfalls. Der Krieg ist vorbei, aber ihr kämpft noch immer, weil ihr nicht eure Augen öffnet, weil ihr den Falschen Gehör schenkt. Nenn mich Schande und ich stelle dich an meine Seite."
Das war zuviel, sie schoss nach vorne, ihre Hand fuhr nach oben und packte seine Kehle. Während sie sich auf ihn warf, begann sie ihm die Luft abzudrücken, versuchte seinen Kopf auf den Boden zu rammen. Aber der Moment der Überraschung währte nicht lange und seine kräftigen Hände packten zu, er fasste sie um die Hüfte, rang nach Luft und warf sie dann über sich hinweg. Ihr Griff löste sich und sie schlug hart auf dem Boden auf. Aber sofort wirbelte sie herum, bereit weiter zu kämpfen. Kharek war aber inzwischen auf den Beinen und er erwartete sie. Ohne lange nachzudenken sprang sie vorwärts aus ihrer kauernden Stellung, versuchte ihm die Schulter in den Magen zu rammen. Er wich ihr mit einer Drehung aus, packte zu und erwischte sie an der Rüstung, schleuderte sie erneut zu Boden. Im letzen Moment packte sie ihn am Bein und riss ihn mit sich, so dass sie in einem Durcheinander aus Armen und Beinen über den Boden rollten.
Plötzlich durchfuhr ihn ein heißer Schmerz, sie hatte ihre Zähne in seinen Arm geschlagen und sich festgebissen. Gepeinigt brüllte er auf und versuchte sie abzuschütteln. Das durch den Kampflärm aufgewacht kamen die anderen Uruk-hai aus den verborgenen Höhlen in den Hügeln, aber sie näherten sich nicht. Ihre Anführerin hatte strikte Anweisungen gegeben und konnte bei Zuwiderhandlungen sehr ungemütlich werden.
Kharek hatte sie nicht bemerkt, er war zu sehr mit dem Kampf beschäftigt. Es war ihm gelungen seine Widersacherin auf den Rücken zu drehen und sich auf sie zu setzen. Nun presste er ihre Arme auf den Boden, seine Pranken umschlossen ihre Handgelenke fest und knurrend senkte er den kopf, hielt sich jedoch außer Reichweite, damit sie ihm nicht wieder einen Stoß verpassen konnte.
„Was jetzt? Ich könnte dich töten und das weißt du auch, nicht wahr? Aber ich werde das genauso wenig tun, wie du mein Leben nehmen willst. Also lass uns dieses dumme Kräftemessen beenden. Nun, willst du verhandeln?" knurrte er.
Sie schnaufte verächtlich, doch dann schlich sich ein kleines Funkeln in ihre hellen Augen. „Verhandeln? Ich würde eher einen Tausch vorschlagen. Du lässt mich erst mal los und ich werde dann versuchen deine Neugier zu befriedigen. Was sagst du?"
Und dann kannst du gerne meine Neugier befriedigen, du dunkler Schöner. setzte sie in Gedanken nach.
Kharek zögerte einen Moment, er dachte über ihren Vorschlag nach. Im Grunde war es was er wollte, er hatte vorgehabt herauszufinden, was die Uruk-hai hierher brachte, warum sie sich den Menschen anschlossen und diese Raubzüge veranstalteten. Sie bot ihm die Möglichkeit. Aber das würde auch bedeuten, dass er vorerst nicht zu Rûmil und den anderen Elben zurückkehren würde: Was würden sie denken? Dass er sie verraten hatte? Die Seiten gewechselt? Dieser Gedanke machte ihn traurig, aber seine Neugier war im Moment einfach größer. Er würde sicher irgendwann eine Möglichkeit finden, es ihnen zu erklären. Also löste er den festen Griff um ihre Hände und richtete sich wieder auf.
„Ich sage einverstanden…" knurrte er leise, während er sich die Bisswunde in seinem Arm ansah, deren frisches Blut den Ärmel der Tunika bereits dunkel färbte.
„Du musst ja wirklich hungrig sein, wenn du dich schon in deinesgleichen verbeißt." meinte er, während er sich von ihr erhob. Er setzte sich auf einen Felsbrocken und sah zu ihr, wie sie langsam aufstand und ihre Rüstung abklopfte. Sie neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn einen Moment. Dann kam sie zu ihm herüber und hielt ihm eine Pranke hin.
„Dich hungert es nach Antworten, mich nach Fleisch, alles zu seiner Zeit. Weißt du, ich glaube fast aus dir kann doch noch ein Uruk werden, wenn du dir etwas Mühe gibst. Du hast es mir nicht leicht gemacht, obwohl du wie ein Elb stinkst."
Sie lachte leise, dieses Mal nicht unfreundlich.
„Ich bin Sharka, Führerin dieser Rotte. Und wer hat mich hier aufgestöbert?"
Er ergriff ihre Pranke und drückte sie fest. Jetzt war es an der Zeit neue Erfahrungen zu machen, ohne die alten zu vergessen. Hier gab es genug zu lernen für beide Seiten, dessen war er sich sicher.
„Kharek…mein Name ist Kharek."
Sie nickte nur und zog ihn dann hoch. „Na dann…willkommen Kharek. Ich denke, es ist Zeit, dich den anderen vorzustellen. Sie starren lange genug finde ich."
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu den Höhlen.
