42. Entscheidungen

Langsam senkte er sein Schwert. Eine Spur frischen roten Blutes rann durch die Kerbe in der Mitte der Schneide, um dann in dicken Tropfen von der Spitze zu fallen, nach kurzem Flug im Staub versickernd. Der Blick des Mannes folgte den Blutstropfen, seine Brust hob und senkte sich schwer von der Anstrengung des Kampfes. Müde fast hob er den Kopf, seine grauen Augen glitten über die Umgebung hinweg, ohne sie jedoch wirklich bewusst wahrzunehmen. Erst als ein weiterer Mann an seine Seite trat, klärte sich sein Blick und er wandte sein Gesicht dem Ankommenden zu.

„Faramir…war es das, was ich wollte? Soviel Blut ist geflossen, war es das wert?"

Der Fürst von Ithilien neigte den Kopf. Auch er ließ seine Augen über den Platz schweifen, auf dem der Kampf bis eben noch getobt hatte. Ruhig legte er seine Hand auf die Schulter des Königs. „Diese Frage muss dir dein Herz beantworten, Aragorn. Wir haben den Dörflern eine Möglichkeit geboten sich selbst zu verteidigen. Wir haben allerdings außer Acht gelassen, dass die Uruks sich wieder mit den Haradrim verbünden könnten. Du hattest keine andere Wahl als einzugreifen. So sehe ich das zumindest. Hier war Hilfe vonnöten und die haben wir geleistet."

Ein tiefer Seufzer entrang sich Aragorns Brust, doch dann nickte er langsam. „Ja, vielleicht sollte es so sein. Wir haben die Haradrim geschlagen, bis auf jene Handvoll dort. Die Uruk-hai sind geflohen…"

Hier hakte Faramir ein. „Und du hast sie fliehen lassen, abermals? Das wirst du erklären müssen und nicht nur mir." sagte er leise. Aragorn nickte. „Und das werde ich auch tun. Aber nun habe ich noch etwas anderes zu erledigen. Damit schritt er nun auf eine Gruppe von Männern zu, welche bei den gefangenen Haradrim standen. Auf dem Weg kniete er nieder um seine Klinge am Gewand eines gefallenen Südländers abzuwischen. Die Dorfleute schauten ihm entgegen, in ihren Augen sah er nicht nur Trauer um die wenigen, die ihr Leben lassen mussten, sondern auch Stolz darauf, sich nicht verkrochen zu haben. Diese Männer wussten nun, dass sie nicht wehrlos waren, dass sie einen Kampf nicht zu fürchten brauchten. Er trat zu ihnen und schaute die fünf Haradkrieger mit kalten Augen an. Sie waren schmutzig, teils verwundet, aber keiner lebensbedrohlich. Ihr Blick war stolz, trotz ihrer Lage und keiner scheute sich ihm in die Augen zu sehen. Stille senkte sich über den Platz, auch die Männer, welche begonnen hatten, die Leichen zusammenzutragen hielten inne und schauten herüber. Die Elben sammelten sich und erwartungsvolles Schweigen lag nun in der Luft.

Aragorns Stimme klang ruhig und beherrscht, jedoch war klar ein Unterton zu hören, der keinen Widerspruch duldete.

„Ihr Krieger aus dem Süden, ich, der König von Gondor werde euer Schicksal beschließen. Also hört mein Urteil: Vom heutigen Tage an gilt ein jeder Mann aus Harad als geächtet im Lande Gondor. Wenn einer von ihnen innerhalb der Grenzen meines Landes ergriffen wird, so hat er sein Leben verwirkt. Ausnahme stellen Botschafter dar, welche höchstens zu dritt und unter dem Banner der Verhandlung reisen dürfen. Solange sich Harad nicht Gondor anschließt wird dieses Urteil gelten. Ihr werdet nun zurückgehen in euer Land und meine Worte dort verkünden. Ihr werdet den direkten Weg über die Straße von Harad einschlagen und ich werde euch eine Eskorte zuteilen, die euch bis an die Grenze geleitet. Habt ihr meine Worte verstanden?"

Die Haradrim zögerten, doch schließlich nickte einer von ihnen. Seine Stimme war kratzig und von einem fremden Dialekt gefärbt. „Wir verstehen deine Worte, König von Gondor. Und wir werden sie in unserer Heimat verkünden. Doch eher wird die Sonne aufhören zu scheinen, als das sich Harad dem Königreich Gondors anschließt."

Aragorn zuckte nur die Schultern, er hatte mit keiner anderen Antwort gerechnet. Er wandte sich um, ging zu den Elben herüber. Sorgfältig wählte er ein Dutzend von ihnen aus, welche die Südländer begleiten sollten. Die Auserwählten machten sich sogleicht auf den Weg ihre Pferde zu holen, während die anderen den Menschen halfen, die Kampfspuren zu beseitigen. Aragorn hatte sich zurückgezogen. Er saß auf einer niedrigen Mauer, etwas abseits und kaute auf einem Grashalm. Als Faramir zu ihm kam, hob er den Kopf.

„Wir zählen fünfzehn gefallene Haradrim Krieger, sechs Männer aus dem Dorf ließen ihr Leben…und ein Uruk-hai Leichnam wurde gefunden." erklärte er. Eine Rauchwolke aus Richtung des Dorfrandes zeigte an, dass der Scheiterhaufen bereits entzündet worden war. Die Erwähnung des Uruks ließ Aragorns Gedanken zurück gleiten zu dem Kampf. Er hatte es gesehen, wie der Uruk gefallen war. Ein anderer Ork hatte ihm den Kopf abgeschlagen, als es anscheinend zu einem Streit innerhalb der Rotte kam. Der kleinere Uruk war mit dem Schwert auf die Urukfrau losgegangen, welche einen hohen Rang innezuhaben schien. Doch erreichte seine Klinge nicht das Ziel, denn der andere Krieger war schneller. Was Aragorn hatte aufmerksam werden lassen war der Umstand, dass der große Uruk-hai anscheinend nur einen Arm benutzen konnte, den linken. Der Rechte baumelte an seiner Seite herunter. Seine Schwerthaltung deutete darauf hin, dass die linke Hand auch nicht seine Schwerthand war. Und was ihn am meisten irritierte war das Gefühl eben jenen Ork schon einmal gesehen zu haben. Sicher, er hatte viele Uruks getötet in der Vergangenheit und er konnte sich sicher nicht auseinander halten. Doch dieser eine war anders. Faramir riss ihn schließlich aus seinen Grübeleien.

„Was wirst du bezüglich der Uruks unternehmen, Aragorn? Werden wir sie dieses Mal verfolgen?" fragte er. Doch Aragorn schüttelte den Kopf. „Nein, Faramir, das werden wir nicht. Bitte schau mich nicht an, als hätte ich meinen Verstand verloren, ich werde es gleich erklären. Komm einfach mit." Er spuckte den Grashalm aus und rutschte von der Mauer. Ohne sich noch einmal umzublicken, ob Faramir ihm folgte, machte er sich auf den Weg, die Elben zu versammeln.

Rûmil zog sich aufatmend von dem brennenden Scheiterhaufen zurück. Der Gestank von verbrannter Haut und verkohlten Haaren erregte Übelkeit in ihm. Er lief ein Stück, bis er aus dem Dunstkreis des Feuers heraus war. Dann ließ er sich in das niedrige Gras fallen, lehnte den Rücken gegen einen Baumstamm. Seine Gedanken glitten zurück. Kharek…er hatte sich gegen ihn entschieden. Er war mit den Uruks gegangen. Rûmil fiel es sehr schwer seine Enttäuschung zu überwinden. Er hatte sich also geirrt. Das Tier konnte nicht gezähmt werden, nein, es zog nun mit dem Rudel und beteiligte sich sogar an dessen räuberischen Aktivitäten. Diesen bitteren Gedanken schob er aber rasch wieder beiseite. Er kannte Khareks Motive nicht und er war noch nicht wirklich bereit seinen Freund verloren zu glauben. Noch hoffte er darauf, dass Kharek ein Ziel verfolgte, welches ihn zwang sich in die Rotte einzuordnen. Es war müßig weiter darüber nachzusinnen, was sein konnte. Er würde keine Antworten erhalten, zumindest jetzt noch nicht.

Seufzend erhob sich Rûmil, schüttelte leicht den Kopf, als wenn er damit das krause Gedankenknäuel entwirren könnte. Dann machte er sich auf den Weg zurück zu Aragorn, Faramir und den restlichen Elben.

Wie lange saß sie jetzt schon hier? Sie konnte sich diese Frage nicht beantworten, doch die sinkende Sonne verriet ihr, dass es zumindest eine lange Zeit gewesen war. Uruk-hai kennen keine Trauer. Uruk-hai weinen nicht. Wie oft hatte sie diese Worte gehört, zuerst von ihrem Vater, dann von ihrem Gefährten Khelek. Sicher, dieses Gefühl war fremd und es fühlte sich schwach an, doch es war vorhanden. Sie sah ihn vor sich, ihren Sohn. Sechzehn Sommer war er an ihrer Seite gewesen, zwei allein, dann von seinem Bruder Kharan begleitet. Shakor war immer wild gewesen, ungebändigt und der ganze Stolz seines Vaters. Sie erinnerte sich an das große kräftige Neugeborene, welches ihr die Schamanin damals gereicht hatte. Er war so groß gewesen, das sie damit rechnete, er würde ihren Leib zerreißen. Beim Stillen hatten seine winzigen Zähne ihr die Brüste blutig gebissen und sobald er kriechen und später laufen konnte hatte er die Auseinandersetzung mit Größeren gesucht. Raufen, Kämpfen, Kräftemessen, das war sein Lebensinhalt. Sharka hatte es nicht leicht gehabt mit diesem Wildfang, aber dennoch hatte sie ihn geliebt, wenn auch auf andere Art als seinen Bruder. Kharan war eher still gewesen, schon als Säugling. Oft ließ sie ihn bei der Schamanin zurück, zu der er dann eine enge Bindung aufbaute. Diese Frau, Nakurs Mutter lehrte ihn viel über Pflanzen, Kräuter und die Kräfte der Erde. So wurde Kharan ein Wahrer, während Shakor völlig ohne Zweifel den Weg der Jäger einschlug.

Sie hob den Kopf, als der Wind ihr eine vertraute Witterung zutrug. Kharek näherte sich ihr langsam, den Kopf leicht geneigt. Ein leises Knurren, fragend, welches sie in ihrer Trauer lächeln ließ. Er lernte schnell, aber das war auch wichtig, denn in der Rotte konnte er nur bestehen, wenn er sich ihrem Gebaren anpasste. Sie nickte und rückte ein Stück zur Seite, klopfte auf den Boden neben sich. Kharek setzte sich zu ihr und betrachtete sie aufmerksam.

„Die anderen beschweren sich, Sharka. Sie haben Hunger und sie verstehen deine Entscheidung nicht." Er schwieg einen Moment, doch dann fuhr er vorsichtig fort. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen dir etwas Zeit geben, du würdest es schon noch erklären. Ich hoffe ich habe nichts Falsches getan."

Sie schaute ihn von der Seite her an. „Nein, es ist in Ordnung. Ich wollte einen Augenblick allein sein. Ich musste nachdenken." Nach einem langen Atemzug setzte sie nach. „Nicht nur über meine Entscheidung."

Er nickte. „Auch über deinen Sohn, nicht wahr? Ich hätte nie geglaubt, dass er je sein Schwert gegen dich erheben könnte. Hegst du Groll gegen Lurtz?" Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein Kharek, ich hege keinen Groll. Shakor hat es herausgefordert, er hat sich immer gern in Gefahr begeben, er liebte den Kampf und sein wildes Temperament war seit jeher sein Fallstrick. Natürlich tut es mir leid, ihn verloren zu haben. er war trotz allem mein Kind und ich werde ihn vermissen." Leiser sprach sie weiter, das Gefühl habend, dass Kharek sie verstehen würde. „Und ich empfinde Trauer, auch wenn uns das viele absprechen wollen, ich bin traurig und meine Augen waren eben feucht, als ich zurück dachte. Jeder der sagt, das Uruk-hai nicht weinen können, der lügt. Sie vermeiden es nur."

Kharek nickte, er verstand, was sie meinte. Ihre Worte klangen in ihm nach und er fand es eine gute Gelegenheit hier einzuhaken.

„Sharka, es gibt viele Dinge, die über uns gesagt werden. Zum Beispiel, dass wir nur kämpfen und töten können, dass wir wie Tiere sind, die Beute jagen und schlagen. Uns wird freies Denken abgesprochen und wir sind von Vorneherein verdammt. Kaum jemand ist wirklich bereit hinter die Fassade zu blicken und vielleicht zu erkennen, dass es auch in unserem Volk Unterschiede gibt. Ich hatte das Glück, so jemandem zu begegnen."

Hier stoppte er, denn die Erinnerung an Rûmil und besonders an Gloráre schmerzte ihn tief im Herzen. So gern er auch darüber geredet hätte, was er in Bruchtal wirklich gefunden hatte, so wusste er doch, dass die Zeit dafür noch nicht reif war. Sharka schaute ihn einen Moment lang einfach nur an. Dann nickte sie leicht.

„Ja, das stimmt. Und mein Problem ist, dass ich mein Volk nicht überzeugen kann nachzudenken. Ich möchte ihren Hunger stillen, ich möchte einen Platz finden, wo wir in Ruhe leben können, auch wenn das Ziele sind, die unerreichbar scheinen. Doch ich weiß, dass es möglich sein kann, wenn sie bereit wären umzudenken. Wir haben den Krieg verloren, wir haben unsere Heimat verloren, wir haben unsere Männer verloren. Wenn wir nun noch zu Strauchdieben und Mördern werden, dann verlieren wir unsere Ehre und unseren Stolz. Zumindest ist das meine Meinung. Doch wenn ich den anderen sagen würde, was mir im Kopf herumgeht, um unsere Probleme zu lösen, dann würden sie mich vermutlich töten, weil ich in ihren Augen dem Wahnsinn verfallen sein muss."

„Was hättest du denn für einen Lösungsvorschlag? Vielleicht verstehe ich dich. Auf jeden Fall werde ich dich nicht für verrückt halten, das weiß ich jetzt schon." Er meinte es ernst, denn nach allem, was er bislang erlebt hatte, war er versucht zu glauben, dass alles möglich war, wenn man nur fest daran glaubte.

Sharka schien einen Moment zu überlegen, doch dann straffte sie sich. „Ja, warum nicht? Wenn du lachst, kann ich dich immer noch verprügeln, um meinen Frust abzubauen." Sein leichtes Auffahren ignorierend sprach sie gleich weiter. „Ja, schon klar, du wirst das zu verhindern wissen. Aber jetzt hör zu. Mein Gedanke war, dass wir vielleicht versuchen könnten mit den Menschen aus Gondor zu sprechen, zu verhandeln, irgend so was…natürlich nicht mit allen, sondern mit ihrem Anführer. Vielleicht könnten wir eine Art Abkommen treffen, dass wir einen Ort kriegen, wo wir leben können und sie uns nicht mehr jagen… Oh je, das klingt wie Madendreck sogar für meine Ohren, jetzt wo ich es ausspreche. vergiss es einfach, ja?"

Sie stand auf und schüttelte den Kopf, als können sie selber nicht glauben, was sie da eben gesagt hatte. Mit raschen Schritten stapfte sie zu der Höhle, die ihnen diese Nacht als Unterschlupf dienen würde. Es galt immer noch eine Erklärung abzugeben und das würde sie nun tun.

Kharek blieb zurück. Nachdenklich schaute er ihr nach. Für ihn hatten sich ihre Worte nicht wie Dreck angehört. Er fand sogar, dass sie vielleicht Recht hatte. Was war denn so schlimm daran verhandeln zu wollen? In seinen Augen war es viel dümmer immer weiter zu kämpfen, nur weil es mal so begonnen hatte. damit würden sie nichts ändern. Im Gegenteil, sie würden sich nur immer weiter schaden, bis sie sich durch ihren Starrsinn eines Tages selbst vernichteten. Sharka war in ihrem Denken ihm sehr ähnlich, auch wenn sie es nicht wusste.

Langsam erhob er sich, um ebenfalls die Höhle aufzusuchen. In seinem Herzen keimte die Hoffnung hier jemanden gefunden zu haben, der bereit war einen neuen Weg zu gehen, wenn er ihn nur gezeigt bekam. Diese neue Hoffnung würde ihm helfen weiter zu machen…immer weiter zu gehen.