Disclaimer: Nichts an dieser Geschichte gehört mir, außer dem Plot. Alle originalen Charaktere und Schauplätze die aus dem HP-Universum entnommen sind, gehören J. K. Rowling oder Warner Bros. oder wem auch immer. Ich mache damit kein Geld.
Kapitel 6 – Alptraum
Der Samstagmorgen brach an, und Harry erwachte ziemlich spät, hatte er doch am Abend zuvor noch bis halb eins gelernt. Zu seiner Überraschung war Ron schon auf, schlief er doch für gewöhnlich länger als Harry. Nur Neville lag noch in seinem Bett und schnarchte, als rodete er den halben verbotenen Wald. Arme Ginny, dachte Harry mit einem Lächeln, als Neville gerade einen besonders lauten Ton von sich gab. Schnell hatte er seine Sachen angezogen und ging hinunter in den Gemeinschaftsraum. Hermine saß dort mit Ginny, und sie unterhielten sich.
»Morgen, ihr beiden«, rief Harry ihnen zu und setzte sich zu ihnen.
»Hi, Harry«, grüßten Hermine und Ginny gleichzeitig und waren offensichtlich gutgelaunt.
»Ron ist schon mit Luna beim Essen. Wir treffen uns um zehn vor dem Schloß, hat er gesagt«, sagte Hermine und strahlte ihn an. Wow! Das war alles, was Harry für einen Moment dachte. Sie lachte ihn an, und alles andere war für ihn wie weggeblasen.
»Harry?« stieß Ginny ihn an und kicherte.
»Was?«
»Hast du mir zugehört?« fragte ihn Hermine.
»Ich höre dir immer zu. Zehn Uhr vor dem Schloß, Treffen mit Ron. Laß uns essen gehen«, sagte Harry ein wenig zu hektisch und erhob sich.
Um halb zehn waren sie mit dem Frühstück fertig, und Harry ging wieder in den Schlafsaal, weil er für Ginny nach Neville sehen sollte, der nicht zum Frühstück erschienen war.
»Na, Neville, alles klar?«
Ein nervöser Neville zog gerade seine Sachen an. »Nichts ist klar. Mir ist so schlecht«, erwiderte er und sah auch nicht wirklich gut aus.
»Was hast du denn? Warst du deshalb nicht beim Essen?« fragte Harry besorgt.
»Wegen Ginny. Ich bin so nervös. Flaues Gefühl im Magen«, stöhnte dieser.
»Warum bist du denn nervös? Du gehst mit ihr doch nur nach Hogsmeade«, fragte Harry unschuldig und sah Neville gespielt unwissend an.
»Ich weiß nicht. Sie hat ja gesagt, daß sie mich mag, und mich zwei Mal auf die Wange geküßt, aber sie erwartet doch jetzt bestimmt weitere … Sachen von mir. Ich weiß nicht was ich tun soll … was ich tun darf.«
»Ganz einfach. Tu nichts, das sie nicht möchte. Es wird sich alles ergeben, vertrau mir. Wenn sie dich zum Beispiel küssen möchte, dann wird sie dir dafür ein Zeichen geben, welches du verstehen wirst.«
»Du hast leicht reden. Ginny hatte schon mehrere Freunde. Ich hab noch nie ein Mädchen geküßt«, sagte er leise und wurde rot im Gesicht.
»Das macht doch nichts. Ich habe bisher ein einziges Mädchen geküßt, und es war ein echtes Fiasko. Ständig mußte sie dabei weinen. Glaub mir, keine schöne Erfahrung, darauf hätte ich gut und gerne verzichten können«, erwiderte Harry locker und klopfte Neville auf die Schulter.
»Glaubst du, es macht Ginny nichts aus?«
»Warum sollte es? Sie hat auch mal angefangen. Freue dich doch, daß du sie bald küssen wirst und nicht irgend jemand anderes das Vergnügen hat!«
»Du hast wohl recht«, sagte Neville beruhigt und nahm seinen Geldbeutel aus dem Koffer. »Wartet sie unten?«
»Das tut sie, und Hermine wartet auf mich«, sagte Harry und lächelte.
»Du und Hermine?«
»Glaub mir, das ist viel komplizierter als mit dir und Ginny«, erwiderte Harry, und sein Lächeln verschwand. Und ob es kompliziert ist, dachte er und verließ zusammen mit Neville den Gemeinschaftsraum.
»Da bist du ja«, rief Ginny, als sie sie erblickte, und kam sofort strahlend auf Neville zu und drückte ihm einen dicken Kuß auf seine Wange. Gemeinsam gingen die vier nach unten und verließen das Schloß, um draußen auf Ron und Luna zu warten.
»Da hinten kommen sie«, sagte Neville und zeigte auf zwei Menschen, die sich händchenhaltend näherten. Langsam gingen die vier den beiden entgegen, bis sie aufeinandertrafen.
Harry nahm Ron beiseite und fragte ihn leise: »Sag mal, wo warst du mit Luna?«
»Spaziergang«, kam die ebenso leise Antwort.
Vergnügt gingen sie den Weg nach Hogsmeade und unterhielten sich über dieses und jenes. Irgendwann hatte Ginny Nevilles Hand gegriffen, was der mit einem nervösen Lachen quittierte. Harry freute sich wirklich für ihn. Neville war jemand, dem man alles Glück dieser Welt gönnte, ohne das geringste Gefühl von Eifersucht für ihn zu empfinden.
Kaum in Hogsmeade angekommen, gingen sie zuerst zum Honigtopf, wo sie sich mit allerhand Süßigkeiten versorgten. Mit vollgestopften Taschen verließen sie den Laden und beschlossen, als nächstes in die Drei Besen zu gehen und dort erst einmal ein Butterbier zu trinken. Sie suchten sich einen Platz weit hinten in einer Ecke, und die drei Jungen holten die Getränke.
»Ginny hat mich gefragt, ob wir uns nicht von euch absetzen wollen. Meint ihr, das ist okay?« fragte Neville die beiden anderen. Ron sah ihn ein wenig mürrisch an, doch Harry reagierte sofort.
»Na klar! Ich wette, Ron und Luna werden sich auch noch absetzen.« Er lächelte beide an, während sie auf die sechs Flaschen Butterbier warteten.
»Hier, Jungs«, sagte Madam Rosmerta und stellte die Getränke vor sie hin. Sie bedankten sich und kehrten mit den sechs Flaschen an den Tisch zurück.
»Soll ich euch mal was sagen«, sagte Hermine plötzlich ernst, kaum daß die Jungen am Tisch saßen, »ich habe Angst, daß das hier vielleicht unser letzter Ausflug nach Hogsmeade ist. Überall habe ich Leute vom Orden und vom Ministerium gesehen, fast so, als würden sie einen Angriff erwarten.«
»Ich glaube nicht, daß heute was passiert«, beruhigte sie Harry und versuchte zu lächeln. »Laßt uns einfach noch mal den Tag genießen. Vielleicht ist es bis Dezember der letzte schöne Tag. Wir sollten versuchen, ihn uns nicht selbst kaputt zu machen.«
»Harry hat recht. Laßt uns nicht dran denken«, sagte Ginny und erhob die Flasche. »Laßt uns anstoßen.«
»Prost«, sagte Ron und stieß mit seiner Flasche an der von Ginny an.
Die anderen machten es ihnen nach, und ein Klirren scholl durch den Raum. Es blieb bei dem einen Butterbier, da sich Ginny und Neville nun von ihnen absetzten und ein wenig bummeln gehen wollten. Die verbliebenen vier verließen ebenfalls den Laden, allerdings noch ohne ein Ziel zu haben.
»Komm, Luna, laß uns in Madam Puddifoots Café gehen«, sagte Ron plötzlich und strahlte sie an.
»Ronald, wie kommst du denn darauf? Hätte nicht gedacht, daß du da jemals mit mir hingehen würdest wollen«, sagte Luna und kicherte verträumt.
»Genau, Ronald. Wie kommst du auf die Idee?« fragte Harry und grinste breit.
»Irgendwas muß ja dran sein, sonst würden da doch nicht immer alle Paare hingehen. Ich meine, du hast gesagt, es wäre schrecklich – und ich vertraue dem Urteil meines besten Kumpels normalerweise – doch möchte ich es mit meinen eigenen Augen sehen«, erwiderte Ron. Luna lächelte verträumt, während Hermine ein eher skeptisches Lächeln im Gesicht hatte.
Sie verabredeten, nach zwei Stunden wieder im Lokal Drei Besen zusammenzutreffen, und verabschiedeten sich bis dahin. Harry und Hermine blieben zurück und blickten ihnen nach, wie sie davonschlenderten und Luna ihren Arm um Rons Taille legte.
»Was machen wir jetzt?« fragte Hermine und blickte Harry ein wenig unsicher an.
»Wollen wir zur heulenden Hütte hoch? Ich meine, es ist ein schöner Tag, und die Sonne scheint; es ist noch angenehm warm, und wir können sicher nicht mehr allzu viel Zeit draußen verbringen, je näher der entscheidende Tag kommt.«
»Das klingt gut. Laß uns die Sonne genießen«, kam als Antwort von Hermine. Gemeinsam liefen sie langsam los und ließen schon bald die kleine Stadt hinter sich.
»Ich würde gerne auch mit dir über etwas reden … über uns reden«, begann Harry zögerlich und blickte sie an.
»Ich weiß. Ich möchte es auch. Ich habe … ich fühle … soviel«, stammelte sie plötzlich.
Das fängt schon mal vielversprechend an, dachte Harry bei sich und nahm seinen Mut zusammen: »Ich möchte dir wirklich sagen, wieviel du mir bedeutest, wie wichtig du mir bist.«
»Du bist mir auch unglaublich wichtig«, erwiderte sie schüchtern.
»Du bist meine beste Freundin, meine größte Vertraute. Du bist mir sehr wichtig. Du bist meine … beste … Freundin«, sagte Harry und haßte sich für seine Feigheit.
»Das eine sagtest du schon.«
Ich weiß, dachte er und gab sich dafür eine gedankliche Ohrfeige. Warum ist das so schwer? Voldemort kann ich die Stirn bieten, doch Hermine kann ich nicht mal ein paar einfache Worte sagen, schalt er sich und haßte seine Feigheit noch mehr. Warum bin ich nicht so mutig, wie Dumbledore gesagt hat? Angeblich soll ich der mutigste sein, den er je gekannt hat. Verdammt.
»Ich wollte eigentlich was anderes sagen. Ich meine … es fällt mir so schwer. Ich weiß nicht, wieso. Ich glaube, es ist richtig, doch … argh … ich bin so ein Idiot«, stotterte Harry, doch Hermine lächelte für einen Moment.
»Mir geht es auch so. Ich meine, Ron ist jetzt kein Problem mehr, und Viktor ist es auch nicht. Doch auch ich tue mich sehr schwer damit, bestimmte … Sachen zu sagen. Ich meine … ich bin schier … überwältigt … von bestimmten Gefühlen. Aber ich weiß einfach nicht, wie und ob ich ihnen trauen kann«, sagte Hermine leise.
Harry verstand sie nur zu gut. »Wollen wir uns hier setzen?« fragte er und zeigte auf einen größeren Stein, nicht weit von der heulenden Hütte entfernt.
»Gern.«
Sie schlugen den Weg in Richtung des Steines ein.
»Es ist da auch noch etwas anderes, das mich hemmt«, sagte sie auf einmal und klang dabei, als ob sie es herauszwingen mußte.
»Was denn?« fragte er und setzte sich auf den Stein. Hermine nahm sehr nah neben ihm Platz.
»Ich habe große Angst.«
»Ich habe auch Angst. Ich frage mich, ob wir vor der gleichen Sache Angst haben«, sagte er schneller, als er wollte.
»Ich habe Angst, mich darauf einzulassen, und daß, wenn wir kaum zusammen sind, dir etwas Schreckliches zustößt«, flüsterte sie so leise, daß er es kaum verstehen konnte.
Das war es. Genau davor hatte er auch Angst. Schon seit Jahren hatte er um seine Freunde Angst. Angst, Voldemort könnte sie sich holen und für seine Zwecke einsetzen; ihm damit Schmerzen zuzufügen, ihn zu zwingen … Dinge zu tun, dachte Harry, dem sich bei dem Gedanken daran der Magen umdrehte. Er hatte Angst, daß, wenn Hermine nicht mehr nur seine beste Freundin wäre, sondern sie sich noch näherkommen würden, sie ein noch größeres Ziel für Voldemort abgeben würde. Er würde tun, wozu ihn Voldemort würde zwingen wollen. Er würde alles tun. Einfach alles. Wenn er sie in die Finger bekommen würde, dann wäre alles vorbei, dachte er und sah sie an. Ihr Gesicht sah ängstlich und unsicher aus. Es sah aus, als bräuchte sie eine Schulter zum Anlehnen. Jemanden, der ihr Kraft gab, ihr sagte, daß alles, wirklich alles gut werden würde. Er betrachtete sie noch genauer. Sie war so schön, ihre Lippen waren perfekt, und in ihren Augen konnte man sich in der Unendlichkeit verlieren. Selbst ihre buschigen Augenbrauen ließen sie niedlich aussehen. Ihr Haar, mit dem sie immer unzufrieden war, strahlte einen vertrauten Charme aus. Harry wollte sie plötzlich küssen, mehr als jemals zuvor. Die Fragen, die er sich stellte, waren nur: Trau ich mich auch? Was wird sie tun? Will sie es? Trau dich einfach. Riskiere es. Du riskierst dein Leben beinahe jeden Tag, aber du willst es nicht riskieren, sie zu küssen? Du bist ein solcher Feigling, Harry Potter, dachte er und gab sich dafür gleich noch eine weitere gedankliche Ohrfeige.
»Davor habe ich auch Angst. Es ist wohl meine größte Angst. Wenn Voldemort dich je in die Finger bekommt, dann …«
»Diese Angst könnte uns lähmen.«
»Ich weiß«, sagte Harry und drehte sich langsam zu ihr.
Ich tue es einfach, dachte er und sah ihr intensiv in ihre braunen Augen. Sie leuchteten so schön, und er schürzte seine Lippen ein wenig … nur ein wenig … schloß langsam die Augen, sah sie aber weiter an … kam ihr mit seinem Mund näher und näher. Sie wich ein winziges Stück zurück, doch nicht weit genug, um den Kuß noch zu verhindern. Er legte den Kopf ein wenig nach rechts und sah gerade noch, wie Hermine die Augen schloß, bis dann die seinen komplett geschlossen waren. Ihre Lippen berührten sich, sie waren so … weich, er fühlte ein unglaublich warmes Gefühl in der Magengegend … er öffnete die Lippen ein wenig … vorsichtig schob er seine Zunge nach vorn. Er wußte nicht wirklich, was er tat, doch betete er, es richtig zu machen. Plötzlich wurde ihm ganz anders. Er fühlte so intensiv, wie er noch nie gefühlt hatte … es machte ihm Angst … dabei es war so wunderschön … er berührte mit seiner Zunge ihre Lippen. Sie gab ihm nach und öffnete sie. Harrys Träume schienen sich zu erfüllen, und das machte ihn so glücklich. Er würde dafür niemals Worte finden können. Seine Zunge traf ihre Zunge. Ein Blitz schlug in ihn ein und ließ ihn erschaudern. Dieses unglaublich schöne Gefühl verstärkte sich … er hätte vor Glück platzen können. Dann war es plötzlich vorbei. Überrascht öffnete er die Augen und sah in Hermines erschrocken dreinblickendes Antlitz. Einen Moment später schon stand sie auf den Beinen und starrte ihn an, als ob sie ein Gespenst gesehen hätte. Hab' ich was falsch gemacht? Was hab' ich falsch gemacht, fragte sich Harry unsicher und sah sie nur verwirrt an.
»Ich – kann – nicht – sorry«, stotterte sie offensichtlich verängstigt und lief los.
Verdammt, was ist denn jetzt passiert, fragte sich Harry und war schon auf den Beinen. Er beriet sich, was er tun sollte. Sie in Ruhe lassen? Nachlaufen? Weglaufen? Er wußte es nicht. Niemals zuvor fühlte er sich so hilflos. Er sah sie hinter eine Kurve verschwinden und konnte seine Füße nicht bewegen.
»Wen haben wir denn da? Ist das etwa Potter? Na, mal wieder Frauenprobleme? Erst Cho Chang und nun das Schlammblut?« fragte eine nur zu bekannte Stimme. Langsam drehte er sich um und blickte ein wenig überrascht in das grinsende Gesicht von Draco Malfoy. Wo kam der denn her?
»Na, Malfoy, ganz allein heute? Wo sind deine Schatten?« fragte er und hoffte inständig, daß seine Stimme selbstbewußt genug klingen würde.
»Die beiden habe ich im Schloß gelassen. Sie wären bei meinen Plänen nur hinderlich gewesen«, antwortete dieser und grinste gehässig.
»Welche Pläne?« fragte Harry.
»Wirst du bald sehen«, kam die Antwort schneller, als es ihm lieb gewesen wäre.
»Ich würde ja gerne länger mit dir quatschen, doch ich fürchte, ich hab' mit meiner kostbaren Zeit etwas Besseres anzufangen. Deshalb …« Mit diesen Worten verschwand Malfoy wieder in die Richtung, aus der er gekommen war.
Dagegen ging Harry langsam in Richtung Hogsmeade zurück. Er hoffte inständig, daß Hermine zu Ron und Luna gelaufen war, und wollte dort noch einmal versuchen, mit ihr zu sprechen. Kurz vor ein Uhr war er wieder im Dorf und versuchte seine Freunde zu finden. Zuerst wollte er in Madam Puddifoots Café schauen und wurde sofort fündig. Zwar sahen ihn einige merkwürdig an, da er offenbar der einzige war, der allein in das Café ging, doch davon ließ er sich nicht stören. Zielstrebig setzte er sich zu Ron und Luna, die sich gerade gegenseitig anhimmelten und leise miteinander flüsterten.
»Harry, was machst du hier?« fragte Ron sichtlich erschrocken und ein wenig nervös.
»Habt ihr Hermine gesehen?«
»Nein«, warf Luna ein.
»Ist was passiert?« fragte Ron sofort besorgt.
»Ja. Ich hab' … na ja … wir haben uns geküßt. Es war wirklich toll, und sie wollte es auch, und dann brach sie es plötzlich ab, stammelte etwas und lief davon. Ich wollte ihr eigentlich folgen, doch dann stand Malfoy schon hinter mir, und das hat mich dann davon abgehalten. Ich hatte gehofft, daß sie zu euch gelaufen wäre.«
»Vielleicht ist sie gleich zurück zum Schloß«, erwiderte Ron hoffnungsvoll.
»Warum ist sie weggelaufen? Ich dachte, sie mag dich sehr?« fragte Luna und sah unsicher aus.
»Ich hab keine Ahnung. Ich fand … na ja … es lief wirklich gut, und dann hat es sich um hundertachtzig Grad gedreht, und plötzlich ist sie vor mir weggelaufen«, sagte Harry, und ein wenig Verärgerung war seiner Stimme zu entnehmen.
»Wir sollten sie suchen gehen«, schlug Ron vor und wollte schon vom Tisch aufstehen.
»Laßt gut sein. Laßt euch von unseren kleinen Problemen doch nicht den Tag verderben. Ich gehe zurück nach Hogwarts und versuche dort mit ihr zu reden. Vielleicht erwische ich sie ja im Gemeinschaftsraum oder in der Bibliothek.« Beim letzten Wort lächelte er leicht und zwinkerte mit dem Auge.
Eigentlich war ihm nicht nach einem Späßchen zumute, doch konnte er in dem Moment nicht anders. Er fühlte sich miserabel und hatte nicht die leiseste Ahnung, womit er nun auch noch das verdient hatte. War sein Leben noch nicht schrecklich genug? Warum mußte das Schicksal nun unbedingt noch eine Schaufel voll Pech nachschütten? Er konnte es sich nicht erklären. Er wußte, daß er Hermine nicht wirklich verdient hatte, doch wünschte er sich nichts mehr, als sie nicht mehr nur als beste Freundin zu haben. Verbal gab es keinen Unterschied zwischen Freundin und Freundin, doch in Wirklichkeit veränderte es einfach alles, und das war es, was sich Harry so sehr wünschte.
Er verließ das Café und begann den Marsch zurück. Er kam gut und schnell voran und war bald darauf wieder im Schloß angekommen. Zuerst warf er einen Blick in die Große Halle, es war immerhin Essenszeit, aber leider fand er dort niemanden, der Hermine auch nur ähnlich sah. Im Augenblick nicht den geringsten Hunger verspürend, begann er sich auf die intensive Suche nach Hermine zu machen. Als nächstes sah er in der Bibliothek vorbei, in der nur ein paar Zweitkläßler einige Hausaufgaben erledigten, und danach sah er im Gemeinschaftsraum nach. Er blickte sich lange um und glaubte, daß sie vielleicht auch in ihrem Schlafsaal sein könnte. Dort würde er nicht ohne weiteres nachsehen können, ehe ihm plötzlich die Karte des Rumtreibers einfiel. Hastig lief er hoch in seinen Schlafsaal und durchstöberte seinen Koffer. Er aktivierte sie und suchte nach Hermines Namen auf ihr. Hektisch überflog er sie, doch fand er sie auch nicht in ihrem Schlafsaal. Wo ist sie nur, fragte er sich und suchte noch mal gründlicher, in der Hoffnung, sie nur übersehen zu haben. Doch auch fünf Minuten später, nachdem er die ganze Karte dreimal genauestens abgesucht hatte, war er noch immer ahnungslos, was ihren Verbleib anging. Nun kamen ihm unangenehme Gedanken in den Sinn, und schon leicht panisch versuchte er sie zu verdrängen. Wo kann sie nur sein, war die Frage, die er sich am meisten stellte, und dann hatte er natürlich noch den Gedanken, daß er an allem schuld war.
Harry löschte die Karte und steckte sie in seinen Umhang. Er beschloß, in regelmäßigen Abständen nach ihr zu suchen und ging dann in die Bibliothek. Da er keine Ahnung hatte, was er mit der freien Zeit tun sollte, begann er zu lesen. Inständig hoffte er sich so ablenken zu können, was ihm tatsächlich eine Zeitlang glückte. Das Buch über Pflanzen und Pilze für Heiltränke war nicht übermäßig interessant, doch lernte er einiges, was ihm bisher unbekannt gewesen war. Gegen fünf kam Ginny in die Bibliothek. Ron hatte ihr alles erzählt, und nun war auch sie auf der Suche, da Ron sie gebeten hatte, einmal mit Hermine über die Angelegenheit zu sprechen.
»Ich habe erst vor wenigen Minuten nachgesehen, sie ist noch immer nicht im Schloß! Ich mache mir große Sorgen«, sagte Harry, der seinen nun langsam verzweifelten Gesichtsausdruck hinter dem Buch zu verbergen suchte.
»Mach dir keine Sorgen. Sicher wollte sie nur allein über alles nachdenken. Die Situation ist für sie nicht leicht zu verarbeiten, denke ich«, erwiderte Ginny und setzte sich neben ihn.
»Wie war's mit Neville?« fragte Harry und versuchte damit das Thema zu wechseln, hin zu etwas weitaus Erfreulicherem.
»Läuft gut mit uns. Wir haben uns endlich richtig geküßt. Hab' ihn weit weg von der ganzen Meute geführt. Als keiner mehr da war und uns dabei zusehen konnte, ist er echt aus sich herausgegangen. Er ist wahnsinnig schüchtern und lieb. Ich glaube wirklich, ich hab' jetzt den richtigen gefunden«, schwärmte Ginny, nicht ohne ein verliebtes Lächeln im Gesicht.
»Ich hoffe für Neville, daß er mit deinem Temperament überhaupt mithalten kann«, sagte Harry grinsend.
»Hey, ich bin viel ruhiger geworden«, erwiderte Ginny und spielte einen Moment die Beleidigte.
Harry warf erneut einen Blick auf die Karte. »Ich verstehe nicht, wo sie steckt. So was kenne ich von Hermine überhaupt nicht.« Frustriert steckte er die Karte wieder in den Umhang.
»Sicher kommt sie zum Abendessen, und bald ist alles vergessen. Wir sehen uns dann um sieben beim Essen, in Ordnung?« erwiderte Ginny und verschwand auch schon einen Moment später aus der Bibliothek.
Harry fiel es schwer, sich wieder auf sein Buch zu konzentrieren, doch was blieb ihm anderes übrig. Eigentlich war es sowieso noch viel zu früh, sich Sorgen zu machen, doch beschlich Harry ein merkwürdiges Gefühl. Ein Gefühl, welches ihn selten so deutlich wie jetzt zu lenken und leiten versuchte. Mühsam las er Zeile um Zeile und versuchte das soeben Gelesene nicht gleich wieder zu vergessen. Gegen sieben erschien Harry in der Großen Halle, und obwohl er es geahnt hatte, war er überaus enttäuscht, dort nur Ginny, Neville, Luna und Ron zu finden. Sie unterhielten sich und verstummten, kaum daß Harry in Hörweite kam. Irgendwie fand er ihr Verhalten eigenartig und wollte sie sogleich zur Rede stellen.
»Was redet ihr denn hinter meinem Rücken?« fragte Harry und klang dabei ein wenig zornig.
»Wir haben über deinen Kuß mit ihr gesprochen«, sagte Luna und lächelte ihn verträumt an. »Ich wäre bestimmt nicht weggerannt.«
Ron schien diese Aussage ein wenig zu verunsichern. »Wie meinst du das?« fragte er, und Luna blickte ihn erschrocken an, beinahe, als bemerke sie erst jetzt, daß er noch immer neben ihr saß.
»Ich meine … wenn wir nicht zusammen wären. Du bist mir wirklich wichtig, Ronald. Ich liebe dich und würde dich nie betrügen«, beteuerte sie und küßte ihn hastig auf den Mund.
»Klingt schon besser«, sagte er und küßte sie ebenfalls.
»Bringt uns leider zu der Frage: Warum rannte Hermine weg?« meinte Neville und blickte Harry besorgt an, der nun zumindest damit begann, ein wenig Essen auf seinen Teller zu tun.
»Ich weiß es nicht. Es wirkte perfekt. Ich genoß es, sie genoß es auch, da bin ich mir ziemlich sicher. Irgend etwas muß ihr Angst gemacht haben, doch ich weiß nicht was«, erwiderte Harry.
»Ungewißheit ist das schlimmste«, sagte Luna leise.
»Stimmt«, seufzte Ron.
Kurz bevor Harry aufgegessen hatte, marschierte Malfoy mit seinem Anhang aus der Halle und grinste Harry selbstbewußt an. Am liebsten wäre er sofort aufgesprungen und ihm an die Gurgel gegangen, doch hier in der Großen Halle vor all den Lehrern würde Harry niemals einen Kampf beginnen, was Malfoy ganz genau wußte und den Blonden nur noch hämischer grinsen ließ.
Auch den restlichen Abend über machte sich Harry große Sorgen um Hermine. Als sie gegen zehn Uhr noch immer nicht im Gemeinschaftsraum aufgetaucht war, mußte Harry langsam annehmen, daß ihr wirklich etwas zugestoßen sein mußte. Hermine war einfach nicht der Typ, so lange vor etwas davonzulaufen, ohne irgend jemanden zu informieren. Gegen halb elf verließ Harry den Gemeinschaftsraum und machte sich auf den Weg zu Professor McGonagalls Büro. Er wäre zwar lieber gleich zu Dumbledore gegangen, doch kannte er das Paßwort nicht. Entschlossen klopfte er an die Tür.
»Herein«, kam es von drinnen zurück, und unsicher öffnete er die Tür.
»Mr. Potter. Was kann ich denn für Sie tun?« fragte sie und klang weit weniger streng als im Unterricht. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er sie unter normalen Umständen sicher nicht mehr so spät gestört hätte.
»Professor. Ich glaube, Hermine ist verschwunden. Sie ist ganz sicher nicht im Schloß. Wir müssen sofort etwas unternehmen«, preßte er ängstlich aus seinem leicht zitternden Körper heraus.
»Wie meinen Sie das, sie wäre ganz sicher nicht im Schloß?« fragte sie und erhob sich aus ihrem Stuhl.
»Ähhm … wir haben mehrmals alles abgesucht. Wenn ich alles sage, meine ich alles.«
»Seit wann ist sie weg?«
»Wir sind nach Hogsmeade, und seit etwa Mittag hat sie niemand mehr gesehen. Wahrscheinlich ist sie nicht ins Schloß zurückgekehrt«, sagte Harry mit zitternder Stimme.
»Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Es ist alles meine Schuld. Ich habe sie geküßt, und dann ist sie weggelaufen«, sagte er und konnte nur noch schwer seine Tränen zurückhalten.
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Kommen Sie mit«, sagte Professor McGonagall resolut, griff Harrys Hand und zog ihn aus ihrem Büro. Nur einen Augenblick später standen sie schon vor Dumbledores Schreibtisch. Sie waren nicht die einzigen im Raum, auch Snape war anwesend.
»Was kann ich für euch beide tun?« fragte Dumbledore und sah Harry direkt in die Augen.
»Hermine Granger ist nicht im Schloß. Sie wird seit heute mittag vermißt«, sagte McGonagall.
»Dann sind es schon vier Schüler«, sagte Dumbldore und gab ein deutlich zu hörendes Seufzen von sich.
»Was meinen Sie mit vier?« fragte Harry völlig verwirrt.
»Drei Siebtkläßler aus Slytherin fehlen ebenfalls«, antwortete Snape trocken.
Jetzt verstand Harry überhaupt nichts mehr, ehe ihm plötzlich ein Licht aufging: »Die sind schuld, daß Hermine verschwunden ist. Würde mich nicht wundern, wenn sie sie entführt hätten.«
Snape sah ihn von der Seite an, als wollte er ihn allein mit seinem Blick töten.
»Wir sollten diese Möglichkeit nicht ausschließen«, sagte Dumbledore zu Harrys Überraschung.
»Sir. Dafür gibt es keine Beweise!« entrüstete sich Snape.
»Dann sollten wir versuchen, welche zu finden«, sagte McGonagall, die wohl ebenfalls an diese Möglichkeit glaubte, wofür ihr Harry mehr als nur dankbar war.
»Sir, ich vermute, Malfoy hat damit was zu tun«, sagte Harry. Snape schnellte hoch, sagte allerdings nichts, was ihn große Mühe zu kosten schien. Natürlich wußte er nur zu gut, warum Snape diese Reaktion gezeigt hatte, doch Snape wußte genausogut, warum Harry es überhaupt gesagt hatte.
»Wie kommst du darauf«, fragte Dumbledore, und Harry erzählte genau, was vorgefallen war: wie er Hermine geküßt hatte, sie davongelaufen war und Malfoy nur einen Augenblick später allein hinter ihm gestanden und etwas von Plänen gefaselt hatte. Dumbledore hörte sich das alles sehr aufmerksam an, und auch Snape, der sich inzwischen wieder gesetzt hatte, lauschte seinen Worten.
»Zunächst solltest du die persönlichen Sachen deiner drei verschwundenen Schüler prüfen. Vielleicht findest du einen Hinweis«, sagte Dumbledore an Snape gewandt. Dann meinte er zu Harry: »Und du solltest ins Bett gehen. Heute kannst du ohnehin nichts mehr machen.«
Harry wollte sofort protestieren, wußte er doch, daß er sowieso kein Auge würde zumachen können, doch unterließ er es, da es ohnehin nutzlos gewesen wäre. Er fühlte sich so seltsam verloren in diesem Raum und wußte nicht, was er denken sollte. Er fühlte sich schuldig und wollte etwas tun, um Hermine zu finden, doch fühlte er sich sogleich gelähmt vor stillem Entsetzen. Seine Liebste war fort, und er hatte keine Ahnung, wohin sie verschwunden war, und das brachte ihn fast um. Er fühlte sich so zornig, so wütend und wollte Malfoy selbst zur Rede stellen und ihn danach umbringen, doch war ihm klar, daß er es nicht tun konnte. Alles schien so seltsam zu sein, und das verunsicherte ihn noch stärker. Still saß er da und blickte seinen Schulleiter an, obwohl er etwas anderes tun sollte. Alles, was er tun wollte, war Hermine zu küssen, ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte, doch war sie nicht hier. Sie war irgendwo, allein, wahrscheinlich hoffnungslos und schwebte in tödlicher Gefahr. Unmenschliche Folter stellte sich Harry vor und wollte sich übergeben. Schreckliche Bilder sah er vor seinem geistigem Auge und schaffte es nur mühsam, sie loszuwerden. Du weißt nicht, was passiert ist … du weißt nicht, was passiert ist, redete er sich immer wieder ein, und irgendwie schien es zu funktionieren.
»Solltest du keine Hinweise finden, wirst du bitte Mr. Malfoy befragen. Stelle sicher, daß er nicht imstande ist, die Unwahrheit zu sagen. Findest du irgend etwas heraus, dann berichte mir umgehend«, sagte Dumbledore nun wieder zu Snape. Er drehte seinen Kopf zu McGonagall, die bisher fast nur zugehört hatte, und erhob sich dabei. »Bring Harry bitte in seinen Gemeinschaftsraum zurück.«
»Kommen Sie bitte, Mr. Potter«, forderte McGonagall ihn auf, und nur schweren Herzens konnte sich Harry erheben.
Er zitterte leicht und wollte noch so viel sagen, ihnen erklären, warum er schuld sei. Zwar hatte er ihnen das schon gesagt, und niemand ließ den geringsten Zweifel daran aufkommen, daß ihn nicht die geringste Schuld traf, doch Harry konnte das nicht überzeugen. Gemeinsam mit seiner Hauslehrerin verließ er Dumbledores Büro und machte sich auf den Weg zurück zum Turm der Gryffindors.
»Ich hätte sie niemals küssen dürfen«, sagte Harry leise und mit zittriger Stimme zu sich, doch McGonagall hatte jedes Wort gehört. Sie blieb plötzlich stehen und griff ihn am Oberarm.
»Hat sie den Kuß erwidert?« fragte sie.
Harry war von der ganzen Aktion völlig überrascht. Still nickte er.
»Dann war es nicht Ihre Schuld. Sie wollte es ziemlich sicher auch. Warum sie weggelaufen ist, kann sie Ihnen nur selbst sagen, doch ich vermute Angst … Angst vor der eigenen Courage. Angst davor, was nach dem Kuß passiert. Sie waren fünf Jahre beste Freunde, kennen einander, wie sie vielleicht nicht einmal sich selbst kennen. Da kann eine solche Veränderung einen aus der Bahn werfen, einen unsicher machen, einem Angst machen. Angst davor, das zu verlieren, was man schon hat, namentlich die wichtigste Freundschaft von allen.
Sie stand vor der Frage: Freundschaft oder Liebe. Sie glaubte in dem Moment, wo sie wegrannte, wohl nicht daran, daß noch immer beides möglich wäre. Sie glaubte, wenn einmal die Liebe enden sollte, wäre auch die Freundschaft verloren, und nichts hätte sie überzeugen können, daß dieser Gedanke Unsinn ist.
Ich verrate Ihnen etwas, das aber unter uns bleibt. Mir selbst ging es vor langer Zeit ähnlich. Ich war fast in der gleichen Situation, in der sich Miß Granger jetzt befindet. Ich selbst entschied mich damals für die Liebe und habe es niemals bereut. Es hielt nur drei Jahre, doch es waren drei Jahre, die ich niemals würde missen wollen. Danach waren wir nur noch Freunde … was sage ich, wir sind beste Freunde, und noch heute sind wir immer füreinander da. Geben Sie nicht auf! Wenn Miß Granger zurückkommt, dann kämpfen Sie!«
Bei diesen Worten lächelte McGonagall ihn an. Harry hatte sie noch nie so erlebt, niemals so persönlich und vertraut. Er wußte kaum, was er sagen sollte, wußte kaum, was er denken sollte.
»Was, wenn sie nie zurückkommt?« sagte Harry mit brechender Stimme und Tränen in den Augen.
»Glauben Sie nicht so etwas. Miß Granger ist die klügste Hexe, die ich jemals kennenlernen durfte. In welchen Schwierigkeiten sie auch immer steckt, wenn es jemand da heraus schaffen kann, dann ist sie es«, versicherte sie ihm und versuchte Zuversicht auszustrahlen. »Geben Sie niemals auf. Niemals! Nicht in tausend Jahren!«
Still nickte Harry. Er würde nicht aufgeben, er würde Hermine niemals aufgeben. Er würde stark sein und an ihre Rückkehr glauben, egal, was auch immer passieren würde, hoffte er inständig.
Er wischte sich die Träne weg, die inzwischen seine rechte Wange heruntergekullert war, und ließ sich von Professor McGonagall am Gemeinschaftsraum absetzen. Hinter dem Portrait warteten schon Ron und die anderen auf ihn und wollten sofort wissen, was es Neues gab. Er erzählte ihnen von den drei vermißten Slytherins und wie er die Vermutung geäußert hatte, daß Malfoy mit drinstecken würde.
»Wer sonst als Draco Malfoy«, zischte Ron und sah so aus, als würde er ihm am liebsten gleich an den Hals springen.
»Beruhige dich. Noch wissen wir gar nichts. Aber wenn er was damit zu tun hat, dann bring ich ihn um«, sagte Harry. Wohl niemals zuvor in seinem Leben hatte er etwas so ernst gemeint.
»Und ich helfe dir dabei!« fügte Ron ganz leise hinzu und wirkte ebenfalls äußerst entschlossen, es zu tun. Dankbar blickte Harry ihn an. Er war ihm so dankbar, er konnte es nicht in Worte fassen.
Einige Zeit später lag Harry in seinem Bett, bekam aber kein Auge zu. Auch Ron wälzte sich unruhig hin und her, während Neville schnell in einen ruhigen Schlaf gefallen war. Immer wieder dachte er über die Geschehnisse des Tages nach und überlegte, was er hätte anders, was er hätte besser machen können, nein müssen, doch führte ihn das zu nichts. Er verdammte sich nur immer mehr dafür, ihr nicht längst seine Liebe gestanden zu haben, und haßte sich selbst dafür fast so sehr, wie er Malfoy haßte. Irgendwann gegen drei Uhr erinnerte er sich an ein Versprechen, welches er Hermine vor nicht allzu langer Zeit gegeben hatte. An dieses Versprechen mußte er die nächste Zeit häufig denken.
»Du hast mir eben versprochen, daß du dich niemals wieder aufgibst. Egal, was auch immer passieren sollte, egal, wer auch immer sterben sollte. Du wirst dich nicht aufgeben. Zumindest nicht, bis Voldemort tot ist«, hörte er Hermine sagen und konnte sich so gut daran erinnern, als ob sie gerade erst zu ihm gesprochen hätte. Es fiel ihm schwer, sich nicht aufzugeben, doch wollte er das Versprechen halten. Bevor er nicht Voldemort vernichtet hätte, würde er sich niemals aufgeben, und vor allem würde er sie niemals aufgeben.
Völlig übermüdet schlief er ein und träumte schreckliche Alpträume, die ihn schon um sechs Uhr wieder weckten. Unfähig, wieder einzuschlafen, ging er in den Gemeinschaftsraum hinunter und versuchte zu lesen. Wie erwartet fiel es ihm schwer, sich überhaupt auf den Text zu konzentrieren, da er pausenlos grübelte. Starke Kopfschmerzen plagten ihn, als Ron und Neville gegen halb acht zu ihm herunterkamen und er kaum dreißig Seiten gelesen hatte, wo er normalerweise achtzig bis neunzig geschafft hätte.
»Was machst du schon so früh hier?« fragte Ron, seinem Gesicht war aber abzulesen, daß er es genau wußte.
»Was fragst du, wenn du die Antwort kennst?« gab Harry zurück, ohne von seinem Buch aufzublicken.
»Du weißt, daß ich es nicht so gemeint habe, oder?« Ron klang leicht besorgt.
»Ja. Schon gut.«
»Ich hab' auch Angst um sie«, meinte Ron und ließ sich neben Harry auf die Couch fallen.
»Ich weiß.«
»Wenn ihr etwas passiert und Malfoy hat daran schuld, das verzeih' ich mir nie. Ich werde ihn kaltmachen«, sagte er leise, und Zorn schwang in seiner Stimme mit. »Ich bringe ihn ganz langsam um.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Harry leise.
»Ich auch nicht. Wir können nur warten und hoffen«, erwiderte Ron und klang so unglaublich verloren.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, antwortete Harry noch leiser.
»Du mußt!« sagte Neville mit Bestimmtheit und schien wütend.
»Was?« Harry sah ihn ungläubig an.
»Es ist deine Pflicht, und du wirst es tun.« Seine Stimme klang bestimmend und selbstsicher, was Harry nur noch mehr verunsicherte.
»Ich verstehe nicht.«
»Es ist deine verdammte Pflicht, und du wirst ihr nachkommen. Natürlich darfst du traurig sein, niemand würde was anderes erwarten können, doch laß dich doch nicht komplett fertigmachen. Komm schon, reiß dich gefälligst ein bißchen zusammen«, herrschte Neville ihn an, und war dabei selbst ein wenig zurückgezuckt. Auf diese Art und Weise hatte Neville noch nie mit ihm gesprochen, eigentlich hatte Neville überhaupt noch nie so gesprochen, doch schien es seine Wirkung nicht verfehlt zu haben.
»Neville hat recht. Wir müssen uns zusammenreißen«, pflichtete Ron ihm bei, und Neville nickte.
»Okay. Laßt uns runtergehen. Ich will Dumbledore auf keinen Fall verpassen«, entschied Harry, doch glaubte er nicht, daß er diese Worte eben wirklich gesagt hatte. Irgendwie fühlte es sich so schrecklich falsch an.
Nervös schlug er das Buch zu und legte es auf den Tisch. Gemeinsam liefen die drei hinunter in die Große Halle und sprachen dabei kein Wort, doch Dumbledore war wohl noch nicht da. Der einzige Lehrer am Tisch war Professor Sprout, die Neville freundlich zunickte.
»Es ist halt Sonntag. Da schlafen die meisten lange. Selbst Luna ist noch nicht da. Frage mich, was ich schon hier treibe«, murmelte Ron und setzte sich gähnend an den Gryffindor-Tisch.
»Ginny wird enttäuscht sein, daß ich nicht auf sie gewartet habe«, sagte Neville und setzte sich neben Ron.
»Was genau läuft zwischen dir und meiner Schwester?« fragte Ron plötzlich wieder hellwach.
»Ähhm …«, begann Neville, wurde aber von Harry unterbrochen.
»Was immer da läuft, braucht dich nicht nervös zu machen«, sagte er und stieß Ron mit dem Ellbogen an. Für Neville war die ganze Situation schon problematisch genug, da brauchte Ron es für ihn nicht noch schwerer zu machen, wie Harry fand, obwohl es ihn irritierte, daß Neville nach seinem Ausbruch von eben schon wieder so in die Defensive gedrängt wirkte.
Ron gab schließlich nach und begann sich wie gewohnt Essen auf den Teller zu schaufeln. Zwar sah er dabei überaus lustlos aus, doch fing er schließlich damit an, sich das Essen reinzuquälen.
Harry hatte überhaupt keinen Hunger, trotzdem füllte auch er seinen Teller und begann schließlich einen Toast mit Marmelade zu essen. Er fühlte sich wieder wie am Anfang der Sommerferien. Jeder Schluck war wie ein Stein, der sich rumpelnd den Weg in seinen Magen suchte und schwer auf seiner Seele lastete, doch er aß weiter. Bissen um Bissen mühte er hinunter, bis er die für ihn übliche Menge gegessen hatte und angestrengt mit einem Glas Orangensaft nachspülte. Gegen acht, Harry und die anderen hatten inzwischen aufgegessen und warteten einfach nur still, kam Luna zu ihnen. Sie begrüßte Ron mit einem Kuß und erkundigte sich nach den Neuigkeiten. Da sie von den Ereignissen bei Dumbledore im Büro noch nichts wußte, brachte Ron sie auf den neuesten Stand.
»Seht mal, da kommt Malfoy«, rief Luna plötzlich, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß. Alle drei drehten den Kopf und blickten Malfoy an. Er sah wütend aus und schien übernächtigt zu sein. Er ignorierte Harry und die anderen und nahm am Slytherin-Tisch Platz.
»Irgend etwas ist passiert. Gestern abend sah er noch glücklicher aus«, stellte Ron fest und sah aus, als ob er sich gleich auf ihn stürzen wollte. Harry wußte zwar einige Dinge, die Malfoys Mißmut erklären konnten, doch hatte er keine Ahnung, was es wirklich war. Sich selbst erwischte er auch bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, zu Malfoy hinüberzugehen und ihn solange zu würgen, bis sein Kopf platzen würde.
»Mr. Potter, Professor Dumbledore wünscht Sie zu sehen«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihm, und er erschrak ein wenig. Harry drehte sich um und erkannte Professor McGonagall, die ihn ansah. Ihrem Gesichtsausdruck war nichts abzulesen.
Er stand auf und folgte ihr bis zu dem Fuß der Treppe, die zu Dumbledore Büro führte.
»Kommen Sie nicht mit rauf?« fragte er, als sie dort stehenblieb und nach oben wies, aber sie schüttelte nur den Kopf und verschwand. Harry klopfte oben an die Tür und betrat das Büro. Professor Snape war anwesend, und dies war er sicher nur, wenn er auch neue Informationen hatte.
»Setz dich bitte, Harry«, sagte Dumbledore freundlich, lächelte aber nicht. Das konnte nur schlechte Neuigkeiten verheißen, dachte Harry und nahm einmal mehr neben Snape Platz, der ihn völlig emotionslos anblickte.
»Was haben Sie erfahren?« fragte Harry, und seine Nervösität brachte ihn beinahe um.
»Hermine wurde tatsächlich entführt. Zumindest deuten alle von uns gefundenen Hinweise, Beweise und Aussagen darauf hin. Zunächst haben wir ihren Zauberstab gefunden. Er lag nicht weit von der Stelle, an der Sie sie zuletzt gesehen haben. Im Moment wird er untersucht, ob er vielleicht noch weitere Hinweise liefern kann. Zudem hat Professor Snape eine kurze Notiz gefunden, die in einem der Schulbücher der drei Siebtkläßler versteckt war. Demnach wußten sie von deinem Interesse an Hermine und hatten geplant, euch am Hogsmeade-Wochenende zu beobachten. Da dies noch nicht eindeutig genug war, hat Professor Snape anschließend Draco Malfoy befragt. Er wußte nicht, daß sie entführt worden war und war auch nicht darin verwickelt, doch vermutete er es, da die drei Slytherins ihm gegenüber zwar nichts Konkretes verlauten ließen – wohl um ihn vor Strafe zu bewahren –, doch ihm Hinweise auf ihr Vorhaben lieferten, welche er interpretieren konnte. Er glaubt, daß die drei Hermine entführt haben, um damit noch vor Ende der Schulzeit Todesser werden zu können. Ob Voldemort ihnen die Entführung befohlen hat, ist allerdings unbekannt.«
Harry brauchte einige Zeit, um das zu verdauen. Besonders, daß sie Hermines Zauberstab gefunden hatten, traf ihn hart, und daß Malfoy nicht bestraft werden konnte, traf ihn noch härter. Er wollte jemandem die Schuld geben, und Malfoy wäre ihm nur recht gewesen. Sofort aber kamen ihm andere Gedanken in den Sinn. Wenn Voldemort sie in seinen Fingern hatte, was machte er dann mit ihr? Daran wollte Harry nicht denken. Er wollte sich nicht schon wieder vorstellen, wie sie gefoltert und dann umgebracht würde. Er wollte diese schrecklichen Bilder seiner Vorstellung nicht sehen, wollte sie nicht leiden sehen … sterben sehen. Lieber wüßte er gar nichts über ihren Verbleib, als so etwas zu erfahren. Es würde ihn umbringen … vor Schmerz, vor Zorn. Den Verstand würde er verlieren und sich nur noch an Voldemort rächen wollen. Harry zwang sich, diese Dinge nicht zu denken. Verstört blickte er Snape an und hoffte, so auf andere Gedanken zu kommen.
»Was passiert jetzt? Können wir sie suchen?« fragte Harry verzweifelt.
»Wir können nicht viel tun. Professor Snape wird Nachforschungen anstellen, doch wir können, so leid es mir tut, nichts anderes machen, als einfach nur abzuwarten«, sprach Dumbledore mit einer kraftgebenden Ruhe.
Nur schwer konnte Harry es fassen. Schon früher hatte er eine wahnsinnige Angst, Ron oder Hermine könnten seinem Feind in die Hände fallen, doch nun war es tatsächlich passiert. Aufstehen wollte er, losbrüllen, sie suchen, doch wußte er, es würde nichts nutzen. Allein konnte er sie niemals finden, und er allein hatte auch keine Chance gegen Voldemort, schon gar nicht in seiner derzeitigen Verfassung.
»Was soll ich tun, wenn sich Voldemort bei mir meldet? Wenn er von mir verlangt, sofort einen Portschlüssel zu berühren, wenn ich nicht will, daß Hermine etwas passiert?« fragte er und war erstaunt, daß er in der Lage war, eine derart rationale Frage zu stellen.
»Dann gehen Sie nicht!» erklärte Snape. «Er wird Sie beide töten, und es wird für Sie beide noch viel schlimmer sein. Sie werden erst mitansehen, wie er Miß Granger foltert, mißhandelt, quält und ganz langsam umbringt. Erst dann wird er Sie foltern, mißhandeln und quälen, ehe er auch Sie ganz langsam umbringt. Wenn Sie nicht gehen, wird er wütend, und vielleicht stirbt sie dann einen schnellen, leichten Tod.« Dabei verzog er keine Miene, und Harry starrte ihn leicht erschrocken an. Er wußte aber, daß er recht hatte, doch wollte er Hermine nicht alleine sterben lassen. Zumindest wären sie dann zusammen, dachte er und lächelte bei dem Gedanken.
»Das solltest du nicht mal in Erwägung ziehen«, sagte Dumbledore ganz leise und holte Harry damit in die Wirklichkeit zurück.
»Was meinen Sie?« fragte er unschuldig klingend, wußte aber instinktiv, daß Dumbledore das Richtige meinte.
»Du wirst nicht mit Hermine zusammen sterben wollen. Das kann nicht dein Ernst sein«, sprach er und bestätigte damit sofort, daß er Harry entweder gut genug kannte oder doch seine Gedanken lesen konnte.
»Nichts würde mich glücklicher machen«, erwiderte Harry leise.
»Du möchtest lieber mit ihr zusammen sterben, als mit ihr zusammen zu leben?« fragte Dumbldore und sah ihn ungläubig an.
»Natürlich nicht, Sir!« widersprach Harry energisch. So hatte er das nicht gemeint.
»Bitte tue dann auch nichts Dummes. Solange sie lebt, haben wir auch noch eine Chance, sie zurückzuholen. Bitte habe Vertrauen in die Zukunft, versprich es mir.«
»Ich versuche es … ich versuche es, so gut es geht, aber ich kann es nicht versprechen«, erwiderte Harry traurig.
»Dann werde ich das akzeptieren müssen. Sobald Professor Snape etwas erfährt, sprechen wir uns wieder«, sagte Dumbledore und wies zur Tür, doch Harry wollte noch etwas wissen.
»Was ist mit Draco Malfoy? Was weiß er? Wie wurde er befragt?«
»Was genau meinst du? Wir haben dir alles gesagt, was wir wissen.«
»Ich meine, was glaubt er, warum er verhört wurde. Er sah heute morgen sehr schlechtgelaunt aus. Könnte er glauben, Snape würde gegen ihn sein?« fragte Harry und hoffte, es damit verständlicher formuliert zu haben.
»Professor Snape, bitte!« korrigierte ihn Dumbledore ernst, ehe sich seine Stimme wieder entspannte. »Ich versichere dir, daß Mr. Malfoy keinen Groll gegen Professor Snape hegt. Er glaubt, von ihm nur wegen der vermißten Slytherin-Schüler befragt worden zu sein. Professor McGonagall hat alle anderen Fragen gestellt, während Severus …«, dabei sah er Snape an, »… Mr. Malfoy zur Seite gestanden hat und versucht hat, ihn zu schützen. Wütend war er wegen fünfzig verlorener Hauspunkte, die ihm Professor McGonagall abgezogen hat.«
Dies erleichterte ihn ein wenig. Zwar war es ihm eigentlich egal, was Malfoy von Snape dachte, doch wollte er, daß Voldemort und seine Todesser noch genug Vertrauen in Snape haben konnten. Wenn Malfoy einem der Todesser einen Brief schreiben würde und sich über seinen Lehrer beschweren würde oder von einem Verhör berichten würde, wäre es der Sache abträglich. Hermines Leben konnte davon abhängen, daß Snape etwas erfuhr, und das war nun noch immer möglich. Schweren Herzens verabschiedete er sich anschließend und ging wieder zu den anderen. Inzwischen war auch Ginny bei ihnen, und sie war die einzige, die noch etwas aß.
»Was hat er gesagt?« erkundigte sich Ron, doch Harry schüttelte den Kopf.
»Nicht hier. Laßt uns später in den DA-Raum gehen«, sagte Harry und setze sich zu den anderen. Ginny sollte in Ruhe aufessen können, doch auch sie sah reichlich unglücklich aus.
Malfoy verließ in diesem Augenblick die Große Halle und wurde von Crabbe und Goyle begleitet. Die beiden sahen angegriffen und abgespannt aus, während Malfoy wohl scheinbar seine Fassung wiedergewonnen hatte, Harry aber geflissentlich ignorierte. Ein paar Minuten später hatte auch Ginny aufgegessen, und gemeinsam verließen sie die Halle und machten sich auf zum DA-Raum. Drinnen angekommen, erzählte Harry ihnen alles, was er selbst wußte. Auch von seinen Gedanken berichtete er, wobei diese keinen seiner Freunde kaltließen. Alle blickten ihn mit großen Augen an, und niemand von ihnen wollte das Gehörte glauben.
»Du kannst nicht ohne uns gehen«, sagte Ron plötzlich ernst und jagte Harry einen Schrecken ein. »Sie ist genausogut meine Freundin. Du hast kein Recht, sie allein retten zu wollen.« Luna sah bei diesen Worten nicht gerade glücklich aus.
»Das bin ich ihr eigentlich schuldig«, sagte Harry, stimmte Ron aber unterbewußt zu, »mach dir aber keine Sorgen. Ich werde keine Dummheit begehen und mich nicht selbst in Gefahr bingen. Ich werde mich, so gut es geht, zusammenreißen. Aber ich werde euer aller Hilfe benötigen. Ich werde schlimme Phasen haben, ich werden heulen und ich werde wütend sein. Vielleicht sage ich euch verletzende Sachen, doch ich meine es nicht so. Es tut mir so leid, mich überhaupt im voraus entschuldigen zu müssen, doch befürchte ich, nachher könnte es dafür schon zu spät sein. Ich weiß noch nicht, wie ich es überhaupt überstehen soll, doch habe ich die Hoffnung, es mit eurer Hilfe zu können, was auch immer passiert.« Bei den letzten Worten meinte er Hermines Tod, und alle wußten es.
Mißmutig machten sich die fünf wieder ans Lernen, da Ron das Qudditch-Training abgeblasen hatte, weil ihm einfach nicht nach einem lustigem Spiel zumute war. Bis zum Abendessen waren sie in der Bibliothek geblieben, und nur zur Mittagspause waren sie kurz unten in der Großen Halle gewesen. Bis zum Abend hatten sie aber kaum etwas geschafft, da vor allem Harry beinahe ununterbrochen an Hermine denken mußte.
Beim Abendessen gab Dumbledore den Schülern eine Erklärung für Hermines Abwesenheit. Inzwischen war es das Gesprächsthema Nummer eins, und Harry hoffte, daß damit der Gerüchteküche Einhalt geboten sei. Offiziell war sie aus familiären Grunden zu Hause, doch schmerzte Harry diese Ausrede, erinnerte sie ihn doch daran, daß ihre Eltern sicherlich ebenfalls mit den Nerven am Ende wären, sobald sie von Hermines Entführung erfahren würden. Dumbledore wollte damit bis zum Montagabend warten, da Snape dann vielleicht schon Näheres wüßte.
Die Zeit bis dahin war für Harry ein einziger Alptraum, aus dem er einfach nicht erwachen konnte. Er schleppte sich durch den Unterricht, quälte sich das Essen hinein und las in den Büchern, obwohl ihm nur nach Heulen zumute war. Immerhin ließ ihn Snape in Ruhe, hielt er doch wohl den Spott, den Malfoy für Harry übrig hatte, für ausreichend.
Wenn Harry sich nach Sirius' Tod schon schlecht und schuldig gefühlt hatte, war es jetzt bei weitem noch schlimmer. Obwohl er es haßte, Vergleiche zwischen diesen beiden Verlusten anzustellen, tat er es dennoch ununterbrochen, was ihm die Situation nur noch unerträglicher machte. Ohne die Hilfe seiner Freunde hätte er schon jetzt erschöpft aufgegeben, doch so hielt er sich so tapfer und aufrecht, wie er es nur konnte. Beim Abendessen kam Dumbledore kurz zu Harry an den Tisch und informierte ihn darüber, daß es noch nichts Neues gäbe, außer daß er nun die Eule zu Hermines Eltern losschicken würde, weil er einfach nicht länger warten konnte. Aufgrund dieser Information konnte und wollte Harry sein DA-Treffen nach dem Essen nicht mehr allein leiten, weshalb er Ron und Neville um Hilfe bat, die wie selbstverständlich zusagten. Später im DA-Raum begrüßte Harry alle und bedankte sich für ihr Kommen.
»Einige von euch wissen es, andere ahnen es, manche werden es nicht glauben wollen. Hermine Granger ist nicht zu Hause bei ihren Eltern in Sicherheit, sondern wurde von drei Siebtkläßlern aus dem Hause Slytherin entführt«, sagte Harry und mußte den Drang unterdrücken, an der Stelle natürlich aus dem Hause Slytherin zu sagen, da er inzwischen Verbündete unter ihnen hatte und sie nicht alle über einen Kamm scheren wollte. Ein lautes Raunen ging durch die Menge, und Getuschel setzte ein. Harry ließ ihnen einen Moment, um die ganze Sache überhaupt zu begreifen. »Vermutlich hat Voldemort sie inzwischen in der Hand, und er könnte versuchen, mich dadurch in eine Falle zu locken. Ich wurde gebeten, dem Drang, sie alleine zu retten, zu widerstehen, und versuche mich daran zu halten. Leider bin ich mir nicht sicher, wie ich reagieren werde, wenn dieses Problem tatsächlich auf mich zukommen wird. Deshalb möchte ich, auch wenn es mir sehr schwer fällt, einen jeden von euch bitten, mir einen Gefallen zu tun. Solltet ihr den Eindruck haben, ich würde irgend etwas planen oder vorhaben, so zögert bitte nicht, Ron, Neville oder auch Professor Dumbledore darüber zu informieren. Sie werden die richtigen Schritte zu unternehmen wissen und mich davor bewahren, Dummheiten zu begehen.«
Er fragte sich, wie er das alles überhaupt so emotionslos hatte sagen können, sprach er doch über den Menschen, den er mehr liebte als das Leben selbst. Er verachtete sich für diese Fähigkeit, gleichzeitig wußte er aber, daß Hermine es so gewollte hätte. Sie selbst hätte es umgekehrt zwar vermutlich auch nicht oder nur sehr schwer gekonnt, doch sie hätte es unter allen Umständen versucht. Harry mußte ruhig bleiben. Er mußte die Fähigkeit behalten, denken zu können, Entscheidungen treffen zu können. Entscheidungen, von denen auch Hermines Leben abhängen könnte. Harry riß sich so sehr zusammen, daß es ihn innerlich um so stärker verletzte. Nach außen wirkte er auf die meisten vielleicht gefaßt und fähig, damit umzugehen, doch innerlich war er es nicht. Um so länger das Ganze dauern würde, desto gefährlicher wurde diese Maskerade für ihn, das wußte er nur zu gut. Der Druck in ihm würde wachsen, und irgendwann würde er ihn abbauen müssen, die Frage war nur, wann es soweit wäre und wie es sich äußern würde. Kaum hatte er der versammelten DA alles, was er wußte, gesagt, begann schon wieder ein lautes Gemurmel, und für die nächste halbe Stunde beschränkte sich Harry darauf, ein wenig mit Ron und Neville zu üben, während die anderen ihr Gesprächsbedürfnis stillten, was ihm so aber nicht ungelegen kam. Besser, sie sprachen hier über den Fall als außerhalb des Raumes, wo jederzeit jemand anderes hätte mithören können.
Dienstag beim Mittagessen bekam Harry von Dumbledore einen Brief zugesteckt. Er wollte ihn eigentlich sofort lesen, doch dieser winkte ab und sagte nur ein einziges Wort: »Später.«
Harry tat, worum ihn Dumbledore gebeten hatte, und öffnete ihn erst, als er am späten Nachmittag allein auf seinem Bette saß. Der Brief bestand eigentlich aus zwei Briefen. Einmal aus dem, den Dumbledore an Hermines Eltern geschrieben hatte, und dann deren Antwort darauf. Zuerst las Harry den Brief von seinem Schulleiter. Er berichtete ihnen alles, was passiert war. Er schrieb sogar davon, wie Harry sie geküßt hatte und wie sie daraufhin weggelaufen wäre. Sofort fühlte er sich so schuldig wie niemals zuvor. Sein Gesicht wurde knallrot, und er fing an zu weinen. Ob er noch die Antwort ihrer Eltern noch lesen wollte, wußte er nicht, konnte er sich doch nur zu gut vorstellen, was sie schreiben würden. Das war für ihn schon schlimm genug, und es zu lesen, würde es nur noch realer machen. Unsicher steckte er beide Briefe in den Umschlag und legte sie in seinen Nachtschrank. Auch er hatte darüber nachgedacht, ihnen einen Brief zu schreiben, doch verzichtete er jetzt lieber darauf. Wahrscheinlich würde es sie nur noch wütender auf ihn machen und ihnen keine Hilfe sein, wie er glaubte. Zudem war er dafür einfach zu feige und fragte sich ernsthaft, wie er in Gryffindor hatte landen können.
Den ganzen Abend über lag Harry nur auf seinem Bette und dachte nach. Er dachte über den Brief von Hermines Eltern nach, darüber, was sie wohl geschrieben hatten, und warum Dumbledore wollte, daß er es las. Gegen halb zehn kam Ron hoch, um nach ihm zu sehen.
»Ich komme schon klar. Ich muß es doch«, sagte Harry leise und versuchte dem Blick seines Freundes auszuweichen. Zu sehr schämte er sich seiner roten Augen, die er sich in den letzten Stunden schon wundgeweint haben mußte.
»Was tust du hier?« fragte Ron und setzte sich auf Harrys Bett. Er blickte von Harry weg, in Richtung der Tür.
»Was meinst du?«
»Ich meine, ich verstehe dich schon irgendwie, und mir würde es wohl genauso wie dir gehen, wenn ich in deiner Situation wäre. Doch dachte ich immer, du bist stärker als wir anderen, tapferer und mutiger. Ich hätte geglaubt, daß du uns nun erst recht führst, uns stärker machst. Stärker, als wir es allein sind. Hermine ist nicht verloren. Nicht, solange ich nicht ihre kalte Leiche mit meinen eigenen Augen gesehen habe, und solange sie am Leben ist, müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun!« Beim letzten Satz begann auch Rons Stimme zu zittern. Harry ahnte, daß auch Ron nun weinen würde. Tränen würden über seine Wangen kullern, was wohl der Grund war, warum er ihn nicht mehr ansah.
»Ich weiß«, sagte Harry nur.
»Was weißt du?« Er hörte sich zornig an.
»Du hast recht. Ich sollte nicht hier liegen und rumheulen. Ich sollte mich und euch stärker machen. Stark genug, um Voldemort zu zerfetzen, sobald ich auf ihn treffe.«
»Wir auf ihn treffen!« fügte Ron hinzu, und seine Stimme strahlte soviel Kraft wie nur selten zuvor aus. Irgendwie wirkte das auf Harry. Er fühlte sich noch immer schrecklich hilflos, doch zugleich ein wenig besser.
»Würdest du mich bitte allein lassen? Ich habe noch einen Brief zu lesen«, sagte Harry. Ron drehte sich um und sah nicht so aus, als wollte er ihn allein lassen. Sein Augen funkelten vor Feuchtigkeit, und auf den Wangen konnte man die Spuren frischer Tränen sehen.
»Mach dir keine Sorgen. Es ist der Brief, den Hermines Eltern an Dumbledore geschrieben haben. Ich würde ihn nur einfach lieber allein lesen. Danach komme ich runter in den Gemeinschaftsraum, und dann reden wir darüber«, erklärte ihm Harry und versuchte dabei zu lächeln. Auch Ron schien sich zwingen zu müssen, ein Lächeln aufzusetzen, und erhob sich vom Bett. Er nickte Harry zu und verließ das Zimmer.
Einen Augenblick lang starrte Harry einfach nur die Tür an, ehe er den Brief wieder aus dem Nachtschrank holte. Er überwand die Abneigung davor, ihn aus dem Umschlag zu ziehen, und begann ihn zu lesen. Zu seiner Überraschung war er nicht an Dumbledore adressiert, sondern direkt an ihn. Die Schrift sah unsauber und krakelig aus, und er war wohl in großer Eile geschrieben worden. Er war übersät mit kleinen Flecken, von denen Harry vermutete, daß es getrocknete Tränen waren. Harry las den Brief in Gedanken.
Lieber Harry,
Professor Dumbledore hat uns über die Entführung unserer geliebten Hermine informiert und natürlich über die Umstände, die dazu geführt haben. Bitte mache dir deswegen keine Vorwürfe. Wir wissen, wieviel dir unsere Tochter bedeutet, und auch, wieviel du ihr bedeutest. Auch wenn du es vielleicht nicht glauben willst, doch dich trifft daran keine Schuld. Es waren unglückliche Entwicklungen, und selbst wenn es uns schwerfällt, es zu sagen, hätte es ebenso passieren können, wenn du sie nicht geküßt hättest.
Unser Schatz wird hoffentlich auch diese Gefahr heil überstehen, wie sie schon so viele andere überstanden hat. Bitte tue nichts Unüberlegtes, und bringe dich nicht selbst in Gefahr. Mache dir um uns keine Sorgen, wir sind dir nicht böse, sondern hoffen einfach nur, unsere geliebte Hermine bald wieder in unsere Arme schließen zu können. Wir können verstehen, falls du auf eine Antwort lieber verzichten möchtest, doch sind auch wir für dich jederzeit da. Über eine Antwort von dir würden wir uns sehr freuen.
Das Beste hoffend, verbleiben wir mit einer herzlichen Umarmung.
Katherine Granger
Harry wußte gar nicht, was er sagen sollte. Er hatte das Schlimmste erwartet und das Beste bekommen. Nur zehn Minuten später hatte er bereits die Antwort geschrieben. Hauptsächlich brachte er zum Ausdruck, wie wichtig ihm Hermine wäre und daß er sie niemals aufgeben würde. Er dankte ihnen für ihren aufmunternden Brief, der ihm unwahrscheinlich viel bedeutete. Er schrieb ihnen, daß er alles Nötige tun würde, aber auf Dummheiten verzichten würde. Den Brief schickte er kurze Zeit später mit Ron ab, nachdem sie sich mit dem Tarnumhang in die Eulerei geschlichen hatten, um Hedwig den Brief zu geben.
Die nächsten Tage waren einfach nur schrecklich für Harry. Zwar schaffte er es, sich tagsüber zusammenzureißen, doch nachts allein in seinem Bette fand er einfach keinen erholsamen Schlaf. Ununterbrochen träumte er von Hermine, wobei es zu seiner Überraschung nicht immer Alpträume waren. Er träumte mehrmals, wie er sie rettete und wie sie danach ihr Wiedersehen feierten. Er träumte aber auch davon, wie er mit einem Portschlüssel zu Voldemort gebracht wurde und mit ansehen mußte, wie seine Liebe zu Tode gefoltert wurde. Ron wußte immer, wann Harry so etwas geträumt hatte, mußte er ihn schließlich mehrmals aus diesen Träumen wecken, da Harry ihn durch sein Geschrei aufgeweckt hatte. Obwohl es auch für Seamus und Dean problematisch war, da sie deshalb selbst kaum noch schlafen konnten, verloren sie niemals auch nur ein Wort darüber, zu gut konnten die beiden die Qualen verstehen, die Harry durchmachte.
In diesen Tagen entwickelten sich auch Draco Malfoy und Pansy Parkinson allmählich wieder zu einer wahren Plage. Pausenlos lauerte er Harry auf und beleidigte ihn aufs übelste. Er zog über Hermine her, und als wenn das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, posaunte er auch überall herum, daß Voldemort endlich das Schlammblut hätte und sie nur kriegen würde, was sie verdient hätte.
Inzwischen hatte Harry nicht mehr wirklich die Kraft, sich zu wehren, und wenn Ron oder jemand anderes dabei war, dann sagte Malfoy in weiser Voraussicht kein Wort. Erst am Donnerstag nach dem Abendessen bekam Neville es mit und sprach Harry im Gemeinschaftsraum darauf an, während sie hoch in den Schlafsaal gingen.
»Warum wehrst du dich nicht?« fragte er verständnislos.
»Ich habe versprochen, keine Dummheiten zu begehen. Ihn anzugreifen wäre aber dumm, und zudem fehlt mir die Kraft, mich andauernd gegen ihn zu wehren, auch deshalb mache ich es nicht«, erwiderte Harry emotionslos.
»Dann machen wir es halt«, sagte Neville, doch Harry schüttelte den Kopf.
»Nein, ihr macht nichts. Außerdem müssen wir jetzt zur DA.« Er holte die Karte des Rumtreibers aus seinem Koffer. Er aktivierte sie, um zu prüfen, ob ihm vor dem Gemeinschaftsraum jemand auflauerte, doch das hatten seine Feinde längst aufgegeben. Deshalb steckte er die Karte wieder ein und verließ den Raum.
Schnell stießen sie zu den anderen im DA-Raum. Es gab wieder einen Neuzugang, der sich jetzt vorstellte, und anschließend machten sie mit ihren Duellübungen weiter. Zum ersten Mal wurde Harry dabei geschlagen. Neville schaffte es, ihn mit dem Entwaffnungszauber zu treffen, und überraschte ihn damit. Zwar schob Neville es auf Harrys Zustand, doch der wußte es besser. Er war zwar selbst tatsächlich nicht in Topform, doch war Neville wirklich gut geworden. Seit er mit Ginny zusammen war, verbesserte er stetig seine Leistungen und war wahrscheinlich auch Ron schon überlegen, was dieser aber niemals zugeben würde.
Die Niederlage gegen Neville weckte Harry ein wenig auf, und so lief das restliche Training wieder besser, und es gelang ihm, Parvati und Padma gleichzeitig auszuschalten. Erst verwirrte er die beiden und entwaffnete danach Padma, während er Parvati schockte. Anschließend revanchierte er sich auch bei Neville, was ihm dadurch gelang, daß er ihn mit einem anderen Zauber verwirrte, der nicht oben und unten, sondern links und rechts vertauschte, womit dieser nicht gerechnet hatte und lächelnd mit einem "Ich hab's doch gewußt" quittierte.
Freitag in Verteidigung gegen die dunklen Künste besiegte Harry dann Malfoy, indem er ihn ziemlich schnell mit einem Fesselzauber kampfunfähig machte. Hätte er geahnt, daß es sich um Draco Malfoy handelt, dann hätte er noch eine Weile seinen Spaß mit ihm gehabt und ihn noch ein wenig länger gequält. Trotzdem gab ihm dieses Duell weiteren Auftrieb, den er für das Wochenende dringend brauchte. Wenn er keinen Unterricht hatte, der ihn wenigstens halbwegs erfolgreich davon abhielt, Hermine zu vermissen, dann war es noch immer ein unerträglicher Zustand. Harry mühte sich nach Leibeskräften, kam aber immer wieder an den einen Punkt, den man wohl häufig bei einem solchen Verlust erreichte. Es spukte eine Frage durch seinen Kopf – nur eine einfache, aber eine Frage von essentieller Bedeutung.
»Was wäre wenn?« fragte er sich Sonntagabend leise in der Bibliothek. Was wäre, wenn er Hermine nicht geküßt hätte? Was wäre, wenn er sie viel früher geküßt hätte? Was wäre, wenn er sie nicht lieben würde? Was wäre, wenn er es ihr früher gestanden hätte? Diese und andere Fragen gingen ihm durch den Kopf, und fast alle fingen mit diesen kleinen drei Worten an. Unschuldige Worte, die ihn schuldig sprachen – schuldig, alles falsch gemacht zu haben; schuldig, Hermine in Gefahr gebracht zu haben.
Am Samstagnachmittag hatte es ein Quidditchspiel gegeben, und es war eines der wenigen, die Harry nicht gesehen hatte. Normalerweise hätte er Hufflepuff unterstützt, allein, weil Malfoy in der anderen Mannschaft spielte, doch hatte er nicht die geringste Lust, diesem bei einem leichten Sieg zuzuschauen, was für Harry der wahrscheinlichste Spielausgang gewesen war. Tatsächlich war es auch so gekommen, Slytherin hatte ziemlich schnell und ziemlich deutlich mit hundertneunzig zu zehn Punkten gewonnen, was Malfoy den Pokal einen großen Schritt näher brachte. Während des Spieles hatte Harry in der Bibliothek gesessen und angestrengt versucht, sich ein paar neue Zaubersprüche einzuprägen. Leider hatte er dabei nur mäßigen Erfolg, fehlte Hermine ihm doch einfach zu sehr. Den ganzen Sonntag erledigte er Hausaufgaben und lernte schon für den Unterricht der nächsten Wochen im voraus. Zu Harrys größter Enttäuschung fand Snape auch in der ganzen nächsten Woche nichts über den Verbleib von Hermine heraus. Jeden Morgen war Harry hoffnungsvoll zum Frühstück gegangen, ehe er danach – um beinahe jede Hoffnung beraubt – zum Unterricht gegangen war. Am Freitag erfuhr er immerhin, daß Voldemort Hermines Entführung nicht veranlaßt hatte, sondern sie wohl aus Initiative der Siebtkläßler geschehen war, was in Harry die Hoffnung nährte, daß Voldemort mit dem überraschenden Schatz in seinen Händen nichts anzufangen wußte. Auch daß er noch nichts von ihm gehört hatte, deutete Harry als ausgesprochen gutes Zeichen, und hoffte inständig, daß es das auch wirklich war und er es sich nicht nur einzureden versuchte.
Tag um Tag verging, und auch der November war nun angebrochen. Der Herbst hatte inzwischen fast alle Laubbäume entblättert und den Rest von ihnen dunkelrot gefärbt. Draußen war es zunehmend kälter geworden, und beinahe jeden Tag wurde der erste Schnee des Jahres erwartet. Mittlerweile hatte Harry einen merkwürdigen Gemütszustand erreicht, der ihn emotional fast in eine Art Leerlauf schaltete. Zwar kam er mit Hermines Verlust langsam, aber sicher besser klar, doch blieben ihm damit auch die positiven Emotionen verwehrt. Er fand keinen Grund mehr, um zu lachen, und freuen konnte er sich schon seit einer Woche über nichts mehr. Er fühlte keinen Stolz auf seine unverändert guten Noten und auch nicht auf seine Fortschritte in und mit der Gruppe der DA oder seinen Duellerfolgen in Verteidigung gegen die dunklen Künste. Dies entging wohl auch Ron und Luna nicht, die ihn sich nach einer DA-Stunde zur Seite nahmen, um mit ihm zu sprechen.
»Ich hoffe, du bist nicht sauer, daß ich mit Luna auch über dich spreche; doch brauche ich einfach auch einen Menschen, mit dem ich reden kann, der mir hilft, es zu verarbeiten«, fing Ron schüchtern an.
»Ich bin deswegen nicht sauer. Dafür mag ich Luna viel zu sehr.« Er sah sie dabei kurz an und lächelte. »Und außerdem ist sie ja keine Fremde, sondern inzwischen auch eine meiner Freunde.«
»Ich wollte dir einfach noch mal die Möglichkeit geben, darüber zu reden. Ich meine, du hast schon so lange nichts mehr gesagt, und das tut mir weh. Ich hab' dann das Gefühl, daß ich dir nicht so gut helfe, wie es mir vielleicht möglich wäre. Wir sind doch Kumpel, und auch wenn es bisher Hermines Stärke war, bin doch auch ich immer für dich da.« Seine Stimme klang ein wenig gequält, während Luna leicht nickte und seltsam anwesend und konzentriert wirkte.
»Ich weiß das wirklich, doch im Moment kann ich es nicht ändern. Wenn ich mit allem weitermachen soll, wie auch du mich gebeten hast, es zu tun, dann geht es nur so. Ich würde sonst verrückt werden. Du weißt ja gar nicht, wie sehr sie mir fehlt. Ich schulde ihr mein Leben ohnehin schon, und nun ist ihres bedroht, während ich hier sitze und lernen soll. Ich weiß ja nicht mal, wie ich es überhaupt bis hierher geschafft habe. Nach Sirius' Tod ging es mir so schlecht, ich wollte nur noch sterben, doch Hermines Entführung ist für mich so viel schlimmer. Und ich sitze hier, kaum zehn Minuten nach der letzten DA-Stunde.« Harry hatte zuletzt immer leiser gesprochen, während gleichzeitig eine Träne seine rechte Wange hinunterlief. Sein Kinn begann zu zittern, und auch seine rechte Hand konnte er nur schwer stillhalten. Luna stand von ihrem Stuhl auf und ging um den Tisch herum. Sie setzte sich neben Harry und nahm seine zitternde Rechte in ihre zarten Hände. Immer weniger stark war das Zittern, bis Harry seine Hand fast wieder unter Kontrolle hatte.
»Ich weiß, wie schwer es für dich ist. Meine Mum fehlt mir jeden Tag, doch das Leben muß weitergehen«, flüsterte sie fast unhörbar und sah ihn so ernst an, wie er es von ihr bisher nicht gekannt hatte.
»Ich brauche sie so sehr. Ich weiß doch nicht, wie ich es ohne sie schaffen soll«, schniefte Harry, ehe er anfing zu schluchzen, und sich die gesamten angestauten und weggesperrten Emotionen auf Lunas Schulter entluden, die ihn sofort in den Arm genommen hatte. Plötzlich spürte Harry zwei weitere Arme um sich und wußte, daß Ron nun zu ihnen gekommen war und ihn ebenfalls in den Arm nahm. Wie lange sie in der Stellung verblieben und ihn einfach nur weinen ließen, wußte er nicht, doch fühlte es sich richtig und gut an. Eine kleine Last wurde von seinen Schultern genommen, und es ging ihm zumindest ein wenig besser. Langsam löste er sich aus der Umarmung, und er brachte seine Tränen wieder unter Kontrolle.
»Tut mir leid«, sagte er mit einem Blick auf Luna feuchte Schulter, doch sie gab ihm einfach nur einen sanften Kuß auf die Stirn.
»Ronald und ich sind immer für dich da«, sagte sie mit einem Lächeln und wischte eine weitere Träne von seiner Wange.
»Ich danke euch so sehr«, sagte Harry und hörte sich wieder annähernd normal an. Gemeinsam verließen sie den DA-Raum und gingen in die Bibliothek.
Die nächste Woche war für Harry noch immer hart, aber es ging ihm besser als in der Woche zuvor. Sie besuchten Arthur, Percy und Mad-Eye nun schon weniger häufig und auch unregelmäßiger, da es allen dreien langsam immer besser ging und vor allem Arthur nun auch endlich wieder fähig war zu sprechen, worüber sich Molly über alles freute. Inzwischen hatte sich Arthur auch persönlich bei Harry bedankt und sich sogar mit Percy wieder richtig versöhnt.
In dieser Woche beschloß Harry, intensiv mit seinen engsten Freunden über seine Stimmungen und Gefühle zu sprechen, und sie hörten ihm immer geduldig zu. Auch mit Neville und Ginny sprach er mehrmals, die ihm das gleiche Angebot wie Ron und Luna gemacht hatten. Dankbar nutzte er diese Möglichkeit, die sich ihm so bot, und redete sich den Frust und die Ängste von der Seele, die ihn sonst aufzufressen drohten. Zwar war er noch immer kaum in der Lage, sich über irgend etwas zu freuen, doch zeigte er überhaupt wieder Emotionen, was Luna als großen Fortschritt begrüßte. Trotz dieser Fortschritte verteilte er mehr und mehr der Verantwortung auf die Schultern der anderen. Für den Fall, daß es ihn einmal erwischen sollte, wollte er einen funktionierenden Kopf für die DA zurücklassen, damit sie nicht von der einen zur anderen Sekunde führungslos würden und sich dann nicht schnell genug eine neue Leitung herausbilden könnte.
Dabei wuchs Ginny beinahe nahtlos in Hermines Rolle, wobei es ihr sehr zugute kam, daß sie nicht nur eine ausgezeichnete Schülerin war, die Hermine in kaum etwas nachstand, sondern auch höchst talentiert war, was die Magie selbst anging. Ron und Luna stachen zwar vom reinen Talent her nicht aus den anderen Mitgliedern der DA heraus, doch sie waren von allen respektiert, und man vertraute ihnen voll und ganz. Zudem waren sie überaus lernfreudig und konnten selbst gut Wissen weitergeben, auch wenn Harry nie geglaubt hätte, diese Wörter jemals mit Ron in Verbindung bringen zu können. Ferner war Ron ein gewiefter Taktiker, was nicht nur durch sein Wissen über Quidditch geprägt wurde, sondern auch durch seine Erfahrungen und Fähigkeiten auf dem Schachbrett. Daneben war er einer der wenigen, die tatsächlich Kampferfahrung hatten, und das war auch ein Punkt, der Luna sehr viel Respekt einbrachte. Ron, Neville, Luna und Ginny waren mit ihm und Hermine zu Sirius' vermeintlicher Rettung in die Mysteriumsabteilung geeilt, und vor einer Woche hatte Harry der kompletten DA von diesem Abend erzählt. Obwohl es eigentlich ein einziges Fiasko gewesen war, hatten das die DA-Mitglieder durchaus anders empfunden. Sie hatten es als überaus mutig angesehen, mit Harry mitzugehen, auch wenn es sich später als Falle herausgestellt hatte. Zu seiner Überraschung hatte auch von der DA niemand einen Vorwurf an ihn gerichtet, sondern ein jeder einzelne hatte ihm auch für die Zukunft seine volle Unterstützung angeboten.
Besonders William ragte aus der Menge heraus. Der Slytherin war für viele noch immer ein kleiner Fremdkörper, doch Harry hatte ihn voll akzeptiert, und da er überraschend gut war, nicht nur was Talent, sondern auch Wißbegierde anging, schob er auch ihm ein wenig Verantwortung zu. Beinahe war Harry soweit, von Freundschaft zu reden, obwohl er nie geglaubt hatte, so etwas jemals mit einem Slytherin schließen zu können.
Er und auch viele der anderen sagten ihm, sie hätten in der Situation, in der er damals mit Sirius gesteckt hatte, genau das gleiche gemacht, und kein einziger kritisierte ihn für das Vergessen des Zweiwegespiegels. Dieser Vertrauensbeweis war für Harry eine unglaublich wichtige Sache gewesen, von der er zehren konnte.
Am Montag, den elften November bat Dumbledore Harry nach dem Abendessen in sein Büro. Im ungewissen, was dieser wollte, hoffte Harry schon auf Neuigkeiten über Hermine, doch leider wurde diese schon mit dem ersten Satz seines Schulleiters zerstört:
»Professor Snape hat eine gute Möglichkeit gefunden, die Schüler des Hauses Slytherin zuverlässig und vollständig von Hogwarts fortzubringen, ohne damit Verdacht zu erregen.«
Harry mußte vor Enttäuschung den Kopf schütteln. »Wie kann er das?« fragte er ohne ein echtes Interesse, was wohl Dumbledore nicht entgangen war. Es dauerte eine Weile, ehe er weiter sprach, und in der Zwischenzeit schien er Harry zu fixieren.
»Ich weiß, daß die momentane Situation für dich die schwierigste ist, welche du in deinem ohnehin schon stark gebeutelten Leben bewältigen mußt, doch solltest du immer aufgeschlossen für neue Informationen bleiben.« Er bildete mit seinen Fingern ein Spitzdach.
»Sir, ich verstehe, was Sie mir sagen wollen, doch ist dies eine Information, welche mich höchstens am Rande tangiert. Wenn Sie mir dies wie allen anderen mitgeteilt hätten, dann wäre mir eine Enttäuschung erspart geblieben.«
»Ich weiß, daß deine Hoffnung einer Information über Hermines Aufenthaltsort galt, doch sollten wir uns allmählich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, daß sie vielleicht nicht mehr zu uns zurückkehren wird«, sagte Dumbledore, und Harry spürte genau, daß jener seine Stimme möglichst sanft klingen lassen wollte. Zunächst wollte er darauf nicht eingehen, doch dann plötzlich packte ihn ein Zorn, wie er ihn nur selten erlebt hatte.
»Sir, bei allem gebotenem Respekt. Sie hat mich niemals aufgeben, und ich konnte immer auf sie zählen. Wie kann ich sie da jemals aufgeben? Solange es noch die kleinste Hoffnung gibt, und die gibt es genau solange, wie – um es mit Rons Worten zu sagen – ich ihre kalte Leiche nicht in meinen eigenen Händen halte, und selbst dann muß ich sicher sein können, daß nicht Vielsafttrank oder etwas ähnliches zur Anwendung kam, werde ich durchhalten. Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben und bereit sein, wofür auch immer«, schrie Harry ihn beinahe an. Dumbledore schien von Harrys Worten ein wenig überrascht zu sein, doch dann lächelte er unmerklich, während es noch einen Moment dauerte, ehe er seinen Mund öffnete.
»Nichts anderes habe ich von dir erwartet«, sagte er schließlich und erhob sich zu Harrys Verwunderung. Er ging um seinen Tisch herum und setzte sich auf den freien Platz neben Harry. Sanft legte er seine Hand auf dessen Schulter und sah ihm einige Augenblicke lang direkt in die Augen. »Professor Snape wird Anfang Dezember mit allen Schülern seines Hauses für einen Monat nach Durmstrang reisen. Er wird mit ihnen an einem Wettkampf ähnlich dem Trimagischen Turnier teilnehmen. Es handelt sich genau gesagt um einen Wettkampf im Brauen von Zaubertränken. Es ist Professor Snape gelungen, dies als Voldemorts eigene Idee zu präsentieren, selbst Voldemort gegenüber. Aus diesem Grunde werden weder er noch sonst einer seiner Untergebenen Verdacht schöpfen. Es sieht bisher alles sehr gut aus für unseren Versuch, ihn darüber im dunklen zu lassen, daß wir seine Angriffspläne längst kennen. Auch die Schüler des Hauses Slytherin werden keinen Verdacht schöpfen, wenn alles wie geplant verläuft. Ich werde das Ganze morgen früh verkünden, und es wäre vorteilhaft, wenn du eine überraschte Miene aufsetzen könntest.« Dumbledore lächelte und zwinkerte ihm zu. Harry mußte anerkennen, daß es tatsächlich eine glaubwürdige Möglichkeit war, die Slytherins loszuwerden.
Auf dem Weg zurück zum Gemeinschaftsraum dachte er noch einmal über seinen kurzen Ausbruch gegenüber seinem Schulleiter nach. Natürlich war auch ihm klar, daß wahrscheinlich einmal der Tag kommen würde, an dem er die Hoffnung aufgeben mußte, auch wenn er nicht ihre Leiche in seinen Händen halten sollte, doch war es noch lange nicht soweit. Noch siegte an jedem verdammten Morgen die Hoffnung auf ihre Rückkehr, und Harry würde alles dafür tun, daß es auch noch lange so bleiben würde. Er betrat den Gemeinschaftsraum durch das Portrait und setzte sich zu Ron und den anderen. Sofort erzählte er ihnen von Dumbledores Plan.
»Das kommt mir gelegen: einen Monat ohne Malfoy. Was könnte uns jetzt Besseres passieren«, freute sich Ron und bereute es sofort sichtlich. Harry wußte auch, warum er es bereute. Natürlich wäre Hermines Rückkehr das Beste gewesen, wie auch Ron sofort selbst bemerkte und ihn deshalb schuldbewußt anblickte.
»Ist nicht schlimm. Malfoy loswerden, das ist ja wirklich gut«, sagte Harry schnell, bevor sich Ron in Bedrängnis sah, sich für seine Äußerung entschuldigen zu müssen, was zu den Sachen gehörte, die er nicht wirklich gut beherrschte.
»Dann gehen auch William und Scott?« fragte Ginny.
»Werden wohl müssen«, antwortete Harry.
»Dann sollten wir überlegen, wie wir in Kontakt bleiben können. Vielleicht können sie uns in letzter Sekunde noch wichtige Informationen geben, oder wir müssen ihnen noch dringend etwas mitteilen«, riet Luna.
»Kluger Gedanke«, erwiderte Harry und lächelte kurz. Tatsächlich war Luna wirklich klug, und damit war klar, warum sie in Ravenclaw gelandet war, anstatt mit ihrer Spleenigkeit in Hufflepuff zu enden.
»Darum kümmere ich mich«, sagte Ron überraschend und lächelte.
»Du willst Recherche betreiben?« fragte Harry ein wenig verblüfft.
»Wenn du glaubst, daß ich gegen Bücher oder die Bibliothek allergisch bin, dann täuschst du dich gewaltig. Es könnte zwar eine Weile dauern, aber ich werde was finden«, erwiderte Ron und grinste spitzbübisch.
Am nächsten Morgen verkündete Dumbledore beim Frühstück die Neuigkeiten. Wie nicht anders zu erwarten, jubelte der Slytherin-Tisch, als ob sie den Quidditch- und den Hauspokal am gleichen Tag gewonnen hätten. Malfoy feixte ununterbrochen in Harrys Richtung, der die gleiche mißgelaunte Miene aufsetzte wie Ron. Sechsmal traf Harry an diesem Tag noch auf Malfoy, und sechsmal erinnerte er ihn daran, daß er nach Durmstrang durfte, während Harry hierbleiben mußte. Mit jedem Mal wurde es für Harry schwieriger, den Frustrierten zu spielen, auch wenn es für die Rolle notwendig war. Glücklicherweise war Ron beim letzten Zusammentreffen nach dem Abendessen dabei, übernahm die Rolle des angefressenen Verlierers mit Vergnügen und gab die beste Antwort, die er geben konnte, indem er voll dagegenhielt, was der ganzen Angelegenheit mehr Glaubwürdigkeit verlieh.
»Natürlich freuen für uns für dich, dafür, daß du nach Durmstrang darfst. Dann sehen wir dich einen Monat lang nicht und müssen deine stinkende Visage nicht ertragen. Zudem müssen wir deinen fetthaarigen Hauslehrer einen Monat lang nicht über uns ergehen lassen, und Weihnachten können wir auch zu Hause verbringen. Ihr dagegen werdet alle in einem häßlichen Schloß rumhängen und euch zu Tode langweilen!« stichelte Ron. Für nur einen Moment dachte Harry, Ron hätte es ein wenig übertrieben, doch dann kam die Reaktion, die Harry sich erhofft hatte.
»Dann muß ich auch deine Versagervisage nicht ertragen und eure zickige und häßliche alte Schachtel von Hauslehrer. Zudem muß ich meine Weihnachtsferien nicht in diesem stinkenden Loch verbringen oder gar zu meiner zwanzigköpfigen Familie in das Dreiraumhaus zurückkehren, welches ich Zuhause nennen muß, so wie Du, Weasley«, erwiderte Malfoy und lachte dreckig.
Innerlich lachte auch Harry, äußerlich zeigte er einen Hauch von Zorn, der glaubwürdig genug für Draco Malfoy war. Eigentlich hätte diesem klar sein müssen, daß Harry im Moment – da Hermine noch immer entführt war – ohnehin nicht einfach so nach Durmstrang gereist wäre, um dort an einem unwichtigen Turnier teilzunehmen, aber dafür war er nicht aufmerksam genug. So waren am Ende alle zufrieden. Malfoy war glücklich damit, Harry und die anderen aufziehen zu können, und Harry war zufrieden, Malfoy los zu sein und mit ihm auch die ganze Bande von Slytherins, die ihnen hätte gefährlich werden können.
Auch die nächsten Tage versuchte Malfoy es noch einige Male, doch schien es ihn selbst immer mehr zu langweilen. Statt dessen ging er jetzt wieder dazu über, Harry mit Hermines Entführung aufzuziehen, was diesen auch tatsächlich viel mehr schmerzte, was er aber trotzdem geduldig über sich ergehen ließ, ohne Malfoy dafür an die Gurgel zu springen, wie er es am liebsten getan hätte.
Am Samstagmorgen bat Dumbledore Harry dann erneut in sein Büro.
»Schön, daß du gekommen bist, Harry«, sagte er, zeigte auf den linken Stuhl vor seinem Schreibtisch, auf dem dieser Platz nahm.
»Gibt es etwas Neues?« fragte Harry, doch sagte ihm bereits der Gesichtsausdruck des alten Mannes vor ihm, daß es ziemlich sicher keine Neuigkeiten gab, nicht einmal schlechte Nachrichten.
»Inzwischen ist seit Hermines Entführung schon beinahe ein Monat vergangen, und aus diesem Grund habe ich beschlossen, mit ihren Eltern zu sprechen. Ich werde heute nachmittag mit einem Portschlüssel zu ihnen reisen, und ich wollte dir die Gelegenheit geben, mit mir mitzukommen … Du mußt dich nicht sofort entscheiden, gib mir einfach beim Mittagessen Bescheid.«
»Was wollen Sie ihnen sagen?« fragte Harry, da er nicht wußte, was er sonst sagen sollte. Es kam ihm irgendwie unwirklich vor, so … endgültig, wenn Dumbledore persönlich mit Hermines Eltern reden wollte.
»Ich werde ihnen mitteilen, daß wir noch immer keine Informationen über Hermines Verbleib haben, und ich werde ihnen mitteilen, daß mit jedem weiteren Tag die Wahrscheinlichkeit schwindet, sie lebend wieder zu sehen. Auch wenn ich es ihnen nicht sagen will, so bin ich es ihnen doch schuldig. Sie haben sich darauf verlassen, ihre Tochter in sichere Obhut zu geben, und ich konnte sie nicht gewährleisten. Ich sehe dir an, daß du das nicht willst, doch bleibt mir keine Wahl«, sagte Dumbledore, während er Harrys entsetztem Blick standhielt.
»Das können Sie nicht tun!« war alles, was Harry herausbekam. Minutenlang saßen sie schweigend da, und minutenlang hofften wohl beide, der andere möge einfach seine Meinung ändern, doch war dies keinem von beiden möglich.
»Das können Sie nicht tun«, wiederholte Harry irgendwann leise, doch Dumbledore zeigte keine Regung. »Wenn Sie ihnen das sagen, dann …« Harry konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Ihm fiel einfach keine passende Drohung ein, mit der er das erreichen konnte, was er erreichen wollte.
»Ich werde ihnen genau das sagen. Das ist der Grund, warum ich dir die Gelegenheit gebe, mit mir zu kommen. Du kannst ihnen sagen, daß du nicht aufgibst, daß du niemals aufgeben wirst«, erwiderte Dumbledore und zeigte noch immer keine Gefühlsregung.
»Ich kann das nicht.« Harry bekam feuchte Augen. Es war ihm so peinlich, und er versuchte sie zurückzuhalten, doch er spürte genau, daß er gleich anfangen würde zu weinen.
»Was kannst du nicht?«
»Ihnen unter die Augen treten«, erwiderte Harry leise.
»Warum kannst du das nicht? Sie geben dir keine Schuld, und du hast ihnen doch auch schon geschrieben.«
»Das war etwas anderes. Es waren erst ein paar Tage … es war nur ein Brief«, schluchzte Harry.
»Das ist nichts anderes. Es sind die Eltern deiner besten Freundin. Sie müssen mit einem schmerzlichen Verlust klarkommen, und dir geht es nicht anders. Vielleicht könnt ihr euch dabei ein wenig helfen«, sagte Dumbledore und blickte weiter fest in Harrys Augen.
Harry wußte nicht, was er tun sollte. Noch immer gab er sich die Schuld an Hermines Entführung, und er wußte nicht, wie er ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten sollte. Sein Kopf wehrte sich nach Kräften gegen diesen Vorschlag, doch sein Herz sagte ihm ununterbrochen, daß er es tun sollte. Vielleicht hatte Dumbledore tatsächlich recht, und man würde sich gegenseitig helfen, damit umzugehen, auch wenn Harry schon heute eine Sache wußte: niemals würde er darüber hinweg kommen.
»Ich komme mit«, sagte er schließlich nach einiger Zeit beinahe flüsternd. Sein Herz hatte gesprochen. Dumbledore nickte still und sah Harry dann beruhigend an.
»Drei Uhr, hier im Büro. Das Paßwort lautet dann Erdbeersorbet.«
Harry erhob sich und verließ mit noch immer feuchten Augen das Büro. Er schloß die Tür und setzte sich auf die Treppe. Er wollte sich unbedingt erst erholen, ehe er sich wieder unter Menschen wagen konnte, wäre es ihm doch nur zu unangenehm, wenn er Malfoy so verheult begegnen würde.
Obwohl es bis drei Uhr kaum fünf Stunden waren, schien ihm diese Zeit endlos vorzukommen. Er versuchte mit den anderen zu lernen, doch fehlte ihm die nötige Konzentration dafür. Er hatte niemandem etwas davon gesagt, warum, wußte er nicht, doch war es ihm so einfach lieber gewesen. Natürlich bemerkten Ginny und Luna seinen Zustand, doch zu seiner Erleichterung verzichteten sie nach einem kurzen Blickkontakt mit ihm darauf, auch Ron und Neville darauf aufmerksam zu machen.
Pünktlich um zehn vor drei verschwand Harry aus der Bibliothek und machte sich auf den Weg zurück in Dumbledores Büro. Rechtzeitig war er da, und Dumbledore schien wohl nur noch auf ihn zu warten. Er hatte eine alte Weinflasche in einen Portschlüssel verwandelt und hielt ihn Harry schon entgegen.
»Keine Sekunde zu früh«, sagte Dumbledore zur Begrüßung mit einem Anflug von einem Lächeln, doch danach war Harry nun wirklich nicht zumute.
»Alles, was zählt, ist, daß ich hier bin«, erwiderte Harry, und Dumbledore nickte.
»Bist du bereit?« fragte er, und Harry legte seine Hand auf den Portschlüssel. Einen Schwenk von Dumbledores Zauberstab später spürte Harry das Reißen am Bauchnabel und fand sich nur Augenblicke später in einem Haus wieder, das ihm sofort vertraut vorkam. Sie standen im Flur, direkt neben der Haustür, und konnten schon ins Wohnzimmer blicken. Dort am Tisch saßen zwei Menschen, die er kannte, und sie erhoben sich, kaum daß sie ihn und seinen Schulleiter bemerkten.
»Schön, daß Sie gekommen sind«, sagte Hermines Mutter und kam mit einem etwas künstlichem Lächeln auf sie zu. Ihr Vater lächelte nicht und blieb am Tisch stehen, auf dem vier Kaffeetassen standen und ein kleiner Teller mit ein paar Keksen. »Kommen Sie, setzen Sie sich doch«, lud Katherine Granger sie ein und schüttelte Dumbledores Hand zur Begrüßung. Danach umarmte sie Harry herzlich und drückte ihn noch fester, als Molly Weasley es je getan hatte. Diese überraschende Umarmung, so schön und herzlich sie war, bedeutete für Harry gleichzeitig die Hölle auf Erden. Es war unglaublich schwer für ihn, sich nicht daraus zu befreien und einfach aus dem Haus zu rennen.
»Ich danke Ihnen, daß ich kommen durfte«, erwiderte Dumbledore und betrat nun das Wohnzimmer.
Hermines Mutter ließ von ihm ab und folgte Dumbledore ins Wohnzimmer. Nur langsam folgte Harry ihr. Hermines Vater schüttelte die Hand von Dumbledore und warf schon währenddessen einen Blick auf Harry. Als Dr. Granger ihm ein kurzes Lächeln schenkte, war Harry völlig perplex. Unfähig, sich zu bewegen, starrte er den Vater seiner Freundin an, ehe dieser zu Harry herüberkam und ihn ebenfalls umarmte.
»Setz dich, Harry«, sagte Dr. Granger und kehrte an seinen Platz zurück, wo er sich neben seine Frau setzte. Harry ging langsam zum Tisch und nahm den beiden gegenüber neben Dumbledore Platz. Dieser begann nun zu sprechen, doch Harry bekam nur ein paar Wortfetzen mit. Er wollte das alles nicht hören und war dankbar, es irgendwie ausblenden zu können. Er hörte ihn davon sprechen, daß Hoffnung gut sei, doch irgendwann die Zeit komme, wo die Hoffnung vergehe, und man sich dann keine Vorwürfe machen solle und ähnliches. Harry versuchte in der Zeit, die Grangers zu beobachten, um vielleicht dahinterzukommen, was sie dachten und fühlten. Es war für ihn nicht leicht, doch glaubte er bei Hermines Mutter ungebrochene Hoffnung zu entdecken, während ihr Vater wohl der rationalere von beiden war, der logisch an die Geschehnisse herantrat und sich vielleicht sogar schon damit abgefunden hatte, was er aber vor seiner Frau wohl niemals zugeben würde. Als ihn Hermines Mutter direkt in die Augen blickte und sich ihr Mund bewegte, fühlte sich Harry angesprochen, und er konzentrierte sich wieder auf die Stimmen.
»Alles in Ordnung?« fragte Hermines Mutter. Was sollte er auf diese Frage antworten. Natürlich war nichts in Ordnung, doch war es wohl nicht das, was sie meinte. Gedanken kamen Harry plötzlich in den Sinn, und Sätze bildeten sich. Er brauchte nur noch den Mund zu öffnen und sie herauszulassen.
»Ich möchte Ihnen etwas sagen. Das ist der eigentliche Grund, warum ich hier bin. Ich wollte mich persönlich dafür entschuldigen, daß Hermine durch mich und ihre Freundschaft zu mir schon so oft in Lebensgefahr war und sie nun vielleicht tatsächlich mit dem Leben bezahlen mußte. Es tut mir so schrecklich leid, wie sich das alles entwickelt hat, und ich möchte Ihnen sagen, daß ich alles tun würde, um es ungeschehen zu machen. Ohne zu zögern, würde ich mein Leben für das ihre geben, doch wird es dazu wohl leider nicht mehr kommen können. Vielleicht ist sie wirklich schon tot und kann hoffentlich in Frieden ruhen, doch ich werde die Hoffnung niemals aufgeben. Ich werde die Hoffnung niemals verlieren, sie noch einmal lachen zu sehen, und dafür lebe und trainiere ich. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, und werde nicht eher ruhen können, bis ich es geschafft habe. Ich hoffe, Sie verstehen, wenn ich jetzt gehen möchte.« Er wischte sich eine einzelne Träne von seiner Wange und erhob sich. Hermines Mutter begann nun ebenfalls zu weinen und wurde sofort von ihrem Mann in den Arm genommen. Diese Szene wirkte unwirklich auf Harry. Noch immer glaubte er, daß ihm Dr. Granger jeden Moment an die Kehle springen müßte oder ihn zumindest verbal angreifen wurde, doch beides blieb aus. Harry verließ das Wohnzimmer und stand nun wieder im Flur. Einen Moment später erhob sich auch Dumbledore und kam zu ihm.
»Bist du sicher, daß du alles gesagt hast?« fragte er ihn und bekam ein Kopfnicken als Antwort. Dumbledore zog die Weinflasche aus seinem Umhang und hielt sie Harry hin. »Bis bald«, rief Hermines Mutter ihnen noch zu, Harry lächelte sie einen Moment lang an und schon waren die beiden wieder auf dem Rückweg. Die Landung in Dumbledores Büro war ein wenig ungestümer, und Harry konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
»Wie geht es dir jetzt«, fragte Dumbledore und nahm an seinem Schreibtisch Platz.
»Wollen Sie die Wahrheit hören?« fragte Harry unsicher klingend.
»Ich bevorzuge immer die Wahrheit«, erwiderte Dumbledore.
»Nun, dann ist beschissen die Antwort. Trotzdem bin ich froh, mitgegangen zu sein. Es mußte gesagt werden, und ich habe es gesagt. Ich würde jetzt gern gehen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Harry das Büro. Ziellos schlenderte er durch das Schloß, ehe er sich entschied, nach draußen zu gehen.
Obwohl es kalt war und er keine angemessene Kleidung trug, machte ihm das Frieren nichts aus. Ganz im Gegenteil genoß er dieses Gefühl doch sehr, wußte er dadurch doch, daß er noch immer am Leben war. Qualm stieg aus Hagrids Schornstein, und er beschloß, ihn besuchen zu gehen. Hagrid war einer seiner besten Freunde, und trotzdem hatte er sich seit Hermines Entführung mehr oder weniger komplett von ihm zurückgezogen. Zwar sahen sie sich noch immer während seines Unterrichtes, an dem sich Harry sogar rege und fleißig beteiligte, doch blieb dort meist keine Zeit für das eine oder andere private Gespräch. Ein wenig unsicher klopfte Harry an die Tür. Fang, Hagrids Saurüde, bellte sofort und wurde durch den Riesen zur Ordnung gerufen.
»Komm doch rein«, lud Hagrid ihn ein, kaum daß er die Tür geöffnet hatte. Still betrat Harry die gemütliche Hütte und setzte sich an den Tisch. »Ich mach' uns 'nen Tee.« Hagrid begann die Tassen vorzubereiten und setzte das Wasser auf.
»Tut mir leid, daß ich solange nicht hier war«, sagte Harry und starrte seine Finger an.
»Muß dir nich' leid tun.«
Fang verließ seinen großen Korb und kam zu Harry getrottet, der instinktiv begann, ihn am Kopf zu kraulen.
»Es tut mir trotzdem leid«, erwiderte Harry nach einer längeren Zeit des Schweigens.
»Gibt nich'n geringsten Grund«, beruhigte ihn Hagrid und stellte zwei Tassen dampfenden Tees auf den Tisch. Hagrid setzte sich auf seinen Stuhl und blickte Harry an. »Muß noch zieh'n«, meinte er, als Harry die Teetasse anblickte.
»Ich weiß.«
»Mir fehlt Hermine auch, und ich versteh', daß du nich' drüber reden gewollt hast.«
»Ich denke, Dumbledore hat sie aufgegeben.« Er flüsterte nur.
»Und wenn schon«, erwiderte Hagrid sofort und mit kräftiger Stimme.
»Was meinst du?«
»Is' doch egal, was andere denken. Zählt nur, was du denkst«, sagte er und lächelte.
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte Harry, glaubte aber nicht so richtig daran. Für ihn spielte es schon eine Rolle, was jemand wie Dumbledore dachte. Malfoy oder andere waren ihm egal, aber Dumbledore – er war einfach etwas anderes.
»Nich' vielleicht, ganz sicher hab' ich recht!« bekräftigte Hagrid mit fester Stimme. Harry wollte daran glauben, und jedes Mal, wenn Hagrid es sagte, glaubte er mehr daran, doch noch war er nicht überzeugt. »Ich glaub' auch, sie kommt zurück.« Dabei sah ihn Hagrid mit großen Augen an.
Tränen bildeten sich in Harrys Augen. Noch nie hatte ihm Hagrid so etwas Wichtiges und gleichzeitig so Schönes gesagt. »Wirklich? Du sagst es nicht nur so?« fragte Harry unsicher.
»Nee. Die kommt zurück, bin ich ganz sicher!« sagte Hagrid und begann nun seinen noch heißen Tee zu trinken.
Voller Dankbarkeit sah Harry ihn an, seinen fast drei Meter großen Freund, der ihn überhaupt erst in diese Welt geholt hatte. Manchmal hatte er ihn still dafür verflucht, immer wenn er oder andere seinetwegen in Gefahr geraten waren, doch andererseits liebte er ihn fast dafür. Er hatte ihn von den Dursleys weggeholt, aus der Familie, die keine war, und war sein erster Freund geworden, noch vor Ron oder Hermine. Er nahm ihn so, wie er war, ohne Fragen zu stellen, und hielt immer fest zu ihm. So groß der Riese war, so sanftmütig und gutgläubig war er, was einen liebenswerten Kontrast bildete. Wer Hagrid kannte, der mochte ihn auch, sofern er überhaupt in der Lage war, andere Menschen zu mögen. Sie sprachen noch zwei Stunden, und sie erinnerten sich gemeinsam an die schönen Tage mit Hermine und auch an die weniger schönen, doch immer spielte sie eine Rolle in ihren Erinnerungen. Sie machten sich gegenseitig Mut, sie trösteten sich und beide fühlten sich danach in ihrem Glauben bestärkt und voller Zutrauen.
Eine halbe Stunde vor dem Abendessen betrat Harry das Schloß und wußte nun nicht so recht, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Weil er auch schon lange nicht mehr bei Hedwig gewesen war, beschloß er, bei ihr vorbeizusehen, um ihr zu zeigen, daß er sie nicht gänzlich vergessen hatte. Zu seinem Erstaunen war Hedwig offensichtlich nicht böse auf ihn, knabberte sie doch liebevoll an seinem Ohrläppchen und ließ sich bereitwillig streicheln. Die Zeit bis zum Abendessen verging schnell. Harry verließ eine zufriedene Hedwig und begab sich dann hinunter in die Große Halle, in der schon viele der anderen Schüler beim Essen waren. Ron und die anderen waren noch nicht da, und so nahm Harry erst einmal allein am Tisch Platz. Er mußte nicht lange auf die anderen warten und hatte sich noch nicht einmal komplett den Teller gefüllt, ehe Ron schon neben ihm saß.
»Wo warst du den ganzen Nachmittag?« fragte er und blickte ihn interessiert an.
»Erst bei Hermines Eltern, dann bei Hagrid und am Schluß bei Hedwig. Was habt ihr gemacht?« fragte Harry zurück und biß ein Stück von seiner Brotscheibe ab.
»Was sollen wir schon gemacht haben?« gab Neville grinsend zurück, der Harry gegenüber saß.
»Laß mich raten«, begann Harry und tat so, als müsse er nachsinnen, »ihr habt gelernt!«
»Du bist sehr gut. Verstehe nicht, warum du bei Trelawney immer so schlecht abgeschnitten hast«, sagte Ron schmunzelnd.
»Weil es bei ihr um Todesomen ging, und darin bin ich nicht so gut«, erwiderte Harry und biß wieder ein Stück seines Brotes ab.
»War es schlimm bei ihren Eltern?« fragte Luna, die mal wieder am Gryffindor-Tisch saß.
»Ja, das war es … aber es mußte sein.«
»Möchtest du darüber reden?« Ginnys Stimme klang besorgt.
»Nicht jetzt. Später vielleicht«, erwiderte Harry und trank nun einen Schluck Orangensaft.
»Was wollen wir mit dem Rest des Abends machen?« fragte Neville.
»Lernen«, sagte Ginny und gab ihm einen Kuß auf die Wange.
»Hey, ich esse hier«, protestierte Ron, der das beobachtet hatte. Luna ließ sich den Spaß nicht nehmen und gab daraufhin Ron einen Kuß auf die Wange, der sofort rot anlief.
»Hey, ich esse hier«, rief nun Harry, der sich diesen Kommentar einfach nicht verkneifen konnte. Ginny und Neville fingen an zu kichern, was Ron erst recht auf die Palme brachte. Er wollte gerade zu einer geharnischten Rede ansetzen, doch Luna besänftigte ihn kichernd mit einem zweiten Kuß, diesmal auf den Mund.
»Hey, ich esse hier«, rief Harry erneut, und nun fingen alle an zu lachen. Obwohl ihm Hermine gerade in diesen Situationen besonders fehlte, schaffte er es immer noch irgendwie, weiterzumachen.
Nach dem Essen gingen sie bis neun Uhr in die Bibliothek und lernten, ehe sie in die Gemeinschaftsräume mußten und Luna in den ihren zurückkehrte. Tatsächlich hatte Ron schon mit der Suche nach Kommunikationsmöglichkeiten begonnen, war aber bisher noch nicht so recht fündig geworden. Die meisten von ihm entdeckten Sachen funktionierten nur auf kurze Entfernung, waren selbst für Harry zu kostspielig oder schlicht und ergreifend viel zu kompliziert und noch untauglicher als Eulenpost.
Am nächsten Tag sprach er mit Luna über den Besuch bei Hermines Eltern, und wieder einmal konnte er sich an ihrer Schulter ausweinen, ohne das geringste Gefühl von Scham zu spüren.
