Disclaimer: Nichts an dieser Geschichte gehört mir, außer dem Plot. Alle originalen Charaktere und Schauplätze die aus dem HP-Universum entnommen sind, gehören J. K. Rowling oder Warner Bros. oder wem auch immer. Ich mache damit kein Geld.

Kapitel 9 – Dreifacher Aufbruch

Sie nahmen die Straße nach Norden und legten ein gutes Tempo vor, da sie schließlich ein paar Minuten im Verzug waren. Sie sprachen nicht besonders viel auf dem Wege zum Treffpunkt, was aber daran lag, daß sie sich zu konzentrieren versuchten. Der Weg selbst verlief für die fünf ohne Zwischenfälle, da sie zu dieser Uhrzeit fast keinem Bewohner der Stadt begegneten. Viertel vor drei bogen sie um eine Ecke und kamen zu einem kleinen Park, den Harry als Treffpunkt ausgesucht hatte.

»Nicht sehr unauffällig«, grummelte Harry, als er die fast sechzig Mann große Gruppe erblickte, die um den Fahrenden Ritter herum versammelt war. Innerlich schüttelte er den Kopf, doch was sollte er anderes erwarten.

»Da kommt Harry«, rief jemand, und fast alle Augen richteten sich auf die Neuankömmlinge.

»Ich kümmere mich um den Ritter, schaff du die Gruppe in den Park«, sagte Harry zu Ron, der ihm zunickte, und begab sich zu dem Bus. Auf dem Trittbrett saß Stan Shunpuke, der Schaffner, und erhob sich, als Harry sich ihm bis auf zehn Meter genähert hatte.

»Alles paletti, 'Arry Potter? Woll'n wa loslegen?« fragte Stan und streckte ihm zur Begrüßung die Hand hin.

»Tut mir leid, Stan. Ich muß absagen. Wir haben uns anders entschieden und deshalb benötigen wir eure Dienste heute nacht nicht mehr. Habt aber Dank, daß ihr hier gewartet habt«, erwiderte Harry und reichte ihm einen kleinen Beutel mit Geld.

»Das is' zuviel«, erwiderte Stan, nachdem er einen Blick hinein geworfen hatte.

»Stimmt so.«

»Schade, daß du dies Jahr nicht mit uns fahr'n tust, da sieht man's mal wieder, nich'? Vielleicht ja'n andermal«, verabschiedete sich Stan lächelnd und stieg in den Bus.

Harry trat einen Schritt zurück, als der Ritter losfuhr. Der Bus verschwand mit einem Knall, und Harry blickte sich kurz in der Gegend um. Er wollte sicherstellen, daß sie nicht zuviel Aufmerksamkeit erregt hatten, und begab sich dann in den Park, um zu den anderen zu stoßen. Die große Gruppe stand auf einer nur vom Mondlicht beleuchteten Wiese und wartete auf Harrys Rückkehr. Obwohl sie sich scheinbar angeregt unterhielten, vernahm Harrys nicht das geringste Wort, bis er sich bis auf zwei Meter genähert hatte. Schallzauber, dachte er bei sich und spürte wieder einen gewissen Stolz. Zwar würde es merkwürdig aussehen, wenn sechzig junge Leute in Umhängen auf einer Wiese standen und kein Ton von ihnen zu hören war, doch wäre es noch merkwürdiger, wenn man vernehmen könnte, wie sie sich über eine große Schlacht unterhalten würden, die kurz bevorstand.

Harry bahnte sich seinen Weg in die Mitte, und sofort verstummte das Gespräch, und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn. Harry begann eine kleine Ansprache und erläuterte ihnen die Planänderung bezüglich des Transports nach Hogwarts.

Hermine legte den Brief auf ihr Bett, den sie soeben gelesen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen und ein unheimlich warmes Gefühl im ganzen Körper, welches sich von ihrem Herzen ausgehend verbreitet hatte. Sie war so unglaublich erleichtert, aber sie war gleichzeitig auch überaus angespannt. Dieser Brief, der nun auf ihrem Bette lag, war von Harry an sie geschrieben worden und überraschenderweise auch bei ihr angekommen. Jedoch hatte nicht Harry ihn abgeschickt, sondern sein bester Freund Ron hatte ihn mit Pigwidgeon zu ihr bringen lassen, soviel hatte sie inzwischen begriffen. Dreimal hatte sie diesen Brief bereits gelesen und konnte es noch immer nicht glauben.

Pig saß auf ihrer Schulter und gab keinen Mucks von sich, hatte überhaupt noch kein einziges Geräusch von sich gegeben. Selbst um sie aufzuwecken, war Pig nur still auf ihrem Gesicht herumgehüpft, fast so, als ob er gewußt hätte, daß er keinen Lärm machen durfte. Die winzige Eule war ein kleines Rohr hinuntergeflogen, das so eng war, daß keine andere Eule je dort hindurchgepaßt hätte. Aufgeregt blickte Hermine sich in ihrer fensterlosen Kammer um und konnte ihr Glück noch immer nicht fassen. Nicht nur, daß sie nicht ein einziges Mal in den fast zwei Monaten ihrer Gefangenschaft gefoltert worden war, nun erhielt sie sogar noch einen Brief von ihrem besten Freund, in dem er ihr seine unendliche Liebe offenbarte und ihr deutlich vor Augen führte, wie sehr er sie vermißte. Hermine war sich zwar auch vorher schon im klaren darüber gewesen, daß sie ebenfalls mehr als nur starke Gefühle für ihn empfand, doch erst jetzt, hier mit diesem Brief, gestand sie es sich auch selbst endlich ein. Sie liebte Harry James Potter. Sie liebte ihn so sehr, wie ein Mensch überhaupt nur einen anderen Menschen lieben konnte, und nichts würde diese Tatsache jemals ändern können.

Schon während ihrer zweimonatigen Gefangenschaft hatte sie ihn so sehr vermißt, daß es ihr körperliche Schmerzen bereitete; doch nun war die Zeit gekommen, in der sie alles würde riskieren müssen, um ihn vielleicht doch noch einmal in Freiheit wiedersehen zu können. Sie würde alles dafür tun … sie würde alles für ihn tun. Wieder warf sie einen Blick auf den Brief. Ron hat ihn etwa um zwei Uhr fünfzehn aus dem Grimmauldplatz abgeschickt, dachte sie und überlegte. Sie realisierte schnell, daß dieser Brief nur etwa eine halbe Stunden unterwegs gewesen war, weshalb sie zumindest in der unmittelbaren Nähe von London sein mußte oder sich vielleicht sogar mitten in London befand. Unruhig stand Hermine auf und streichelte die kleine Eule auf ihrer Schulter, während ihr Freudentränen die Wangen hinabliefen.

»Ich danke dir. Flieg jetzt zurück«, flüsterte sie und half der kleinen Eule zum Rohr hinauf. Pig verschwand in diesem und sicher auch gleich darauf wieder in der Nacht, während sie sich langsam mit zittrigen Beinen auf ihr Bett setzte und angestrengt nachzudenken begann.

Es ging ihr soweit ganz gut. Zwar war sie ein bißchen abgemagert, aber am Leben und gesund. Auf Voldemorts direkte Anweisung hin war sie mit Essen versorgt worden, und sie wurde nicht nur in Ruhe gelassen, man hatte ihr sogar Bücher gegeben, die sie lesen durfte. Zuerst hatte sie dabei anfangs an eine Falle oder eine seltsame Art von Folter gedacht, doch schien es tatsächlich nichts davon zu sein. Zwar war Hermine noch immer eine Gefangene, doch gerade als Gefangene von Voldemort hätte es ihr erheblich schlechter gehen können, weshalb sie sich auch nicht ein einziges Mal beschwert hatte. Sie wehrte sich nicht, sie schrie nicht, sie benahm sich nicht so, wie sich eine Gefangene benehmen würde, doch glaubte sie so am klügsten zu handeln, schließlich hätte sie auch in Ketten liegen und jeden Tag gefoltert werden können. Inzwischen wußte Hermine jedoch ziemlich genau, warum sie es nicht getan hatten. Sie wollten ihren Spaß maximieren. Sie wollten sie erst dann foltern, wenn Harry alles mit ansehen könnte. Sie hatte die Pläne der Todesser zwar nicht wirklich mitbekommen, aber sie wußte, daß in dieser Nacht etwas ganz Großes bevorstand, und sie hatte erlauscht, daß sie vor Harrys Augen von Voldemort höchstpersönlich gefoltert und dann getötet werden sollte. Harry sollte dadurch gebrochen und auf Voldemorts Seite gezogen werden, doch wußte sie genau, daß das niemals passieren würde. Sie könnten tun, was sie wollten, Harry würde niemals die Seite wechseln; nicht einmal, wenn sie ihr Leben dafür verschonen würden, dachte Hermine mit einigem Stolz auf ihren Freund. Sie wußte, daß er eher seinem eigenem Leben ein Ende bereiten würde, als dem Bösen zu dienen.

Natürlich war ihr deshalb ganz schlecht vor Angst, doch konnte sie an der Situation nicht viel ändern und versuchte, weiter ruhig zu bleiben. Sie hatte sich am Anfang ihrer Gefangenschaft entscheiden müssen, und sie wollte diesen Weg bis zum Schluß gehen. Sie wollte sich, so gut es ging, zusammenreißen und sich nicht heulend in eine Ecke werfen. Sie wollte nicht zittern, obwohl sie anfangs lange und häufig gezittert hatte. Sie wollte ihnen nicht die Genugtuung geben, vor ihnen zu Kreuze zu kriechen, sondern ihnen stark entgegentreten und ihnen eher ins Gesicht zu spucken, als ihnen die Füße zu küssen. Auch jetzt zitterte sie, doch gab es dafür andere Gründe. Sie zitterte vor Aufregung, wußte sie doch, daß sich in diesen Stunden ihre Zukunft entscheiden könnte.

Sie war in diesen zwei Monaten stets von sechs bis acht Zauberern bewacht worden, da Voldemort sicherstellen wollte, daß sie keinesfalls entkommen konnte, doch heute nacht sah es anders aus. Bis auf zwei Wächter waren alle schon früh am Abend verschwunden, und die verbliebenen zwei waren ihr zwar körperlich bei weitem überlegen, doch vom Verstande her waren es echte Nieten. Sogar ihre beiden Söhne waren bei weitem intelligenter, obwohl auch diese nicht als die hellsten Köpfe der Schule galten. Crabbe und Goyle senior waren die wahrscheinlich dümmsten Wächter, die Voldemort mit dieser Aufgabe hätte beauftragen können, und aus diesem Grunde beschloß Hermine, die vielleicht letzte Möglichkeit zur Flucht zu nutzen. Die Frage war nur, wie sie es anstellen sollte.

Ihr fielen einige Filme ein, und sie fragte sich, ob ein solch einfacher Trick, wie er in jedem zweiten Film auftauchte, auch im wirklichen Leben funktionieren könnte. Angestrengt spielte sie ihre Möglichkeiten im Kopf durch und entschied sich schließlich ziemlich schnell, es zu versuchen. Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht, da sie auf Wissen ihrer Muggelabstammung zurückgreifen wollte, um ihrer Gefangenschaft zu entkommen. Sie griff sich zwei von den dicksten Büchern und legte sie auf den Boden, keine eineinhalb Meter von der einzigen Tür entfernt. Zweimal ging sie in Gedanken durch, was sie genau machen wollte und wie sie sich dabei bewegen mußte, damit es möglichst unauffällig funktionieren würde. Das Problem war nur, einen guten Grund dafür zu finden, aus der Zelle heraus zu dürfen. Bisher war sie nur einmal dort hinausgekommen, und zwar, als Bellatrix Lestrange sich auf Anweisung von Voldemort davon hatte überzeugen sollen, daß es Hermine soweit gutging. Damals konnte sie spüren, wie sehr sich Sirius' Mörderin zusammenreißen mußte, Hermine nicht auf der Stelle zu mißhandeln, doch wußte sie zugleich, daß Bellatrix Lestrange niemals einen Befehl von Voldemort mißachten würde.

Immer noch brauchte sie einen Grund, um hinauszukommen, und sie sah sich um. In ihrer kleinen Zelle gab es eine Toilette, aber keine Dusche, weshalb Hermine inzwischen schon ein wenig unangenehm roch, obwohl einer ihrer Wächter sie jeden dritten Tag mit einem leichten Reinigungszauber belegte. Vielleicht kann ich einen Grund finden, weshalb ich unter eine Dusche muß, dachte sie und sah sich weiter in der Zelle um. Draußen hörte sie die beiden Wächter; offenbar spielten sie Karten, zumindest wenn man ihren Kommentaren glauben schenken durfte, wonach Goyle gerade Crabbe des Schummelns verdächtigte. Plötzlich kam Hermine eine Idee, und sie ging zum Waschbecken. Sie füllte lautlos ein Glas mit Wasser und goß es in ihr Bett. Sie füllte ein weiteres Glas und legte sich auf die feuchte Matratze. Hoffentlich funktioniert das, dachte sie und goß das Glas über ihrem Schritt aus. Sie stand auf und stellte das Glas wieder auf das Waschbecken.

»Entschuldigung«, sagte sie ziemlich laut durch die geschlossene Tür. Keine Reaktion. »ENTSCHULDIGUNG«, wiederholte sie lauter und hörte, wie die Geräusche vor der Tür verstummten.

»Klappe da drin«, ertönte eine Stimme, von der sie glaubte, daß sie Goyle senior gehörte.

»Ich hab' da ein Problem.«

»Was willst du?« fragte die andere Stimme.

»Ich – ich – hab' mir – also – in die – Hose gemacht.« Sie versuchte, dabei möglichst peinlich berührt zu klingen. Die beiden fingen laut an zu lachen, und einer von ihnen schlug dabei sogar mit der Hand auf den Tisch. Was sonst hätte ich erwarten sollen, dachte sie und wollte den Versuch schon beinahe aufgeben.

»Warum sollte uns das kümmern?« fragte einer von beiden schließlich, nachdem sie sich wohl wieder beruhigt hatten.

»Na ja. Ich würde gern duschen. Ich meine, ich bin seit zwei Monaten hier drin und stinke, und nun, na ja, das ist jetzt noch schlimmer«, sagte sie gerade laut genug, damit die beiden vor der Tür sie hören konnten.

»Kommt nicht in Frage, du kommst da nicht raus.«

»Warte mal«, warf der andere ein. Dann begannen sie zu flüstern, und Hermine versuchte angestrengt, ihre Worte zu verstehen.

»Spinnst du? Wir dürfen sie nicht anfassen. Wenn er es rauskriegt dann …« – »Wir fassen sie doch nicht an. Wir sehen doch nur zu.«

Als Hermine das hörte, wurde ihr schlecht. Sie verstand sofort, was die beiden meinten, und es gab nicht viel, was ihr unangenehmer gewesen wäre. Diese widerlichen Schweine, dachte sie angeekelt und wollte sich am liebsten übergeben. Eine unangenehme Gänsehaut überzog ihren Körper, und sie schüttelte sich unbewußt. Lieber würde sie sich stundenlang mit dem Cruciatus-Fluch foltern lassen, als sich von den beiden beim Duschen beobachten zu lassen.

»Du gehst schon ins Bad und bereitest alles vor, ich hole sie«, wies Crabbe seinen Kumpanen an, und Hermine glaubte in seinen leisen Worten eine gewisse Vorfreude zu spüren. Jetzt kam es drauf an. Hermine konnte nur noch beten, daß alles so klappen würde, wie sie es sich erhoffte. Langsam ging die Tür auf, und Crabbe erschien darin. Er blickte auf die feuchte Stelle auf Hermines Hose und konnte sich nur schwer ein debiles Grinsen verkneifen. »Los, komm her«, herrschte er sie an.

Hermine musterte ihn verstohlen und sah, was sie sehen wollte. Das war ihre Chance. Sie machte einen Schritt nach vorne, stolperte wie geplant über die beiden Bücher und fiel Crabbe voll in die Arme. »Vorsicht«, rief dieser und fing sie auf. Er stellte Hermine mit einem anzüglichen Grinsen wieder auf die Beine und ging voraus in Richtung des Bades, im scheinbaren Bewußtsein, daß sie ihm nichts würde tun können.

Hermine konnte ihr Glück nicht fassen. Fast hätte sie laut aufgejubelt, so zufrieden war sie mit sich. Er hatte nicht das geringste bemerkt, und trotzdem hielt sie nun in ihrer rechten Hand den Zauberstab von Crabbe und hoffte inständig, ihn auch gut genug benutzen zu können.

»Stupor«, sagte sie leise, und Crabbe fiel auf der Stelle um. Hermine versuchte ihn abzufangen, doch war er nicht nur groß, sondern auch schwer, und so gelang es ihr nur teilweise, konnte aber immerhin ein allzu lautes Geräusch beim Aufprall des Körpers auf dem Boden verhindern.

Hektisch sah sie sich um. Sie wußte jetzt zwar, in welcher Richtung das Bad zu suchen war, doch wußte sie nicht, wo genau. Sie war damals schnell von ihren Entführern betäubt worden und war erst in ihrer Zelle wieder erwacht, weshalb sie das Haus nicht kannte.

»Wo bleibst du mit der Kleinen?« hörte sie von oben und beschloß, geräuschvoll die Treppe nach oben zu gehen. Sie stampfte fest auf die Stufen und hoffte, damit die Antwort auf die Frage schuldig bleiben zu können, ohne daß ihr Gegner Verdacht schöpfte. Kaum war sie oben, ging die Tür auf und ein verdutzter Goyle stand vor ihr.

»Stupor

Hermine war schneller als er, dem es nicht einmal mehr gelungen war, seinen Zauberstab zu ziehen. Erleichtert wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, und ihre Beine begannen zu zittern. Die Nervosität und Angst hatten ihr überhaupt erst ermöglicht, diesen Ausbruch durchzuziehen, doch nun forderte beides seinen Tribut. Sie mußte sich einen Moment auf die Stufen setzen und überlegte zitternd ihr weiteres Vorgehen. Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf, doch immer wieder blieben sie am Grimmauldplatz Nummer zwölf hängen. Sie mußte dorthin, und zwar auf dem schnellsten Wege. Mühsam rappelte sie sich wieder auf und lief leicht wackelig die Treppe hinunter. Sie fragte sich, wie sie wohl dorthin kommen sollte, als ihr Blick auf einen Besen fiel, der in einer Ecke neben der Eingangstür stand. Hermine trocknete ihre Sachen und holte sich ihren Umhang aus der Zelle. Sie schnappte sich den Besen und trat vor die Tür. Es war eine kühle Nacht, und sie sog die frische Luft ein. Frei, endlich wieder frei, dachte sie nur und blickte einen Moment bewundernd den sternenbesäten Himmel an.

Sie war in einem Vorort von London, wie sie an der Art der Häuser feststellen konnte, allerdings konnte sie nicht ausmachen, wo genau sie sich befand. Sie stieg auf den Besen und stieß sich vorsichtig vom Boden ab. Unsicher stieg sie ein wenig in die Höhe und suchte den Horizont ab. Sie entdeckte einige signifikante Merkmale Londons und landete schnell wieder. Sofort wandte sie den Vier-Punkte-Zauber an und bestimmte damit Norden und wußte nun halbwegs, wo sie war. Sie stieß sich erneut vom Boden ab und stieg noch höher als zuvor, während sie gleichzeitig immer ängstlicher den Besenstiel umklammerte. Sie war seit Jahren nicht geflogen, und sie verabscheute es aus verschiedenen Gründen. Der wichtigste dieser Gründe war ihre extreme Höhenangst, und diese galt es nun zu überwinden, wollte sie möglichst schnell die Liebe ihres Lebens in den Arm schließen können.

Hermine nahm langsam Tempo auf und flog in die ungefähre Richtung, in der der Grimmauldplatz liegen mußte. Sie begann erneut zu zittern, doch sie brachte es unter Kontrolle. Es muß sein, komm schon, du kannst es … du magst es … du liebst es, versuchte sie sich einzureden, und tatsächlich half es ein wenig. Sie beschleunigte weiter und flog nun schneller, als sie es sich jemals zuvor getraut hatte. Harry, ich komme, dachte sie, nahm all ihren Mut zusammen und erhöhte das Tempo auf die maximale Geschwindigkeit des Besens. Ihr Ziel war der Grimmauldplatz, und bald würde sie da sein.

Harry stand auf der Wiese und erläuterte seine Pläne ein wenig genauer. Zuerst wollte er abwarten und sehen, wie sich der Kampf entwickeln würde, ehe sie sich gemeinsam entschließen wollten, wo genau und wie man eingreifen könnte. Er schlug vor, daß man aus der Luft angreifen sollte, um für möglichst viel Verwirrung unter den Todessern zu sorgen, die sich dann auf mehr als nur ein Ziel zu konzentrieren hätten. Die meisten fanden diesen Vorschlag gut, und so wollte man dies als erste Option festhalten. Erneut bat Harry alle, zu versuchen, die Ruhe zu bewahren, auch wenn es ihnen schwer fallen sollte, wenn sie andere oder sogar ihre eigenen Eltern sterben sehen sollten. Er wies sie mehr als nur eindringlich darauf hin, daß dieser Fall möglich wäre, und alle versprachen, sich, so gut es ging, zusammenzureißen. Harry schärfte ihnen auch ein, daß sie nur dann siegen könnten, wenn sie als Einheit funktionieren würden und sich jeder auf den anderen verlassen könnte. Sie müßten zusammenarbeiten und zusammenhalten, und jeder mußte bereit sein, für den anderen alles Menschenmögliche zu tun. Niemand müßte sich für einen einzelnen opfern, das verlangte Harry nicht von ihnen, doch sie müßten unter Umständen bereit sein, sich vielleicht für mehrere andere zu opfern: »Das Einzelschicksal muß eine untergeordnete Rolle spielen, damit die Gruppe als solches siegen kann.«

Schließlich war die Zeit gekommen, sich auf die Abreise vorzubereiten. Harry holte die beiden Portschlüssel unter seinem Umhang hervor.

»Praktisch, daß Fred und George mir diese Seile besorgt haben. Für eine solche Menge an Leuten wäre wohl kein anderer Portschlüssel besser geeignet«, meinte Harry zu Ron.

Dieser grinste. »Ich sag's ja, die beiden sind wirklich clever. Mum ist nicht umsonst so sauer, daß sie die Schule abgebrochen haben. Sie hätten schließlich mehr UTZe als Percy schaffen können.« Dann nahm er einen der Portschlüssel von Harry entgegen.

»Wir rollen die Seile aus, und jeder muß dieses oder das von Ron berühren. Erst wenn alle das Seil halten, werden Ron und ich sie mit unseren Zauberstäben aktivieren«, verkündete Harry und begann damit, sein Seil auszurollen. Es bildeten sich zwei Schlangen von DA-Mitgliedern, und beide reichten das Ende der Seile durch die beiden Reihen. »Der Orden ist vor über anderthalb Stunden angekommen, und ich denke, der Landeplatz sollte nun wieder frei sein, doch genau sehen wir es erst, wenn wir dort ankommen.«

»Hoffen wir, daß alles gut geht«, sagte Ron und zog seinen Zauberstab aus seiner Tasche. Harry zog nun ebenfalls seinen Zauberstab, während er mit der linken Hand das eine Seilende hielt.

»Sind alle bereit?« fragte Harry etwas lauter und schaute in die Gesichter der Mitschüler, die wie an einer Perlenschnur aufgereiht vor ihm standen und mit einer Hand das dünne Seil festhielten. Sie blickten ihn alle an und nickten. Harry bekam eine Gänsehaut und warf einen Blick zu Ron, der ebenfalls nickte. »Dann los«, rief Harry und führte seinen Zauberstab langsam an das Seil. Nur eine Sekunde später spürten sie das Ziehen am Bauchnabel, und schon waren sie verschwunden.

Nach einer überraschend kurzen Zeit fand Hermine schon eine markante Stelle, die sie kannte, und korrigierte ihre Flugrichtung ein wenig. Sie kauerte sich tief auf den Besen, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, und flog so hoch, wie sie sich nur traute, um niemandem aufzufallen. Schneller, als sie gedacht hätte, kam sie beim Grimmauldplatz Nummer zwölf an und setzte zur Landung an. Sie erinnerte sich an die Adresse, und wie aus dem nichts erschien das Haus, welches einmal dem inzwischen verstorbenen Paten ihres Freundes gehört hatte. Lautstark klopfte Hermine sofort an die Tür und wartete. Es verstrichen zwanzig Sekunden, und nichts rührte sich. Sie zog den gestohlenen Zauberstab und verschaffte sich Einlaß.

»Harry, Ron! Wo seid ihr? Mrs. Weasley? Mr. Weasley?« rief Hermine, so laut sie konnte, doch nichts im Haus bewegte sich und niemand antwortete ihr. Enttäuscht rannte sie die Treppe nach oben und fand nur leere Zimmer vor. Wo waren die denn alle? Irgendwas mußte passiert sein, dachte sie und durchsuchte, so schnell sie konnte, ein jedes Zimmer des Hauses, bis sie Krummbein im Schlafzimmer der Mädchen fand. »Krummbein, mein Liebster, ich hab' dich ja so vermißt«, sagte sie und schnappte sich ihren Kater, der auf Ginnys Bett saß. »Wo sind denn alle? Hat Professor Lupin dich hierhergebracht?« Krummbein begann laut wie selten zu schnurren und genoß ganz offensichtlich die Nähe zu Hermine, die er so lange nicht gesehen hatte. »Ich hab' leider keine Zeit für dich, aber sobald es geht, sehen wir uns wieder.« Dann setzte sie ihn wieder auf dem Bett ab und streichelte ihn noch einmal.

Ein wenig entmutigt ging sie nach unten und fand dort ihren Koffer. Hermine zog ihren stinkenden Sachen aus und warf sie auf einen Haufen. Sie öffnete den Koffer und fand obenauf einen Brief. Sie öffnete ihn, nur noch mit ihrer Unterwäsche bekleidet, und überflog ihn. Im wesentlichen war es der Brief, den sie schon von Harry bekommen hatte, doch in diesem stand noch deutlich mehr. Sofort verstand sie die aktuelle Lage und legte ihn zurück in den Koffer. Sie nahm sich frische Unterwäsche und auch andere warme Wintersachen und zog sie an. Ich sollte auch einen Brief hinterlassen, vielleicht überlebe ich die heutige Nacht ja nicht, dachte sie und nahm zwei Pergamente und begann hektisch zu schreiben.

Sie schrieb ihren Eltern nur einen sehr kurzen Brief, in dem sie ihnen hauptsächlich mitteilte, daß sie die letzten zwei Monate ohne Folter in Gefangenschaft überlebt hatte und nun auf dem Weg war, Hogwarts zu verteidigen, wie sie es auch getan hätte, wäre sie niemals entführt worden. Sie schrieb, daß sie sie sehr liebe und hoffe, daß es ihnen gut gehe. Sie lief hoch in Harrys Schlafraum und ging zu Hedwig, die auf ihrem Käfig schlief, und weckte sie vorsichtig auf.

»Bringst du den Brief bitte zu meinen Eltern«, sagte sie leise, und Hedwig knabberte liebevoll an ihrem Finger. »Vielen Dank.« Sie band den Brief an ihr Bein, öffnete schnell das Fenster und ließ Harrys Eule auf die Reise gehen.

Hermine lief wieder nach unten und schrieb an Harry und Ron einen kurzen Brief. Sie schrieb kaum mehr, als daß es ihr gutgehe und ihnen nun zur Hilfe eilen werde. Aber sie schrieb auch, daß sie sich noch nie im Leben einer Sache so sicher gewesen sei wie über ihre Liebe zu Harry.

Blitzschnell legte sie den Brief auf den Küchentisch, griff sich den Besen und verließ das Haus. Sie würde nun mit dem Besen bis nach Hogwarts fliegen, was viele Stunden dauern würde. Sie hoffte inständig, sie würde nicht zu spät kommen.

Die Mitglieder der DA erschienen auf der großen Wiese nahe dem Quidditch-Feld. Es war drei Uhr fünfzehn in der Frühe, als Harry auf seine Uhr blickte, und es war noch immer eine dunkle und kalte Nacht. Hier war es sogar noch kälter als in London, was Harry aber nicht wirklich verwunderte, und außerdem hatte er sich wie die anderen darauf vorbereitet. Er trug lange Unterwäsche, einen dicken Reiseumhang und Handschuhe wie fast alle anderen. Viele trugen auch Mützen, und Harry hätte eigentlich so schlau sein können, ebenfalls eine mitzunehmen, wofür er sich innerlich eine Ohrfeige verpaßte, sich dann aber einfach eine herbeizauberte und sie mit einem Grinsen aufsetzte. Niemand anderes war auf dem Schloßgelände zu sehen, und so führten Harry und Ron die DA zuerst an den Rand des Verbotenen Waldes, damit sie nicht so schnell entdeckt werden konnten. Obwohl sie im Laufschritt darauf zusteuerten, dauerte es erschreckend lange, bis sie den Waldrand erreichten, wo sie sofort in Deckung gingen.

Harry wandte sich an Neville. »Wir müssen rauskriegen, wie die aktuelle Lage ist. Ich würde dich gern als fliegenden Kundschafter losschicken. Traust du dir das zu?«

»Klar. Ich tue, was notwendig ist«, erwiderte Neville und lächelte zu Harrys Erstaunen. Neville ist schon ein komischer Kauz, dachte Harry und blickte ihm dabei genau in die Augen. Noch vor kurzem hatte er einen nervösen Magen gehabt, aber kaum wurde es gefährlich, war er voll bei der Sache und hoch motiviert, genau wie in der Mysteriumsabteilung.

»Okay. Ich werde jetzt einen Desillusionierungszauber auf dich anwenden und dich damit zu einem menschlichen Chamäleon machen. Du fliegst am besten am Rand des Waldes entlang, knapp über den Baumwipfeln. Fliege auf die andere Seite des Schlosses, denn da sollte der Friedhof sein. Sieh dir alles an und präge dir alle Details ein, alles könnte wichtig sein. Vermeide aber unbedingt, von irgend jemandem gesehen zu werden. Laß dir Zeit und geh kein Risiko ein. Wir werden am Waldrand in der Nähe von Hagrids Hütte auf dich warten.«

»Alles klar. Leg los.«

Harry nahm seinen Zauberstab und sprach über Neville einen Desillusionierungszauber; sofort verschmolz dieser mit der Umgebung.

»Hat es geklappt?«

»Schau dir deine Hand an«, antwortete Harry bloß, und das tat Neville sofort und war von dem Ergebnis beeindruckt.

»Warte«, rief Ginny und kam zu ihrem Freund herüber. »Viel Glück.« Sie drückte ihm einen langen Kuß auf. Harry wußte lächelnd, daß Neville nun rot wurde, doch dies konnte niemand der Umstehenden mehr sehen.

Nur Sekunden danach flog Neville los, und Harry hatte größte Mühe, ihm mit den Augen zu folgen, bis er nach wenigen Augenblicken überhaupt nicht mehr zu sehen war. Den anderen gab er Handzeichen und bedeutete ihnen, daß sie nun am Waldrand entlang in Richtung von Hagrids Hütte marschieren sollten. In den Augenwinkeln sah er Ron mit Luna Händchen halten und wünschte sich, er hätte auch jemanden, der ihm allein durch seine Anwesenheit Kraft schenken würde.

Nach etwa zehn Minuten kamen sie an der Hütte an, und Harry begann eine weitere kleine Ansprache, um die Zeit bis Nevilles Rückkehr sinnvoll zu füllen. Er dankte erneut allen für ihren Mut und ihr Vertrauen und vor allem dafür, daß alle bereit waren, ihr Leben zu riskieren. Besonders bedankte er sich bei den vier Slytherins, welche sich nur deshalb aus Durmstrang abgesetzt hatten, weil sie mit ihnen gegen Voldemort und das Böse kämpfen wollten. Dabei erwähnte er auch die Rede des Sprechenden Hutes zum Jahresbeginn, der ihnen gesagt hatte, daß es nur mit einer bedingungslosen Zusammenarbeit der vier Häuser Hogwarts' möglich wäre, das Böse zu besiegen, und sie genau das hier getan hätten.

Auch wenn es nur vier aus dem Hause Slytherin waren, so waren es vier mehr, als er selbst es noch vor einem Jahr für möglich gehalten hatte. Es machte ihn unwahrscheinlich stolz, ihr Anführer zu sein, und er hoffte, daß es für alle gut ausgehen würde. Nicht nur Harry war wirklich gerührt, auch einige der anderen waren tief bewegt. Besonders William und Scott, die von vielen ein Schulterklopfen für ihren Mut erhielten, da es für sie vielleicht noch schwieriger war, hierzusein, als für alle anderen.

Anschließend warteten sie schweigend auf Nevilles Rückkehr, bis Zacharias, der am Rande des Waldes Wache hielt, schließlich rief: »Achtung, da kommt jemand!«

Die Anspannung wuchs in Harry nun beinahe ins Unermeßliche, und auch den anderen konnte er die Aufregung ansehen. Jeder hatte seinen Zauberstab griffbereit und wartete, was nun geschehen würde.

»Ich bin's, Neville«, hörten sie von irgendwoher, und schon war er gelandet.

»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, erwiderte Zacharias.

»Das wollte ich nicht«, antwortete Neville und stand schon – noch immer getarnt – vor Harry.

»Du warst lange fort, was hast du rausbekommen?« fragte Harry und blickte ihn neugierig an.

»Einiges, aber weniger, als ich gehofft habe. Also, auf der anderen Seite ist ein gewaltiger Friedhof, weiß nicht, warum ich den nie gesehen habe. Na ja, also die Truppen von Du-weißt-schon-wem werden wohl aus dem Bergen kommen. Also genauer: aus dem Wald. Dumbledore hat alle auf dem Friedhof versammelt und hielt wohl eine lange Rede, aber ich konnte nichts hören … Schallzauber, denke ich. Die Truppenstärke schätze ich auf vierhundert, oder so. Hab' versucht, sie halbwegs zu zählen, das war aber nicht leicht. Habe nur Hagrid gesehen, andere Riesen waren nicht zu entdecken und auch keine anderen Kreaturen. Ich weiß nicht, ob sie sich im Wald verstecken. Wollte da lieber nicht hinfliegen, aber so konnte ich nichts weiter erkennen. Ich habe auch in ihre Gesichter gesehen, ohne aber zu nah ranzugehen. Viele sehen ziemlich zuversichtlich aus; hoffentlich haben sie dafür auch einen Grund.«

»Wie weit, denkst du, müssen wir gehen, bis wir da sind?« fragte Ron.

»Das werden zwei oder drei Kilometer sein, mindestens. Wir müssen ja außen herumgehen; und nun ist es ja schon fünf Uhr, und nur bis kurz vor sechs haben wir Zeit, eine gute Ausgangsposition zu finden«, antwortete Harry nach einem kurzen Blick auf seine Uhr.

»Das sind etwa drei Kilometer«, ergänzte Neville.

»Dann rücken wir sofort ab, oder?« fragte Ron, zu Harry gewandt.

Dieser nickte. »Los jetzt. Wir müssen uns beeilen, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren«, sagte er leise und gab wieder seine Handzeichen, die sie bereits vor einigen Wochen einstudiert hatten. Die Gruppe marschierte los, und Harry hoffte inständig, daß sie nicht schon zuviel Zeit vergeudet hatten.

Hermine hatte inzwischen schon einen Teil des Weges zurückgelegt und London längst hinter sich gelassen. Sie flog mit unverminderter Geschwindigkeit und hatte sich inzwischen ein wenig an das Fliegen gewöhnt. Zwar machte ihr die Höhe noch immer zu schaffen, doch längst nicht mehr so wie am Anfang. Sie hätte sogar ihren Spaß daran finden können, wenn ihr nicht weit komplexere und unangenehmere Gedanken durch den Kopf gespukt hätten, die alle mehr oder weniger mit Harry zu tun hatten. Sie fragte sich, wie es ihm ging, was er tat und wo er war. Sie hoffte, sie würde Hogwarts erreichen, ehe einem aus der DA etwas zustieß, und sie betete dafür, daß vor allem Harry gesund und munter war, wenn sie ihn hoffentlich bald wiedersehen würde.

Unter sich sah sie wieder die Landschaft vorbeiziehen, zitterte erneut kurz und überflog einen langen Güterzug, der in ihrer Richtung unterwegs war. So viele Gedanken und Erinnerungen flogen ihr schon die ganze Zeit durch den Kopf, und sie bedauerte es, bei diesem Flug einfach zu viel Zeit zum Nachdenken zu haben. Sie versuchte sich irgendwie abzulenken, um nicht ununterbrochen an Harry denken zu müssen; dazu versuchte sie, sich krampfhaft an verschiedene Bücher zu erinnern, und begann, in Gedanken ihren Inhalt zusammenzufassen.

Einige Vögel kamen von rechts auf sie zu, die wohl auf dem Wege nach Süden waren. Sie flogen in der charakteristischen V-Form und machten keinerlei Anstalten, ihre Richtung zu ändern. Vorsichtig ging Hermine noch ein wenig höher, um einen möglichen Zusammenstoß zu vermeiden, und sah vor sich eine kleine Stadt. Immer näher kam sie ihr, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, um welche es sich handeln könnte. Hermine beschloß, ihr auszuweichen, da sie über einer Stadt ein größeres Risiko einging, von einem Muggel beim Flug auf dem Besen beobachtet zu werden, ehe sie zurück zu den Gleisen wollte, um ihnen weiter zu folgen.

Der Weg rechts an der Stadt vorbei erschien ihr ein wenig weiter, weshalb sie links herum flog. Langsam ging sie wieder ein wenig tiefer und flog nun in einiger Entfernung am Rand der kleinen Stadt vorbei. Kaum hatte sie die Ortschaft hinter sich gelassen und die Bahngleise wiedergefunden, nahm sie die alte Flugrichtung wieder auf. Bald darauf sah sie nicht weit vor sich ein kleines Dorf und korrigierte ihre Flugbahn ein wenig nach rechts, um ganz knapp an der kleinen Siedlung vorbeizufliegen.

Vincent Crabbe und Gregory Goyle sahen beide geschockt und fassungslos den Dunklen Lord an. Gerade eben, vor kaum zehn Sekunden, hatte er ihre Väter einfach so hingerichtet, und die anderen Todesser hatten dabei noch laut gejubelt und auf diese Art ihre Zustimmung kundgetan. Vincent verstand die Welt nicht mehr. Der Dunkle Lord hatte einfach so seinen Vater getötet. Das kann nicht sein … er ist doch nur einige Minuten zu spät erschienen … wieso hat er ihn dafür vernichtet … daß Granger entkommen konnte, ist ein schlimmer Fehler, ja natürlich … doch das konnte niemals Grund genug sein, ein Menschenleben auszulöschen, dachte er.

»Wer die Trumpfkarte unseres Meisters verliert, verdient den Tod!« schrie erneut der Mann, den alle nur verächtlich Wurmschwanz nannten. Er war eine widerliche Person mit einer silbernen Hand, und er flößte Vincent ziemliche Furcht ein. Er war der größte Speichellecker von allen, und er hatte den Tod seines Vaters mit am lautesten gefordert; und obwohl Vincent Angst vor ihm hatte, haßte er ihn für sein Verhalten. Das wird er büßen, dachte er, während er ihn weiter anstarrte.

»Diese Idioten haben den Tod verdient«, hörten Gregory und Vincent erneut irgend jemanden von weiter hinten aus der Menge rufen.

Die beiden standen noch immer geschockt nicht weit vom Dunklen Lord entfernt, und um sie herum befanden sich Draco, Mr. Malfoy, Marcus Flint und zwei weitere Slytherins. Vincent wollte so gern, doch konnte er nichts sagen. Verzweifelt starrte er Gregory an, und er sah in seinen Augen genau dieselbe Verzweiflung, die auch er spürte. Sie rührten sich nicht, sondern waren starr von Angst. Völlig leer taten sie alles, was Draco ihnen sagte, so, wie sie es eigentlich schon immer getan hatten, weil sie Angst vor dem hatten, was sonst passieren würde. Das war auch der Grund, weshalb sie heute hier waren. Sie waren nur hier, weil Draco und ihre beiden Väter es so gewollt hatten. Natürlich hätten sich Vincent und Gregory weigern können, doch hätten ihre Väter keine Widerrede geduldet, was dieses Vorhaben sinnlos gemacht hätte.

Zusammen mit Professor Snape hatten sie sich mit Portschlüsseln aus Durmstrang davongestohlen, nur um an dem Angriff auf Hogwarts teilzunehmen, einen Angriff auf ihre eigene Schule und auf das Zuhause, zu welchem dieses alte Schloß in den letzten Jahren für sie geworden war. Mit diesem Angriff sollten sie letztendlich ihre Aufnahmeprüfung in den Kreis der Todesser ablegen, einen Kreis, dem beide nie angehören wollten, in den sie aber praktisch hineingeboren worden waren. Aus Angst hatten sie es trotzdem getan, waren sie doch dem Ruf des Dunklen Lords und dem ihrer Väter gefolgt; denn niemand wagte es, sich diesem Rufe zu widersetzen. Doch jetzt, wo sie hier waren und ihre beiden Väter tot, wollten sie den Mörder ihrer Väter nur noch sterben sehen. Gregory mußte angewidert den Blick senken. Er konnte es nicht mehr ertragen, in diese widerliche Fratze mit ihren stechend roten Augen zu sehen. Der Dunkle Lord dagegen fuhr unbeirrt mit seiner Rede fort.

»Heute im Morgengrauen wird Hogwarts fallen! Dumbledore wird fallen, und Potter wird endlich vernichtet werden!« zischte er leise.

Vincent drehte sich der Magen um. Er wollte so gerne seinen Zauberstab nehmen und ihn niederstrecken, doch er wußte, daß er nicht weit kommen würde. Er war kein ausgesprochen guter Zauberer, und wenn schon sein Vater keine Chance hatte, dann würde auch er kläglich scheitern. Sein Vater war nun tot, und er kam damit nicht wirklich klar, obwohl er eigentlich vielleicht auch eine Spur Dankbarkeit zeigen sollte, denn geliebt hatte er seinen Vater niemals. Zwar empfand er Achtung für ihn … doch war es eine Achtung, die ihm sein Vater zeit seines Lebens eingeprügelt hatte. Trotzdem befand sich Vincent in einem Zwiespalt. Eigentlich haßte er seinen Vater, doch war er sich nicht sicher, daß er wirklich den Tod verdient hatte. Er fand zwar, daß sein Vater für den Fehler mit Granger eine Strafe verdiente, gewiß auch dafür, daß er seinen eigenen Sohn so häufig nach Strich und Faden verprügelt hatte, genauso wie für all die anderen schändlichen Verbrechen, die er in all den Jahren begangen hatte – wozu auch genug Morde zählten –, doch der Tod war selbst für ihn zu grausam.

Hinter sich hörte er plötzlich, wie über hundert Todesser disapparierten. Alle, die das nicht konnten, sollten nun Lucius Malfoy folgen, damit sie mit Hilfe von Portschlüsseln in die Nähe von Hogwarts gelangen würden, soviel hatte Vincent mitbekommen. Die Portschlüssel wurden durch die Reihen gereicht, bis auch Vincent einen in der Hand hielt. Gregory und Draco legten ebenfalls ihre Hand darauf, und plötzlich spürte er ein unangenehmes Reißen an seinem Bauchnabel.

Kurz vor fünf Uhr morgens erschienen sie in einem bergigen Waldstück, in dem der Dunkle Lord schon alles hatte vorbereiten lassen. Das Stück Wald, in dem sie aufgetaucht waren, hatte einer riesigen Lichtung Platz gemacht, und die ausgerissenen Bäume lagen rundherum im Kreis. Erschrocken sah Vincent sich um und erblickte eine gewaltige Armee aus Dementoren, die schon auf ihre Ankunft gewartet hatten. Wenn er eine Zahl hätte nennen müssen, einfach um ihre Menge abzuschätzen, hätte er keine unter siebzig genannt, während er innerlich für einen Moment gefror, ehe sich die Wärme seines Körpers doch durchsetzen konnte.

»Keine Angst, uns tun sie nichts«, grinste Draco ihn abschätzig an. Er mußte Vincents erschrockenen Gesichtsausdruck gesehen haben und machte sich sofort über ihn lustig. Dieser versuchte sich zusammenzureißen und blickte weiter nach rechts.

Dort stand die Gruppe von Riesen, von denen er wußte, daß ihre gewaltige Armee aus etwa vierzig bis fünfzig von ihnen bestand. Ebenfalls erspähte er eine kleinere Armee von Kobolden und zehn andere Wesen, die Vincent noch nie gesehen hatte. Die Riesen, so dachten Gregory und Vincent jedenfalls, hatten dieses Stück Erde wohl entwaldet. Der Dunkle Lord fuhr mit seiner Ansprache fort, doch Gregory war das alles egal. Er hörte gar nicht mehr richtig zu, sondern blickte voller Angst die dunklen Gestalten an, mit denen er hier im Wald stand. Es war noch dunkel, und der Mond warf ein fahles Licht auf das Szenario, was die ganze Sache nur noch unheimlicher machte. Er würde nicht gerne auf der anderen Seite stehen und damit gegen all diese Monster kämpfen müssen, doch auch hier auf dieser Seite zu sein, war für ihn die reinste Hölle.

Es war fünf Uhr, als der Dunkle Lord seine Rede abgeschlossen hatte, und sie waren nur noch weniger als eine Stunde von Hogwarts entfernt. Den Rest des Weges sollten sie marschieren, da dies am wenigsten auffällig war und da das Überraschungsmoment sehr wichtig war.

Der Dunkle Lord hatte die große Gruppe von über zweihundert Todessern in fünf kleinere Gruppen eingeteilt, und unter ihnen hatten Vincent und Gregory auch ein paar wenige Eltern von Slytherin-Schülern erkannt. Jede der fünf Gruppen wurde durch Dementoren, Riesen und Kobolde verstärkt und bildete so die gewaltige Armee, welche Hogwarts bezwingen sollte. Nur Augenblicke später begann der Marsch auf das Schloß, und der dunkle Wald gab den Riesen nach, die die Bäume brutal ausrissen und sie sowohl nach rechts als auch nach links aus dem Weg warfen. Gleichzeitig sorgten die Todesser mit ihren Zauberstäben dafür, daß kein Geräusch dieser gewaltigen Aktion an die Ohren ihrer Feinde dringen konnte.

In dieser Schneise der Zerstörung versuchte Vincent, Anschluß an Draco zu halten, und glaubte, daß er sich gleich in die Hosen machen würde. Gregory lief neben ihm und sah mindestens genauso ängstlich aus, wie er sich selbst fühlte, doch zusammen mit ihm fühlte er sich gleich viel stärker.

Die DA-Mitglieder wurden immer nervöser, genauso wie Harry. Sie waren noch immer auf dem Weg zur anderen Seite des Schlosses und bewegten sich dabei immer am Rande des Verbotenen Waldes entlang. Harry und Ron – der noch immer Lunas Hand hielt – sprachen den anderen beinahe ununterbrochen Mut zu; obwohl es eigentlich überflüssig war, da sicher niemand, dem es an dem nötigen Mut mangeln würde, jetzt an diesem Ort wäre.

»Kommt schon, Leute!« – »Wir schaffen das.« – »Dafür haben wir fast ein Jahr lang trainiert.« – »Wir dürfen nicht versagen.« – »Habt Vertrauen in eure Fähigkeiten!«

Beim Blick in die Gesichter ihrer Mitschüler sahen sie, wie nervös und bis aufs äußerste angespannt alle waren; und sie konnten ihnen deswegen keinen Vorwurf machen, ging es ihnen doch ganz genauso. Viele von Harrys Kampfgenossen waren ihm nun schon sehr vertraut, während er andere noch zu wenig kannte. Er hoffte, daß er später noch die Gelegenheit haben würde, diese irgendwann besser kennenzulernen, obwohl er keinerlei Hoffnung hatte, daß sie alle diesen Kampf überleben würden.

Harry wurde plötzlich wieder von Selbstzweifeln getrieben. Hatte er sie gut genug vorbereitet? Hatte er ihr Angebot zum Kampf überhaupt annehmen dürfen? Hatte Dumbledore nicht recht, und hätten sie alle zu Hause und in Sicherheit bleiben sollen? Immer wieder ertappte er sich dabei, sich vorzustellen, was Hermine gemacht hätte – denn sie hätte sicher gewußt, was jetzt zu tun wäre. Sie hatte immer gewußt, was zu tun war, und ihr Rat fehlte ihm so sehr. Diesmal, so war er sich absolut sicher, hätte er auf ihren Rat gehört, egal, wie er ausgefallen wäre, hatte sie schließlich noch nie wirklich danebengelegen.

Zu oft hatte Harry seinen eigenen Willen durchgesetzt, und dies war nicht immer gut gewesen. Er hatte sie dadurch ein ums andere Mal in höchste Gefahr gebracht, während sie zugleich versucht hatte, ihm diese Dummheiten auszureden, in die er sie immer wieder hineingezogen hatte, weil er ihre Warnungen in den Wind geschlagen hatte.

So war es schon auf der Suche nach dem Stein der Weisen gewesen, und in der Mysteriumsabteilung hätte es beinahe ihr Ende bedeutet. Sollte sie tot sein, dann wäre es alles ganz allein seine Schuld. Nein, sie ist tot, und es ist alles meine Schuld, dachte er, und das konnte er sich niemals vergeben. Diese negativen Gedanken machten ihn kaputt, sie fraßen ihn förmlich auf, das wußte er ganz genau, und konnte sie dennoch nicht wirklich verdrängen. Immer diese Selbstzweifel und Schuldgefühle, sie waren Harrys Alptraum und sein Schicksal. Er hatte sie seit Jahren und wurde sie nicht los, egal, wie sehr er es auch versuchte. Erst Cedric, dann Sirius und nun Hermine. Er wußte, daß er an keinem der Vorkommnisse eine wirkliche Schuld trug, doch immer hatte er irgendwie etwas unglücklich agiert und damit diese Kette von schlimmen Ereignissen in Gang gesetzt. Er hatte unbedingt den Pokal mit Cedric teilen wollen, weshalb dieser überhaupt erst in Gefahr geraten war; er hatte unbedingt Sirius retten wollen, der eigentlich nicht in Gefahr schwebte und dann plötzlich doch hineingeriet, was am Schluß zu seinem Tode führte; er hatte ja unbedingt Hermine küssen müssen, die nur deshalb weggelaufen und in den Armen ihrer Entführer gelandet war. Immer hatte er eine Dummheit begangen, und die anderen mußten dafür bezahlen. Er verurteilte sich dafür, und niemand konnte auch nur erahnen, wie sehr er sich dafür haßte.

Plötzlich spürte er, wie Neville, der noch immer getarnt neben ihm lief, seinen Arm um seine Schulter legte, und zuckte dabei unwillkürlich zusammen. Neville zog Harry nah an sich heran. Er war so stolz auf Neville, was er ihm wohl bisher nie wirklich gesagt hatte, und beschloß, es auf der Stelle nachzuholen, weil es vielleicht später keine Gelegenheit mehr dazu geben konnte. Neville aber flüsterte ihm zuerst ins Ohr.

»Ich danke dir für dein Vertrauen, Harry! Du hast mit uns alles richtig gemacht. Hermine hätte es genauso gesehen. Laß dich von deinen Zweifeln nicht zerstören! Du führst uns zum Sieg!«

Harry war angesichts dieser Worte gerührt und dankbar, gleichzeitig aber auch überrascht, denn er schien genau seine Gedanken erraten zu haben. Neville war ihm inzwischen eine große Hilfe und ein wahrer Freund, und vielleicht konnte er erahnen, worüber er wieder einmal nachgegrübelt hatte, welch schlechte Gedanken seine Sinne vernebelten.

»Ich bin sehr stolz auf dich!« entgegnete Harry, während er den Desillusionierungszauber aufhob. »Du hast dich in den letzten zwei Jahren unglaublich verbessert. Auch deine Eltern wären wahnsinnig stolz auf dich. Du hast ihrem Andenken alle Ehre gemacht.«

Neville hatte, sicher durch die Erwähnung seiner Eltern, feuchte Augen bekommen, und Harry klopfte ihm auf die Schulter, ehe er ihn seinen Gedanken überließ. Wieder stieg der Haß auf sich selbst und auf Voldemort in ihm hoch, wurde aber unterbrochen, als von der Seite Padmas Stimme ertönte:

»Warum tarnen wir uns nicht alle?«

Harry dachte einen Augenblick darüber nach, ehe er ihr antwortete. »Das könnte gefährlicher sein, als sich nicht zu tarnen. Wenn über 60 Unsichtbare über ein Schlachtfeld fliegen, wie willst du da Zusammenstöße verhindern? Ihr seht euch ja nicht, ihr könnt einander nicht ausweichen. Eine andere Gefahr besteht darin, daß uns Dumbledores Streitkräfte vom Himmel schießen, auch wenn sie es nicht beabsichtigen.« Er sah sich um, ob die anderen auch seiner Meinung waren, und diese nickten ihm zustimmend zu.

Ohne weitere Zeit zu verlieren, marschierten sie weiter, kamen aber am Rande des Waldes nur schwer voran, da immer wieder Gestrüpp und mannshohes Unkraut ihren Weg versperrte. Die Hälfte des Weges hatten sie jetzt mindestens hinter sich, und Harry begann zu überlegen, wie sie weiter würden vorgehen können.

Hermine war inzwischen am Rande des kleinen Dorfes angekommen und sah links unter sich etwas, das ihr überaus bekannt vorkam. Sofort ging sie tiefer und flog darauf zu, um sich zu vergewissern, daß sie keiner Sinnestäuschung erlag.

Sie jubelte leise auf, als sie den Fahrenden Ritter erkannte. Er schien einen Zwischenstopp einzulegen, und ihr kam der Gedanke, doch mit ihm die Reise fortzusetzen, was sicher schneller gehen würde, als auch den Rest des noch ziemlich weiten Weges auf einem Besen zurückzulegen.

Immer näher kommend, sah sie einige Personen aussteigen und nur eine einzige, die wieder zustieg. Er fährt gleich los, fuhr es ihr durch den Kopf, und sie beschleunigte erneut ihr Tempo. Sie mußte ihn unbedingt aufhalten und stürzte auf ihn zu. Normalerweise hätte sie nicht den Mut für ein derart gewagtes Manöver aufgebracht, doch mit einem festen Ziel vor Augen kannte Hermine in diesem Augenblick keine Furcht. Sie war nun nicht mehr weit entfernt, und der Ritter nahm mit einem Knall Fahrt auf. Hermine zog ihren Zauberstab und setzte im selben Moment zur Landung an. Sie kam nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden auf, und das rote Gefährt mußte offensichtlich eine Notbremsung einleiten. Als das Geschoß auf sie zukam, wagte sie nicht hinzusehen und blieb wie erstarrt stehen.

Als sie die Augen wieder öffnete, erkannte sie, daß der Bus nur wenige Zentimeter vor ihr zum Stehen gekommen war, und nun sah sie den Fahrer und einen widerlichen, alten Schrumpfkopf, die sie beide fragend anstarrten. Nur Sekunden später kam schon ein pickelgesichtiger junger Mann um den Bus herum gelaufen, den Hermine sofort erkannte: es war Stan Shunpike, der Schaffner. Langsam wich die Anspannung von Hermine, und sie steckte erleichtert ihren Zauberstab wieder ein.

»Alles okay mit Ihnen?« fragte er und reichte Hermine seine Hand. Dankbar griff sie nach ihr. »Sach mal, ich kenn' dich doch, oder? Biste nich' zufällig letztes Jahr zweimal mit uns gefahr'n?« Er lächelte, während sie zusammen ans Ende des Busses gingen.

»Stimmt. Du hast ein gutes Gedächtnis. Ich bin einmal mit Harry Potter nach Hogwarts gefahren, und dies ist auch heute nacht mein Ziel, wobei es mir sehr recht wäre, wenn Ihr mich bis nach Hogsmeade bringen könntet«, sagte Hermine und suchte vergeblich in ihren Taschen nach Geld.

»Alles paletti mit 'Arry? Haben ihn vorhin in London getroffen, wollt' uns aber nicht für seine Fahrt. Ich sag' zu Ern, schade, daß er dies Jahr nich' mit uns gefahr'n ist, nachdem wir ihn schon getroff'n ham, da sieht man's mal wieder, nich'?«

»Du hast Harry gesehen? Und das erst heute?« fragte Hermine ungläubig, und ihr Herz schlug so heftig, als wollte es aus der Brust springen.

»Klar! Wollt' mit uns eigentlich auch nach Hogsmeade fahr'n. Ich frage mich allerdings, warum er nich' schon da war, die Schule läuft doch längst.« Er kratzte sich am Kinn. »War 'ne große Gruppe. Viele junge Hexen und Zauberer. Viele von denen waren mit uns nach London gefahr'n. Wir sollten da auf'n Rest und 'Arry warten, aber dann hat er uns weggeschickt«, erzählte Stan und hielt die Hand hin, da er wohl das Fahrgeld erwartete.

»Ähhm … ich hab' jetzt leider kein Geld, ist aber ein echter Notfall. Ich muß wirklich ganz dringend nach Hogsmeade. Harry braucht meine Hilfe. Ich zahle beim nächsten Mal, versprochen!« sagte Hermine und blickte Stan flehend an. »Mhhh… weiß nich' … Harry in Not? Ern, was sagst'n du?« fragte Stan und sah zu Ernie, dem Busfahrer.

»Hmm«, gab Ernie von sich und nickte Stan zu.

»Dann geht's wohl in Ordnung«, beschied er, ließ Hermine einsteigen und ging nach vorn.

»Eigentlich hat 'Arry schon für dich bezahlt, gab mir viel zuviel Geld vorhin«, meinte er an Hermine gewandt mit einem Augenzwinkern, ehe er zum Fahrer blickte. »Leg los, Ern.«

Stan setzte sich in den Sessel neben Ernie. Es gab einen gewaltigen Knall, und im nächsten Moment schon lag Hermine auf einem der Betten. Als sie wieder stand und aus dem Fenster sah, bemerkte sie, daß sie nun schon eine größere Entfernung hinter sich gebracht hatten. Hermine sah auf die Uhr, die im Fahrenden Ritter vorne angebracht war und die halb sechs zeigte, und hoffte, sie würde nicht zu spät kommen.

Vincent und Gregory marschierten mit dem Kampfverband des Dunklen Lords weiter in Richtung Hogwarts. Unterwegs hatten sie viele Schwierigkeiten gehabt, schnell vorwärtszukommen, denn der Weg im nur vom Mond beleuchteten Wald war sehr schwer und mühsam. Zwar waren viele Bäume von den Riesen aus dem Weg geräumt, damit es genug Platz für diese gewaltige Armee gab, doch hinterließen sie dabei große Löcher im Boden, die erst einmal durchquert werden mußten. Vincent sah zu Lucius Malfoy und warf ihm einen verächtlichen Blick zu, gleichzeitig hatte er aber auch große Angst vor ihm, denn er wußte genau, daß dieser Mann gefährlich war. Draco war oft schlimm von ihm verprügelt worden, hatte ihnen aber trotzdem niemals freiwillig davon erzählt. Erst beim Duschen, immer direkt nach den Sommerferien, hatten sie die frischen blauen Flecke an seinem ganzen Leib sehen können, und eine andere Erklärung konnte es dafür nicht geben.

Dieser gefährliche Mann hatte sie praktisch zum Mitkommen gezwungen, nachdem der Dunkle Lord seinen und Gregorys Vater getötet hatte. Ein Blick von ihm hatte gereicht, ihnen zu zeigen, daß es ihnen ganz genauso ergehen würde, wenn sie nicht täten, was von ihnen verlangt werden würde. Beide hatten noch immer unendliche Angst, trotzdem wurde der Drang, sich von hier still und heimlich zu verdrücken, immer größer. Beide wollten nur noch fort von hier und sich irgendwo verkriechen, irgendwo, wo sie niemals jemand würde finden können.

Was hinderte diese widerliche, rotäugige Kreatur schon daran, sie genauso zu töten wie ihre Väter. Was hinderte die anderen Todesser daran, sie einfach so zu töten. Hier gab es keine Regeln, nur die, die der Dunkle Lord aufstellte, und die konnten sich jederzeit ändern. Die beiden wußten nur zu gut, wie schnell sie etwas nicht richtig machten, schließlich war ihnen Draco gegenüber schon oft genug ein Mißgeschick passiert. Er würde sie zwar nicht töten, doch der Dunkle Lord und die anderen Todesser würden sicher nicht soviel Gnade zeigen.

Draco dagegen strahlte über das ganze Gesicht. Warum er das tat, wußten beide, darüber brauchten sie nicht sprechen, das konnten beide seinen irren Blicken klar entnehmen. Draco war am Ziel seiner Träume. Endlich würde der ihm verhaßte Potter sterben, das war alles, woran er in den letzten Jahren hatte denken können. Sie wußten, daß er hoffte, es selbst tun zu können, doch wußten sie auch, daß der Dunkle Lord Potter lebend wollte. Trotzdem waren sie sich nicht sicher, ob sich Draco an diese Anweisung halten würde, denn töten konnte und wollte er.

Mit ihm zusammen hatte sie in den Sommerferien einige Unverzeihliche Flüche an Tieren ausprobiert, und sie beide waren immer wieder gescheitert. Draco Malfoy dagegen gelang es beinahe auf Anhieb, weshalb sie mittlerweile wirklich Angst vor ihm hatten. Das war auch der Grund, weshalb sie es niemals wagten, ihm zu widersprechen. Als Dracos Vater in Askaban war, hatte er sich noch mehr in seinen Haß hineingesteigert, und nun, da er wieder zurück war, wuchs sein Haß erneut. Sie waren sich sicher: Würde er Potter allein gegenüberstehen, würde dieser wohl keine Chance haben; Draco Malfoy würde ihn zerfetzen.

Noch im letzten Jahr hatte ihn Vincent tief im Innern nur für einen Angeber gehalten, doch hatte er sich in diesen Sommerferien extrem stark verbessert. Täglich hatten sie so viele Flüche gelernt, wie es nur möglich war, und so war auch er selbst nun wohl ein ernstzunehmender Gegner, den auch Harry Potter fürchten sollte. Was aus Potter wurde, war Vincent im Moment ziemlich egal, er hoffte viel eher, daß er und Gregory das alles heil überstehen würden. Das war das einzige, woran er jetzt dachte.

Er wollte weg von hier. Er wollte so gern zu seiner Mutter, doch würde er nie wieder zu ihr können. Sie war ein Jahr nach seiner Geburt gestorben, und das nur, weil sie seinen Vater daran hatte hindern wollen, ein Todesser zu werden. Dies war nur wenige Wochen vor der ersten Niederlage des Dunklen Lords gegen Harry Potter gewesen, und sein Vater hatte damals viel zu voreilig gehandelt. Hätte er doch nur noch ein wenig abgewartet, er hätte sich wohl nie den Todessern angeschlossen … er hätte seine Mutter niemals eiskalt umbringen müssen.

Vincent hatte seinem Vater nie gesagt, daß er die Wahrheit kannte, und nun würde er es ihm niemals sagen können. Er würde ihn niemals zur Rede stellen können, und dafür haßte er seinen Vater über alles. Er haßte ihn dafür, daß er ihn nicht mehr selbst für diese schändliche Tat bestrafen konnte.

Der Weg wurde plötzlich leichter. Der Wald lichtete sich ein wenig, und die Riesen brauchten offenbar nicht mehr ganz so viele Bäume auszureißen. Gregory blickte auf seine Uhr. Es war nun schon kurz vor halb sechs, und bald würde der Angriff beginnen. Er wurde Menschen töten müssen, oder er würde selbst getötet werden. Gregory haßte diese Situation. Er war einfach nicht der Typ für so etwas. Er hatte Angst zu sterben. Er hatte Angst um Vincent, seinen einzigen wahren Freund. Nur mit ihm teilte Gregory seine größten Sorgen. Nur mit ihm konnte er über die Tyrannei durch ihre Väter sprechen. Er verstand ihn, und er hatte die gleichen Probleme. Wenigstens hab' ich noch meine Mum, dachte er und sah zu Vincent hinüber. Seine Mum lebte nicht mehr mit seinem Vater zusammen, und eigentlich verachtete sie ihn sogar, doch hatte dieser zumindest diese Tatsache akzeptieren können, während Vincents Vater seine Frau dafür einfach umgebracht hatte. Gregory durfte seine Mutter eigentlich während der Sommerferien und auch über Weihnachten für je eine Woche besuchen, tat es aber schon seit zwei Jahren nicht mehr. Viel zu sehr schämte er sich in ihrer Anwesenheit, wurde er doch langsam, aber sicher zu dem, was seine Mutter verachtete … er würde wie sein Vater ein Todesser, und nun war er diesem Ziele so nahe wie nie zuvor. Wieder blickte Gregory zu Vincent. Er sah nicht gut aus, war vielmehr sichtlich angeschlagen, und Gregory befürchtete, daß er jederzeit zusammenklappen könnte.

»Wir schaffen das!« raunte er und lächelte ihm aufmunternd zu. Er fühlte sich zwar nicht so, als würde er tatsächlich daran glauben, doch war er es seinem Freund schuldig, zumindest so zu tun.

Als Gregory erneut auf die Uhr blickte, war es schon halb sechs, und damit würde es nur noch ungefähr fünfundzwanzig Minuten dauern, bis er etwas tat, das ihn dem Status eines Todessers wieder ein Stückchen näher bringen würde. Am Horizont sah er nun schon deutlich die Türme von Hogwarts und fühlte, daß sich sein Schicksal da unten entscheiden würde. Der Rest seines bisher so erbärmlichen Lebens würde sich hier entscheiden, und auch das von Vincent stand hier und heute am Scheideweg. Sie lächelten einander zu, wüßten sie doch ohne den anderen nicht, wie sie das hier überstehen sollten.

Wieder einmal dachte Harry an die Prophezeiung. Er dachte daran, daß nur er Voldemort töten konnte oder selbst von ihm getötet werden würde. Er wußte, daß er nicht verlieren durfte, würde sich doch sonst das Leben seiner noch verbliebenen Freunde grausam ändern. Inzwischen hatten sie den größten Teil des Weges zurückgelegt und bewegten sich nun nur noch langsam und vorsichtig voran. Zwar wußte Harry in etwa, von woher Voldemort kommen würde, doch wußte er nicht, ob dieser Späher vorausgeschickt hatte, und diesen wollte er auf keinen Fall in die Arme laufen.

Nichts gab es in diesem Moment, vor dem Harry noch mehr Angst hatte, als zu früh entdeckt zu werden. Ständig blieb er mit all seinen Leuten stehen, um konzentriert in den Wald zu lauschen, und hoffte inständig, seine Gegner rechtzeitig hören oder sehen zu können, noch bevor sie selbst entdeckt werden würden. Schon bald würden sie den Friedhof in Sicht haben, und sie würden einen Teil von Hogwarts zu sehen bekommen, den sie vorher nie wirklich bemerkt hatten. Zwar hatte Hermine ihm irgendwann einmal davon erzählt, doch fand er das Thema damals nicht sonderlich interessant, und aus einem seltsamen Grund hatte er den Friedhof nicht einmal aus irgendeinem der vielen Fenster gesehen oder wenn er mit dem Besen über die Ländereien geflogen war. Nun wünschte er sich allerdings, er hätte das Kampfgebiet schon einmal gesehen, und fragte sich ernsthaft, ob es ein Nachteil war, es nicht zu kennen.

»Ich brauche zwei Kundschafter, die fünfzig Meter vorauslaufen!« sagte Harry und sah sich nach Freiwilligen um. Neville hob schon wieder still die Hand, aber den wollte er lieber in seiner Nähe haben, außerdem hatte er eben schon das Gelände erkundet, und nun sollte ein anderer das Risiko tragen. Er entschied sich für William und Ernie. »Lauft die nächsten achtzig Meter schneller, dann geht ihr in sehr langsamem Tempo weiter, bis wir euch wieder eingeholt haben. Dies handhaben wir für den Rest des Weges so. Falls ihr etwas Ungewöhnliches entdeckt, kommt ihr sofort zurück. Geht kein Risiko ein. Kein Feindkontakt!« schärfte Harry ihnen ein. Die beiden nickten nur, zogen ihre Zauberstäbe und liefen nun voraus.

Harry wartete mit dem Rest der Gruppe einen kurzen Moment, um ihnen einen ausreichenden Vorsprung zu geben, und lief dann in einem relativ schnellen Tempo den beiden hinterher. Alle zwanzig oder dreißig Meter stoppten sie einen Augenblick, und alle lauschten angestrengt. Nach vielleicht hundert Metern hatten sie die beiden wieder eingeholt und wiederholten dieses Manöver einige Male, bis der Friedhof nun gleich in Sichtweite kommen mußte.

Wieder und wieder sah sich Harry seine Mitstreiter an. Die Anspannung wuchs von Sekunde zu Sekunde, und er hoffte, sie würden es durchstehen können. Für viele von ihnen würde es die erste richtige Konfrontation ihres Lebens sein, und er wußte nicht genau, wie ein jeder von ihnen es wegstecken würde. Er hoffte, sie wurden sich bewähren; er hoffte, sie würden ihr Leben retten können.

Harry war so tief in Gedanken versunken, daß er nicht wahrnahm, wie schnell sie vorankamen, ehe er mit ihnen unvermittelt am Waldrand stand, von dem aus er endlich den Friedhof erblicken konnte. Nichts rührte sich, und niemand war zu sehen.

Kein Dumbledore. Keine Armeen. Kein Voldemort.

Es schien, als ob er ganz und gar friedlich verlassen wäre. Der Mond erhellte den Friedhof deutlich, aber irgendwie unwirklich. Trotzdem gab es überall finstere Schatten, und Harry wußte, daß sich Dumbledores Armee in ihnen versteckt halten mußte. Er gab die Order aus, sich bis ungefähr in die Mitte des Friedhofes zu bewegen. Dort wollte er mit ihnen im Schutz der Bäume stehenbleiben und beobachten, was weiter geschah, bis der richtige Moment gekommen war. Sie beschleunigten ihre Schritte etwas, und waren kurz danach am Ziel.

Harry blickte nach rechts. Er sah etwas, das er nicht glauben wollte. Er sah, wie sich viele Bäume des Hanges aus dem Erdreich lösten und zur Seite flogen, ohne davon auch nur einen einzigen Laut zu hören. Er erkannte eine richtige Schneise, die sich vom Berg herabzog und die er bis eben nicht bemerkt hatte, und erkannte, daß es gleich losgehen würde. Das mußte es sein!

»Wir kommen im richtigen Moment«, sagte er zu Ron, und der nickte nur zurück. Die Anspannung stand auch ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Nach und nach traten Gruppen aus dem Wald. Harry konnte unzählige Riesen im Mondschein sehen. Sie waren unheimlich weit weg, aber er konnte sie durch ihre Größe überdeutlich erkennen. Vor ihnen hatte Harry den größten Respekt. Er wußte, was schon wenige von ihnen anrichten konnten, und er wollte nicht wirklich wissen, wozu diese Gruppe imstande war.

Noch immer war es dunkel und kalt. Die Sonne würde wohl nicht vor sieben Uhr aufgehen, dachte er und bis dahin war es noch fast genau eine Stunde. Voldemorts Armee betrat nun in ihrer gesamten Größe den etwa einhundert Meter breiten Streifen, der den Friedhof vom Wald trennte. Harry konnte Voldemort nicht entdecken, war sich aber sicher, er würde sich irgendwo in der Mitte versteckt halten. Auch von Dumbledore konnte Harry absolut nichts sehen. Das beunruhigte ihn aber weit weniger, denn er wußte, er würde da sein. Gleich würde es beginnen.

»Sie sind so weit weg, ich kann fast nichts erkennen«, sagte Ron, und Harry mußte ihm nickend zustimmen.

»Amplioduplus«, sagte Luna plötzlich. Harry drehte sich zu ihr um, und sie lächelte ihn an. »Ist nur eine zweifache Vergrößerung, aber besser als nichts.«

»Ja, ist schon viel besser«, bemerkte Ron, und Luna wiederholte den Spruch erst bei Harry und dann noch dreimal für Neville, Ginny und sich selbst. Harry blickte nun auf Voldemorts Armee, die er gleich viel deutlicher erkennen konnte.

Der Fahrende Ritter war noch immer unterwegs und nur noch zwanzig Minuten von Hogsmeade entfernt. Gegen sechs Uhr würde sie dort eintreffen, und inzwischen war Hermine schon wieder etwas schlecht geworden. Die Betten rutschten mit jeder ausweichenden Bewegung des Ritters unruhig auf dem Boden hin und her, während sie große Mühe hatte, trotz der ständigen Schaukelei stehen zu bleiben. Nichtsdestotrotz hatte sich der Fahrstil von Ernie deutlich verbessert, was sie erstaunt festgestellt hatte. Zwar fuhr er nicht mehr ganz so schnell, dafür aber war die Fahrt erheblich ruhiger als noch im letzten Jahr. Hermine war es nur recht. Es wäre nicht gut, wenn ich mich in Hogsmeade als allererstes übergeben muß, dachte sie und hielt sich erneut krampfhaft an einer Stange fest, weil wieder einmal etwas unerwartet den Weg des Ritters gekreuzt hatte. Die ganze Zeit über hatte Hermine angestrengt überlegt, was sie nach der Ankunft in Hogsmeade machen sollte. Die Reise konnte schließlich nur bis dahin gehen, da es wohl einfach zu auffällig wäre, wenn sie mit dem Fahrenden Ritter direkt bis nach Hogwarts führe. Ihr boten sich verschiedene Möglichkeiten, doch kurze Zeit später hatte sie sich fest für eine von ihnen entschieden.

Sie würde versuchen, über den Geheimgang im Honigtopf in die Schule zu gelangen. Dies würde zwar nicht leicht sein, doch war es wohl der sicherste Weg, schließlich hatte sie keine Ahnung, wie sich die Situation in Hogwarts genau darstellte, und außerdem kannten die Todesser den Geheimgang nicht. Durch den Geheimgang konnte sie relativ leicht ungesehen ins Schloß gelangen, und das war ihr sehr wichtig. Sie hoffte, daß der Kampf draußen vor den Mauern tobte, doch war sie sich dessen nicht sicher. Das Ziel der Todesser lag schließlich im Inneren der Mauern, weshalb es ihr auch möglich erschien, bereits in den Fluren auf Gegenwehr zu stoßen. Falls sie nicht sofort eine Gruppe Verbündeter treffen sollte, wollte sie über den Geheimgang nach Hogsmeade zurückkehren, um es mit dem Besen von dort – diesmal überirdisch –erneut zu versuchen. Es gab eigentlich nur diese Möglichkeit, da sie niemals in der Lage wäre, sich allein gegen eine deutliche Übermacht zur Wehr zu setzen. Hermines Ziel mußte es sein, möglichst schnell Anschluß an eine große Gruppe zu finden und sich nicht isolieren zu lassen, damit sie keinesfalls erneut in Voldemorts Hände fallen konnte. Ihr wahres Ziel war natürlich Harry, dem sie die Kraft geben wollte, alles Notwendige zu tun, wozu er allein vielleicht nicht fähig gewesen wäre, doch war sie sich im klaren, daß es schwierig sein könnte, ihn ausfindig zu machen.

Während sich Hermine all diese Gedanken machte, fiel ihr nicht auf, daß sie inzwischen Hogsmeade erreicht hatten. Kurz vor sechs kam der Fahrende Ritter daher unerwartet und mit einem ohrenbetäubenden Knall zum Stehen. Hermine erschrak und wäre beinahe über ein Bett gestolpert. Schnell lief sie zu Stan, um sich von ihm zu verabschieden.

»Vielen Dank! Das Geld bekommt ihr auf jeden Fall. Vielleicht also bis bald, ansonsten schicke ich dir demnächst eine Eule vorbei«, sagte sie und ging nach hinten.

»Mit dem Geld is' nich' nötig. Ich hoff', du kannst 'Arry helfen! Bis denne!« antworte Stan. Ernie dagegen nickte nur kurz mit dem Kopf. Hermine stieg die Stufen hinunter. Den Besen trug sie in ihrer linken Hand. Sie sah sich noch einmal kurz zum Bus um, der aber sofort mit einem lauten Knall im vom Mond beleuchteten Morgengrauen verschwand. Hermine orientierte sich kurz, dann lief sie los und fragte sich, ob die Schlacht schon begonnen hatte.

Voldemorts Armee kam unterdessen gut voran. Sie stampften weiterhin ohne ein einziges Geräusch durch den Wald. Die breite Schneise, die die Riesen in ihn geschlagen hatten, würde sicher viele Jahre benötigen, um wieder zu verheilen, doch darum scherte sich hier niemand. Nur mit Magie würde man diese Zerstörung schneller rückgängig machen können, dachte Vincent und beobachtete Draco Malfoy dabei, wie er sich mit Marcus Flint unterhielt. Auch Gregory schien sich sehr dafür zu interessieren, doch leider bekamen sie nicht das ganze Gespräch mit. Der Teil, den sie verstehen konnten, reichte aber aus, um genau zu wissen, worüber sich die beiden unterhielten. Sein Name fiel einige Male, und so waren beide sicher: es ging um Harry Potter.

Unauffällig näherten sich Vincent und Gregory, wollten sich doch beide in eine bessere Lauschposition begeben. Draco Malfoy war offensichtlich ganz erpicht darauf, Harry Potter beim Schlafen zu überraschen.

»Ich wette, wenn er mich plötzlich vor sich sieht, macht er sich die Hose naß!« spottete Malfoy, und dabei lachten er und Flint dreckig. Sogar Lucius Malfoy lächelte diabolisch, als er sich das Ganze wohl bildlich vorstellte.

»Wenn ich schnell bin, dann kann ich dem Wiesel auch noch eine verpassen. Crabbe und Goyle werden sich dann gleichzeitig die Trottel Thomas und Finnigan vornehmen. Und ich werde mir dann noch diesen Idioten von Longbottom vorknöpfen. Das wird ein Kinderspiel«, sagte Draco Malfoy, blickte zu Vincent und hatte sein fiesestes Grinsen aufgelegt.

Gregory wurde bei dem Gedanken ganz schlecht. Er sollte also Dean Thomas oder Seamus Finnigan töten. Allein die Vorstellung davon gefiel ihm gar nicht. Beide waren, soweit er wußte, sogar Reinblüter und hatten weder Malfoy noch ihnen je etwas getan. Für ihn gab es überhaupt keine Gründe und für Malfoy schon gar nicht, die beiden einfach zu töten. Auch in Vincents Gesicht sah er den puren Ekel ob des Gedankens an einen kaltblütigen Mord. Aber was nur sollten sie tun? Sie konnten sich nicht einfach aus dem Staube machen, und wenn sie sich weigerten, dann würde sich Draco Malfoy gegen sie stellen, und mit ihm wollte es Gregory auch nicht zu tun haben. Dafür war dieser einfach viel zu stark, das wußte er und versuchte verzweifelt, einen Ausweg aus dieser unerträglichen Situation zu finden.

Etliche Minuten später sah Vincent, daß sich die fünf Gruppen nach rechts und links verteilten. Er läßt uns ausschwärmen, dachten beide beinahe gleichzeitig und folgten dem Anführer ihrer Gruppe. Es war niemand anderes als Lucius Malfoy persönlich. Die anderen Gruppen wurden, so hatten sie es zumindest vorhin mitbekommen, von Bellatrix Lestrange, ihrem Mann Rodolphus und Antonin Dolohow geleitet. Dolohow, das wußten beide, war auch schon zweimal aus Askaban geflohen. Er war ein sehr gefährlicher Mann, der eine unglaubliche Angst verbreiten konnte. Auch die anderen wurden von allen gefürchtet, besonders Bellatrix Lestrange. Allein beim Klang ihres Namens zuckten die meisten zusammen. Sie soll wahnsinnig sein, hatte ihnen Draco Malfoy in Durmstrang erzählt, und selbst er erschauderte beim Klang ihres Namens. Die letzte Gruppe leitete der Dunkle Lord persönlich. Mit ihr wollte er Albus Dumbledore und, wenn möglich, direkt danach Harry Potter ausschalten. Vincent fragte sich, wer Potter zuerst erwischen würde, der Dunkle Lord oder Draco Malfoy, bei dem er im Zweifel war, was dieser wirklich tun würde.

Vincent und Gregory verließen nun den Wald, und vor ihnen war nur noch ein etwa hundert Meter breiter Grünstreifen, bis sie auf die eigentliche Friedhofsanlage treffen würden. Es war unmittelbar vor sechs Uhr, alle verteilten sich und zogen ihre Zauberstäbe. Auch Vincent und Gregory zogen ihre Stäbe aus ihren Umhängen, inständig hoffend, sie nicht todbringend einsetzen zu müssen.