Disclaimer: Nichts an dieser Geschichte gehört mir, außer dem Plot. Alle originalen Charaktere und Schauplätze die aus dem HP-Universum entnommen sind, gehören J. K. Rowling oder Warner Bros. oder wem auch immer. Ich mache damit kein Geld.
Kapitel 11 – Schlacht um Hogwarts TEIL 2
Harry öffnete seine Augen und sah Hermine vor sich. Sie haben jetzt also meine Seele, dachte er und fühlte sich eigenartig. Wenn er dem Kuß eines Dementors erlegen war, konnte er dann überhaupt noch denken … konnte er Hermine vor sich sehen? Ist ja gar nicht mal so übel. Alles, was er wollte, war Hermine zu sehen … in ihre Augen zu schauen … sie zu küssen … mhhh … es sollte doch das Schlimmste auf der Welt sein … schlimmer als der Tod … irgendwas stimmte hier doch nicht, vielleicht war er ja doch gestorben. Was war passiert? Und warum tat ihm sein Gesicht nur so weh?
Seine linke Wange schmerzte ihm fürchterlich. Erst jetzt spürte er, daß er seine Wange schon mit der Hand rieb, wovon es aber nicht besser wurde. Es fühlte sich eigenartig vertraut an, eigentlich so, wie sich sein Gesicht immer angefühlt hatte. Noch immer sah er Hermine in die Augen. Sie sahen verheult aus. Ihr Gesicht war ganz naß. Sie starrte ihn an. Warum nur starrt sie mich an? Ja, starr mich nur weiter an … das ist so schön. Unbewußt begann er zu lächeln, und ihm wurde warm ums Herz.
»Ich liebe dich so sehr. Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich liebe!« sagte er leise, doch sie hatte jedes Wort gehört.
Er wollte plötzlich nach ihr greifen … er griff nach ihr … berührte ihre Hüfte … streichelte sanft über ihren Körper … er fühlte sie in seinen Händen. Er wollte sie küssen … sie lächelte … ihre Augen schienen jetzt im Glanz ihrer Tränen zu strahlen. Sie beugte sich zu ihm … er beugte sich hoch zu ihr … nur ein wenig. Sie küßte ihn … eine unglaubliche Wärme durchflutete seinen Körper … er spürte, wie sie ihre unglaublich zarten Lippen öffnete … nur eine Winzigkeit … er ließ es geschehen … ihre Zungen berührten sich … es war, als schlüge ein Blitz in seine Zunge ein, und Tausende Schmetterlinge flatterten in seinem Magen umher. Sie schmeckte so gut, und es fühlte sich so perfekt an. Harry wünschte, die Zeit würde einfach stehen bleiben. Er fühlte sich so glücklich und fröhlich, es war einfach ein perfekter Augenblick, und es gab nichts, was ihn hätte zerstören können.
»STOPP!« entfuhr es ihm laut, kaum daß er zurückgezuckt war. Hermine erschrak.
Das also war also der Trick, dachte er verängstigt. Er würde das Schönste, was er sich nur vorstellen konnte, immer und immer wieder erleben müssen, stets mit der Gewißheit, daß nichts davon echt wäre. Das ist wirklich grausamer als der Tod, dachte er wütend. Sich für den Rest seines erbärmlichen Lebens einer Phantasie hinzugeben, er wußte nicht, ob er das konnte.
Hermine starrte ihn fassungslos an. »Was ist los? Liebst du mich nicht mehr? Ich dachte, du wolltest es.«
Eine merkwürdige Pause entstand.
»WAS?« fragte Harry verwirrt und zögerte einen Moment. »Was ist hier … du kannst doch nicht … wieso … wie bin … du?«
»Schschsch!« beruhigte sie ihn sanft. »Es wird alles gut!« sprach sie geflüstert weiter. Sie hatte sofort begriffen, daß Harry total verwirrt war und noch nicht in der Lage war, mit der neuen Situation umzugehen. Es war wohl nicht so, daß er den Kuß nicht wollte, vielmehr schien er nur nicht daran glauben zu können.
Allmählich beruhigte er sich ein wenig und lag nun wieder flach auf dem Waldboden. Hermine richtete sich auf und kniete nun über ihm. Ihre Hände strichen über seine Brust, während er ihr in ihre herrlich braunen Augen sah. Er dachte nach.
Nein, das kann doch alles nicht wahr sein … Hermine war doch entführt … sie war … sie ist tot … TOT! Sie ist nur ein Hirngespinst!
Er wollte so sehr, daß sie Wirklichkeit war, hatte dafür aber keinen Funken Hoffnung mehr in sich. Aber was, wenn sie Wirklichkeit war? Zweifel kamen ihm und verwirrten ihn nur noch mehr. Wie sollte er das klären, wie sollte er Gewißheit erlangen können? Er wollte aufstehen. Er wollte zu Ron und Dumbledore. Er wollte sie fragen, was hier los war, und sie sollten ihm die Gewißheit bringen, die er brauchte. Aber was, wenn auch sie nicht wirklich waren? Was ist überhaupt Wirklichkeit? Bin ich wirklich? Eins nach dem anderen. Finde Dumbledore, finde Ron!
Hermine ließ ihn gewähren. Sie drehte sich von ihm herunter und kniete nun neben ihm. Harry richtete sich auf und sah wieder direkt in ihre wunderschönen Augen, während sie ihn einfach nur verliebt anlächelte. Ohne darüber nachzudenken, lächelte er zurück. Sie wirkte so überglücklich, und er verstand das nicht. Noch immer äußerst nervös, stand er auf. Schnell sah er sich auf dem Boden um und entdeckte seinen Zauberstab, nur einen Meter entfernt. Er bückte sich, hob ihn mit der rechten Hand auf und steckte ihn sofort in seinen Umhang. Sie stand inzwischen ebenfalls und sah ihn noch immer liebevoll an. Seine Augen suchten nun seinen Feuerblitz, welcher nur fünf Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag. Erleichtert ging er zu ihm hin, hob ihn mit seiner linken Hand auf und drehte sich wieder zu Hermine.
»Mein Besen liegt dahinten!« sagte sie und wollte schon loslaufen.
»Warte!« Sie stoppte und blickte zu ihm zurück. Er kam langsam auf sie zu und ergriff ihre linke Hand. »Wir bleiben zusammen. Bitte geh nicht fort.«
Sie darf mich nicht verlassen. Keinesfalls. Auch wenn sie nur ein Trugbild sein sollte, ein Trugbild mit einer warmen, seidenen Hand, dachte er und blickte zu ihrer Hand hinunter. Er liebte ihre Hände. Schon immer. Sie waren erheblich kleiner als seine und sahen so unglaublich zart und zerbrechlich aus, obwohl sie es nicht waren. Mit diesen Händen hatte sie Malfoy eine verpaßt. Stolz lächelte er einen Moment. Manchmal waren Tintenkleckse an ihnen, doch das störte Harry nicht, gehörte es doch zu Hermine, wie die Narbe auf seiner Stirn zu ihm gehörte. Ihre Fingernägel waren immer kurz – sie kaute gelegentlich an ihnen –, und sie hatte sie nicht ein einziges Mal lackiert, wie fast jedes andere Mädchen es tat. Auch das gefiel ihm. Ihm gefiel auch, daß man keine Adern auf ihren Händen sehen konnte und sie nicht so knöchrig waren wie die so vieler anderer junger Hexen in Hogwarts. Es waren in seinen Augen die perfekten Hände, und er wollte sie für den Rest seines Lebens in den seinen halten.
Schritt für Schritt folgte er Hermine, welche einen halben Meter vor ihm ging. Er folgte ihr bis zu ihrem Besen, der kurz hinter dem Ende der kleinen Lichtung lag.
»Wir müssen zu Dumbledore!« sagte sie, während sie den Besen mit der rechten Hand vom Waldboden hob.
»Ich weiß!«
Hermine sah ihm wieder in die Augen und lächelte ihn weiter verliebt an. Wenn er mit Dumbledore spricht, wird er es verstehen, ging es ihr durch den Kopf, und sie mußte ihren inneren Drang unterdrücken, ihm um den Hals zu fallen und ihn solange zu küssen, bis ihm die Luft ausging. Zusammen gingen sie noch immer händchenhaltend auf die Lichtung zurück.
Hermine wollte Harrys Hand loslassen, doch merkte sie sofort, daß er das nicht zuließ. Sie blickte ihn an und deutete mit ihren Augen kurz auf ihre Hände. Er nickte kaum merklich und ließ nun doch ihre Hand langsam aus der seinen gleiten. Sie spürte, daß ihm das absolut unangenehm war, doch es ließ sich nicht ändern, wie sehr auch sie seine Hand weiterhin halten wollte.
Beide bestiegen ihre Besen und stießen sich vom Boden ab. Sie stiegen sehr langsam, bis sie knapp über den Baumwipfeln waren. Kurz orientierte sich Harry und sah den Friedhof vor sich. Einige Lichtblitze zischten über das Schlachtfeld hinweg, und einige davon sah er auch in ihre Ziele einschlagen.
Vorsichtig flog er nun in die Richtung, aus der er vorhin hierher gekommen war, ehe er sich umblickte und ins lächelnde Gesicht von Hermine sah. Wie er dieses Gesicht liebte. Ihre strahlende Schönheit hielt ihn für einen Augenblick gefangen, ehe er ein wenig beschleunigte und seine Aufmerksamkeit wieder auf den Friedhof richtete, um dort die Lage zu peilen.
Hinten rechts hatten Hagrid und seine Riesen wohl unter deutlichen Verlusten gesiegt. Ein Teil von ihnen kämpfte nun anscheinend gegen ein paar Todesser, die sich zu ihnen hatten zurückfallen lassen. Die feindlichen Riesen waren entweder geflohen oder lagen geschlagen am Boden. Voldemort und seine Armee waren schon bis auf achtzig Meter an Dumbledores Stellung herangekommen und befand sich weiter auf dem Vormarsch. DA-Mitglieder konnte Harry keine entdecken, doch darüber wunderte er sich nicht allzusehr. Wahrscheinlich hatten sie sich einfach irgendwo im Wald versteckt und warteten auf die nächste passende Gelegenheit, um einen weiteren Angriff zu beginnen.
Direkt vor sich sah Harry die andere Gruppe feindlicher Riesen, die schon deutlich in die Flanke der Verteidiger vorgestoßen waren. Erschrocken konnte er einige ihrer Opfer am Boden liegen sehen, und sofort befiel ihn eine leichte Übelkeit. Er würde die Riesen gleich überfliegen und zog instinktiv seinen Zauberstab.
Zum wiederholten Male sprach er: »Reducio!«
Ein Lichtblitz flog in Richtung der Riesen davon. Harry überquerte sie, sah nach unten und bekam mit, wie ein weiterer, aber andersfarbiger Fluch in einen der Riesen einschlug, und dieser war eindeutig von Hermine abgeschossen worden.
Sofort orientierte er sich wieder nach vorn und suchte Dumbledore in der Menge der Zauberer am Friedhofsrand. Er glaubte ihn an einem großen Grabdenkmal in der Mitte des Friedhofs an seinem langen weißen Bart und dem ebenso weißen Kopfhaar zu erkennen und ging langsam tiefer.
Er erschrak noch kurz, als ein roter Fluch nur knapp an ihm vorbeischoß und setzte nur einen Moment später zur Landung an. Er kam nur vier Meter hinter Dumbledore im Schutz des Grabdenkmals auf, und keine zwei Meter von ihm entfernt landete Hermine. Während Harry gerade vom Besen stieg, kam ihm Dumbledore schon freudig lächelnd entgegen:
»Harry, schön dich hier zu sehen. Ist alles in Ordnung mit dir?«
Unsicher drehte sich Harry langsam zu Hermine. »Nein, ich … ich meine … ich weiß es nicht.« Hermine lächelte ihn noch immer an. Dieses Lächeln ist so wunderbar, dachte er. »Können … können Sie sie sehen?« fragte Harry zu ihr gewandt, aber eigentlich Dumbledore meinend. Viele Fragen kehrten dabei in sein Hirn zurück. Was ist hier Wirklichkeit? Ist Dumbledore Wirklichkeit? Und wenn er Wirklichkeit ist und er sie nicht sehen kann, was soll ich dann nur tun? Soll ich sie hier zurücklassen, sie aufgeben. Soll ich sie mit mir nehmen? Würde sie überhaupt bei mir sein können?
»Wen? Hermine?« fragte Dumbledore nun zurück.
»Was? Sie … Sie können sie wirklich sehen?« fragte Harry ungläubig und drehte den Kopf schnell zu Dumbledore, der ihn nun weise anlächelte.
»Aber selbstverständlich! Sie war eben schon hiergewesen, ehe sie uns einen Schreck einjagte und zu dir in den Wald flog.«
Harry drehte sich wieder zu Hermine. Ein wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht: »Ich habe den Kuß verhindert! Kein Dementor hat dir etwas getan.«
Harry stürmte die zwei Meter zu ihr, riß sie fast um und drückte ihr einen dicken Kuß auf die Lippen. Es war kein zärtlicher Kuß, es war vielmehr ein befreiender, erlösender Kuß, doch das spielte für keinen von den beiden eine Rolle. Sie schmeckte so gut, dachte er, als seine Zunge die ihre erforschte und jede Berührung einen weiteren Stromstoß durch seinen Körper schickte. Seine Hände streichelten ihre Flanken und die rechte davon fand sich schnell in ihren Haaren wieder, die sich buschig und gleichzeitig so weich anfühlten. Es muß wirklich sein! Alles muß wirklich sein! Ich lebe. Hermine lebt. Wir leben. Wir haben noch eine Chance bekommen. Nutze sie! Nutze sie, verdammt noch mal!
Schließlich ließen Harry und Hermine voneinander ab. Mühsam stand Harry auf, steckte seinen Zauberstab ein und griff wieder Hermines Hand, der er auf die Beine half. Anschließend zog er sie mit zu Dumbledore, der sie zufrieden anlächelte und dieses typische Funkeln in den Augen hatte.
»Du glaubst es wohl endlich, oder?« Erleichterung war Hermine ins Gesicht geschrieben.
Sofort drehte er sich kurz zu ihr um. »Na ja, jetzt schon!«
Die Welle der Erleichterung, die seinen Körper ergriffen hatte, ebbte langsam ab, und mit einigen Anstrengungen konnte er den Fokus wieder auf die Kampfhandlungen lenken.
Eigentlich würde er sich am liebsten sofort mit Hermine davonmachen, doch war er sich der großen Verantwortung bewußt, welche er am heutigen Tage trug, und dieser wollte er unter allen Umständen gerecht werden. Ernst wandte sich Harry wieder Dumbledore zu:
»Professor, wie sieht's aus? Wo ist Ron? Wie können wir am effektivsten helfen?«
»Mr. Weasley ist da hinten auf der rechten Seite im Wald. Er flog gerade wieder eine Angriffswelle und war damit scheinbar auch erfolgreich.« Harry sah im Augenwinkel, wie sich Molly unglaublich besorgt umsah. Mit weiten Augen starrte sie an die Stelle, auf die Dumbledore soeben gezeigt hatte. »Er hat sich jetzt wieder zurückgezogen, vermutlich, um Voldemorts Armee kein dauerhaftes Ziel zu bieten. Wir haben inzwischen große Verluste erlitten.« Seine Stimme klang mit einemmal deutlich ernster, und er fuhr im selben Tonfall fort. »Auch einige deiner Freunde sind verletzt! Trotzdem ist der allgemeine Verlauf dieser Schlacht bisher noch sehr positiv für uns. Viele hatten einen sofortigen Rückzug von Voldemort erwartet, kaum daß er auf unseren Widerstand gestoßen wäre, doch statt dessen rückt er Meter um Meter vor und reibt seine Armee auf, genau wie ich es erwartet habe. Du solltest jetzt zu Ron stoßen, dich aber aus dem Gröbsten heraushalten. Denk an die Prophezeiung! Ihr solltet den Luftangriff weiter fortsetzen. Liefert ihnen einen guten Kampf, aber riskiert bitte nicht zuviel.«
»Welche Prophezeiung?« fiel Molly ihm ins Wort, bevor Harry etwas entgegnen konnte.
»Die Prophezeiung, die davon spricht, daß nur ich Voldemort töten kann oder selbst von ihm getötet werde«, erwiderte Harry mit einem ernsten Blick. Sie sah ihm mehr als nur sehr besorgt ins Gesicht, doch sagte sie nichts.
Plötzlich drückte Hermine seine Hand immer fester, beinahe so, als würde sie diese nie mehr loslassen wollen.
»Geh nicht«, bat sie und klang mit einemmal flehend. Harry verstand das nicht wirklich. Sie kannte die Prophezeiung schon lange und mußte Verständnis für seine Lage haben. Er mußte tun, was von ihm erwartet und verlangt wurde.
»Er muß! Ich wollte es vielleicht zuerst selbst nicht wahrhaben, aber wir haben nur mit euch und den anderen der DA eine echte Möglichkeit, dem hier und jetzt ein Ende zu bereiten. Schon jetzt habt ihr viel mehr bewirkt, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen je hätte vorstellen können«, antwortete Dumbledore sofort, als ob er ihre Bitte schon erahnt hätte. Hermine blickte voller Angst zu ihm. »Wenn es eine andere, einfachere, weniger gefährlichere Lösung für Harry geben wurde … Bitte glaube mir, Hermine«, er sah ihr mit einem unglaublich sanften, aber wachen Gesichtsausdruck genau in die Augen, »ich schwöre, ich würde mein eigenes Leben dafür geben, sie zu nutzen.« Dann blickte er sich zu Molly um. »Schnell, Molly, geht jetzt, die Riesen müssen endgültig aufgehalten werden!«
Harry sah, daß Molly sich Arthur, Fred und George schnappte und auf den Weg machte, die Riesen an der rechten Flanke endlich zu vertreiben.
»Wir sollen also Ron informieren, und ich soll mich raushalten?« fragte Harry ernst. »Keine weiteren Anweisungen?« Seine Augenbraue zuckte fragend nach oben.
»Anweisungen kann ich dir sowieso nicht geben! Du bist auf eigene Verantwortung hier. Nur du selbst entscheidest für dich und die anderen. Ich spreche lediglich eine Empfehlung aus.« Er fuhr fort, und Harry beobachtete ihn dabei sehr aufmerksam. »Allerdings möchte ich die Bitte wiederholen, dich nicht auf Teufel komm raus ins Getümmel zu werfen, auch wenn ich deswegen, jetzt da Hermine zurück an deiner Seite ist, keine großen Bedenken hege. Deine Zeit wird bald kommen. Ebenso ist, wie mir scheint«, Dumbledore drehte sich kurz zum Schlachtfeld, »nun die Zeit gekommen für eine weitere Überraschung unserer Gegner!«
Der alte Mann hob seinen Zauberstab in die Höhe, und rote Funken stiegen in den Himmel. Einige der Verteidiger hoben ihre Köpfe. Links von sich konnte er Remus entdecken, nur dreißig Meter entfernt. Dieser bemerkte ihn seinerseits sofort und lächelte ihm kurz zu, ehe er sich gleich danach wieder dem Kampfe widmete. Dumbledore lächelte nun Harry an; er zielte mit dem Zauberstab nicht mehr in den Himmel, sondern drehte sich zum linken Rand des Friedhofs und zielte auch dorthin. Eine undeutlich gemurmelte Formel drang an Harrys Ohren, und sie kam eindeutig von Dumbledore.
Plötzlich erschienen draußen am äußersten Rand zwei riesige Drachen und ein paar Zauberer. Ihre Erscheinung war atemberaubend, und sie zogen Harrys Blick für einen Moment auf sich, ehe er hinüber zu Hagrids Riesen sah. Sechs oder sieben von ihnen, gefolgt von fünf oder sechs Trollen, hatten soeben den Kampf gegen die Todesser abgebrochen und liefen nun mit riesigen, aber trotzdem flinken Schritten quer über den Friedhof auf die andere Seite. Sie wollen sicher Raum für die Drachen schaffen, dachte Harry, der noch immer Hermines Hand hielt und sie nun ein wenig fester drückte, was sie umgehend erwiderte.
Auch Dumbledore sah den Riesen hinterher, und als sie gerade die Mitte des Friedhofs überquert hatten, zielte er mit seinem Zauberstab in ihre Richtung. Harry hörte wieder ein leises, unverständliches Gemurmel aus dem Munde des alten Mannes, als plötzlich zwei riesige Drachennester zwischen den Todessern aus dem Boden wuchsen. Einige der Todesser wurden von den Nestern förmlich davongeschleudert, und einige von ihnen flogen sogar durch die Luft. Die Nester hatten sich praktisch aus dem nichts gebildet und hatten ihre Gegner völlig überrascht.
Erneut reckte Dumbledore seinen Zauberstab in die Höhe, und schon stoben rote Funken in den Himmel. Überrascht blickte Harry zurück zu den Drachen, von denen er einen zu kennen glaubte. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es war der blaugraue Schwedische Kurzschnäuzler, mit dem Cedric sich während des Trimagischen Turniers gemessen hatte, zumindest sah er ihm unheimlich ähnlich. Harry war fasziniert von dem riesigen Tier, welches sich plötzlich feuerspeiend in Bewegung setzte und auf die Todesser auf der linken Seite zuhielt. Harry sah, wie sich einige wenige ihrer Gegner den Drachen zuwandten, um sie anzugreifen, doch es gab auch einige, denen es jetzt wohl langsam zu viele Überraschungen waren. Hektisch schienen diese den Rückzug angetreten zu haben und liefen in die Richtung des Waldstückes, aus dem sie anfangs gekommen waren.
Einige ihrer Feinde wurden von einem der feuerspeienden Drachen – er konnte nicht genau ausmachen, von welchem – voll erwischt. Obwohl ihn jeder der Todesser bei jeder sich bietenden Gelegenheit brutal töten würde, spürte er ein wenig Mitleid in sich aufsteigen. Er spürte, wie Hermine, die es ebenfalls gesehen hatte, zusammenzuckte und für einen kurzen Moment seine Hand noch einmal ein wenig fester hielt.
»Du erstaunst mich immer wieder«, meinte Dumbledore zu Harry gewandt. »Nicht ein jeder ist in der Lage, Mitleid mit seinem schlimmsten Feind zu empfinden. Nun ist es aber an der Zeit, uns wieder unseren vorbestimmten Aufgaben zuzuwenden. Voldemort wartet nicht auf uns. Sofern wir siegreich sein mögen und diese unsere bisher größte Herausforderung lebend überstehen, wird sich sicher noch genug Zeit für das eine oder das andere kurze Pläuschchen finden.« Sanft legte der alte Mann seine Hände auf Harrys und Hermines Schulter. »Viel Erfolg euch beiden!«
Die Hand Dumbledores ließ sie los. Der alte Mann drehte sich um und ging schnellen Schrittes in Richtung eines Grabsteines, links vom großen Grabdenkmal. Sofort zielte er auf etwas, ein leuchtend gelber Blitz schoß aus seinem Zauberstab in Richtung Cedrics Drachen und schlug unter seinem Bauch ein. Instinktiv wußte Harry, daß es irgendein Schutzzauber war, drehte sich zu Hermine und blickte ihr so ernst, wie er es noch nie getan hatte, ins Gesicht
»Bevor wir gehen, muß ich dir noch ein paar Sachen sagen, denn ich weiß nicht, ob ich dafür nachher noch Gelegenheit habe. Ich … ich habe dir bisher nie gesagt, wie wunderschön du bist und … daß ich dich unglaublich liebe. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr. Dich jetzt vor mir zu sehen, in deiner ganzen Pracht, raubt mir den Atem. Ich liebe dich, und ich habe dich so unendlich vermißt!«
Hermine sah ihm tief in seine grünen Augen und sagte mit einem atemberaubend schönen Lächeln und ihrer weichen Stimme nur zwei Worte: »Ich weiß!«
Natürlich wußte sie, daß sie schrecklich aussehen mußte, völlig verschwitzt, das Gesicht von der Kälte gerötet, vielleicht der ein oder andere Kratzer an der ein oder der anderen Stelle, dazu noch eine absolut schreckliche Frisur und dreckige Kleidung. Trotzdem wußte sie auch, daß all das in Harrys Augen keine Rolle spielte. Er liebte sie und liebte sie vor allem so, wie sie war. Für ihn mußte sie keine schicken Kleider tragen, kein Make-up auflegen, sich stundenlang vorbereiten. Für ihn spielte das alles keine Rolle, und sie liebte ihn dafür nur noch mehr. Harry war der Mann ihrer Träume, dessen war sie sich absolut sicher.
Lange und zärtlich küßten sie sich. Wieder konnte Harry sie schmecken, und es gefiel ihm so sehr, daß er sich nur unglaublich schwer von ihr lösen konnte. Ihr Blick sagte ihm alles, was er wissen mußte, und auch sie schien zu verstehen, was er ihr ohne Worte sagen wollte. Ein wenig zögernd bestiegen beide ihre Besen und stießen sich vom Boden ab.
Rasend schnell entschied er sich, einfach auf Rons Position zuzuhalten, und beschleunigte seinen Besen auf ein hohes Tempo. Er wußte Hermine hinter sich und hoffte inständig, daß sie ihm mit ihrem Besen würde folgen können.
Als er Hagrid überflog, wirkte dieser überaus eilig, während er seine kleine Gruppe mit schnellen Schritten weiter auf die andere Seite des Friedhofs führte. Harry war sich sicher, daß Hagrid – jetzt, da die Drachen im Einsatz waren – Voldemorts letzte Riesen angreifen würde. Auch diese Gruppe war schon erheblich dezimiert, und kaum einer von ihnen hatte noch seine ursprüngliche Größe. Sie kämpften noch immer auf Dumbledores rechter Seite, würden gleich von hinten angefallen werden und damit sicher schnell endgültig besiegt sein.
Harry hatte zwar gesehen, daß Familie Weasley geschlossen zur rechten Flanke geeilt war, um ebenfalls die Riesen zu stoppen, doch er war sich nicht sicher, ob sie es auch allein schaffen konnten. Mit Hagrid aber sollte es kein Problem mehr sein, dachte er und zog seine Flugbahn ein wenig tiefer. So schnell wie möglich, wollte er zu Ron und wollte ihm vor allem auch die gute Nachricht von Hermines Rückkehr überbringen! Dabei wußte er genau, wenn Ron Hermine erst einmal erspäht hätte, wären weitere Worte sowieso überflüssig. Nur noch etwa fünfzig Meter trennten sie vom Waldrand, und Harry versuchte nun die DA-Mitglieder auszumachen, während er immer tiefer ging und einigen Flüchen auswich.
Da, das mußten sie sein, dachte er, als er eine Gruppe – nur zwanzig Meter links von seiner Position – im Walde stehen sah. Er steuerte direkt auf sie zu und bremste hart ab. Lichtblitze zuckten an ihm vorbei und schlugen über ihnen in die Bäume ein. Bitte laß Hermine nicht getroffen sein, dachte er im gleichen Moment, in dem er zur Landung ansetzte.
Vincent, Gregory, Ron Weasley, Ernie Macmillan, William Mcnamara und Justin Finch-Fletchley waren am Rande des Friedhofs angekommen. Gregory bemerkte, wie sich Ron sehr besorgt umblickte. Dieser stand ganz vorne und gab Handzeichen in Richtung des Waldrandes. Danach drehte sich Ron um.
»Wenn der Angriff beginnt, dann lauft!« Dabei sah er vor allem Vincent und Gregory an.
Sofort danach drehte sich Ron wieder in Richtung Waldrand und wartete. Ein paar Sekunden vergingen. Über den Baumwipfel erschien urplötzlich eine Staffel Besenflieger und schoß auf sie zu. Sie erhöhten augenblicklich ihr Tempo und überbrückten die restlichen achtzig Meter bis zur Friedhofsgrenze in weniger als fünf Sekunden. Sie schossen über die Köpfe der sechs am Boden hinweg, flogen parallel zum Rücken der Todesser, und wieder schien keiner ihrer Feinde damit gerechnet zu haben. Blitze zuckten auf und flogen auf die Todesser zu.
»Los jetzt«, hörten sie Ron leise drängeln, als er seinen Blick wieder auf den Waldrand richtete und in gebückter Haltung loslief.
Zweimal wäre Vincent fast gestolpert, doch sie erreichten nach rund dreißig Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen, ohne ernsthafte Probleme den Waldesrand. Vielmehr schien es, als ob sie dabei nicht einmal beobachtet wurden.
Sie verschwanden im Wald, bis Ron ihnen zurief: »Stopp, das reicht!« Er hielt sie mit seinem Zauberstab in Schach.
Vorsichtig legte William Mcnamara den Hufflepuff auf dem Boden ab; Ron versuchte an diesem einige Flüche, die wohl seine Starre beenden und ihn ins Bewußtsein zurückholen sollten. Gregory sah in Richtung Friedhof und erblickte die über zwanzig jungen Hogwartsschüler, die nun auf ihren Besen zurück in ihre Richtung geflogen kamen. Alle Piloten feuerten weitere Flüche in den Rücken der Todesser. Dann geschah, was auf Dauer wohl unvermeidlich war, wie er dachte. Die Todesser feuerten zurück.
Es ging alles so furchtbar schnell. Ein paar grüne und weiße und rote Flüche schlugen ein. Die getroffenen Flieger schmierten ab und schlugen auf dem Friedhof auf.
»O mein Gott!« hörte er Vincent stöhnen.
Die Verbliebenen zogen knapp vor dem Waldrand noch einmal hoch und bremsten über ihren Köpfen stark ab. Sie wollten knapp hinter ihnen in den Baumwipfeln Deckung suchen, als ein weiterer Flieger von einem grünen Fluch voll am Kopf getroffen wurde.
»A-va-da …«, flüsterte Ron Weasley voller Erfurcht zu sich selbst, als ob er es nur glauben konnte, wenn er die Worte selbst gesprochen hätte.
Auch William Mcnamara zuckte zusammen, als Ron Weasley die Worte fallenließ. Sie hörten den Getroffenen durch die Äste der Bäume fallen; sein grauenhafter, dumpfer Aufschlag, nur acht Meter von ihnen entfernt, ließ ihnen allen den Atem stocken. Die anderen Piloten setzten davon unbeeindruckt zur Landung an. William ließ von Ernie ab. Alle gingen tiefer in den Wald, um die Bäume als Deckung zu nutzen. Sicher würden gleich weitere Flüche in ihre Richtung abgeschossen, dachte Vincent. Ron lief sofort zu dem getroffenen Zauberer. Gregory ging hinter ihm vorbei, genau auf die gelandeten DA-Mitglieder zu.
Im Vorbeigehen sprach er an Ron gewandt: »Es tut mir wirklich leid!«
Ron reagierte nicht. Er hielt Padma Patil in seinen Armen.
Neville Longbottom kam auf ihn zu. »Du kannst nichts dafür. Ernie zu retten, war kein Fehler! Früher oder später hätte es immer jemanden erwischt.« Er hatte einen traurigen Ton in der Stimme.
»Wer sind die anderen?« fragte Ron, mit einem leichten Zittern seiner Stimme.
»Mandy Brocklehurst, Michael McGregor, Anthony Goldstein und Scott Clayborn.«
Gregory hatte besonders bei dem Namen Scott Clayborn aufgehorcht. Ein weiterer Schüler aus Slytherin! Er war im gleichen Jahrgang wie William Mcnamara, und er war einer der wenigen, die Malfoy nicht einfach blind gehorcht hatten. Scott hatte sich stets geweigert, andere zu schikanieren, wie es ihm Malfoy des öfteren befohlen hatte. Wie viele, die er so gut zu kennen glaubte, waren wohl noch in dieser Gruppe? Etwa alle vier, die aus Durmstrang wegen Krankheit abgereist waren?
Natürlich wußte Gregory noch genau, wer im letzten Jahr zu dieser Vereinigung gehört hatte, als Vincent und er Professor Umbridge und Malfoy dabei helfen mußten, diese Verschwörung aufzudecken, doch war er sehr überrascht, wie groß sie inzwischen zu sein schien. Noch mehr war er allerdings darüber überrascht, hier mehrere Slytherins vorzufinden. Ich hätte nie geglaubt, daß Potter mit Slytherins zusammenarbeitet, dachte er bei sich, und seine Hoffnung mehrte sich, hier doch noch mit heiler Haut davonzukommen.
»Neville, wo sind deine Begleiter, und wo ist Harry?« fragte Ron, der inzwischen Padma Patil sanft auf dem Waldboden abgelegt hatte. Gregory sah, wie Luna Lovegood zu Ron ging und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
»Ginny und die anderen sind drüben bei der anderen Gruppe, ich bin nur mit Luna zu dir geflogen. Harry ist bei Professor Dumbledore, der wollte ihn unbedingt sprechen. Er kommt sicher gleich hierher!« antwortete Neville.
»Du fliegst rüber zur anderen Gruppe. Sag ihnen: Planänderung! Ihr wartest dort auf uns. Wir kommen zu euch, sobald Harry hier ist. Er wird uns sagen, was zu tun ist!«
»Alles klar!«
Selbstsicher lief Neville mit seinem Besen zum Waldrand. Die meisten folgten ihm, wohl um den Friedhof wieder besser überblicken zu können. Die Bäume gaben ihnen zwar Schutz und sorgten für eine gute Deckung, aber sie nahmen ihnen auch die Sicht auf das Geschehen. Neville Longbottom machte am Waldrand halt und drehte sich nach rechts. Nur leicht stieß er sich vom Boden ab und gewann kaum zwei Meter an Höhe, ehe er stark beschleunigte und am Waldrand entlang nach hinten jagte. Gregory war sich sicher, daß er ganz nah am Waldrand entlangfliegen würde, einmal um den Friedhof herum, um dann an der gegenüberliegenden Seite anzukommen.
Schnellen Schrittes ging Ron zu Parvati Patil. Diese blickte aufgelöst an ihm vorbei, und Gregory bemerkte, daß ihr Blick auf ihre tote Schwester gefallen war, während sie von Katie Bell festgehalten wurde. Sie wollte zu ihr, das konnte er genau sehen, und er wußte auch, warum sie es wollte. Wäre er an ihrer Stelle, würde er es genauso wollen. Sie konnte es nicht glauben und wollte ihre Schwester berühren … fühlen … spüren, daß es Wirklichkeit war.
Plötzlich gelang es Parvati, sich aus Katie Bells Griff lösen und stürzte zu ihrer Schwester. Ron fing sie nur einen Meter vorher auf und hielt sie fest. Sie zitterte, und er nahm sie in den Arm. Sofort fing sie an zu weinen, und Gregory wunderte sich nur, wie sie es solange geschafft hatte, ihre Tränen zurückzuhalten.
Irgend etwas flüsterte er ihr ins Ohr, was Gregory nicht verstehen konnte. Plötzlich blickte sie zu ihm herüber und starrte Vincent und ihn an. Dieser Blick traf ihn hart. Niemals zuvor hatte ihn jemand so voller Verachtung angesehen. Ohne es zu wollen, machte er einen halben Schritt rückwärts. Ihre Tränen versiegten augenblicklich, und sie sah auf einmal ausgesprochen zornig aus.
»Was machen die beiden Todesser hier?« fragte Parvati Patil mit einem Zittern in der Stimme und noch immer feuchten Augen. Ron ließ sie los.
Als Parvati ihn ansah und ihren Zauberstab in seine Richtung hielt, wurde Gregory schlecht. Ihre Schwester war soeben gestorben und sie wollte Rache. Jetzt war die Zeit gekommen, für alle seine Fehler zu büßen. Jetzt würde er sterben. Sie ging zwei weitere Schritte auf Vincent und Gregory zu.
»NOCH NICHT!« rief Ron hinter ihr her.
Auch Vincent war in dem Moment klar, daß Parvati Patil sie töten wollte. Er begann zu zittern. Er wollte etwas sagen; etwas, was es besser machen würde; etwas, was ihren Schmerz lindern würde – doch ihm fiel nichts ein. Eine weitere Träne lief an ihrem Gesicht herunter. Wieder sah sie zu ihrer toten Schwester. Vincent wußte, daß sie ihrer Schwester so gerne würde helfen wollen, aber nichts konnte mehr helfen. Der Todesfluch konnte nicht umgekehrt werden, und damit war ihre Schwester für immer von ihr gegangen.
Langsam ging Parvati nun nicht zu ihrer Schwester, so wie es Crabbe erwartet hätte, statt dessen kam sie weitere Schritte auf ihn zu. Sie ist sehr hübsch, dachte er für einen winzigen Moment, ehe sich ihr Gesicht in eine vom Haß entstellte Fratze verwandelte.
Ohne Vorwarnung zielte Parvati Patil mitten in Gregorys Gesicht und ging noch einen Meter vor. Sofort stolperte er einen Schritt zurück und fiel fast hin. Hilflos blickte er zu Ron, und dieser schien sie glücklicherweise nicht gewähren lassen zu wollen.
»Hast du nicht gehört? Noch nicht, habe ich gesagt. Steck ihn weg!«
»Aber warum nicht?« Parvatis Stimme klang wie ein Häufchen Elend.
»Hermine … sie behaupten, daß sie lebt!« Ein Raunen und Flüstern ging durch die Menge. Sogar diejenigen, die am Waldrand Wache schoben, immer die Kampfhandlungen im Blick, sahen sich kurz um. »Sobald er mit ihnen gesprochen hat, kannst du mit ihnen machen, was du willst. Niemand wird dich aufhalten!« Rons Stimme klang unglaublich kalt.
Vincent und Gregory zuckten zusammen. Wütend hatten sie den Rotschopf schon häufiger erlebt, so eiskalt aber wirkte er noch viel bedrohlicher. So hatten sie sich ihre Flucht vor den Todessern wirklich nicht vorgestellt, schienen sie doch vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Natürlich würde Parvati Patil sie einfach töten, sobald sie die Erlaubnis dafür bekam, hatte sie doch einen solchen Zorn in den Augen, daß sie den Todesfluch sicher ernst genug meinen würde, dachte Gregory und erinnerte sich erschaudernd an die letzten Sommerferien.
Er und Vincent hatten diesen Fluch nie erfolgreich vollführt; mehr als leichte Schmerzen hatten sie mit ihm nie erzeugt. Malfoy dagegen hatte Dutzende Tiere mit ihm getötet und dabei mehr als nur einmal laut gelacht. Er hatte ihnen erklärt, daß der Fluch nur dann seine volle Wirkung erziele, wenn er auch wirklich ernst gemeint sei, und Parvati Patil schien es jetzt sehr ernst zu meinen.
Gregory konnte sehen, wie sie mit sich rang. Nur mühsam konnte sie ihren Zauberstab zurück in ihren Umhang stecken. Ihre Hand aber ließ sie keine Sekunde von seiner Seite weichen, immer bereit, ihn beim kleinsten falschen Schritt von Vincent oder ihm sofort wieder zu ziehen.
»Wir … wir sind keine Todesser!« sagte Vincent ängstlich. »Wir haben deine Schwester nicht getötet. Wir haben niemanden getötet. Nicht einen einzigen Fluch haben wir heute benutzt. Wirklich!« Seine Stimme klang nun mehr als nur bettelnd. »Bitte glaubt uns. Malfoy hat uns gezwungen. Wir wollten das doch alles nicht. Du-weißt-schon-wer hat heute meinen Vater getötet. Er hat ihn einfach umgebracht. Es war nur ein Schwenk … nur ein Schwenk mit dem Zauberstab. Er … er hatte keine Chance.« Er fing an zu weinen. »Gregorys Vater hat er auch umgebracht.« Seine Stimme zitterte jetzt. »Bitteee!« Seine Stimme überschlug sich. »Wir können doch nichts dafür!« Er sah sich hilflos um.
In einigen Gesichtern konnte er ein Fünkchen Mitleid erkennen, nicht jedoch im Gesicht von Parvati Patil. Eher schien es ihren Zorn gesteigert zu haben.
»Hermine ist frei, wir schwören es«, setzte Gregory noch hinterher. Auch seine Stimme war von Angst erfüllt. Er hatte unendliche Angst vor diesem wütenden Mädchen.
»Erzähl das lieber Harry. Er muß jeden Moment komm…«, begann Ron, ehe ihn Michael Corner, der am Waldrand stand und dort Wache schob, mit einem Ruf unterbrach.
»Wahnsinn, das gibt's ja nicht«
»Was ist?«
»Kommt her, schnell! Das müßt ihr euch ansehen.«
Ausnahmslos alle stürmten nach vorne zum Waldrand, alle wollten es sehen. Nur Vincent und Gregory nicht. Sie sahen einander an, beide völlig fertig. Es gab nichts auf dem Friedhof, was sie noch interessierte. Einen Moment überlegte Gregory, ob er und Vincent jetzt versuchen sollten zu fliehen, und sah, wie Vincent wohl das gleiche dachte, aber er irrte sich. Dieser dachte statt dessen, daß sie es verdient hätten, was auch immer mit ihnen jetzt geschähe, und daß ihm jetzt alles egal war. Er ging die fünf Meter bis zum nächsten großen Baum, schritt um ihn herum und rutschte mit dem Rücken an ihn gelehnt zu Boden.
Gregory sah Vincent hinter dem Baum verschwinden. Hatte er aufgegeben? Wollte er sich nicht mehr dagegen wehren? Oder wollte er sich da verstecken? Gregory wußte nicht, was er machen sollte. Seinen einzigen wirklichen Freund auf der Welt aber wollte er auf keinen Fall im Stich lassen, weshalb er zu ihm ging und sich ebenfalls an den Baum setzte. Sie sahen sich still an. Keiner von ihnen mußte etwas sagen. Sie hatten einen Pakt geschlossen. Sie wurden einfach hier sitzen bleiben und der Dinge harren, die da kommen mochten, ohne sich um die aufgeregten Gespräche zu kümmern, die nur zwanzig Meter von ihnen entfernt am Waldesrand stattfanden.
Das erste, was sie wieder wahrnahmen, war Ron Weasleys Stimme. Sie klang zuversichtlich und begeistert. »Was für ein As! Er schickt die Drachen genau im richtigen Moment!« Kurz danach hörten sie Ron wieder sprechen. »Hey, wer paßt eigentlich auf die beiden auf?«
Nur eine Sekunde danach konnten sie die Frage hören, die William scheinbar an Ron stellte: »Du hast doch ihre Zauberstäbe noch, oder?«
»Na klar!« kam prompt Rons Antwort, und er klang leicht beleidigt. »Aber wo sind sie hin? Die Besen! VERDAMMT … Schnell, sucht sie!«
Gregory sah Vincent an. Er schien irgendwie gefaßt zu sein, hob den Arm und streckte ihn zur Seite aus. Gregory erkannte sofort, was Vincent vorhatte.
»Hier sind wir!« hörte er Vincent fast flüstern.
Gregory hörte Zweige knacken, und kurz danach waren die beiden von Rons Leuten umstellt. Einige hatten ihre Zauberstäbe gezogen und sahen sie böse an.
»Was macht ihr hier? Und warum seid ihr nicht weggeflogen?«
»Wir warten auf Potter. Und dann …« Vincent blickte in Parvati Patils Gesicht. Sie sah nun wieder deutlich hübscher aus, schien aber noch immer bereit, sie sofort zu töten. »Dann … na ja, du weißt ja.«
»Ron!« schrie ihnen Michael Corner gedämpft vom Waldrand zu. »Harry kommt! Er bringt jemanden mit!«
Sofort sahen Vincent und Gregory, wie Ron wieder hinter dem Baum verschwand. Auch einige der anderen gingen mit ihm. Parvati Patil blieb. Sie zielte weiter auf sie.
Vincent sah ihr tief in die Augen. »Es tut mir ehrlich leid!«
Sie reagierte nur mit einem winzigen Zucken ihrer rechten Augenbraue. Plötzlich konnten sie eine weitere Stimme hören. Diesmal kam sie wohl wieder von William Mcnamara.
»Da! Er fliegt über Hagrid!«
»Da, schaut mal da! Da ist … er kommt auf uns zu!« hörten sie Ron Weasley undeutlich sagen.
»Aufstehen, ihr zwei!« flüsterte Parvati Patil mit leicht zitternder Stimme. Die beiden erhoben sich nur langsam »Rüber da, na los.« Sie zeigte wieder zum Waldrand.
Ganz langsam ging die kleine Gruppe zu den anderen. Dort angekommen, sah Gregory sah zwei Leute auf ihren Besen, die gerade einige Riesen überflogen, die rund hundert Meter von ihnen entfernt waren. Sie waren nur schwer zu erkennen, kamen aber schnell näher. Sein Blick suchte die Augen von Vincent, der wiederum Parvati Patil ansah. Sicher ist in ein paar Minuten alles vorbei, dachte er und war irgendwie darüber erleichtert. Sie würden Harry nur noch kurz von Hermine erzählen und sich dann ihrem Schicksal stellen. Eigentlich wußten sie nicht besonders viel. Sie wußten ja eigentlich nur, daß sie entkommen war. Vielleicht war sie inzwischen ja erneut gefangen worden, dachte er, hoffte es aber nicht. Hermine war in seinen Augen ein wirkliches nettes Mädchen, und schlagkräftig war sie noch dazu. Ein unmerkliches Lächeln huschte für einen kurzen Moment über sein Gesicht, als er sich ans dritte Jahr zurück erinnerte, als Malfoy von ihr eine verpaßt bekommen hatte. Insgeheim hoffte Gregory, daß er doch nur halb so mutig wie sie gewesen wäre und sich einfach gegen Malfoy und seinen Vater gestellt hätte. Leider war er damals zu feige gewesen, und jetzt war es zu spät.
Er blickte wieder auf den Friedhof und sah Harry Potter und Hermine Granger zur Landung ansetzen. Während sie verlangsamten, schossen mehrere Lichtblitze an den beiden vorbei und flogen über ihre Köpfe in die Bäume. Vincent zuckte kurz zusammen, und auch Gregory erschrak. Harry war noch nicht vollständig vom Besen abgestiegen, als er bereits in Rons Armen lag. Das Ganze dauerte nur einen Augenblick, ehe er seinen Kumpel losließ und sich Hermine zuwandte, die ebenfalls von ihrem Besen gestiegen war.
Gregory sah ihre unglaublich tiefe Freundschaft füreinander, und er beneidete sie ein bißchen darum, ehe ihm in dem Moment klar wurde, daß er selbst auch so etwas hatte. Vincent war sein bester Freund. Sie hielten zusammen, egal, was kommen sollte. Nie zuvor war es ihm so bewußt gewesen, doch Vincent war wirklich sein Freund. Immerhin würde er an der Seite seines Freundes sterben. Das war mehr, als er jemals zu hoffen gewagt hatte.
Harry setzte zur Landung an und kam nur einen Meter vom Waldrand entfernt auf. Er war noch nicht vollständig vom Besen abgestiegen, als er bereits in Rons Armen lag. Dieser drückte ihn kurz, ehe er sich Hermine schnappte und sofort Befehle erteilte.
»Los, zurück in den Wald«, hörte Harry ihn rufen. Alle zogen sich sofort wieder tiefer in den Wald zurück und taten dies keine Sekunde zu früh. Weitere Flüche schlugen in die Bäume ein, und mehrere DA-Mitglieder zuckten erschrocken zusammen.
Kaum war die Gruppe erneut zum Stehen gekommen, wurde Hermine von allen umringt und von Ron mit Fragen bombardiert: »Wie kommst du denn hierher? Ich meine, wir haben ja schon erfahren, daß du entkommen konntest, aber geht's dir gut? Alles klar bei dir?«
»Ja, mir geht's gut. Pig hat den Brief gebracht, und dann bin ich geflohen. Hergekommen bin ich mit dem Fahrenden Ritter, und durch den Tunnel im Honigtopf kam ich schließlich in das Schloß. Aber sag, woher wußtest du, daß ich Voldemort entkommen konnte?«
»Er weiß es von uns!« antwortete Crabbe kurz und knapp an Rons Stelle. Harry hatte ihn erst jetzt bemerkt. Er stand ein wenig abseits, und Parvati hielt ihn mit ihrem Zauberstab in Schach! Direkt neben Crabbe stand Goyle. Dieser starrte Hermine ein bißchen merkwürdig an.
»Ihre Väter sind tot, weil du entkommen bist … behaupten sie zumindest«, schob Ron hinterher und blickte zu einem am Boden liegenden Jungen, den Harry nicht erkennen konnte. »Wir haben die beiden bei Ernie auf dem Schlachtfeld gefunden. Er wurde vorhin als erster abgeschossen. Wir wollten ihn retten. Sie behaupten, daß auch sie ihn retten wollten.«
»Was auch die Wahrheit ist!« warf Goyle sofort ein und schien es ehrlich zu meinen, zumindest, soweit Harry das beurteilen konnte. Hermine schien hingegen intensiv nachzudenken.
»Es tut mir sogar ein wenig leid für euch, aber eure Väter haben nichts anderes verdient. Sie sollten mich mitnehmen, hierher.« Sie sprach sachlich und langsam, aber auch ungewöhnlich hart. Fest griff sie Harrys Hand und streichelte sie sanft mit ihrem Daumen, so, als ob sie ihn damit beruhigen wollte. Harry ging ein wohliger Schauer über den Rücken. Er mußte sich zwingen, weiter zuzuhören. »Voldemort wollte mich foltern und danach töten – genau vor Harrys Augen!«
Harry und einige der Umstehenden zuckten bei diesen Worten zusammen. Angeekelt stellte er es sich vor seinem geistigen Auge vor. Hermines Worte hatten ihre Wirkung aber nicht verfehlt. Es gelang ihm dadurch, ruhig zu bleiben, obwohl er normalerweise vor Zorn geplatzt wäre, das wußte er genau. Er ließ sich ihre Worte wieder und wieder durch den Kopf gehen. Nüchtern stellte er fest, daß er nach ihrem Verschwinden sowieso befürchtet und später vielleicht sogar daran geglaubt hatte, daß Hermine tot war; daß Voldemort sie aber vor seinen Augen foltern und umbringen wollte, war auch für Harry fast zuviel. Nur sehr mühsam zwang er sich, gefaßt zu bleiben. Sein Haß auf Voldemort war so gewaltig, und sein Zorn auf Crabbe und Goyle brachte seine rechte Hand zum Zittern. Würde Hermine sie nicht halten, längst hätte er nach seinem Zauberstab gegriffen.
Der sinnliche Kuß von Hermine war es, der ihn aus seinen finsteren Gedanken aufschreckte. Sie schien genau zu spüren, daß er jetzt nichts mehr brauchte als ihre unmittelbare Nähe, und tat alles, um ihm zu helfen. Wieder konnte er sie schmecken, und irgendwie gefiel ihm das Ganze jetzt sogar noch besser. Wie kann das nur sein? Wieso schmeckt sie so gut? So richtig? So, als ob sie für mich gemacht wäre?
Ohne es verhindern zu können, kam ihm ein Gedanke wieder in den Sinn, ein fürchterlicher Gedanke, der ihn seit Hermines Verschwinden immer mehr gequält hatte. HERMINE IST TOT! Dieser Gedanke hatte ihn und seinen Geist mürbe gemacht. Für sein Herz aber war es um ein Vielfaches schlimmer gewesen. Der Gedanke an diese ungewisse Zeit brannte wieder in seinem Hirn. Jetzt, wo sie gesund und munter neben ihm stand, schämte er sich – er schämte sich, je daran gezweifelt zu haben, daß sie doch noch lebte; daß sie ihn nicht einfach so verlassen würde, daß sie immer kämpfen würde. Trotzdem hätte er sich nie einen solch perfiden Plan vorstellen können. Wie grausam ist Voldemort wirklich? Wenn er hätte mitansehen müssen, wie er sie vor seinen Augen abgeschlachtet hätte … Harry wußte genau, was er dann getan hätte. Er konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie er nicht mehr zu halten gewesen wäre. Er hätte seine Freunde von sich gestoßen und wäre auf schnellstem Wege zu Voldemort geeilt. Es wäre ihm klar gewesen, daß er keine Chance haben würde, daß er ihm statt dessen auch noch in die Karten spielen würde, doch es wäre ihm gleich gewesen. Er wäre bei dem Versuch, sich zu rächen, gestorben. Selbst wenn er Voldemort noch erwischt hätte – und er hätte alles dafür getan, ihn zu zerfetzen –, spätestens danach hätten die Todesser ihn bekommen. Aber auch das wäre dann egal gewesen, hätte er doch sowieso nicht mehr leben wol…
»Harry! Alles okay?« fragte Hermine mit sanfter Stimme. Offenbar hatte sie den Kuß beendet, ohne daß er es gemerkt hatte.
»Was? Oh, ich glaub schon«, kam es aus seinem Mund. Nur langsam wich die Erregung in ihm, und alle starrten ihn an. »Wirklich, es ist alles in Ordnung. Wir sollten nicht unnötig viel Zeit mit meinem geistigen Zustand vertrödeln.«
Am liebten hätte er die Zeit ganz anders vertrödelt. Er wollte Hermine küssen. Stundenlang. Einfach nur mit ihr zusammen sein und sich ununterbrochen darüber freuen, daß Voldemorts widerlicher Plan gescheitert war und er die Liebe seines Lebens in seinen Armen halten konnte.
»Gut, wenn du es so willst«, meinte Ron. »Was sagt denn Dumbledore?«
»Wir greifen weiter an. Ich soll mich aber zurückhalten. Die Prophezeiung, na, du weißt ja.« Plötzlich und unvermittelt kam Harry noch einmal ein Satz von Ron in den Sinn: ›Ernie wurde vorhin als erster abgeschossen.‹ Vorhin war er ihm gar nicht richtig aufgefallen, jetzt aber brannte der Satz wie Feuer in seinen Ohren. »Wen hat es bisher noch erwischt?«
Seine Stimme klang so ernst wie selten in seinem Leben, auch wenn er sich bewußt war, daß für diese Frage mitten im Gefecht eigentlich keine Zeit war. Sie hätten hinausgehen und kämpfen müssen, doch er mußte es einfach wissen. Dieser Drang in seinem Inneren wollte befriedigt werden, und nur wenn Ron seine Frage beantworten würde, wäre das möglich.
Auch Ron wurde jetzt wieder ernster. Seine Miene verfinsterte sich, und ein leichtes Zittern lag in seiner Stimme. »Es sind bisher sechs. Davon wahrscheinlich fünf tot. Mandy, Michael McGregor, Anthony, Scott und Padma. Dann noch Ernie, aber der lebt.«
»Wenn Hermine mich nicht vor den Dementoren gerettet hätte, dann … dann wären wir schon sieben«, flüsterte Harry leise.
Eigentlich hatte er es nicht laut sagen wollen, trotzdem waren die Worte aus seinem Mund gekommen. Er sah, wie es in Rons Hirn klick machte. Auch einigen anderen sah er es an. Sie wollten wissen, was passiert war, spürten aber instinktiv, daß es nicht der richtige Moment war. Auch Ron ließ es dabei bewenden. Harry war ihnen dafür aus tiefstem Herzen dankbar. Später würde er ihnen vielleicht davon erzählen, doch jetzt war er dazu nicht in der Lage.
»Wo ist der Rest von uns?« erkundigte sich Harry bei Ron.
»Ich hab' Neville zu ihnen rübergeschickt. Sie sollen da auf uns warten. Sie sind auf der anderen Seite, genau gegenüber.«
»Dann fliegen wir also rüber. Entscheiden dann zusammen, wie wir vorgehen. Okay?«
»Ja, okay. Ich denke, es ist das beste!«
Harry wandte sich zum Gehen, wurde aber von Parvati zurückgehalten. »Was ist mit den beiden?« Ihre Stimme zitterte. Harry drehte sich um. Crabbe und Goyle hatte er völlig vergessen.
»Ich weiß nicht … schocken oder mitnehmen?«
»Ron hat gesagt, ich kann sie haben.« Harry hörte den Zorn in ihrer Stimme beben. Zwar konnte er sich schon irgendwie denken, was sie damit meinte, doch er wollte es aus ihrem Munde hören, sonst hätte er es wohl nicht glauben können. Er wollte hören, wie sie es aussprach.
»Wofür?«
»Sie sind Todesser, und meine Schwester … Ich will … den Todesfluch!«
Harry spürte leichte Panik in sich aufsteigen. Der schlimmste unverzeihliche Fluch! Das war nicht richtig, das konnte er sie nicht machen lassen. Dann waren sie genau wie er. Wollte er das wirklich? Nein, auf keinen Fall! Das wollte er nicht. Aber sie hat das Recht, er würde es an ihrer Stelle auch wollen. Wenn Hermine tot wäre, würde er sie genauso töten. Aber das konnte er ihr nicht antun, sie würde es sich niemals verzeihen können!
»Wir nehmen sie mit!« entschied er schließlich. Harry war selbst ein wenig überrascht. Sein Hirn hatte entschieden, sein Herz hätte sie handeln lassen.
Parvati sah ihn finster an. Er konnte den Haß in ihr aufflammen sehen. Sie haßte ihn jetzt sicher auch, aber wenn sie die beiden jetzt umbrächte, würde sie es später bereuen. Crabbe und Goyle standen einfach nur da. Sie wirkten auf Harry fast teilnahmslos, und ihnen schien alles egal zu sein. Es schien ihnen egal zu sein, ob sie sterben würden.
»Wehe, ihr versucht irgendeinen Trick, dann werde ich es persönlich machen«, warnte Harry die beiden. »Jeder seinen Besen. Los jetzt.«
Harry schritt zum Waldrand, und Hermine ließ ein wenig widerwillig seine Hand los. Gleichzeitig drehte er sich zu den anderen um und sah, daß jeder seinen Besen holte und zurückkam. Ron wickelte Crabbe den noch immer leblosen, aber wenigstens nicht mehr stocksteifen Ernie um die Schultern. Dabei schien er Crabbe noch etwas ins Ohr zu flüstern, und anhand des Gesichtsausdrucks des Slytherin konnte es nur eine Warnung gewesen sein, Ernie ja nicht fallen zu lassen.
Die Gruppe verließ rasch den Wald und bestieg die Besen, wobei die beiden Gefangenen die von Ernie und Padma bekamen. Harry blickte sich nach links um, warf einen Blick auf Hagrids Riesen, die inzwischen wieder in den Kampf verwickelt waren und gegen die letzten verbliebenen Riesen Voldemorts ankämpften. Einige der feindlichen Riesen waren gerade dabei, in die Wälder zu fliehen, und wurden von Sicherheitstrollen verfolgt, die sie wohl daran hindern wollten.
Auf der anderen Seite sah Harry die Drachen. Einer war schon weit in die Mitte vorgerückt und schien auf eines der Nester zuzuhalten. Der andere Drache wurde gerade hart attackiert, und Blitz um Blitz schoß in seinen Leib. Einige Sekunden später hoben Harry und die anderen ab und schossen am Waldrand entlang nach hinten. Sie flogen tief und schnell. Padmas Körper ließen sie zurück, da sie im Augenblick sowieso nichts mehr für sie tun konnten. Ein paar Blitze zuckten über ihre Köpfe hinweg, aber weil sie zu schnell flogen und die Entfernung schon zu groß war, konnten die Todesser sie nicht treffen. Sie kamen auf der anderen Seite des Waldes an, flogen eine Linkskurve, beschleunigten das Tempo noch ein wenig und wurden von Harry auch noch etwas höher geführt. Sie flogen über einige Baumstämme, die von Voldemorts Riesen aus dem Boden gerissen worden waren, und direkt dahinter zog Harry wieder herunter, um gleich in die nächste Linkskurve einzuschwenken.
Der Wind wehte ihm durchs Haar, seine Mütze mußte er wohl irgendwo verloren haben, doch das war ihm im Moment egal. Seitdem er Hermine zurückhatte, störte die Kälte ihn überhaupt nicht mehr; ganz im Gegenteil half sie ihm sogar dabei, seine Begeisterung darüber im Zaume zu halten. Auch sein Umhang flatterte im Wind, und er spürte Hermine an seiner Seite. Sie war es, die ihm die Kraft gab weiterzumachen, auch wenn er sich mehr als nur ein wenig dazu überwinden mußte. Sie beendeten die Kurve und kamen dadurch wieder näher an das Kampfgeschehen heran. Inzwischen konnte Harry die ersten Sonnenstrahlen sehen, und weit vor sich konnte er die beiden gigantischen Drachen erkennen. Einer von ihnen lag inzwischen regungslos am Boden. Es war der Schwedische Kurzschnäuzler, die Todesser mußten ihn soeben ausgeschaltet haben.
Der andere Drache war jetzt bis zum ersten der beiden Nester vorgerückt. Links von sich konnte Harry etwa zwanzig Todesser und ein paar andere Kreaturen auf ihrem wilden Rückzug sehen. Sie hatten noch fünfzig Meter bis zur Friedhofsgrenze und würden dann sicher im Wald verschwinden. Sie beachteten die DA-Staffel auf ihrem Flug überhaupt nicht, also wollte Harry sie auch nicht angreifen. Nur Voldemort ist wichtig, hämmerte er sich ein und konzentrierte sich wieder auf die Gegend vor ihm.
Sie setzten ihren Flug fort und kamen der Mitte des Friedhofs – immer noch am rechten Waldrand entlangfliegend – schnell näher. Harry verlangsamte den Flug ein wenig und begann die Landung vorzubereiten. Einige der Todesser, die gerade den Kurzschnäuzler besiegt hatten, bemerkten das und begannen sofort, das Feuer zu eröffnen.
Glücklicherweise zielten sie schlecht und wurden von lauten Schreien hinter ihnen abgelenkt. Etliche von ihnen kümmerten sich sofort um den zweiten Drachen, der gerade wieder Feuer gespien hatte und damit einige von ihnen voll erwischt hatte. Die Schreie klangen markerschütternd zu Harry herüber, doch die Zeit des Mitleides war vorbei. Am Waldrand konnte er Neville warten sehen, mit seinem Besen in der Hand.
Als die DA-Staffel geschlossen zur Landung ansetzte, kam er zu ihnen gelaufen. Die meisten der Flieger hatten die Gefahr vor ihnen schon bemerkt und sprachen Schutzzauber über die Kameraden weiter vorne aus. Vier Flüche konnten auf diese Weise abgewehrt werden, ehe ein fünfter Schocker den unvorbereiteten Neville hart traf. Er ging sofort zu Boden und blieb bewegungslos liegen. Keine Sekunde lag er dort, ehe Ron ihn auf den Rücken hob, während Luna sich Rons und Nevilles Besen griff.
Die DA zog sich geschlossen in den Wald zurück und suchte dort Schutz, da die Todesser ihr Feuer sofort intensiviert hatten. Die andere Gruppe der DA schien ihre Ankunft bemerkt zu haben und eilte zu ihnen, angeführt von Ginny und Cho, die scheinbar das Kommando übernommen hatten. Beide schenkten ihm ein Lächeln, doch nur das von Ginny verwandelte sich in ein freudiges Strahlen, als Hermine hinter Harry hervortrat. Es gefror ihr allerdings sofort wieder, kaum daß sie des bewußtlosen Nevilles ansichtig wurde. Die beiden eilten sofort zu ihm und hoben ihn von Rons Schultern. Ginny schien sehr aufgeregt zu sein und zog ihn mit Cho außer Reichweite der Angreifer. Sie brachten ihn tiefer in den Wald, und alle anderen folgten ihnen umgehend.
»Weiter sollten wir nicht. Da hinten könnten noch Dementoren sein. Wir mußten eben einige von ihnen verjagen«, warnte Cho sie. Inzwischen schien Ginny erkannt zu haben, daß es mit Neville nichts Ernstes war, kümmerte sich doch jetzt liebevoll um ihren Freund und strich ihm sanft einige Haare aus dem Gesicht, während die Freude in das ihre zurückkehrte.
Harry wurde bewußt, daß er bis jetzt wirklich Glück gehabt hatte, waren doch seine engsten Freunde allesamt noch am Leben. Andere seiner Gefährten hatten nicht soviel Glück gehabt. Er sah dabei Padma und William an, die einmal eine Schwester und einmal den besten Freund verloren hatten. Wer weiß, wessen Eltern bereits tot waren oder noch sterben würden, dachte er und mußte sich zusammenreißen, um nicht zu emotional zu werden. Wieder blickte er kurz zu Hermine und konnte sein Glück nicht fassen. Zwei Monate war sie weg gewesen und schien trotzdem gesund und munter zu sein. Nicht die kleinste Schramme, und auch psychologisch schien sie keine Narben davongetragen zu haben. Wieder huschte ein verliebtes Lächeln über beider Gesichter, als sich ihre Blicke trafen.
»Okay, hört zu!« verkündete Harry mit angehobener Lautstärke. Alle blickten ihn erwartungsvoll an. »Wir fliegen in kleinen Gruppen à zehn Mann. Kurze Angriffe, schnelle Wellen. Versucht, sie zusammenzutreiben. Kesselt sie ein. Greift also vor allem ihre Flügel an, vielleicht rücken sie dann in die Mitte! Keine Rücksicht auf Verluste, egal, wer es ist.« Dabei streifte sein Blick Hermine, die sich gerade mit Ginny um Neville kümmerte. »Wenn jeder maximal fünf Angriffe hinter sich gebracht hat, treffen wir uns alle bei Dumbledore und verstärken seine Bodentruppen. Wenn das so klappt, wie ich es mir vorstelle, dann ist bald alles vorbei. Sollten wir in der Luft aber zu große Verluste haben, brechen wir ab und kehren gleich zu Dumbledore zurück.« Harry sah, daß Neville jetzt wach war und den letzten Satz schon gehört hatte. »Folgende Gruppenführer: Cho, Hermine, Neville, Ginny und Ron. In der gleichen Reihenfolge wird gestartet. Die besten Flieger mit Cho und Ron und mit dem größten Risiko. Wählt also entsprechend eure Flügelleute. Hermine, sieh dir bitte schnell noch Ernie an. Vielleicht kriegst du auch ihn noch hin, wir brauchen jeden Mann! Sind alle damit einverstanden, hat jemand einen besseren Plan?« Harry blickte in viele zustimmend nickende Gesichter.
»Was ist mit dir?« fragte Hermine, und Harry sah, daß Ron und ein paar andere gerade dieselbe Frage hatten stellen wollen. Harry überlegte einen Augenblick, wie er es am besten formulieren könnte.
»Ich würde mit euch gehen, aber … du weißt ja. Ich werde mich allein durch den Wald zu Dumbledore durchschlagen! Ich halte mich an seine Bitte und mische nicht mit«, antwortete er ihr schließlich. Eigentlich hätte er doch gleich bei Dumbledore bleiben können, dachte er einen Moment, doch vielleicht war es besser so, konnte sich doch vor dem entscheidenden Moment der Schlacht noch einmal ein jeder davon überzeugen, daß er am Leben war.
»Laß mich mit dir gehen!« Ein Flehen lag in Hermines Stimme. Harry zog sie einen Schritt zur Seite. Er flüsterte ihr ins Ohr, daß nur sie es hören konnte:
»Ich wollte, das könnte ich. Aber ich verlange von allen hier ein großes Risiko und möglicherweise auch Opfer. Würde ich dich mit mir nehmen, wäre ich kein guter Anführer. Man könnte denken, ich selbst würde das Risiko nicht tragen wollen oder wäre feige. Außerdem wäre es den anderen gegenüber nicht fair!«
»Sei doch nicht immer so verdammt nobel! Niemand denkt, du wärst ein Feigling«, sagte Hermine lauter, und Zorn schwang in der Stimme mit. Fast alle anderen und auch Harry erschraken ein wenig. Ron blieb gelassen und fing an zu grinsen. Gemurmel entstand.
»Bleib bei ihm, Hermine!« erwiderte Ron jetzt breit grinsend und ergänzte etwas spöttisch: »Wenn die Dementoren noch mal kommen, muß den Kleinen ja einer retten. – Alter, hier glaubt sicher niemand, daß du feige bist. Schließlich wissen alle, daß nur du allein Voldemort töten kannst. Also, wer dafür ist, Harry allein gehen zu lassen, der soll jetzt die Hand heben. Wer aber dafür ist, ihm Hermine mitzugeben, der soll die Hand unten lassen.«
Harrys Augen funkelten Ron leicht zornig an. Als sich nicht eine einzige Hand hob, grinste Ron so breit, daß es ihm sichtlich egal war, was Harry für eine Miene zog. Hermine sah den Leuten dankend in die Augen. Einige klopften unterstützend auf Harrys Schulter.
»Ich übernehme Hermines Truppe, wir sehen uns bei Dumbledore«, meinte Zacharias zu ihm.
»Wer glaubt, daß du ein Feigling bist … der kennt dich nicht!«
»Keine Sorge, Harry. Du bist ein Held!« versicherte Dean im Vorbeigehen, und Harry wußte, daß er es ehrlich meinte.
Er brauchte nun nichts mehr zu sagen, die Entscheidung war getroffen. Die ersten gingen unter Chos Führung bereits zum Waldrand. Neville und Ginny suchten sich ihre Leute aus, während Hermine noch schnell zu Ernie ging.
»Was ist mit uns?« fragte Goyle.
Harry überlegte einen Augenblick. Am besten wäre es wohl, sie endlich zu schocken. Dann könnten sie ihnen nicht in die Quere kommen. Als er ihnen seinen Entschluß mitteilte, erhoben sie Protest.
»Aber wir haben doch nichts getan!« erwiderte Crabbe und schien ein wenig wütend zu sein. »Wir … wir können auch kämpfen! Du brauchst doch jeden, den du kriegen kannst.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob man euch trauen kann.«
»Laß sie ruhig!« ließ sich plötzlich Parvati vernehmen. »Wenn sie es ernst meinen, werden sie heute im Kampf für uns sterben. Und wenn nicht, werden sie durch meine Hand sterben.«
Harry dachte nach. Konnte er Parvati trauen, würde sie nicht versuchen, die beiden zu töten? Und konnte man den beiden trauen? Allerdings konnten sie schon nützlich sein, da sie unter Malfoy sicher einige interessante Flüche gelernt hatten.
»Nun gut!« entschied er schließlich. »Geht mit Neville und Parvati.«
Ron blickte ihn zweifelnd an, ging dann aber doch zu Crabbe und Goyle und überreichte ihnen zwei Zauberstäbe.
»Hi, Harry, ich bin auch soweit.« Harry drehte sich um. Er sah in ein Gesicht, das er aber kaum erkennen konnte, war es doch voller angetrocknetem Blut. Es war Ernie, Hermine hatte ihn wieder hinbekommen.
»Ratzeputz.« Auf einen Schlag war sein Gesicht wieder sauber. Hermine kam schelmisch lächelnd hinter ihm zum Vorschein. »Hätte ich doch beinahe vergessen.«
Harry sah Neville mit seinen Leuten nach vorn zum Waldrand gehen und verlor sich nur einen Moment später in Hermines Augen, die sanft seinen Blick erwiderte, bis sie plötzlich einen leicht gedämpften Ruf von Neville wahrnahmen:
»Achtung, sie kommen!«
Harry blickte zu Ginny, die sehr aufgeregt wirkte. »Los jetzt!« rief er ihr und Ron zu. »Startet hier! Ich verschwinde mit Hermine tiefer in den Wald. Wir sehen uns bei Dumbledore.« Harry legte soviel Zuversicht, wie er nur konnte, in seine Worte. Er sah noch, wie Ginny und ihre Staffel die Besen bestiegen und schnell zwischen den Baumwipfeln verschwanden. Harry schnappte sich Hermines Hand und lief los.
Schnell beschloß er, noch fünfzig Meter tiefer in den Wald zu laufen, um dann parallel zum Waldrand in Richtung der Verteidiger vorzurücken. Er ließ Hermines Hand los und zog zur Sicherheit seinen Zauberstab, während er in seiner linken Hand noch immer seinen Feuerblitz trug. Er drehte sich noch einmal kurz um. Alle DA-Mitglieder waren verschwunden, und von den Todessern war noch keine Spur. Vielleicht haben wir sie getäuscht, sie können schließlich nicht wissen, daß wir noch hier im Wald sind, dachte er bei sich und entspannte sich ein wenig.
Mühsam kämpften sich Harry und Hermine weiter durch den Wald; sie hatten es zwar eigentlich nicht weit, kamen aber nicht so schnell wie gedacht voran. Nur noch dreihundert Meter, mehr konnten es nicht sein, glaubte er, als er eine zunehmende Dunkelheit bemerkte und spürte, wie eine Gänsehaut seinen Arm hinaufwanderte. Er blickte Hermine an, und sie dachte das gleiche, das wußte er sofort. Sie waren sicher schon nah, diesmal aber würde er nicht verlieren. Er streckte den Zauberstab aus und schloß die Augen. Er dachte daran, wie er Hermine nach dem Sieg küssen würde, wie er sie streicheln würde, wie sie ihn dabei ansehen würde. Bei diesen Gedanken war Harry so unglaublich glücklich, er fühlte sich, als würde er vor Glück förmlich platzen.
»Expecto patronum!«
Noch während er die Worte sprach, sah er einen gewaltigen silbernen Hirsch aus der Spitze seines Zauberstabes schweben. Er orientierte sich sofort nach rechts, tiefer in den Wald hinein, und galoppierte davon. Harry sah ihm hinterher und spürte wohlige Wärme in sich aufsteigen. Noch nie war ihm die Patronus-Beschwörung so leicht gefallen. Er blickte Hermine grinsend an: »Siehste, ich kann's noch!«
Sie mußte kurz lachen und gab ihm einen schnellen Kuß, der sein angenehmes Gefühl millionenfach verstärkte. Wenn ich in diesem Augenblick einen Patronus beschwören müßte, er würde gewaltig werden, dachte er und konnte nur schwer die Finger von ihr lassen. Noch einen Moment spürte er ihre Finger in seinen Haaren, ehe ihre Hand an seinem Gesicht nach unten glitt und seine Wangen zart streichelte. Natürlich war sich Harry bewußt, daß er hier im tiefsten Wald stand, einem überaus gefährlichen obendrein, doch für ihn war es einfach nur der Himmel. Hier mit ihr zu stehen, ihre Berührung zu spüren, sie selbst berühren zu können, was konnte es Schöneres geben? Ein weiterer kurzer Kuß, diesmal noch viel zärtlicher als zuvor, traf seine Lippen, ehe sie sich von ihm zurückzog und ihn weiter durch den Wald zog. So schnell sie konnten, liefen sie noch ungefähr hundertzwanzig Meter weiter, bis Harry anhielt.
»Hier jetzt links und geradeaus, und wir treffen hoffentlich genau auf Dumbledore«, deutete Harry an und zog sie hinter sich her. Nach fünfzig Metern lichtete sich der Wald ein wenig, und sie konnten die ersten Grabsteine ausmachen. Nach weiteren zwanzig Metern erreichten sie den Waldesrand. »Das letzte Stück fliegen wir … schnell und tief!«
Beide hielten im Schutz einer dicken Tanne. Sie blickten auf den Friedhof.
»Da, sieh nur. Der zweite Drache ist wohl tot«, bemerkte Hermine überrascht. Schnell überblickte Harry fast das komplette Schlachtfeld.
Weit hinten auf der anderen Seite sah er eine der DA-Staffeln ihren Angriff fliegen. Genau so, wie er ihnen empfohlen hatte, konzentrierten sie ihre Bemühungen auf einen der Flügel. Die Todesser waren keine dreißig Meter mehr von Dumbledores Stellung entfernt und lieferten sich noch immer einen erbarmungslosen Kampf mit ihnen. Es gab erschreckend viele Verwundete auf seiten der Verteidiger, und das war kein Anblick, den er genoß, sondern sofort Übelkeit in ihm aufsteigen ließ.
So viele Verwundete und Tote, und ich schicke die DA auch noch mitten hinein. Wer bin ich, daß ich sie dazu gebracht habe? Wer hat mir das Recht gegeben, sie alle in Gefahr zu bringen? Harry war verwirrt und unsicher. Sicher wollten sie alle hier sein und kämpfen, doch trug er letztlich die Verantwortung. Würde er sie nicht anführen, ein jeder von ihnen würde zu Hause und in Sicherheit sein, doch dafür war es jetzt zu spät. Sie waren alle hier und wollten von ihm geführt werden. Er hatte die Entscheidung getroffen, und nun mußte er mit dieser auch leben, ging es ihm durch den Kopf, als er versuchte, Dumbledore auszumachen, ihn aber nicht erblicken konnte.
Auch Hagrid war wohl zu weit weg, oder vielleicht war er auch nur hinter den Drachenleibern vor seinem Blick verborgen, so daß er ihn auf dem Schlachtfeld nicht ausmachen konnte. Er hoffte, daß es ihm gutging, als er ganz hinten am Friedhofsrand eine weitere Staffel in Position fliegen sah. Sie würden gleich angreifen, und die ersten Todesser ganz links waren sogar schon ein wenig in die Mitte gelaufen, so daß sein Plan zu funktionieren schien.
Er wünschte, Dumbledores Truppen hätten es gesehen und würden es ausnutzen, doch im Moment sah es nicht so aus. Wenn sie nur selbst in die Offensive gehen würden, jetzt wäre die perfekte Gelegenheit, dachte er. Er mußte zu Dumbledore. Er mußte es ihm sagen. Harry bemerkte, wie eine weitere Staffel einen Angriff auf die Flanke in seiner Nähe flog; er sah ihre Lichtblitze auf die Todesser niederprasseln und in sie einschlagen. Mindestens zwei von denen brachen bewußtlos zusammen, und drei weitere waren sicher anderweitig verflucht worden. Lichtblitze, abgeschossen von den Todessern, stiegen in den Himmel auf und flogen direkt auf die DA-Staffel zu. Einer der Flieger wurde von einem Zauberspruch eines seiner Kameraden getroffen; ein heller Schild leuchtete auf, doch alle anderen waren noch immer ungeschützt.
»O Gott!« stöhnte Harry geschockt, als er das Unheil kommen sah: drei Flüche der Todesser schlugen ein.
Ein Fluch erwischte den durch den Schild Geschützten, prallte allerdings an diesem ab und flog in den Himmel. Der zweite erwischte den Flieger, der den Schild heraufbeschworen hatte. Der letzte Fluch schlug links außen ein. Beide stürzten ab; der Pilot in der Mitte schlug mit unglaublicher Wucht in einen der vielen Grabsteine ein. Was mit dem anderen passierte, bekam er nicht mehr mit.
Harry wußte sofort, wer auch immer das war, er mußte tot sein. Niemand konnte einen solchen Sturz kopfüber in einen Stein überleben. Panik brannte in seinem Hirn. Angst. Angst, daß es einer seiner engsten Freunde war. Vielleicht Ron, vielleicht Neville. Er wollte den beiden Abgestürzten so gerne helfen, er wollte sie so gerne retten. Sie hatten alles riskiert und wahrscheinlich alles verloren. Harry zuckte zusammen. Er wollte soeben auf das Schlachtfeld stürzen, als er Hermines Hand auf seiner Schulter spürte. Auch sie hatte die Geschehnisse mit angesehen, und auch sie mußte ähnliche Gefühle haben.
»Ohne Rücksicht auf Verluste!« hauchte sie ihm sanft ins Ohr, und Harry spürte dabei ihre Angst, ihre Angst um ihre Freunde.
Sie sahen sich an, und beide hatten Tränen in den Augen. Harry wußte nur zu gut, daß jeder Augenblick mit ihr der letzte sein konnte, und er wollte jeden Moment mit ihr genießen. Er küßte sie, kurz, nur für einige Sekunden, und seine Angst verschwand. Die Feuchtigkeit aus seinen Augen verschwand, und er fühlte neue Lebensgeister in sich erwachen.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, führte er sie aus dem Wald, und beide bestiegen sofort ihre Besen. Harry beschleunigte seinen Feuerblitz wie selten zuvor, auch auf die Gefahr hin, daß Hermine nicht an ihm dranbleiben konnte. Er stieg ein wenig höher, um die Aufmerksamkeit der Todesser auf sich zu lenken – sollten sie Hermine doch am besten erst gar nicht bemerken und ihr Feuer lieber auf ihn konzentrieren. Unglaublich schnell hatte er die Hälfte des Weges bis zum großen Grabdenkmal zurückgelegt und es dabei nicht gewagt, sich auch nur ein einziges Mal zu Hermine umzudrehen. Ein Lichtblitz zuckte vor ihm vorbei, und einige andere konnte er hinter sich vorbeizischen hören.
Harry ging tiefer und konnte nur einen Augenblick später auch schon zur Landung ansetzen. Sofort sah er Dumbledore, der hinter dem Grabdenkmal kauerte, und stürzte unvermittelt auf ihn zu. Hinter sich hörte er Hermine landen und drehte sich kurz zu ihr um. Sie lächelte, und das allein ließ die Sonne in ihm aufgehen. Erleichterung machte sich in seinem Herzen breit, jetzt, da auch sie es problemlos geschafft hatte. Harry war nur noch drei Schritte von Dumbledore entfernt.
»Ich lasse die Flanken angreifen. Es wirkt, sie ziehen sich in die Mitte zurück. Wir müssen schnell handeln und sie einkreisen. Wir müssen sie JETZT angreifen!« sagte Harry hektisch und sah, wie Dumbledore bei jedem seiner Worte mehr zu lächeln begann.
»Ich habe es auch schon bemerkt, Harry. Ich wollte gerade eine weitere Verstärkung rufen, die den Feind sicher bedeutend ablenken können wird, während wir vorrücken.«
Harry schien leicht verwirrt. Wen oder besser was konnte sein Schulleiter denn jetzt noch aus dem Hut zaubern, fragte er sich. Etwa die Hauselfen? Nein, die konnten es nicht sein, die hatten sich ja im Schloß verschanzt. Dumbledore hatte es doch bei einem der letzten Treffen des Ordens erwähnt, daß er nicht wollte, daß sie am Kampf teilnahmen, obwohl nicht nur Dobby Feuer und Flamme gewesen war. Plötzlich hielt Dumbledore seinen Zauberstab in die Höhe, blickte in Richtung der Mauern von Hogwarts und schickte goldene Funken hinauf in den Himmel.
Überrascht drehte sich Harry zu Hermine um. Inzwischen hatte sie ihn erreicht und stand nur Zentimeter hinter ihm. Ihr Atem war warm und traf seinen Nacken. Eine angenehme Gänsehaut jagte über seinen Körper, und für eine kurze Sekunde schüttelte er sich.
»Jetzt kann der blutige Baron zeigen, wie mutig er wirklich ist«, hauchte Hermine leise in sein Ohr, und ihr warmer Atem an dieser Stelle verstärkte sein angenehmes Gefühl noch einmal.
»Harry, bleib jetzt bitte hier und halte dich zurück. Wenn wir dich brauchen, werde ich dich rufen lassen. Wir wollen nun nichts mehr riskieren«, meinte Dumbledore noch rasch zu Harry, bevor er auch schon in Richtung Remus verschwand.
»Da, sieh doch!« Hermine zeigt in Richtung Große Halle.
Harry drehte sich um. Was er sah, ließ ihn erschaudern. Hunderte Geister flogen einfach so durch die Schloßmauern auf den Friedhof und kamen fast über die gesamte Breite des Schlachtfeldes auf sie zu. Diese weiße Wand wurde von einer DA-Staffel überflogen, welche von dem Ganzen wohl überrascht worden war, mußte sie doch offensichtlich überaus scharf nach oben ziehen. Sie flogen hinauf bis über das Dach der Großen Halle, von dort in eine weiche Linkskurve, um sich dann wieder in einem weiten Bogen fallen zu lassen, damit sie in die optimale Ausgangslage für den nächsten Angriff kommen konnten.
Erneut sah Harry zu den Geistern, die erstaunlich fest aussahen, weshalb er Probleme hatte, durch sie hindurchzusehen. Einige von ihnen konnte er erkennen, allerdings hatte er nie einen von ihnen derart furchteinflößend gesehen. Harry hatte ein merkwürdiges Gefühl bei diesem Anblick. Das war also Dumbledores Verstärkung? Was sollten die schon ausrichten, fragte er sich. Diese gewaltige Armada flog über seinen Kopf hinweg und wurde vom blutigen Baron geführt, den Harry vorn an der Spitze erkennen konnte. Sie überflogen gerade den Friedhofsrand, da erkannte Harry ganz hinten die Maulende Myrte.
Diese riesige weiße Wolke setzte zum Sturzflug an und stürzte sich auf die Todesser. Egal, wie sehr er es auch versuchte, Harry konnte sich einfach nicht erklären, was das alles bringen sollte. Er wußte zwar, daß Peeves einigen Schabernack anstellen konnte, war sich aber nicht sicher, ob sich die Todesser von so etwas beirren lassen würden.
Weiter links waren einige Rücken, die Harry kannte. Es handelte sich um Remus und Mad-Eye, und sie stürmten auf einmal nach vorn. Auf der anderen Seite konnte er nicht allzuweit entfernt auch eine Gruppe rothaariger Zauberer sehen, die nun ebenfalls schnell vorwärts marschierten. Blitze zuckten aus ihren Zauberstäben, und die Aktivität schien sich jetzt besonders auf die Flanken zu konzentrieren. Harry konnte nur noch warten und hoffen, denn sehen konnte er vom Kampfe nicht mehr viel. Die undurchdringliche Mauer aus Geistern verhinderte es fast gänzlich, und so versuchte er auf jedes Geräusch zu achten. Immer wieder konnte er dabei undefinierbare Schreie hören, die er nicht so richtig einordnen konnte. Vorsorglich stellte er seinen Besen ab und zog den Zauberstab.
Nicht nur ihm kam die Zeit jetzt endlos vor, sah doch auch Hermine ungeduldig aus. Was passierte da bloß, fragte er sich wieder und wieder, und in Hermines Gesicht konnte er die gleichen Fragen sehen. Schreie vom Schlachtfeld waren seine einzige Informationsquelle, und er wußte nicht einmal, welche Seite hier schrie.
»Bringt sie um!« konnte er plötzlich als einen der wenigen Sätze verstehen. Sekunde um Sekunde verging, und jede dieser Sekunden kam ihm wie Stunden vor. Überraschend konnte Harry wieder etwas vom Kampf sehen, auch wenn es nur eine der DA-Staffeln war. Sie flog von rechts über die weiße Wolke, und für Harry sah es so aus, als schössen sie mitten hinein.
Dann sah er, wie einer von ihnen plötzlich getroffen wurde. Sein Atem stoppte, und sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Er spürte Hermine an seiner Seite zusammenzucken, und er fühlte, wie ihre Hand die seine berührte. Der Rest der Staffel drehte ab. Harry versuchte sie zu zählen, aber sie flogen zu schnell und zu wild durcheinander, während sie versuchten, verschiedenen Flüchen auszuweichen. Sofort waren sie wieder hinter der weißen Masse verschwunden. Harry war sich unsicher, ob er ihre Anzahl richtig erfaßt hatte, doch wenn er sich nicht geirrt hatte, waren mindestes drei von ihnen schon abgeschossen worden.
Wieder sah er sich gründlich am Friedhofsrand um, etwas anderes blieb ihm im Moment sowieso nicht übrig. Was er sah und erst jetzt in vollem Ausmaß wahrnahm, sorgte für eine schnell wachsende Übelkeit. Er sah so viele Verletzte, so viele Geschockte und Tote, daß er es kaum glauben konnte. Natürlich hatte er das auch vorher schon gesehen, doch das Chaos erschloß sich ihm erst in diesem Augenblick. Sein Zorn auf Voldemort, der sowieso schon gewaltig war, schien weiter zu wachsen. Harry wollte gern helfen, aber er wußte gar nicht, wo er hätte anfangen sollen. Er konnte das alles nicht fassen. Wie konnte ein einziger Zauberer nur all das Leid verursachen, fragte er sich. Noch genauer sah er sich um.
Weiter hinten sah er einige Zauberer, die sich um die Verletzten zu kümmern schienen, und sie hatten wahrlich alle Hände voll zu tun. Ein Riese war am Waldrand zu sehen, und er schien auf der Flucht zu sein. Wieder konnte er Schreie hören. Harry sah instinktiv hin. Er sah einen weiteren schnellen Luftangriff einer DA-Staffel, aber diesmal zuckten keine Blitze durch die Luft, was ihm genug Zeit ließ, diese Gruppe genau zu zählen. Sie waren noch zu acht. Inständig hoffte er, daß die fehlenden nur verletzt waren, doch die Ungewißheit peinigte ihn. Die Staffel donnerte ein gutes Stück links von Harry über die Friedhofsgrenze hinweg und wieder hinauf auf das Schloßdach, von wo aus sie ihren nächsten Angriff einleiten würden.
Plötzlich sah Harry einige Geister aus dem weißen Knäuel in seine Richtung schweben. Sie waren wohl irgendwie gefroren und schienen jetzt nur noch ein Spielball des Windes zu sein, der spürbar anzog. Harry sah den nun fast undurchsichtigen Körpern hinterher, wie sie immer höher stiegen. Es frischte immer mehr auf, erkannte er unwillkürlich, als einige der Geister immer mehr beschleunigten und sich unkontrolliert drehend immer weiter in den Himmel bewegten.
Hermine zupfte ihn am Ärmel. Er sah an ihr vorbei nach ganz hinten auf den rechten Flügel, und er glaubte dort jemand sehr Großes zu entdecken. Er war deutlich größer als die Zauberer vor ihm, und Harry dachte, daß es Hagrid sein könnte, als hinter ihm drei oder vier weitaus größere Riesen auftauchten. Die DA-Staffel von eben flog nur knapp über ihre Köpfen hinweg, ehe Harry die Riesen erneut in der weißen Masse verschwinden sah, aus der sie vorher erschienen waren. Wenigstens Hagrid war okay, dachte er und spürte eine Welle der Erleichterung über sich hinwegrollen.
Unruhig konzentrierte er sich wieder auf das Kampfgeschehen direkt vor ihm, wo sich nun immer mehr Geister aus dem Knäuel lösten und kleinere Löcher entstanden. Er konnte kaum so schnell schauen, wie weitere Löcher entstanden und viele Geister in den Himmel geweht wurden.
Voldemort und seine Leute hatten wohl den richtigen Zauber gefunden, dachte er zornig und sah die weiße Mauer nun schnell bröckeln. Überall schienen sich die Todesser gegen die Geister durchzusetzen, und auch der Wind verstärkte sich immer mehr.
Hermines Haare begannen zu flattern, und auch sein Umhang zog jetzt schon leicht an ihm. Harry spürte es; es steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Ein wahrer Sturm schien aufzuziehen, und er fragte sich, ob Voldemort ihn erschaffen hatte. Das Ganze lenkte ihn soweit ab, daß er sich nicht mehr auf die weiße Masse konzentrieren konnte, sondern genug damit zu tun hatte, sich gegen den Wind zu wehren. Mühsam schaffte er es, stehen zu bleiben, und spürte, wie Hermine seinen Umhang griff. Er sah sich zu ihr um, während ein wahrer Orkan zu wüten begann, der Hermine beinahe abheben ließ. Besorgt griff er ihren Arm mit der linken Hand und versuchte seinen Stand zu sichern, damit sie nicht einfach weggeweht werden konnten.
Nur Sekunden später war das alles schon wieder vorbei, und von den Geistern war nicht mehr viel zu sehen. Harry spähte hoch und sah sie durch die Luft wirbeln. Sein Blick konzentrierte sich jetzt wieder auf das Schlachtfeld, und er konnte augenblicklich erkennen, was dort vor sich ging.
Die Todesser und ihre Verbündeten waren deutlich eingekesselt worden, und auch ihre Truppenstärke war deutlich dezimiert worden. Sie leisteten nur noch wenig Widerstand, als eine weitere DA-Truppe ihren Angriff auf sie flog. Einige seiner Feinde warfen sogar schon ihre Zauberstäbe weg und hoben die Hände, als wollten sie sich in dieser scheinbar ausweglosen Situation ergeben.
Grob schätzte er die Zahl seiner Feinde auf weniger als fünfzig Mann, obwohl er es nicht genau genug erkennen konnte. Der Rest von ihnen mußte entweder schon geflohen oder irgendwie ausgeschaltet worden sein. Harry hielt den Kampf für entschieden. Wenn Voldemort nicht noch ein As im Ärmel hatte, dann müßte Dumbledore ihn sicher gleich rufen lassen, dachte er und wartete nervös auf das Zeichen.
Unruhig sah er zu Hermine und bemerkte, daß sie noch immer unglaublich angespannt wirkte. Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schlachtfeld und sah eine weitere DA-Staffel von hinten angerast kommen. Sie feuerten Flüche in die eingekesselte Menge der Todesser und trafen präzise, zumindest soweit Harry es erkennen konnte. Sie schossen über sie hinweg, und er erkannte, daß Neville stark das Tempo drosselte, um hinter ihm zur Landung anzusetzen. Ein paar Flüche blitzten bei den Todessern auf und flogen auf Neville und seine Truppe zu. Einer der Flüche traf mit Wucht. Der Pilot verlor direkt vor Harrys Augen die Kontrolle und stürzte ab; Harry konnte nicht erkennen, wer es war. Er flog noch über seinen Kopf hinweg und schlug hart auf dem Boden auf. Harry sah seine Gliedmaßen unkontrolliert umherschlagen und zuckte hilflos zusammen. Nicht noch einer. Bitte laß nicht noch einen sterben, flehte er innerlich.
Keine Sekunde zögerte Hermine und lief zu ihm herüber, Harry aber konnte sich nicht rühren. Nicht noch einer, ging es ihm immer wieder hilflos durch den Kopf. Schon so viele Freunde und treue Kameraden hatte er heute verloren, und langsam wurde es ihm zuviel. Es mußte endlich damit Schluß sein, dachte er leicht verzweifelt, er konnte es nicht mehr länger zulassen. Er allein würde es gleich beenden. Er mußte es nur tun. Er mußte nur Voldemort töten. Alles wäre dann vorbei. Es gab keine andere Lösung.
Um Harry herum landete eine Staffel nach der nächsten und holte ihn für einen Moment aus seinen Gedanken. Die meisten liefen zu Hermine und dem Verwundeten, doch nahm er seine besten Freunde gar nicht richtig wahr. Er blickte nur zu Hermine, die sich weiter um den Abgestürzten kümmerte. Wird sie mich noch lieben, fragte er sich plötzlich. Wird sie mich noch lieben, wenn ich einen Menschen ermordet habe? Tief im Innern war er unsicher und wurde immer nervöser. Denn auch wenn es für eine gerechte Sache war, blieb es für ihn noch immer Mord – Mord an Voldemort. Es hörte sich so surreal an, und so fühlte er sich auch. Was, wenn Hermine es nicht wollte, wenn sie es nicht ertragen konnte? Sie will es auch, ganz sicher, ging es ihm durch den Kopf. Voldemort wollte sie vor meinen Augen umbringen, sie wird sich nicht dagegen sträuben. Aber was, wenn doch … was wenn sie es doch nicht will? Sie will immer, daß die Gerechtigkeit siegt – aber hat die Gerechtigkeit gesiegt, wenn ich Voldemort umbringe? Vielleicht kann sie es nicht ertragen, mit einem Mörder zusammenzusein. Wenn sie es nicht will, kann ich es dann noch tun?
Jede neue Frage, die in seinem Kopf auftauchte, verwirrte ihn nur noch mehr. Hermine erhob sich … sie sah ihn einfach nur an … sie lächelte ihm zu und kam schließlich zu ihm herüber. Sie küßte ihn lange und zärtlich, und ihre Zungen erforschten einander so intensiv wie niemals zuvor. Er würde alles für sie tun, dachte er in diesem einen Moment. Absolut alles. Wenn sie es nicht will, dann mach' ich es nicht. Wenn sie es nicht will, dann werde ich Voldemort nicht töten, dachte er und preßte sie noch fester an seinen Körper. Er würde seine Eltern nicht rächen. Er würde seine toten Freunde nicht rächen. Er würde …
»Harry!« rief jemand. Harry drehte seinen Kopf nach hinten. Dumbledore stand nur ein paar Meter hinter ihm. »Es ist Zeit, folge mir!« Harry drehte sich um und ging Dumbledore hinterher. Er hielt Hermines Hand.
Vincent und Gregory stolperten in Richtung Waldrand. Sie folgten dabei Neville, während hinter ihnen Parvati Patil lief, bereit, einen möglichen Fluchtversuch sofort zu bestrafen. Nur noch wenige Meter waren sie vom Waldrand entfernt und konnten schon die ersten Grabsteine in einiger Entfernung erkennen, als Neville plötzlich schneller lief. Als Gregory zwischen den Bäumen hervortrat, sah er rechts von sich, nur sechzig Meter entfernt, einige Todesser schnell auf ihre Position zukommen. Sofort bestieg er seinen Besen und wollte gerade abheben, als er Neville, der sich ebenfalls gerade vom Boden löste, in den Wald brüllen hörte:
»ACHTUNG, SIE KOMMEN!«
Ohne zu zögern, hob Gregory ab, und auch der Rest der Staffel startete sofort. Blitze zuckten mitten durch ihre Formation hindurch, doch niemand wurde getroffen. Neville führte sie zuerst einmal vom Kampfgeschehen weg. Hundertfünfzig Meter vor ihnen befand sich die als zweites gestartete Gruppe; auch diese wechselte erst einmal auf die andere Seite des Friedhofs und entfernte sich dabei vom Feind. Unter ihnen lagen viele verwundete Todesser und Kobolde, doch diesen schenkte er keine weitere Beachtung. Instinktiv drehte sich Gregory um und sah, wie über den Baumwipfeln neue Flieger auftauchten. Sie flogen hinter ihnen her und wurden dabei von Todessern beschossen. Glücklicherweise schien auch von ihnen niemand getroffen worden zu sein, nahmen sie doch entschlossen und vollzählig die Verfolgung auf.
Gregory sah an seine linke Flanke und erblickte Vincent. Dieser schien sehr entschlossen zu sein und lächelte ihm einen Moment lang zu. Er wirkte, als wollte er die letzte Chance nutzen, doch noch das Richtige zu tun. So unbeirrt hatte Gregory seinen besten Freund noch nie gesehen, denn zum ersten Mal im Leben schien er sich einer Sache absolut sicher zu sein.
Während er Neville in eine Linkskurve folgte, dachte Gregory nach. Was genau sollte er tun? Sie flogen gerade einen engen Bogen am Ende des Friedhofs, als er unter sich eine größere Gruppe Todesser sah, die wohl auf der Flucht war. Während er sie beobachtete, spukten ihm seine Möglichkeiten durch den Kopf. Sicher werden wir gleich angreifen … ich werde auch angreifen … ich will auch helfen … ich will mich rächen, dachte er und hatte sich damit endgültig festgelegt. Vielleicht mochten es nicht die ehrbarsten Gründe sein, dort mitzufliegen, vielleicht spielte das aber auch gar keine Rolle; vielleicht spielte es deshalb keine Rolle, weil es einfach nur das Richtige war. Es ist das Richtige, Voldemort zu bekämpfen, hörte er sich in Gedanken sagen und fühlte sich zum ersten Mal im Leben wirklich aufrichtig.
Mit Gleichgesinnten an seiner Seite flog er nun stark beschleunigend auf den rechten Flügel der Todesser zu und bereitete sich auf den Angriff vor. Alle zückten ihre Zauberstäbe und begannen zu zielen. Entweder siegen wir zusammen oder gehen alle zusammen unter. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten, und er war merkwürdig froh, diese überhaupt zu haben. Er war froh, weil Harry und Parvati ihnen keine Chance hätten geben müssen, es aber trotzdem getan hatten. Er durfte sie auf keinen Fall enttäuschen!
»AUSEINANDER!« hörte er Neville schreien. Alle gingen auf größere Entfernung zum jeweiligen Flügelmann, und Gregory wußte genau, daß sie so ein schlechteres Ziel abgaben.
Links unter ihnen lag einer der Drachen. Gregory blickte nach vorn und suchte sich ein Ziel. Er peilte es genau an. Er fragte sich, welchen Fluch er nehmen sollte; dann mußte er unweigerlich lächeln, als er an Ron dachte. Ja, der war genau richtig!
Ein Blitz zuckte aus seinem Zauberstab, und er folgte ihm mit seinem Blick. Als er ihn in einen Todesser einschlagen sah, wünschte er, er könnte ihm zusehen; ihm einfach nur dabei zusehen, wie er eine schleimige Schnecke nach der anderen ausspucken würde. Das müßte ihn schon ganz gut behindern, dachte er mit einem Grinsen im Gesicht, wußte er doch, daß dieser Fluch nicht so einfach aufgehoben werden konnte.
Die ganzen Lichtblitze, die an ihnen vorbeischossen, irritierten ihn gar nicht, und so folgte er einfach weiter Neville, der seinen Besen steil hochzog. Sie flogen hinauf, hoch bis über das Dach des Schlosses. Kaum waren sie dort angekommen, flogen sie eine weiche Linkskurve, ließen sich in einem weiten Bogen wieder fallen und peilten nun die andere Seite der Todesser an. Im linken Augenwinkel konnte er eine weitere DA-Gruppe sehen. Sie folgten ihnen offenbar und duplizierten ihr Manöver. Gregory suchte sich wieder ein Ziel.
»Stupor!« rief er, und ein roter Lichtblitz verließ die Spitze seines Zauberstabes. Er folgte ihm mit seinem Blick und sah ihn in den Friedhofsboden einschlagen. Trotzdem sah er, wie mindestens vier Blitze seiner Flügelleute trafen.
»Mist!« schimpfte er laut und zog wie alle anderen seinen Besen wieder hoch und beendete damit den Sturzflug.
Sie steuerten am Friedhofsrand entlang und flogen wieder zu seinem Ende, um von dort einen neuen Anlauf zu nehmen. Links unter sich konnte Gregory wieder ein paar von Voldemorts Verbündeten sehen. Diese befanden sich auf dem Rückzug, und keiner von ihnen beachtete die fliegende Staffel. Auch hinten am Waldrand, an der Stelle, wo Gregory mit Voldemorts Armee aus dem Dickicht gekommen war, sah er einige Todesser und Kobolde wieder im Unterholz verschwinden. Das Ganze verwirrte ihn ein wenig, hätte er doch vorher niemals geglaubt, daß eine solche Menge an Todessern es wagen würde zu fliehen, obwohl doch alle den Zorn des Dunklen Lords zu fürchten hatten.
Wieder steuerte Neville knapp vor ihm in eine Linkskurve, und Gregory schwenkte ebenfalls in sie ein. Sie flogen nun um einiges schneller, und Gregory spürte, daß er das Limit des Besens gleich erreichen würde. Als sie sich erneut in eine Linkskurve warfen, überflogen sie zwei Todesser, und für einen Moment glaubte er, seinen Quidditch-Kapitän Marcus Flint unter sich zu erkennen. Die Formation öffnete sich wieder ein wenig, um wieder einen Angriff auf die rechte Flanke durchzuführen, die nun schon ein gutes Stück in die Mitte gerückt war. Harrys Taktik schien aufzugehen, dachte Gregory und zog mit den anderen ein Stück in die Mitte.
Auf der linken Seite konnte er im Augenwinkel zwei weitere DA-Gruppen erahnen, die nun ihrerseits auf das Ende des Friedhofs zuflogen, um dann gleich einen weiteren Anlauf zu starten. Gregory und die anderen hielten ihr schnelles Tempo, und sein Umhang flatterte im Wind. Er fror fürchterlich. Es war sowieso schon ein kalter Morgen gewesen, aber im Flugwind war es fast unerträglich. Dagegen nutzten auch die ersten kräftigen Sonnenstrahlen nicht viel, die sich nun langsam ihren Weg über die Berggipfel brachen.
Wieder suchte Gregory ein Ziel. Er schoß bereits vor den meisten anderen seiner Gruppe und ließ seinen Blick dem Fluch folgen – er traf. Eine tiefe Genugtuung erfüllte ihn, und er spürte Freude über diesen kleinen Erfolg. Auch wenn er ihn nicht getötet hatte, sicher war er verletzt und würde damit so schnell keine weitere Bedrohung darstellen.
In demselben Moment, in dem er diese Gedanken hatte, sah er zwei Lichtblitze vom Boden aufsteigen und ziemlich präzise auf die kleine Staffel zufliegen. Er drehte sich in eine enge Rolle und sah im Augenwinkel, daß Vincent einen Fluch auf Parvati Patil abschoß, die nur wenige Meter links neben ihm flog. Gregory wußte nicht, warum er das getan hatte. Während er versuchte, die Orientierung zu behalten und sich gleichzeitig nicht treffen zu lassen, sah er einen vom Boden abgeschossenen roten Fluch an der leuchtenden Parvati abprallen; sofort wurde ihm alles klar. Gerade als Gregory sein Ausweichmanöver ungetroffen beendete, mußte er miterleben, wie Vincent bewußtlos abstürzte. Er sah, wie er mit dem Kopf voran in einen Grabstein fiel und glaubte, sein Genick laut krachen zu hören. Es war das schlimmste Geräusch, das er jemals gehört hatte.
Gregory stand unter Schock und fühlte sich auf einmal so leer. Er folgte weiter Neville, der erneut über dem Schloß die Wende einleitete, und bekam auch nicht bewußt mit, wie dieser und auch die anderen nun wieder auf der anderen Seite angriffen.
Sein bester Freund war eben gestorben. Er war tot, weil er lieber Parvati anstatt sich selber schützen wollte. Er war gestorben, wie Parvati es von ihm erwartet hatte. Er war für sie gestorben. Gregory hatte die letzten dreißig Sekunden des Fluges wie in Trance zurückgelegt und nicht bemerkt, daß die Gruppe bereits einmal um den Friedhof herum und nun wieder im Anflug auf den Feind war.
An der gleichen Stelle, an der es auf der letzten Runde Vincent erwischt hatte, fiel ihm auf, daß eine weiße Wand aus dem Schloß geflogen kam. Neville schien sich auf den Bodenkampf zu konzentrieren und wurde deshalb von ihnen überrascht. Nur im letzten Moment konnte er noch knapp vor ihnen hochziehen, um einer Kollision zu entgehen.
Wieder flogen sie bis über das Schloßdach, ehe sie sich erneut in einer fließenden Bewegung auf die andere Seite fallen ließen. Erst jetzt konnte er sich die weiße Wolke genau ansehen, und mit einemmal wurde ihm bewußt, worum es sich hierbei handelte. Es waren die Gespenster Hogwarts, und sie kämpften gegen den Dunklen Lord. Sie waren viel weniger durchsichtig als gewöhnlich und wirkten so gleich viel bedrohlicher. Angestrengt suchte er sich wieder ein Ziel für einen Fluch und dieses Mal würde er wieder einen erwischen, wie er sich fest vornahm.
Er war so wütend. Er war auf Vincent wütend – er war auf seinen Vater wütend – er war auf Malfoy wütend – er war auf sich selbst wütend. War er wirklich auf Vincent wütend? Einen Moment lang dachte er über diese Frage nach, ehe ihm klar wurde, daß der Gedanke in seinem Kopf schmerzte. Er war nicht auf Vincent wütend! Er war auf den Dunklen Lord wütend, und er würde den Todesser unter sich für Vincent erwischen. Er wollte ihn am liebsten töten, doch er wußte genau, daß es nicht richtig wäre. Er zielte sorgfältig und sprach die Formel.
Der gelbe Fluch entwickelte eine solche Kraft, daß er seinen Zauberstab kaum noch halten konnte. Er traf den Todesser mit voller Wucht und schleuderte ihn weg. Er war überaus schwer getroffen worden und mit Sicherheit auch verletzt, jedoch hatte es ihn nicht getötet, und darüber war er doch erleichtert. Innerlich kämpfte er noch mit diesem Zwiespalt, doch in seinem Herzen hatte er das Richtige erkannt. Wieder zogen sie nur knapp über dem Boden hoch und flogen am Waldrand nach hinten, um sich erneut in Position zu bringen. Überraschend flog Parvati an ihm vorbei und setzte sich vor ihn.
Ein weiteres Mal waren sie auf einer großen Runde um den Friedhof, und langsam war es ihm fast in Fleisch und Blut übergegangen. Er wußte genau, was folgen würde, doch Neville führte sie plötzlich deutlich langsamer als vorhin. Vor ihnen tauchte eine andere Staffel auf, die ebenfalls etwas gemächlicher unterwegs war, und Neville schien Abstand halten zu wollen. Sie erreichten das Ende des Friedhofs und schlossen nun beinahe auf die andere Gruppe auf, obwohl Neville ihr Tempo deutlich reduziert hatte. Er verlangsamte nun noch weiter und steuerte sie in die Kurve. Unter ihnen waren zwei weitere Feinde auf der Flucht.
Abermals flogen sie über die ausgerissenen Bäume hinweg, und Gregory blickte nach links. Der Friedhof war am anderen Ende, über einen Großteil seiner Breite, in einen dichten weißen Gespensternebel gehüllt, was atemberaubend aussah. Plötzlich und überraschend zog Neville das Tempo wieder an, kaum daß die Staffel vor ihnen ebenfalls hart beschleunigte und sich von ihnen absetzte. Sie hatten die Kurve beendet und wollten nun wieder angreifen, als Gregory die Gruppe vor ihnen zählte und dabei feststellte, daß auch sie nicht von Abschüssen verschont geblieben waren.
Neville führte die Staffel mit Tempo zurück zum Kampfgeschehen und beschleunigte dabei ununterbrochen. Eine DA-Staffel befand sich links gegenüber auf dem Weg zum Ende des Friedhofs und befand sich damit auf einem neuen Anflug. Sie hatten ein enormes Tempo drauf und drohten eine andere Staffel einzuholen.
Eine weitere Staffel flog von links nach rechts, entlang der Gespenstermauer, und schoß auf die Todesser, die aus dem Nebel geflohen waren. Plötzlich wurde einer von ihnen abgeschossen, stürzte auf den Drachenleib und blieb dort regungslos liegen. Die Verbliebenen drehten umgehend ab, flogen dabei teilweise wilde Ausweichmanöver und wären dabei fast zusammengestoßen.
Leicht besorgt sah Gregory sie auf sich zufliegen, doch Neville steuerte etwas weiter nach rechts, um ihnen auszuweichen. Ihre Wege sollten sich nicht zu nah kreuzen, und doch rauschte die andere DA-Staffel mit großer Geschwindigkeit so dicht an ihnen vorbei, daß er die Druckwelle spüren konnte.
Währenddessen suchte Gregory ein neues Ziel. Er konnte in der weißen Masse keines ausmachen, und auf gut Glück wollte er auf keinen Fall feuern. Sie überflogen die weiße Wand, und keiner von ihnen konnte auch nur einen einzigen Todesser anpeilen. Darüber enttäuscht glaubte er Harry links unter sich zu sehen, und bei ihm war wohl Hermine. Sie hatten es also ohne Probleme bis dorthin geschafft und waren im Moment in Sicherheit. Ein warmes Gefühl durchflutete seinen Körper, und er hatte keine Ahnung, warum das so war.
Schnell blickte er wieder zu Neville, der sie erneut hoch über das Schloßdach führte. Gregory kannte das Manöver inzwischen und flog es perfekt synchron mit den anderen. Die Formation rückte wieder ein wenig weiter auseinander, als sie sich erneut in die Tiefe stürzen ließen, um ihre Gegner anzugreifen. Aus der weißen Masse tauchten plötzlich Hagrid und fünf Riesen auf. Neville brach den Sturzflug etwas früher als geplant ab und führte sie knapp über dessen Köpfe hinweg.
Die ganze Zeit über war Gregory auf der Suche nach seinem nächsten Ziel, ehe er eines fand. Er zielte genauestens darauf; es war ein einzelner Feind, der gerade dabei war wegzulaufen und nun gleich dabei gestoppt werden würde. Es blitze mehrmals um ihn herum auf, und er sah überrascht zu dem Todesser am Boden. Dieser wurde von fünf oder sogar sechs Flüchen gleichzeitig getroffen und von der Wucht fast zerrissen.
Seine Aufmerksamkeit wandte er umgehend wieder nach vorn, von wo aus ihnen eine DA-Staffel unglaublich schnell entgegenkam. Es konnte sich nur um die Staffel handeln, die eben noch über die weiße Mauer geflogen war, und diese hielt direkt auf sie zu.
Ohne zu zögern, zog Neville tiefer, um unter ihr hinwegzutauchen. Er bremste etwas und führte seine Gruppe, nur einen Meter über dem Boden, am Friedhofsrand entlang. Donnernd schossen die anderen über sie hinweg, und Gregory glaubte, William unter ihnen zu erkennen. Keine Sekunde zu früh nahm Neville wieder das Tempo heraus, da sie erneut mit einer anderen Gruppe zusammenzustoßen drohten.
Gregory fand diese kurze Verschnaufpause ganz angenehm, fühlte er sich doch langsam ein wenig müde. Die Kälte machte ihm zu schaffen, und seine Konzentration schien darunter zu leiden. Das würde nun, zumindest nach Harrys Plan, der fünfte und damit letzte Angriff werden, und dann würden sie landen. Er freute sich unendlich darauf, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und auch diesen kalten Wind nicht mehr so heftig spüren zu müssen.
Traurig dachte er an Vincent und bekam feuchte Augen, die der Flugwind sofort trocknete. Vincent war tot. Sein bester Freund war tot, und er … er dachte nur daran, daß ihm kalt war. Er wußte, daß es nicht fair war, doch er konnte es nicht ändern. Vincent wäre in diesem Moment sicher froh, wenn ihm noch kalt sein könnte, und so beschloß er, die Kälte zu ignorieren. Er konzentrierte sich wieder mehr auf das Geschehen oder versuchte es zumindest, denn eine erneute Linkskurve stand an.
Gregory folgte weiter Parvati; sie flog nur einen Meter direkt vor ihm und fast neben Neville. Sie schwenkten nach links. Neville nahm weiter Tempo raus. Die Gruppe vor ihnen flog jetzt überaus langsam, und an dieses Tempo paßten sie sich an. Gregory fragte sich, was los war. Vor ihm blickte Neville nach links zum Schlachtfeld, wohin auch Gregory umgehend den Blick richtete. Was er sah, beunruhigte ihn ein wenig; es sah beinahe so aus, als wäre inmitten der Gespenster etwas explodiert und triebe sie nun in alle Richtungen davon. Immerhin konnte er nach langer Zeit wieder etwas vom eigentlichen Kampfgeschehen sehen, und was er davon sah, wirkte im ersten Moment erfreulich.
Die Aggressoren waren eingekesselt, und einige Lichtblitze zuckten auf. Plötzlich spürte er einen Schlag und blickte erschrocken direkt nach vorne – er war leicht mit Parvati zusammengestoßen. Gregory hatte nicht bemerkt, daß sie das Tempo noch stärker verringert und so den Abstand verkürzt hatte, bis sie zusammengestoßen waren. Sie schlingerte leicht und warf ihm einen bösen Blick zu.
Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und war heilfroh, daß sie so langsam unterwegs waren: wäre ihm das bei höherem Tempo passiert, hätte es in einer Katastrophe enden können. Scheinbar problemlos brachte Parvati den Besen wieder sicher unter Kontrolle; dabei blickte sie sich um und sah ihn nun nicht mehr böse an, sondern hatte sich vielmehr wieder beruhigt. Sie schien erkannt zu haben, daß es keine Absicht gewesen war und hatte ihm deshalb schnell verziehen.
Beide achteten nun wieder auf Neville, als dieser das Tempo wieder stark anzog und in die letzte Kurve einschwenkte, die sie zurück zum Kampfgeschehen bringen würde. Du mußt dir ein Ziel suchen, sagte sich Gregory und versuchte sich zu konzentrieren.
Die Gruppe vor ihnen war wieder leicht davongezogen und begann ihren Angriff. Neville hatte ihr Tempo ebenfalls stark erhöht. Nun war es fast wieder soweit, der vielleicht letzte Angriff. Farbige Flüche schossen aus den Zauberstäben der Staffel vor ihnen in Richtung der Todesser davon. Schnell und tief folgte ihnen Neville mit seiner Staffel und bereitete ihren eigenen Angriff vor. Gregory erkannte, daß sich die Schlinge um die restlichen Todesser fast geschlossen hatte, und war sich sicher, daß sie die Feinde gleich besiegt hätten – und dann wäre auch der Dunkle Lord endlich tot.
Neville zog nach innen. Sie würden die Todesser noch einmal überfliegen und zum finalen Schlag ansetzen. Neville flog noch tiefer und noch schneller. Gregory spürte seinen Besen am Limit. Er zitterte schon leicht, doch suchte er sich davon unbeeindruckt sein Ziel. Da, der kleine Kobold, den nehme ich, dachte er bei sich. Er zielte ein letztes Mal und feuerte einen Schleimfluch ab. Falls er traf, so wußte er, würde der Kobold von einer riesigen Schleimmasse eingehüllt werden und damit kampfunfähig sein, wie er grinsend dachte. Sein Fluch schlug nur Sekundenbruchteile später in den Feind ein, den er anvisiert hatte, und überraschte diesen sichtlich.
Ihr Anführer bremste stark ab, und Gregory machte es ihm mit dem Rest der Truppe nach. Er machte sich bereit, knapp hinter dem großen Grabdenkmal zu landen, und spürte bereits wieder, wie die Kälte infolge des verringerten Tempos nachließ. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Rücken aus. Noch ehe er begriff, was es war, verschwamm sein Blick.
Seine Sicht wurde deutlich getrübt, und langsam wurde es schwarz. Er verlor das Gefühl für den Besen. Er spürte es mehr, als daß er es sah, wie er langsam, aber stetig nach rechts wegdriftete. Er fand es eigenartig. Es war alles so seltsam. Er hatte ein Gefühl von Schwerelosigkeit, doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Kurz danach spürte er einen seltsamen Druck auf seinem Körper, und er ahnte, daß seine Arme und Beine wild umherschlugen. Es war so still; kein Laut drang an sein Ohr. Er spürte, wie etwas sehr Warmes seinen Kopf herunterlief. Verzweifelt wollte er sich bewegen, aber es gelang ihm nicht.
Er fragte sich, was geschehen war, als er ein helles Licht sah. Ein warmes Licht. Es war so schön. Es durchflutete langsam seinen ganzen Körper. Er sah jemanden winken. Er konnte niemanden erkennen. Er schwebte – er schwebte auf das Licht zu. Er würde in ihm verschwinden. Gregory fühlte sich glücklich. Es schien nun alles einen Sinn zu haben. Da! Er konnte etwas hören. Was war das nur? Da sprach jemand. Er hörte seinen Namen rufen. Nur ganz schwach. Das warme Gefühl am Kopf verschwand. Das Licht wurde schwächer. Das Winken war nun nicht mehr zu sehen.
»Gregory!«
Wieder hörte er leise seinen Namen. Wer ruft mich, fragte er sich. »Komm schon, Gregory!« Die Stimme wurde lauter und kam ihm bekannt vor. »Wach schon endlich auf!« Gregory wollte die Augen öffnen, doch sie waren so schwer. Nur mühsam bekam er sie auf. Er sah Parvati über sich gebeugt.
»Zieh hier bloß keine Show ab!« sagte sie. Ein kleines bißchen lächelte sie dabei.
Warum lächelte sie? Was sollte das alles? Ganz allmählich konnte er wieder klarere Gedanken fassen. Gregory wußte jetzt, daß sie nur aus Höflichkeit lächelte, war ihre Schwester doch gerade erst gestorben. Sie hatte ihre geliebte Schwester für immer verloren; genauso, wie er seinen besten Freund verloren hatte. Vor wenigen Minuten wollte sie ihn noch umbringen, doch nun lächelte sie ihn immerhin an. Was für eine Verbesserung ihres Verhältnisses, dachte er mit einem surrealen Gefühl, richtete seinen Oberkörper auf und sah sich um.
Eine große Traube stand um ihn herum. Gregory war sich nicht sicher, was geschehen war. Er blickte nach links und sah Harry, der von Dumbledore auf den Friedhof geführt wurde und dabei Hermines Hand hielt. Die meisten der DA drehten sich jetzt langsam von ihm weg und folgten Harry. Haben wir gesiegt, ist Du-weißt-schon-wer endlich tot, fragte er sich, ohne darauf eine Antwort zu finden.
Noch ehe er etwas sagen konnte, wurde er von Neville am Arm gegriffen. »Hoch mit dir!«
Neville zog ihn hoch und schleifte ihn, obwohl noch ein wenig benommen, hinter den anderen her. Er fühlte sich von ihnen akzeptiert. Er fühlte sich als einer von ihnen, dabei hatten sie kaum zwanzig Minuten zusammen gekämpft. Nur bei Vincent hatte er je dieses Gefühl gehabt. Wie konnte das alles nur so schnell gehen? Die letzten zwei Stunden hatten alles verändert. Er würde seinen besten Freund niemals vergessen, selbst wenn er jetzt neue Freunde gefunden haben sollte, wobei er sich dessen noch nicht sicher war.
»Mach's gut, Vincent!« flüsterte er für andere unhörbar und folgte den anderen.
Nur zögerlich folgte Harry seinem Schulleiter. Dieser führte ihn um das Grabdenkmal herum, mitten auf den Friedhof. Sehr langsam gingen sie durch die Reihen der Verbündeten, und Harry spürte alle Augen nur auf sich gerichtet. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Er spürte, wie eine unangenehme Gänsehaut seinen Körper befiel und seine Nervosität mit jedem Schritt zunahm. Noch immer hielt er Hermines Hand, und sie gab ihm den Halt, den er dringend benötigte. Sanft streichelte ihr Daumen über seinen Handrücken, und er fühlte sich in diesem Moment so unglaublich geliebt, allein nur durch diese einfache Geste.
Remus stand in vorderster Reihe und nickte ihm kurz zu. Weiter hinten sah er Arthur, und er sah ausgesprochen traurig aus. Harry wußte nicht, was los war. Hatte es jemanden aus der Familie erwischt? Wenn ja, wen? Harry wollte ihn so gern fragen, aber dafür war jetzt wohl einfach keine Zeit.
Noch immer lief er im Schatten von Dumbledore, so daß er von den Todessern kaum etwas sehen konnte. Mit einemmal wurde ihm schlecht. Er wußte, was alle nun von ihm erwarten würden, und seine Narbe schmerzte plötzlich fürchterlich – das erste Mal nach so langer Zeit. Während des gesamten Kampfes hatte sie keine einzige Sekunde geschmerzt, doch nun brachte es ihn beinahe um. Was war hier los? Es konnte nicht nur die Nähe zu Voldemort sein, es mußte noch etwas anderes sein. Er spürte Voldemort in seinem Geist, wie er versuchte, Besitz von ihm zu ergreifen, ehe Harry mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte, die Verbindung zu trennen und es ihm mit einemmal scheinbar mühelos gelang. Innerlich dankte er Snape für den Okklumentikunterricht, wußte aber gleichzeitig, daß es nicht wirklich dessen Verdienst war. Erleichtert blickte er sich kurz zu Hermine um, und sie schenkte ihm ein Lächeln, das so herrlich war, daß er es nur erwidern konnte. Mehr und mehr verschwand der Schmerz, bis er plötzlich gänzlich fort war.
Dumbledore führte Harry aus den Reihen seiner Streitkräfte heraus und machte nun einen Schritt nach links, der ihm den ersten freien Blick auf die gestellten Todesser ermöglichte. Es waren vielleicht noch dreißig von ihnen, und sie knieten alle auf dem Boden. Ein jeder von ihnen wurde von mindestens zwei Hexen oder Zauberern in Schach gehalten, und er erkannte einige von ihnen. Voldemort – er kniete nicht einmal weit von Harry entfernt, doch strahlte er ein solches Selbstvertrauen aus, daß Harry davon ganz anders wurde. Der Stein auf seinen Schultern wurde immer schwerer, und ohne es zu realisieren, lief er tatsächlich ein wenig gebückt, fast so, als laste er wirklich auf ihm.
Voldemorts Zauberstab lag zerbrochen vor ihm auf dem Boden, was Harry erleichtert zur Kenntnis nahm. Er wurde von sechs Mann gleichzeitig bewacht, und dennoch strahlten diese widerlichen Augen ihn an, mit ihrem undeutbaren Blick. Harry fühlte das unangenehmste Gefühl seines Lebens. Er war sich sicher, würde nicht Hermine an seiner Seite stehen, er würde sich auf der Stelle übergeben müssen.
Einer der Bewacher war Moody; sein Magisches Auge war nur auf Voldemort gerichtet, und es bewegte sich nicht einen Millimeter. Auch die anderen Bewacher sahen sehr angespannt aus und zielten leicht nervös mit ihren Zauberstäben auf die Geißel ihrer Gesellschaft.
Harry blickte sich weiter um. Es war nicht so, daß er neugierig war, wer hier noch festgehalten wurde, er konnte nur nicht länger Voldemort ansehen, ohne dadurch zusammenzubrechen. Statt dessen sah er nun Bellatrix Lestrange an, und das machte es nicht sehr viel leichter. Ihr Umhang hatte Löcher, und auch sie zeigte einen merkwürdig irren Gesichtsausdruck. Auch wirkte sie überaus selbstsicher, was Harry nur noch mehr verwirrte. Irgendwie spürte er, daß hier etwas im Busch war, denn auch Lucius Malfoy, der in einiger Entfernung kniete, machte auf Harry zuerst keinen sonderlich angespannten Eindruck. Bei ihm war es aber noch etwas anders: vielmehr wirkte er so, als ob er es nur vortäuschte. Dies konnte Harry aber nur bemerken, weil er ihn einfach zu gut kannte. Jeden anderen hätte er vielleicht täuschen können, wie Harry schadenfroh feststellte.
Ganz hinten erkannte Harry noch jemanden – es war niemand Geringeres als Draco Malfoy. Sein Umhang war dreckig, und er war so blaß wie nie. Sein zweiter großer Erzfeind schien sichtlich nervös zu sein und sah aus, als ob er sich gleich in die Hosen machen würde. So hatte er sich den Tag sicher nicht vorgestellt gehabt, dachte Harry. Er blickte weiter nach links und sah dort Professor Snape knien. Er sah ebenfalls fast entspannt aus, aber er hatte schließlich auch nicht wirklich etwas zu befürchten. Ohne ihn wären wir hier heute alle draufgegangen, hätten wir doch nicht das Geringste über den Angriff gewußt, dachte Harry und nickte ihm unmerklich zu. Niemand sonst würde diese Geste richtig deuten können, und zu seinem Erstaunen erwiderte sie Snape mit einem Zucken der Augenbraue, was weit mehr war, als er erwartet hätte.
Kein Geringerer als Cornelius Fudge tauchte wie aus dem nichts aus der Menge der Verteidiger neben Snape auf. Sein Umhang war zerrissen, und sein Gesicht war voller Dreck. Er sah ziemlich angeschlagen aus, so als ob er heute den einen oder anderen Fluch zuviel abbekommen hätte, was Harry nicht unglücklich machte. Er trat neben Dumbledore und zog eine Pergamentrolle aus seinem zerfetzten Umhang. Langsam entrollte er sie; sie war überaus lang, die längste, die er je gesehen hatte. Er begann vorzulesen, während Harry sehen konnte, wie zwei ihm unbekannte Zauberer alles Gesprochene protokollierten.
»Leiter der Verhandlung: Cornelius Oswald Fudge, Zaubereiminister. Gerichtsschreiber: Amanda Peet und Frank O'Hara. Wir verhandeln hier an Ort und Stelle, am 17. Dezember 1996, im Prozeß gegen Tom Riddle, alias Lord V-Voldemort, alias Du-weißt-schon-wer.«
Seine Stimme zitterte einen Moment, ehe er sich wieder zusammenriß.
»Mitangeklagt sind seine ihm treu ergebenen Diener. Die Anklage bezieht sich vor allem auf Verstöße gegen die Paragraphen §§ 1-5, 9, 11-14, 21-38, 42, 45, 47-59. Die Verstöße, von denen nur die Schlimmsten hier kurz genannt werden sollen, beinhalten: vielfacher, kaltblütig ausgeführter und geplanter Mord. Alle Opfer hier aufzuzählen, würde den Rahmen dieser Verhandlung um ein Vielfaches sprengen. Stellvertretend, von einer unvollständigen Liste mit über eintausend Namen, seien deshalb hier genannt: Lilly Potter, James Potter, Bertha Jorkins, Cedric Diggory, Stephen Newman, Dan Hedder, Frank Blith, Oswald Teckel, Richard Brigg, Elisabeth London, Abraham Smith, Jennifer Bell.«
Cornelius Fudge rollte das Pergament weiter aus. Harry sah, daß er einen gewaltigen Teil übersprang. Die Liste der Todesopfer Voldemorts war gewaltig, und wenn Harry ehrlich war, machte es die Aufgabe, die er gleich zu erfüllen hatte, viel leichter. Erst nach mehreren Sekunden sprach Fudge weiter.
»Auch heute sind weitere Zauberer, Hexen und andere Lebewesen ermordet worden. Wie viele es genau sind, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannt, Allerdings habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie Agnes Thornton starb. Weitere Anklagepunkte beziehen sich auf wiederholte, brutal durchgeführte Folterungen. Stellvertretend genannt seien hier das Ehepaar Longbottom und der ehemalige Auror Moody. Der Überfall auf das Ministerium soll hier auch kurz erwähnt werden. Einige Untergebene des hier hauptsächlich Angeklagten überfielen auf eindeutigen Befehl hin heimtückisch und hinterhältig das Ministerium mit einer großen Anzahl von Dementoren. Allein bei diesem Angriff wurden zweiundzwanzig Personen schwer verletzt, und fünf weiteren Zauberern im Dienste des Ministeriums wurde ihre Seele geraubt. Weiterhin sind sie angeklagt, hier und heute einen hinterhältigen und brutalen Angriff auf Hogwarts geleitet und durchgeführt zu haben. Nur dem schnellen und beherzten Eingreifen des Schulleiters Albus Dumbledore und dem selbstlosen Einsatz vieler freiwilliger Hexen und Zauberer, aber auch einiger Riesen und Trollen, ist es zu verdanken, daß dieser Angriff abgewehrt werden konnte. Ich kann mir nicht einmal in meinen schlimmsten Alpträumen vorstellen, was hier und heute ohne dieses Eingreifen passiert wäre.«
Wieder schien Minister Fudge einen größeren Teil des Pergaments zu überspringen. Harry wußte, daß er nun zum wesentlichen Teil vordringen wollte.
»Zeugen der Anklage brauchen nicht gehört zu werden, ein jeder weiß, was heute hier passiert ist, und es würde diese Gerichtsverhandlung zu einer Farce machen, würden wir sie anhören. Zeugen der Verteidigung brauchen nicht gehört zu werden, ihnen würde sowieso niemand glauben schenken, kein Richter und auch niemand der hier Umstehenden. Im Namen der Anklage fordere ich die Höchststrafe. Ich fordere die sofortige Hinrichtung von Tom Riddle, alias Lord Voldemort. Diese wird hier und auf der Stelle vollstreckt werden. Als Henker berufe ich einen der Schüler dieser Schule, Mister Harry Potter. Normalerweise würden wir niemals die Dienste eines minderjährigen Schülers für diese delikate Aufgabe auswählen, doch gibt es dafür verständliche Gründe, die ich hier nicht nennen möchte. Vollstreckt wird das Urteil mit einem Schwert. Es handelt sich hierbei um das Schwert des Mitgründers von Hogwarts und dem Namensgebers des Hauses Gryffindor. Für alle Untergebenen Tom Riddles, alias Lord Voldemorts, beantrage ich lebenslange Verwahrung ohne Möglichkeit auf Begnadigung oder vorzeitige Entlassung im neuen Hochsicherheitstrakt von Askaban. Die Angeklagten werden komplett enteignet und sämtliche Vermögenswerte den Opfern ihrer Greueltaten überschrieben. Die genaue Verteilung gehört zu den Dingen, die noch geregelt werden müssen. Kommen wir nun zur Abstimmung über das Urteil. Da dies ein spezielles Schnellverfahren ist, erfolgt es mit Handzeichen und Mehrheitsbeschluß. Als Geschworener kommt jeder in Frage, der am heutigen Tage gegen Lord Voldemort und seine ihm treu ergebenen Handlanger gekämpft hat. Ich denke, daß es für alle die fairste Lösung ist. Wer gegen eine Verurteilung ist, hebe nun die Hand!«
Harry sah sich um und stellte erleichtert fest, daß nicht ein einziger seine Hand hob. Auch Hermine ließ sie unten, und damit wußte er genau, wie sie darüber dachte.
»Sehr gut, sehr gut! Wer für eine Verurteilung und sofortige Vollstreckung des Urteiles ist, der hebe jetzt die Hand!«
Wieder sah Harry sich um. Er sah, wie niemand zögerte und alle sofort die Hand hoben. Auch er selbst, Hermine und Professor Dumbledore hoben ihre Hände. Es war eindeutig, aber erzeugte auch ein merkwürdiges Gefühl in ihm.
»Gut, gut! Dann kommen wir sogleich zur Vollstreckung des Urteils. Wie ich vorhin schon von Professor Dumbledore erfahren habe, wurde der junge Mr. Potter auf seine Rolle als Henker vorbereitet, daher möchte ich ihn jetzt bitten, unmittelbar zur Tat zu schreiten.«
Plötzlich wurde Harry schlecht. Noch nie hatte er einen Menschen getötet, und jetzt wurde es wirklich ernst. Dumbledore drehte sich zu ihm und gab ihm das Schwert. Harry wußte nicht, woher er es plötzlich hatte, doch glaubte er tief in seinem Inneren den vertrauten Gesang eines Phönix zu hören. Das Schwert sah noch immer ganz genauso aus wie damals, als er mit ihm den Basilisken getötet hatte. Es schimmerte silbern, und auf seinem Griff glitzerten Rubine. Harry spürte sein geringes Gewicht in seiner Hand. War es wirklich so leicht, oder lag es nur daran, daß er es schwerer in Erinnerung hatte. Unsicher sah er Dumbledore an. Dieser wirkte nun sehr ernst und bedeutete Harry, es nun einfach zu tun. Zögernd ging er auf Voldemort zu.
»NIEMALS WERDE ICH DURCH DIE HAND DIESES JUNGEN STERBEN!«
Alle Umstehenden erschauderten, und Harry konnte deutlich sehen, daß selbst die anderen Todesser bei diesen Worten zusammengezuckt waren. Die Worte waren eindeutig von Voldemort gesprochen worden, Harry hatte die Stimme sofort erkannt; doch hatte sich Voldemort nicht eine Sekunde lang gerührt. Er hat es nicht gesagt, sein Mund war ununterbrochen geschlossen, dachte Harry unsicher, trotzdem hallte die Stimme in seinem Kopfe nach.
Mehrmals sah er sich hilflos um. Er hatte Angst. Was konnte Voldemort tun? War er sich doch scheinbar so sicher, nicht durch Harrys Hand sterben zu müssen. Wieder blickte er zu Dumbledore. Auch er hatte die Stimme in seinem Kopf gehört, was man deutlich an seinen Augen ablesen konnte. Noch nie hatte Harry ihn so ratlos wie in diesem Moment erlebt. Schnell begann er eine aufgeregte Unterhaltung mit Fudge. Harry konnte sich nicht erinnern, Dumbledore überhaupt einmal aufgeregt gesehen zu haben. Er war für ihn immer ein Fels; ein Fels, an dem er verschnaufen und neue Kraft schöpfen konnte; ein Fels, der stets Zuversicht und Allwissenheit ausgestrahlt hatte. Doch vor ihm stand ein Dumbledore, bei dem Harry nichts mehr von alldem wahrnehmen konnte. Die wunderschönen Augen seiner Liebsten fingen ihn auf, doch auch sie schien hilflos.
»Tu es jetzt, mein Junge!« hörte Harry plötzlich von Fudge.
Schweren Herzens wandte er den Blick von Hermine, richtete ihn auf Voldemort und hob das Schwert. Jetzt wollte er es tun, er wollte alles beenden. Die lange Schreckensherrschaft Voldemorts sollte endlich vorbei sein. Tief in seinem Innern aber wartete Harry nur auf ein Zeichen, ein Zeichen dafür, daß Voldemort seine Worte wahr machen würde.
Es kam ihm so vor, als wartete er ewig auf Voldemorts Reaktion, doch es tat sich nichts. Die Zeit schien sich in Harrys Wahrnehmung zu verlangsamen, sie schien beinahe still zu stehen. Wie in Zeitlupe holte er mit dem Schwert aus; Zentimeter für Zentimeter stach er damit in Richtung Voldemorts, und es dauerte unendlich lange, bis die Schwertspitze dessen Körper berührte. Das Herz war sein Ziel – das Herz, von dem er wußte, daß es höchstens anatomisch bei Voldemort vorhanden war.
Langsam spürte er, wie Voldemorts Fleisch nachgab und ein unglaublicher Schmerz dabei seine Narbe durchzuckte. Ohne es weiter zu beachten, drückte er mit aller Kraft auf das Schwert. Harry legte sein ganzes Gewicht in diesen einen Stich, der Voldemorts Leben ein Ende setzen sollte. Millimeter um Millimeter glitt das Schwert in diesen widerlichen Körper. Sofort spürte er genau, wie der Widerstand langsam nachließ und es fast wie von selbst hineinglitt, während ihn rote Augen anstarrten. Beinahe glaubte er bereits, Voldemort hätte nur eine leere Drohung ausgesprochen, als etwas geschah.
Noch einmal trat ein unglaublicher Schmerz in Harrys Narbe auf, und nur unter größter Anstrengung konnte er diesen überwinden. Die Zeit schien sich noch weiter zu verlangsamen. Sie schien für einen Moment absolut still zu stehen, und dennoch sah er etwas – etwas, was er noch vor wenigen Sekunden für absolut unmöglich gehalten hätte.
Etwas Durchsichtiges verließ Voldemorts Körper. Harry konnte es genau sehen, während er das Schwert immer weiter hineindrückte. Etwas, das aussah wie ein Geist oder eine Seele oder was auch immer, verließ Voldemorts Körper. Es blickte ihn an. Zorn und Bösartigkeit spiegelten sich in dieser Fratze wider, und die leuchtend roten Augen machten ihm Angst. Entsetzt sah Harry, wie es sich von ihm abwandte und auf einen der Todesser zubewegte. Es war Lucius Malfoy. Der Geist griff in ihn hinein. Für Harry sah es so aus, als würde er Malfoys Geist aus dessen Körper ziehen wollen, doch dieser wehrte sich offenbar dagegen. Mit Händen und Füßen schlug und trat er nach Voldemorts Geist, was diesen tatsächlich behinderte. Plötzlich ließ er von Malfoy ab, und dessen Geist sprang vollständig in seinen Körper zurück.
Einen Augenblick lang blickte Voldemort wieder in Harrys Gesicht. Dabei konnte Harry wachsende Wut, aber auch Angst erkennen. Angst! Voldemort hatte Angst! So etwas hatte Harry nie zuvor bei ihm gesehen. Hoffnung war das erste Gefühl, welches Harry kurz spürte. Voldemort wandte sich einem anderen Todesser zu. Es war Professor Snape.
Wieder griff er in ihn hinein. Mit aller Kraft zog und zerrte er an ihm, bis auch Snapes Geist ein wenig aus dem Körper herauskam. Inzwischen hatte Harry das Schwert schon ein kleines Stück in Voldemorts Körper getrieben und mußte dessen Herz gleich erreichen. Plötzlich spürte er, wie das Schwert zu vibrieren begann. Es vibrierte heftig, doch durch Harrys merkwürdige Wahrnehmung der Zeit schien es sich nur extrem langsam zu bewegen. Augenblicklich wurde ihm klar, daß er sich beeilen mußte. Wenn Voldemorts Geist in einen anderen Körper fliehen könnte, dann …
Harry wußte nicht, was dann sein würde. Überraschend schien auch Snapes Geist den Kampf gewonnen zu haben, jedenfalls ließ Voldemort von ihm ab und schwebte zu Arthur Weasley.
Wütend mußte Harry zur Kenntnis nehmen, daß der Vater seines besten Freundes in Gefahr war. Erneut griff Voldemort in einen Körper hinein und zog und zerrte an Arthurs Geist. Dieser war aber der stärkste bisher. Harry sah, daß Voldemort keine Chance hatte, und sofort machte sich Erleichterung in ihm breit. Harry spürte wie er mit dem Schwert das Herz erreichte. Es vibrierte immer schneller und heftiger. Gleich müßte alles vorbei sein. Gleich würde er Voldemort vernichtet haben. Harrys Zuversicht wuchs wieder. Voldemort hatte maximal noch eine einzige Chance. Wenn er jetzt scheitern würde, dann wäre es endlich vorbei.
Panisch flog Voldemort zu Draco Malfoy. Eine böse Vorahnung befiel Harry. Er konnte sich denken, was gleich passieren würde, und seine Zuversicht schrumpfte schneller, als sie gewachsen war. Er sah, wie Voldemort in Draco hineingriff. Er riß Dracos Geist schon beim ersten Versuch in einer einzigen Bewegung mühelos heraus. Dieser schien gar nicht begriffen zu haben, was gerade passiert war. Er schwebte neben seinem Körper und sah verunsichert umher. Voldemorts Geist verschwand in Dracos Körper.
Harry spürte, wie er mit dem Schwert das Herz in Stücke schnitt. Er glaubte, die Zeit jetzt wieder schneller laufen zu sehen, während Dracos Geist langsam verblaßte. Harry sah ihm in die Augen. Er hatte überhaupt nicht begriffen was soeben geschehen war. Harry durchstieß Voldemorts Körper, das Schwert kam in seinem Rücken wieder heraus, und sein Umhang färbte sich sofort blutrot. Dracos Geist war fast durchsichtig, doch noch immer zu sehen. Langsam entfernte er sich und verschwand in Richtung Wald.
Harry wollte das eben Gesehene nicht glauben. Um ihn herum begannen die Leute aufgeregt zu jubeln, doch er sah nur, wie Dracos Körper aufstand und ihn anstarrte. Sein Gesicht verwandelte sich in eine grinsende Fratze, und seine Augen begannen rot zu leuchten.
Völlig von der Rolle konnte Harry nicht mehr reagieren, wurde er doch umgehend von Voldemorts Leiche weggezogen. Kraftlos ließ er das Schwert los, und der durchbohrte Körper sackte in sich zusammen.
Alle wollten Harry umarmen. Er spürte die vielen Hände an seinem Körper, und jede dieser Berührungen war unangenehm. Plötzlich sah er Mad-Eye zu Boden sinken, während alle außer ihm ausgelassen zu feiern schienen.
Nur noch einen kurzen Blick konnte er auf Draco Malfoys Körper erhaschen, ehe er ihn aus den Augen verlor. Niemand schien Draco noch zu beachten, auch die beiden, die ihn soeben noch bewacht hatten, blickten glücklich auf Harry, was Voldemort in Dracos Körper sofort Handlungsspielraum ermöglichte. Plötzlich konnte er ihn wieder sehen. Draco bückte sich. Harry wollte jedem sagen was eben passiert war, aber sie zerrten ihn überschwenglich fort und ließen ihn kaum Luft holen. Er mußte sofort zu Voldemort. Was soll ich tun, dachte Harry verzweifelt, als er begann, wie wild um sich zu schlagen.
Erschrocken ließen ihn die anderen los. Harry fiel zu Boden, rappelte sich aber sofort wieder auf.
»VOLDEMORT IST NICHT TOT!« schrie Harry, so laut er nur konnte.
»Mein Junge, natürlich ist er tot, da, sieh doch«, sagte Cornelius Fudge beruhigend zu ihm, während er auf den Leichnam zeigte.
»Nein, ist er nicht. Fragen sie Snape oder Arthur Weasley. Sie müssen es wissen!« rief Harry völlig entrüstet aus.
»So beruhige dich doch, mein Junge!« Fudge sah jetzt bereits ärgerlich aus.
»Was ist los, Harry?« fragte Dumbledore ruhig.
Ohne zu zögern, antwortete er: »Sein Geist fuhr in Draco Malfoy, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
Dumbledore drehte sich um und suchte offenbar Draco in der Menge der Todesser. Harry konnte ihn nicht sehen, versperrten ihm doch andere den Blick. Ein lauter Knall ertönte.
»Was war das?« fragte Fudge entsetzt und blickte ratlos zu Dumbledore. Harry hörte die Menge tuscheln.
»Draco Malfoy ist soeben von Hogwarts disappariert. Auch wenn es eigentlich unmöglich sein sollte, ich habe ihn gerade verschwinden sehen«, antwortete Dumbledore erschrocken und sah Harry an. »Was genau ist hier passiert, Harry?«
Harry erzählte, was er soeben gesehen hatte: wie er mit dem Schwert in Voldemorts Herz gestochen und dessen Körper damit getötet hatte, wie er gesehen hatte, daß Voldemorts Geist versucht hatte, andere Körper zu übernehmen, und wie er schließlich bei Draco Malfoy leichtes Spiel gehabt hatte. Erschrocken und erstaunt waren alle seinen Ausführungen gefolgt. Besonders Lucius Malfoy schien unter Schock zu stehen. Hermine stand plötzlich wieder neben Harry.
»Das kann doch alles nicht sein«, durchbrach Fudge die entstandene Stille. »Der Junge phantasiert doch!« Sein Gesicht war rot, und eine Ader erschien an seiner Schläfe.
»Tut er nicht!« sagte Arthur Weasley, der von Fred und George gestützt wurde und zu Harry und Fudge durch die Menge kam. »Ich habe es genau gespürt. Er hat versucht, sich meines Körpers zu bemächtigen. Er hätte es auch fast geschafft. Nur mit letzter Kraft konnte ich ihn abwehren.« Entsetzen machte sich in der Menge breit. Hermine griff umgehend Harrys Hand und drückte sie fest.
»Ich glaube auch, daß es wahr ist!« ließ sich Moody vernehmen, der wohl noch immer am Boden kniete und zitterte, was Harry aber nur an der Stimme erkennen konnte. »Während der junge Potter … V-Voldemort niederstreckte, da … habe ich etwas gesehen. Ich kann es … kann es aber nicht in Worte fassen.« Moody klang leicht ungläubig, doch das Zittern war verschwunden. Der sonst so robuste Ex-Auror wirkte auf Harry dabei trotzdem wie ein verängstigtes Kind.
»Wir werden den Worten von Mr. Potter wohl Glauben schenken müssen, Cornelius«, sagte Dumbledore ganz ruhig und eine Gelassenheit ausstrahlend, von der Harry wußte, daß sie nur gespielt war.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Fudge total verwirrt, »ich verstehe das nicht. Ich weiß nur, daß wir hier Voldemorts toten Körper haben … und wir haben dreißig von seinen engsten Verbündeten. Viele andere aber konnten fliehen, einschließlich Draco Malfoy, oder liegen verletzt und tot auf dem Schlachtfeld.« Fudge sah Dumbledore an und der schien über die weitere Vorgehensweise nachzudenken.
»Wir sollten zunächst die Situation Stück für Stück klären. Ich schlage deshalb vor, zuerst einmal die Todesser von hier wegzuschaffen und sie nach Askaban zu bringen. Gleichzeitig kümmern wir uns intensiv um die Verletzten. Auch auf seiten der Todesser gibt es viele, die medizinische Versorgung benötigen, ehe wir sie für immer einsperren können. Dann haben wir natürlich noch die traurige Pflicht, uns um die vielen Toten und ihre Angehörigen zu kümmern. Erst dann sollten wir die weitere Jagd auf die verbliebenen Todesser starten. Dabei sollten wir uns besonders um Voldemort in Mr. Malfoys Körper kümmern.« Mit jedem seiner Worte wurde Dumbledores Stimme immer ernster und klang bedrückter.
»Nun gut. Wenn hier schon so viele Vertrauenswürdige der Meinung sind, daß Ihr-wißt-schon-wer noch immer lebt, werde ich mich an den Gedanken gewöhnen müssen. Es wäre aber auch einfach zu schön gewesen … Ach, wenn es doch endlich vorbei wäre. Ihre Vorschläge, Albus, klingen wie immer sehr vernünftig. Ich stelle mir also folgendes vor: Ich kümmere mich mit dem Ministerium und den Auroren um die Gefangenen, und wir bringen sie umgehend nach Askaban. Ich schlage ferner vor, Arthur Weasley, Remus Lupin und der Orden kümmern sich um die Verwundeten und Gefallenen. Professor McGonagall, Professor Flitwick und die verbliebenen Lehrer kümmern sich um Mr. Harry Potter und seine Schulkameraden. Und Sie, Albus, ich denke, Sie sollten sich sofort um Mr. Draco Malfoy kümmern. Wenn er jetzt wirklich V-Vol-demort ist, sollten wir ihm keine Zeit zum Verschnaufen gönnen.« Cornelius Fudge wirkt auf einmal wieder ziemlich gefaßt, obwohl er dabei wie ein gerupftes Huhn aussah.
Harry war froh, daß ihm Fudge zumindest diesmal fast sofort Glauben schenkte, kannte er ihn schließlich auch anders. Eine müde aussehende Professor McGonagall kam auf Harry zu. Sie griff ihn am Arm und zog ihn etwas ruppig von Hermine weg und mit sich. Erschrocken ließ er Hermines Hand los, doch blickte er sich sofort zu ihr um. Sie folgte ihm umgehend und versuchte seine Hand wieder zu greifen, was ihr letztlich auch gelang. Sofort spürte Harry die wohlige Wärme, die von ihrer Hand ausging, und verschränkte seine Finger mit ihren.
Harry bemerkte nun auch einige andere DA-Mitglieder, vor allem Ginny und Neville konnte er ausmachen. Die beiden hielten Händchen, und Ginny lächelte ihm zu. Dagegen starrte Neville nur apathisch in Richtung Bellatrix Lestrange, und Harry wußte, falls er eine Gelegenheit fände, sie zu töten, würde er sie sofort wahrnehmen. Hinter sich bemerkte Harry ein noch immer aufgeregtes Stimmenwirrwarr und konnte hören, wie Professor Flitwick die umstehenden Schüler zu sich rief. Allerdings nahm er das Ganze nicht mehr so richtig wahr, gab er sich doch seinen eigenen Gedanken hin und stolperte hinter McGonagall her.
Wir alle haben heute soviel riskiert, dabei so viele unserer Kameraden verloren und sind wieder nicht dafür belohnt worden, dachte er bei sich, und dieser Gedanke machte ihn wütend. Harry wußte es nur zu gut, daß es noch nicht vorbei war. Zwar konnten die gefährlichsten Todesser am heutigen Morgen gefangen werden, doch ihr Anführer war erneut entkommen.
Sein Zorn steigerte sich, bis Hermine plötzlich hinter ihm vor Schmerzen aufstöhnte. Er hatte nicht gemerkt, daß er mit wachsendem Zorn ihre Hand immer fester gedrückt hatte, bis es für sie sehr unangenehm geworden war.
Inzwischen waren sie am Hauptgebäude angekommen und betraten nun die Große Halle durch zwei kleinere Räume. Die Professoren McGonagall, Raue-Pritsche und Flitwick begannen damit, Schlafsäcke herbeizuzaubern, während auch die letzten DA-Mitglieder in die Halle strömten.
Müde setzte sich Harry auf einen der Schlafsäcke. Er spürte, wie sich Hermine neben ihm niederließ, ihren Arm um seine Taille schlang und den Kopf an seine Schulter legte, was ihn noch ein wenig mehr entspannte.
»Ihr habt wirklich nicht gesehen, wie Voldemorts Geist in Dracos Körper fuhr?« durchbrach Harry das Schweigen, und wandte ihr seinen Kopf zu.
»Nein. Für mich sah es so aus, als ob du Voldemort hingerichtet hättest. Dann hab' ich gesehen, wie alle auf dich eingestürmt sind und feiern wollten. Mehr hab' ich nicht gesehen. Aber ich glaube dir natürlich, mach dir deshalb keine Gedanken!«
»Wir glauben dir alle!« bekräftigte Ron, der sich Harry gegenüber niedergelassen hatte. Luna stand neben ihm, und auch sie sah Harry an.
Sie überlegte wohl, ob sie sich einfach setzen sollte oder ob sie zuerst die Fragen stellen sollte, die ihr auf den Nägeln brannten. Sie entschied sich für die erste Variante und setzte sich neben Ron. Alle DA-Mitglieder rückten mit ihren Schlafsäcken näher zu ihnen heran; viele von ihnen sahen todtraurig und erschöpft aus, und einige wollten wohl mit Harry sprechen. Dieser wußte nicht, was er jetzt sagen sollte. Er blickte sich um und vermißte umgehend etliche vertraute Gesichter. Aber er sah auch ein neues Gesicht, das von Gregory.
»Wie viele haben wir verloren?« fragte Harry leise.
Eigentlich wollte er es nicht wissen, zumindest jetzt noch nicht, doch war er es den Toten schuldig zu fragen. Keiner antwortete. Alle blickten in die sie umgebenden Gesichter. Harry hätte sie ja selbst zählen können, aber irgendwie fehlte ihm dafür die Kraft. Er sah, wie Professor McGonagall wieder zu ihnen kam. Sie sah gewohnt streng, aber auch mütterlich besorgt aus.
»Ihr solltet jetzt wirklich schlafen. Im Augenblick könnt ihr doch nichts tun.«
»Wie viele?« Harry wiederholte seine Frage mit mehr Kraft und Nachdruck in der Stimme.
»Wir haben elf für immer verloren. Sieben sind teilweise schwer verletzt. Sie werden es aber schaffen«, antwortete Ron. Seine Stimme klang ungewöhnlich ruhig, überschlug sich aber einmal.
»Willst du wissen, wer?« fragte ihn Luna leise.
Harry blickte sich um. Er sah Neville, Luna, William, Gregory, Dean, Zacharias, Ginny, Ron. Er sah viele. Alle sahen so müde und abgekämpft aus, einige wie zum Beispiel Ernie sahen auch deutlich angeschlagen aus. Harry sah sich weiter um. In Gedanken ging er die Namen durch, die er hier nicht sah.
»Ja!« antwortete er schließlich, als er ein wenig den Überblick verlor.
Er wollte es genau wissen, vorher könnte er niemals einschlafen. Ron zählte traurig alle Gefallenen der DA auf: »Mandy Brocklehurst – Michael McGregor – Anthony Goldstein – Padma Patil – Scott Clayborn – Richard Bellow – Peter Shaw – Jim Ford – Lee Henry – Devon Lewis – und Stacy Seeman.« Am Ende erwähnte Ron noch Charlie und Percy, und Harry konnte den Kloß in Rons Hals dabei förmlich wachsen hören. Dazu kam dann noch Vincent Crabbe, der ebenfalls sein Leben verloren hatte.
Während Ron gesprochen hatte, hatten alle anderen zu Boden geblickt und geschwiegen. Professor McGonagall griff sich betroffen mit der linken Hand an den Mund und drehte sich weg. Seine Lehrerin würde Tränen vergießen, das wußte Harry. Zwar war sie nach außen immer hart und zäh aufgetreten, innerlich aber war sie eher zart und nah am Wasser gebaut, was sie meist äußerst gut verstecken konnte.
Ron zählte auch die Verwundeten auf. Dies gelang ihm schon ein wenig entspannter. »Hier im Krankenflügel sind Jennifer Webb, Lavender Brown, Justin Finch-Fletchley und Alan Gilmore. Im St. Mungo sind Gary Tomkins, Sarah Jones und Adrian Rigby.«
Langsam legte sich Harry hin. Seinen Kopf legte er in Hermines Schoß, die damit begann, durch seine Haare zu fahren und seine Wange zu streicheln. Irgendwie hatte er deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie war es doch, die entführt worden war, und nun mußte sie ihn trösten, während es doch eigentlich andersherum sein sollte, ging es ihm verwirrt durch den Kopf. Er fühlte sich schrecklich, dabei sollte er doch als ihr Anführer Stärke beweisen und nicht wie ein Häufchen Elend bei seiner Freundin im Schoß liegen. Ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn.
»Wie geht's Hagrid?« fragte er.
Dean antwortete auf diese Frage: »Ich hab ihn vorhin kurz gesehen. Sein Gesicht sah nicht gut aus, war aber noch ganz okay, denke ich.«
Mit jeder Sekunde wurde er müder, war er doch fast die ganze Nacht über wach gewesen. Bisher hatte das Adrenalin die Müdigkeit problemlos besiegen können, doch nun, da die Anspannung von Harry abfiel, besiegte die Müdigkeit ihn.
Hermine legte sich hinter ihn und schlang dabei ihren Arm um ihn. Er spürte ihren Atem in seinen Nacken, ihren Herzschlag in seinem Rücken. Ihr Herz schlug ganz ruhig, dabei aber kraftvoll, und ihr Atem war herrlich warm. Sie gab ihm ein Gefühl von Geborgenheit, das er noch nie im Leben gespürt hatte. Wieder dachte er an seine gefallenen Kameraden, von denen er einige kaum kannte. Von Devon Lewis wußte er nur, daß er ein Hufflepuff gewesen war, erst in die vierte Klasse gegangen war und einige gute Flüche auf Lager gehabt hatte, was ihn für einen Hufflepuff schon fast überqualifizierte. Nicht einmal an sein Aussehen konnte er sich erinnern, egal wie angestrengt er auch nachdachte. Alles was er noch wußte, war, daß Hannah Abbott ihn mit zur DA gebracht hatte und daß er sehr aufgeregt gewesen war. Langsam schloß er die Augen.
»Schlaft jetzt!« sagte Harry laut und schlief nur Sekunden danach ein.
Schon bald begann er zu träumen. Er sah Draco, und dieser lachte ihn aus. »Du wirst mich niemals töten können! Ich werde zurückkommen! Ich werde dich vernichten!« Draco lachte und lachte, und Harry wurde dabei schlecht. Im Traum begann seine Narbe zu schmerzen und zu bluten, ehe Draco in der Dunkelheit verschwand.
Erst danach schlief er endlich ruhig, tief und fest. Kein Alptraum störte diesen so wichtigen, erholsamen Schlaf, bis Harry sehr viele Stunden später von etwas anderem träumte: er träumte von Hermine. Sie stand auf einer Wiese hinter dem Fuchsbau, hatte ein gelbes Kleid an, und ihre Haare waren nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sah unglaublich hübsch und süß aus, und Harry stand nur ein paar Meter von ihr entfernt. Sie lächelte. Harry lächelte zurück. Er wollte zu ihr gehen, aber es ging nicht. Er konnte seine Beine nicht bewegen. Sie streifte die Träger ab und ließ ihr Kleid fallen. Das Lächeln gefror ihm; was er sah, war einfach nur widerlich. Es sah aus wie der verfaulte Leib Voldemorts. Er sah genau so aus wie damals auf dem Friedhof, als Wurmschwanz nach Cedrics Tod Voldemorts Leib in den Kessel gelegt hatte.
Harry wollte sich übergeben und konnte es nur mühsam zurückhalten. Auch Hermine lächelte nun nicht mehr. Ihr Gesicht verwandelte sich, unter offenbar unvorstellbaren Schmerzen in das von Voldemort. Er hob seinen Zauberstab, und Harry hatte keine Ahnung, woher er ihn so plötzlich hatte. Er zielte damit genau auf Harrys Herz. »Avada Kedavra!« Harry wollte dem Fluch ausweichen und schmiß sich ins Gras.
»Harry, wach auf«, sprach Ron zu ihm, zumindest war es seine Stimme. Harry drehte sich um. Ron stand auf der Wiese und sprach ihn erneut an. Er kam ein paar Schritte auf ihn zu und stand jetzt vor seinem Gesicht. Er ging in die Knie und schüttelte seine Schulter.
