Kapitel 3
Es war bereits Nacht und Boromir was noch nicht zurückgekehrt. Aylana stand am Fenster und blickte hinaus in die kalte Nacht. Sie hatte ihre Arme um ihren Oberkörper geschlungen und ließ ihre Gedanken wandern. Boromirs Ausbruch kam unerwartet. Doch nun, da Aylanas Angst verflogen war, erkannte sie erst die Bedeutung seiner Worte und wieso er sie letztendlich nicht angegriffen hatte.
Beide Seiten, Rohan und Gondor, waren nicht unschuldig an dem Krieg der zwischen ihnen herrschte. Aylana mochte nur die Angriffe Gondors mitgekriegt haben, doch wenn sie genauer darüber nachdachte, verfuhr das Heer der Rohirrim auf ähnliche Weise. Nicht nur die Gondorianer machten Gefangene, wie sie selbst eine war. Nicht nur sie töteten Männer und Frauen gleichermaßen und machten einst glückliche Kinder zu Waisen. Das Volk bekam die schrecklichen Folgen des Krieges nur nicht so nahe zu spüren, wie in Gondor, da die Städte weiter verteilt waren.
Krieg war sinnlos, dass wusste Alyna. Doch erst jetzt begriff sie die Spannweite dieser Sinnlosigkeit. Boromir hatte sie nicht angegriffen, da er im richtigen Moment erkannt hatte, das sie genauso ein Opfer dieses Kriegs war, wie er selbst. Wäre er einer dieser brutalen Männer, die aus purer Lust töteten, wäre sie längst nicht mehr am Leben.
Die Tür öffnete sich hinter ihr und Aylana blickte über ihre Schulter. Im Dunkeln des Zimmers konnte sie nur Umrisse eines Mannes erkennen, von dem sie zuerst glaubte, es sei Boromir. Doch als sich die Gestalt näherte, erkannte sie, dass sie kleiner war und mit seltsam plumpen Gang auf sie zukam. Sie drehte sich um und wollte bereits zum Sprint ansetzen, als sie über den ausgestreckten Fuß des Mannes fiel und direkt in seinen Armen landete.
„Nun sieh an, das Schätzchen des Heermeisters. Jemand erwartet dich Süße."
Aylana versuchte sich aus der Umklammerung des Mannes zu befreien, doch auf ein Zeichen hin, erschien ein weiterer in der Tür, der sie ebenfalls festhielt. Erst jetzt kam ihr die Idee zu schreien, doch sie wurde durch einen der Männer gehindert, der ihr mit der Hand den Mund zuhielt.
Aylana versuchte sich verzweifelt zu befreien, doch plötzlich war es ihr auch nicht mehr möglich durch die Nase Lust zu bekommen. Nach kurzer Zeit ließ ihre Kraft sich zu wehren nach und sie spürte, wie ihre Lungen sich zusammenzogen und ihr schummrig vor Augen wurde. Dann sank sie in seichte Bewusstlosigkeit.
Aylana konnte nicht lange ohnmächtig gewesen sein, da sie, als sie aufwachte, auf den Schultern einer der Männer lag, die sie mitgenommen hatten. Sie beschloss jetzt noch keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sondern solange still zu bleiben, bis man sie absetzte. Doch Aylana musste nicht lange warten, da wurde sie an den Haaren gepackt und ihr Kopf wurde nach oben gerissen. Einer der Männer blickte ihr direkt in die Augen.
„Das Miststück ist schon längst wieder bei sich. Nedan, lass sie runter."
Nedan tat wie ihm gesagt wurde und ließ das Mädchen von seinen Schultern auf den Boden fallen. Aylana unterdrückte einen Laut und versuchte sofort wieder auf die Beine zu kommen. Sie wurde an den Armen gepackt und vorwärts gezogen.
Sie schleppten sie in eine große Halle, in der viele Männer versammelt waren. Auch entdeckte sie Boromir, der mit einem von ihnen, der auf einem kleinen Thron saß, diskutierte, neben ihm ein jüngerer, der Boromir sehr ähnelte. Als er ihre Ankunft bemerkte hielt er inne und blickte böse von Aylana zu dem alten Mann.
„Halt das Mädchen heraus, Vater!"
Der alte Mann lächelte zynisch Sein dicker Mantel, besetzt mit wertvollen Steinen, verriet ihn als den König.
„Ich kenne deine Schwäche für die Frauen, Boromir. Du willst nicht kämpfen? Nun, dann müssen sie wohl die Konsequenzen für deine Sturheit tragen."
Aylana verstand nicht recht. Boromir wollte nicht mehr kämpfen? Und was hatte das mit ihr zu tun? Auf einen Wink des alten Königs landete plötzlich eine Faust in ihrem Magen und Aylana taumelte zurück. Sterne tanzten vor ihren Augen und sie konnte ein schmerzvolles Keuchen nicht unterdrücken. Boromir zog sein Schwert und kam drohend auf die Männer zu, die sie festhielten.
„Wenn ihr es noch einmal wagt, sie anzurühren, werdet ihr den nächsten Morgen nicht mehr erleben!"
„Nicht!"
Aylana hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Sie schüttelte ihre Benommenheit ab und sprach weiter.
„Es soll nicht noch mehr Blut vergossen werden. Hört auf damit!"
Boromir blickte sie ungläubig und voll unterdrücktem Zorn an, senkte jedoch seine Waffe und trat einige Schritte zurück. Hinter ihm erklang die Stimme des Königs.
„Nicht einmal auf seinen eigenen Vater hört er, aber auf die Stimme einer zarten Frau. Mein starker Sohn!"
Der spottende Ton des Königs ließ erneut etwas in Boromirs Augen aufblitzen, doch er drehte sich nicht zu ihm um.
„Du wirst kämpfen, Boromir. Und zu unserem Sieg beitragen. Und wenn du nicht willst, dass ich dieses hübsche Geschöpf den Männern überlasse, wirst du meinen Worten gehorchen."
Unterlegen schlug er die Augen zu Boden, überlegte kurz und wand sich dann um.
„Merke dir meine Worte alter Mann. Eines Tages werde ich auf dich hinunter sehen und du wirst schmoren. Ich werde lachen und auf dein Grab spucken und dich derartig verhöhnen, dass du meine Stimme noch in der Unterwelt vernehmen wirst!"
Mit diesen letzten Worten, verließ er die Halle und ließ den alten Mann mit böser Mine und verletztem Stolz zurück. Dann sah er erneut zu Aylana.
„Nehmt sie mit und tut mit ihr, was ihr wollt! Er wird sie sich von alleine zurückholen."
Nienna stieß ein leises „Nein!" aus, doch das Lachen der Männer übertönte sie und niemand kümmerte sich um ihre Schreie, als man sie aus der Halle zerrte.
