Kapitel 6

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fand sich Aylana in ungewohnter Umgebung wieder. Sie lag nicht auf dem Boden, sondern eingehüllt in eine weiche Decke mit vielen Kissen unter ihrem Kopf. Sie erinnerte sich an die letzte Nacht und ein Lächeln überzog ihr Gesicht.

Sie hatten sich stundenlang ausgiebig und intensiv geliebt. Sie hatte ungeahnte Seiten an Boromir entdeckt und seine Zuneigung und Liebe genossen. Nach dem kurzen Freudentaumel, in dem sich Aylana befand, fiel ihr auf, dass Boromir nicht neben ihr lag. Sie hob den Kopf und sah sich um. Der Gondorianer saß in einiger Entfernung auf einem Stuhl, einen Becher in der Hand und betrachtete sie.

„Guten Morgen."

Seine Mine war wieder genauso undurchsichtig wie immer, doch Aylana ließ sich nicht beirren.

„Siehst du gerne anderen Menschen beim Schlafen zu?"

Sein liebenswertes Schmunzeln huschte wieder über sein Gesicht.

„Nein. Nur dir."

In dem Moment klopfte es an der Tür. Aylana schrak auf und zog die Decke näher an sich, doch Boromir beschwichtigte sie mit einer Handbewegung und bat den Besucher herein.

Der junge Mann, den Aylana in der Halle bei Boromir hatte stehen sehen, steckte den Kopf durch die Tür und schlüpfte leise herein.

Es war nicht zu übersehen, dass er zu Boromirs Verwandtschaft gehörte. Er besaß dieselben rötlich-blonden Haare, dieselben undurchdringlichen grünen Augen. Er war nur nicht ebenso muskulös wie Boromir, eher drahtig und seine Ausstrahlung wirkte nicht so gefährlich. Aylana erschien er eher wie ein schüchterner junger Mann und nicht wie ein Krieger.

Nachdem er Aylana höflich und distanziert zugenickt hatte, durchquerte er den Raum und sprach leise mit Boromir.

„Die Männer warten auf dich."

„Sie sollen sich noch einen Moment gedulden. Reite du mit ihnen voraus. Ich komme nach."

Die Art wie die beiden Männer miteinander sprachen, bestätigte Aylanas Vermutung. Geschwind verschwand der junge Mann wieder aus dem Zimmer und ließ sie alleine. Boromir erhob sich und legte seine Kampfausrüstung an.

„Du hast es gehört. Ich muss gehen."

Nienna ignorierte seine Aussage.

„Wer war das?"

Boromir blickte sie kurz verwundert an, verstand dann jedoch.

„Faramir? Er ist mein kleiner Bruder. Ein guter Kämpfer. Doch er hat es nicht leicht."

Wieder ließ er diese Worte im Raum stehen, die sich um etwas herum zu winden schienen.

Er legte seine Gürtel an und schob sein Schwert in die Scheide. Dann setzte er sich neben Aylana auf das Bett und strich ihr über die dunklen Locken.

„Versprich mir, dass du das Zimmer nicht verlässt. Ich habe für ausreichend Essen gesorgt. Eines der Dienstmädchen wird nach dir sehen. Ihr Name ist Gweneth, doch sprich sie lieber nicht an. Du wirst keine Antwort bekommen."

Aylana begriff den Ernst der Situation. Sie war alleine hier, als Sklavin des ersten Heerführers und somit als Sklavin Gondors.

Sie griff nach Boromirs Hand. Im Vergleich zu ihrer eigenen, war sie riesig.

„Pass auf dich auf."

Es war eher geflüstert, da Aylana nicht laut darüber sprechen wollte, dass ihr Geliebter in den Krieg gegen ihr eigenes Volk zog.

Boromir küsste sie auf die Stirn.

„Ich bin bald wieder da."

Dann erhob er sich und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Er schenkte Aylana noch einen letzten Blick, der ihr beinahe das Herz brach.