Ein weiterer Schicksalsschlag
Van saß die ganze Zeit neben mir auf der Klippe und starrte ins Nichts. Seine Augen wirkten so kalt und leer. Ich hatte auf einmal Angst. Als ich Van in den Arm nahm erschrak ich. Er zitterte. Sein schlanker und doch kräftiger Körper war von einigen Schluchzern durchzuckt und dann kuschelte er sich an mich. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und weinte bitterlich. Ich verstand nichts mehr. Dann sagte Van mit tränenerstickter Stimme: „Takuya weiß nicht, dass du schon seit bekannt wurde, dass du Mutter wirst, ein Teil von ihm bist. Ein Teil seines Erbguts ist in dir durch Takako. Du hast seine Fähigkeiten teilweise übernommen. Du kannst fliegen, wie wir und das haben wir von unserer Mutter geerbt. Aber wir sehen unserem Vater ähnlich. Lass mich bitte nicht allein, Tamara. Ich habe Angst, allein gelassen zu werden." Sanft wischte ich die Tränen aus seinem Gesicht und drückte ihn behutsam an mich. Ich meinte: „Ich weiß. Van! Fühlst du dich immer so einsam? Ich kann dich verstehen. Ich bin bei dir sehr glücklich und freue mich immer wieder bei dir sein zu können. Weißt du? Ich war einsam. Ich habe keine Geschwister. Ich war allein, bevor ich dich damals in diesem kalten Winter gefunden habe." Van seufzte leise und antwortete: „Einsamkeit ist noch untertrieben. Was ich fühle ist eine eisige Leere in meinem Herzen. Es ist so, als wäre da ein Eisklumpen in meiner Brust. Ich fühle mich so, Tamara." Er fror. Ich hüllte ihn sanft in meine Schwingen und dann kuschelte er sich an mich. In dieser langen Nacht wärmte ich ihn. Plötzlich sah ich einen Silberstreif am Horizont. Die Sonne ging auf. Einige Sonnenstrahlen erhellten Van´s mandelbraune Augen. Sie strahlten so sehr und ich dachte nicht, dass sie so trüb gewesen waren. Die Sonnenstrahlen wärmten uns beide, als wir auf der Klippe saßen. Hitomi und Takuya erwachten auf einmal, ich konnte das fühlen. Ich breitete meine Schwingen ruckartig aus und die Federn flogen davon. Van stand auf und breitete erneut seine Schwingen aus. Er schwebte vor mir. Ich sah ihn an und meinte: „Ich komme mit. Ich will hier weg." Van schüttelte den Kopf und sagte: „Ich gehe allein. In den Bergen ist es ruhiger. Ich will in das Herz der Berge eindringen und dort trainieren." Ich ließ ihn gehen. Ich musste zu Takuya und Hitomi. Sie mussten es wissen. Sie kannten Van am besten. Ich flog zu Hitomi. Doch auf einmal, als ich ankam, hatte Hitomi eine Vision. Diese Vision betraf Van. Ich holte sofort alles notwendige und machte mich auf die Suche. Als wir in die Berge kamen, fanden wir ihn, mitten in einer Felsspalte. Er war verletzt. Er hatte eine blutende Wunde an der Stirn und lag bewusstlos auf einem Haufen Geröll. Hitomi weinte, als sie Van sah, wie er dort lag, bewusstlos und verletzt. Ich sagte mit einem seltsamen Ton in der Stimme: „Takuya. Tu mir einen Gefallen. Bring Hitomi hier weg. Sie erträgt das nicht. Ich hole Van aus der Felsspalte und komme dann nach. Ich kann ihn schon tragen. Das ist in Ordnung." Takuya nahm Hitomi und flog mit ihr weg. Als ich nach unten in die Felsspalte glitt, liefen mir Tränen über die Wangen. Ich war schuld. Aber als ich bei ihm landete, öffnete Van seine Augen und meinte leise: „Tamara. Was ist passiert? Au! Was ist mit mir?" Ich erwiderte: „Du bist in die Felsspalte gefallen, Van. Ich bring dich nach Hause. Beweg dich nicht. Ich helfe dir." Ich prüfte, ob er sich irgendwie ernsthafter verletzt hatte und war erleichtert, als ich merkte, dass er sich „nur" den Arm gebrochen hatte. Er hatte einen guten Schutzengel. Ich nahm ihn auf meine Arme und breitete meine Schwingen aus. Zuhause brachte ich Van in sein Zimmer und legte ihn vorsichtig auf sein Bett. Hitomi kam zu mir und sprach: „Danke, Tamara. Van, was hast du nur jetzt wieder angestellt?" Wollte die Serie der Schicksalsschläge denn nicht mehr abreißen? Erst starb er in meiner Welt, dann wurde er verletzt, danach geschah es mit Takuya und nun wurden die beiden immer wieder verwundet. Ich hatte Angst. Ich versprach Hitomi, meinen Onkel anzurufen. Ich rief meinen Onkel an und meinte: „Hallo Onkel. Kannst du dich um Van kümmern. Er ist den Bergen in eine Felsspalte gestürzt. Ich habe seine Verletzungen versorgt, soweit ich es nur konnte. Doch ich weiß nicht so viel wie du. Ich bin erst im Studium im dritten Semester."
