Kapitel 9

Es war ein ruhiger Dienstagabend, mitten in den Sommerferien, weshalb viele Familien Newport bereits in Richtung Feriendestination verlassen hatten.

Ryan lenkte seinen Wagen Richtung Strand, auf der Suche nach einer Bar, die er kannte. Vor Jahren hatte er einen alten Freund aus Chino getroffen, der jetzt ebenfalls in Newport arbeitete. Sie hatten sich in dieser Bar getroffen, um über alte Zeiten zu plaudern. Es war ein Gebäude direkt am Strand, in der Nähe des Piers und niemand würde ihn hier erkennen, da gewöhnlich keine Geschäftspartner von ihm hier herumhingen.

Nach ein paar Minuten fand er das Haus, parkierte seinen Wagen davor, stieg aus und sog tief die frische Luft ein.

Ryan wusste, dass es ganz sicher kein gute Zeitpunkt war, sich zu betrinken, aber sein Kopf fühlte sich leer an, seine Emotionen waren ausser Kontrolle, jetzt da er endlich alleine war. Er hatte das Gefühl, dass er all seine Wut an den Abfallkörben ausleben, alles zerstören sollte, das ihm Nahe kam, aber er wusste, das sich betrinken einiges besser war für sein Alter und seine Position als völlig durchzudrehen.

Es war erst 21.00 Uhr, aber er war müde und hatte einfach keine Kraft mehr, zu Hause zu bleiben und so zu tun, als würde alles wieder gut werden, weil er wusste, dass es nicht so war. Sein Leben war wieder einmal am Arsch und er konnte einfach keinen Ausweg erkennen.

Ryan ging zum Eingang der Bar und stiess die Türe auf. Bevor er jedoch eintrat, wurde er von den Vibrationen seines Handys in der Tasche gestoppt. Nach ein paar Sekunden inneren Kampfes, klappte er es auf und antwortete:

"Ja?"

"Daddy?"

"Alyssa?" fragte er überrascht, sich sofort schuldig fühlend.

"Ich wollte nur Gute Nacht sagen, ich habe zu Hause angerufen, aber niemand hat das Telefon abgenommen…"

"Mummy ist bereits im Bett Schatz und ich bin…. Ich bin auswärts… Geht es dir gut?"

"Ja, Cassandra und ich, wir haben so viel Spass" lachte sie, bevor sie fortfur "Ich vermisse dich und Mummy so sehr…."

"Wir vermissen dich auch Liebling" antwortete er zärtlich.

"Kann ich dich morgen wieder anrufen?"

"Du kannst mich anrufen wann immer du willst, ok?"

"Danke Daddy… Oh, Grossmutter ruft, wir müssen heute früher ins Bett, weil wir morgen in den Zoo gehen wollen und früh aufstehen müssen" erzählte Ryan's Tochter aufgeregt.

"Das ist schön Mäuschen, ich wünsche euch viel Spass" antwortete er lächelnd.

"Gute Nach Daddy, ich liebe dich"

"Gute Nacht Schätzchen, ich liebe dich auch, bye bye"

Er starrte noch einige Sekunden auf den Display, nach dem Alyssa bereits aufgelegt hatte. 'Du kannst das nicht tun, Mann. Du kannst nicht wieder in die alten Atwood Gewohnheiten zurückfallen!' sagte er sich immer und immer wieder. Nach ein paar Sekunden fasste er einen Entschluss, ging auf den Barmann zu und bestellte eine Flasche Scotch. Ryan bezahlte und verliess die Bar sofort wieder, einsam in Richtung Strand gehend, während er an seiner Flasche nippte.

Bald fand er einen verlassenen Liegestuhl, auf welchem er sich niedersetzte und über den Ozean starrte, während er weiter kleine Schlucke Scotch zu sich nahm.

Dann stellte er die Flasche in den Sand, lehnte sich im Liegestuhl zurück, schloss seine Augen und genoss die frische Brise, die über seinen Körper strich. Ryan lag nur da und fragte sich selbst, warum sein Leben immer so kompliziert war. Er mochte die Dinge besser, wenn es nur zwei Seiten gab, wie Schwarz und Weiss, und er genau wählen konnte, ohne dass er es bereute, die andere nicht zu haben. 'Das Leben ist niemals Schwarz oder Weiss Ryan, das Leben spielt sich in den Grauzonen ab' kamen ihm Seth's Worte in den Sinn.

"Bist du verdammt noch mal bescheuert!" hörte er plötzlich jemand aus einiger Entfernung schreien, was seine Gedanken unterbrach und ihn zwang, aufzusitzen und zu schauen, woher die Stimme kam. Sofort fielen ihm die Jungs auf, die im Kreis um einen kleineren Jungen auf dem Pier herumstanden. Seine elterlichen Instinkte erwachen, er stand mit einem Seufzer auf und begann, in die Richtung der Gruppe Jugendlicher zu laufen, während er versuchte herauszufinden, was los war.

"Freak! Ich werde es dir nur noch ein letztes Mal sagen, geh sofort von deinem Bike runter, und zwar JETZT" schrie ein schwarzhaariger Junge, offenbar der Anführer der Gruppe.

"Verpiss dich" antwortete der kleiner Junge mit den dunkelblonden Haaren, der in der Mitte der der Gruppe stand, mit gefährlich leiser Stimme.

Langsam stieg er von seinem Bike herunter, ein Blick in den Augen, der anzeigte, dass er bereit war, für sein Fahrrad zu kämpfen. Ein Lächeln huschte über Ryan's Gesicht, als er an seine Vergangenheit dachte und die vielen Kämpfe, die er damals ausgefochten hatte. Er war niemals einer gewesen, der einen Kampf vermieden hätte bis – bis er einen Grund gefunden hatte, am Leben und weg von Problemen zu bleiben.

"Hey, schämt ihr euch eigentlich nicht! Sechs gegen einen? Haut bloss ab bevor ich euch erwische" rief er aus einiger Distanz und brachte die Junge dazu, sich unsicher anzusehen.

"Das geht sie überhaupt nichts an" versucht der Anführer der Gruppe, Ryan zu beruhigen, aber er trat sofort einen Schritt zurück um dem Erwachsenen Platz zu machen, als er auf die Gruppe zutrat und ihn direkt anstarrte.

Es brauchte keine weiteren Worte von Ryan um den Jungs zu verstehen zu geben, dass er es ernst meinte. Als der schwarzhaarige Junge seinen Blick senkte und weglief, folgten die anderen Jungs langsam.

Ryan drehte sich zum Jungen mit dem Fahrrad um und fragte: "Bist du ok?"

"Ja… Ich brauchte ihre Hilfe nicht, mit denen wäre ich auch alleine fertig geworden" antwortete er trotzig und gab Ryan einen herausfordernden Blick.

"Natürlich" grinste Ryan und klopfte dem Jungen auf die Schulter.

"Ich bin übringes Ryan Atwood, und hey, halte dich lieber von diesen Jungs fern, die sind kein guter Umgang."

"Hab ich auch bemerkt…. Danke…. und ….ich bin Colin"

"Schön dich kennen zu lernen Colin. Es ist bereits spät und ich denke du solltest bereits zu Hause sein, kann ich dich mitnehmen?" fragte der Erwachsene, froh über die Ablenkung von seinen eigenen Problemen. Er fühlte sich irgendwie verantwortlich für diesen verloren aussehenden Jungen. Der Ausdruck auf Colin's Gesicht änderte schlagartig. Er wirkte sofort distanziert und vermied Ryan's Blick.

"Mir geht's gut, ich sollte jetzt nach Hause gehen... meine Mutter wartet sicher schon auf mich" murmelte er und bestieg sein Bike. Etwas, das Ryan als Vater gelernt hatte, war zu merken, wenn Kinder logen. Deshalb hatte er gleich das Gefühl, dass der Jungen ohne das Wissen seiner Mutter am Pier war und auf Grund der Reaktion auf seine Frage, wusste er, dass es nicht einfach war, mit diesem Jungen zu reden.

"Ich habe dich hier noch nie gesehen, aber vielleicht kennst du meine Tochter? Sie ist 11 und geht hier in Newport zur Schule…" begann er auf der Suche nach einem guten Thema, ohne zu verzweifelt zu tönen, ein Gespräch anfangen zu wollen.

"Eigentlich… sind wir gerade hierher gezogen…"

"Wirklich? Woher kommst du denn?"

"New York…"

"Wow… das ist wohl ein harter Platz um aufzuwachsen?"

Colin gab ihm einen merkwürdigen Blick, seine Augen drückten Überraschung und Unsicherheit aus.

"Vielleicht… Ich muss jetzt wirklich gehen, Sir" wiederholte der dunkelblonde Junge, ohne den Erwachsenen anzusehen.

"Na komm schon, steig von deinem Bike. Ich habe meinen Wagen da drüben, ich kann dich nach Hause bringen, du kennst dich sicher noch nicht so gut aus, vor allem nicht in der Dunkelheit."

Ryan bemerkte sofort der gehetzte Blick in den Augen des Jungen und wusste, dass er zu weit gegangen war.

Aus dem Nichts, tauchten Sandy's Worte vor seinen Augen auf:

"Ryan, du hattest diesen verzweifelten, „verpiss dich" Blick in den Augen als ich dich das erste Mal traf, aber irgendwie gab es eine Verbindung zwischen uns – ich konnte dich nicht aufgeben…."

Genau in diesem Moment, hier am Pier, im Gespräch mit diesem Jungen, verstand Ryan endlich, was Sandy damit gemeint hatte. Er hatte dieses Kind noch nie zuvor getroffen, aber er erkannte den Blick in seinen Augen und es brach ihm das Herz, gab ihm zu verstehen, dass er etwas tun musste. – auch wenn dass nur hiess, in nach Hause zu begleiten.

"Hör zu Colin, es tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen. Aber ich kann dich hier nicht alleine lassen, Mitten in der Nacht. Wohnst du weit weg von hier?"

"Nein, gleich dort unten" antwortete der Junge und zeigte mit dem Finger auf ein neueres Gebäude am Strand.

"Ok, ich werde dich begleiten, ist das ok"

"Was auch immer" zuckte Colin mit den Schultern und begann, sein Fahrrad stossend, Richtung sein Haus zu laufen.

Sie liegen einige Minuten schweigend nebeneinander, bevor Colin fragte:

"Trinken sie oft?"

Ryan warf dem Jungen einen überraschten Blick zu und fühlte sich sofort wieder schuldig.

"Nein… gewöhnlich nicht… warum?"

"Es hilft nicht, wissen sie…." Antwortete Colin mit bitterer Stimme.

"Wie alt bis du, Colin?"

"12"

"Du wirkst viel älter…." Entgegnete Ryan und gab dem Jungen ein halbherziges Lächeln.

"Ich weiss, dass das Trinken nicht hilft, glaube mir, aber es gibt Zeiten, da… naja, ich denke ich… wollte mich einfach taub fühlen, oder gar NICHTS fühlen, verstehst du das?"

Colin nickte, sein Blick auf den Sand geheftet über den sie liefen.

"Das Leben ist Scheisse" murmelte er schliesslich.

"Ich denke ich muss ein paar Sachen mit deinem Vater bereden, wenn du hier zur Schule gehen willst. Ich will nicht, dass meine Tochter so spricht" grinste Ryan und konnte sich gerade noch zurückhalten, dem Junge nicht die Haare zu verwuscheln, als er sich daran erinnerte, wie sehr er das als Kind gehasst hatte.

"Wenn du diesen verdammten Bastard findest, ich hoffe…" fauchte Colin, seine Augen dunkel.

"Hey, pass auf was du sagst, Junge" unterbrach in Ryan scharf, bevor noch mehr Fluchwörter aus Colin's Mund kommen konnten.

Sie liefen wieder schweigend, keiner von beiden in der Stimmung um über ihre Probleme zu sprechen. Bald führte Colin sie zu einem Gebäude in der Nähe des Strandes.

"Ich lebe dort drüber, ab hier kann ich alleine gehen" sagte er dem Erwachsenen und zeigte auf das Haus.

"Ich möchte eigentlich das Haus von innen sehen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich es entworfen habe, jetzt nimmt es mich wunder, wie es von möbliert aussieht" entgegnete Ryan Colin, in der Absicht, dem Jungen keine Chance zu geben, wieder abzuhauen.

"Sind sie ein Architekt?" fragte Colin, seine Stimme nicht seine unterdrückte Enttäuschung verhüllend. "Das habe ich studiert… jetzt bin ich Geschäftsführer der Newport Group"

"Wirklich?" fragte der Junge überrascht und musterte den Mann neben sich eingehend, offensichtlich überrascht über seine seltsamen Kleidungsgewohnheiten. Als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss, trat plötzlich ein aufgeregter Ausdruck in sein Gesicht, seine Augen begannen zu strahlen. Eifriger fragte er Ryan:

"Dann kennen Sie sicher Seth Cohen? Den graphic artist? Ich liebe alles von ihm! Ich habe alle seine Geschichten von meiner Mum geschenkt bekommen, er ist soooo cool und es ist mein grösster Wunsch, in einmal zu treffen! Ich habe sogar schon einmal eine Präsentation über ihn in der Schule gehalten, deshalb weiss ich, dass seine Mutter früher die Newport Group leitete. Kennen Sie ihn?" stammelte Colin aufgeregt.

"Wow, Ich wusste gar nicht, dass du in ganzen Sätzen sprechen kanns" grinste Ryan.

"Ich kenne Seth, er ist mein Bruder" fuhr er fort und lächelte ab der Tatsache, dass Seth's Name die Gemüter aller Kinder im ganzen Land aufheitern konnte.

"Wirklich!" rief Colin aufgeregt, bevor sein Gesicht traurig wurde und er sagte:

"Sie verarschen mich, Sie haben gesagt Ihr Name sei Atwood..."

"Naja, Seth ist mein Adoptivbruder, ich wurde von den Cohen's adoptiert."

"Oh richtig! Jetzt erinnere ich mich…. Heisst das…. SIE sind Kid Chino!" rief Colin ehrfürchtig.

"Ha ha ha! Das könnte man so sage, ja" lachte Ryan, und erinnerte sich an ihre High School Tage, an denen sie an Seth's erstem graphic novel gearbeitet hatten.

Sie hatten in der Zwischenzeit das Gebäude erreicht und Colin kettete sein Rad in der Garage an, bevor er den Knopf für den Lift drückte. Zusammen stiegen sie in den Lift, während der Junge weiter von seinen Lieblingscharakteren von Seth's Geschichten erzählte, plötzlich überhaupt nicht mehr verschwiegen. Schliesslich erreichten sie die oberste Etage.

Bevor Colin nach seinem Schlüssel suchen und die Apartment Türe öffnen konnte, unterbrach ihn Ryan.

"Hör zu Colin, ich denke ich kann dir jetzt vertrauen, dass du nicht mehr davonläufst" sagte der Architekt, während er eine Visitenkarte aus dem Portemonnaie fischte, die er Colin reichte.

"Ich muss jetzt wirklich gehen, aber falls du irgendwann, irgendetwas brauchst oder einfach nur reden möchtest, ruf mich an, ok?"

Colin nahm die Karte, nickte wortlos, drehte sich dann um und schloss die Türe auf, während er leise murmelte:

"Danke..."

"Kein Problem" antwortete Ryan, bevor er in den Lift stieg, sanft lächelnd.

Als Ryan den parkierten Wagen erreichte, wusste er, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Er konnte nicht einfach verschwinden, ohne Bernadette mitzuteilen, wo er war. Natürlich würde es Zeit brauchen, über alles nachzudenken, aber die Dinge mit Marissa konnten warten. Er musste im Moment an seine Frau denken.

Schweigend stieg er in seinen Wagen und startete den Motor, stellte das Radio an, seufzte tief und lenkte seinen Wagen Richtung Norden. Bernadette reagierte nicht, als er sich neben ihr niederlegte, aber er konnte sich nicht zurückhalten und legte seine Arme um sie, bevor er sich so Nahe als möglich zu ihr hin kuschelte. Es tat ihm gut, ihren lebendigen Körper neben sich zu spüren.