Kapitel 11

Die Türe zum Hotelzimmer aufstossend, beinahe über seine eigenen Füsse stolpernd, betrat Seth das Zimmer, wo er seinen Koffer auf den Boden stellte und sich erschöpft aufs Bett fallen liess.

Ryan folgte dicht dahinter, mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Lachen im Gesicht, sich köstlich über seinen Adoptivbruder amüsierend.

"Seth, noch einmal, was zum Teufel hast du für dieses Wochenende eingepackte!" fragte er, während er den Koffer aufhob und versuchte herauszufinden, wie viel er wog. Dann schüttelte er den Kopf und setzte sich auf den Stuhl in der Ecke.

"Ryan Kumpel, ich bemerke, dass du noch nie zuvor ein Männer-Wochenende verbracht hast" begann Seth, wurde aber von Ryan unterbrochen.

"Hast du?"

"Eigentlich… nein! Aber ich habe Bücher gelesen und alles eingepackt, was wir eventuell gebrauchen könnten!"

"Und was ist das?"

"Also…" Seth hob seinen Koffer vom Boden auf und platzierte ihn theatralisch auf dem Bett, sein Gesicht vor gespielter Anstrengung verziehend, bevor er den Koffer mit einem Trommelwirbel öffnete.

"Wir haben eine Playstation… einige Spiele, die wir seit Ewigkeiten nicht mehr gespielt haben… eigentlich seit du aus dem Poolhaus ausgezogen bist, der alten Zeiten willen. Dann… haben wir tonnenweise Comics, die meisten von mir selbst geschrieben, da ich weiss, dass du zuwenig Zeit hattest, alle zu lesen, weil zu beschäftigt mit der Newport Group und deiner Familie warst, das musst du natürlich nachholen…." Er drehte sich grinsend zu Ryan um und zeigte ihm die Magazine, die er unter seinen Boxershorts versteckt hatte.

"Ausserdem haben wir hier ein paar Magazine für Männer, nur für den Fall…" fuhr er fort, seinem Bruder zuzwinkernd.

"Seth, wir kennen uns nun schon seit 16 Jahren, aber du schaffst es immer noch, mir Angst einzujagen" entgegnete Ryan schmunzelnd, während er aufstand und zur Bar rüber marschierte.

"Naja, das ist ein Talent auf welches ich enorm stolz bin" grinste Seth.

Während er sich einen Malibu mixte, sagte Ryan zu Seth:

"Hör zu, ich habe da dieses Treffen morgen Mittag am Pier und ich möchte, dass du dabei bist."

"WAS! Ich dachte wir hätten „keine Arbeit" vereinbart! Ich glaube es nicht, das ist unser Wochenende und ich will es ganz sicher nicht mit irgendwelchen Business Jungs die mich zu Tode langweilen verbringen!"

"Seth, flipp nicht gleich aus…."

"Flipp nicht aus? Du weißt genau, dass ich diese Geschäftsdinge hasse, das ist doch der Grund, weshalb ich einen Partner habe, der diese langweiligen Dinge für mich managed, und warum um alles in der Welt soll ich plötzlich an einem Meeting betreffend der Newport Group teilnehmen, das ist total dein –"

"SETH!" unterbrach Ryan, seine Stimme ein bisschen lauter werdend, damit er Seth's Geplapper übertönen konnte.

"Ich treffe mich mit einem Kind" fuhr er fort, als Seth stoppte und ihn wütend anstarrte.

"Ein – was?"

"Einen Jungen… ich habe ihn vor ein paar Tagen am Pier kennen gelernt…. Na ja, ich hatte das Gefühlt, dass er jemanden zum Reden braucht, ich konnte ihn doch nicht alleine in der Nacht am Pier lassen, es sieht so aus, als sei kein Vater da, etwas das doch jeder Teenager braucht. Ich habe ihm gesagt, er könne mich anrufen, wann immer er reden möchte. Und das hat er getan. Also, könntest du dich bitte beruhigen und mich morgen begleiten?"

Seth blieb einige Sekunden still, bis er antwortete:

"Ich weiss nicht Mann, er will wahrscheinlich privat mit dir sprechen und du kennst mich… ich bin nicht sehr gut mit Teenagern, die haben mir schon früher Angst gemacht und es hat sich nicht viel geändert…"

"Seth, du hast einen zu Hause!"

"das ist nicht das Gleiche, sie ist ein Mädchen!" entgegnete Seth, im Versuch seine Enttäuschung über die Tatsache, dass Ryan ihn für einen fremden Jungen alleine lassen wollte, zu verstecken.

"Seth, er bewundert dich. Er kennt alle deine Comics und es ist sein grösster Wunsch, dich einmal kennen zu lernen" antwortete Ryan. Er wusste, dass sein Bruder stink wütend auf ihn war, aber trotzdem spielte er seinen besten Trumpf aus.

"Wirklich?" fragte der Erwachsene mit den schwarzen Locken überrascht und geschmeichelt. Er versuchte, immer noch wütend auszusehen, wusste aber genau, das Ryan in durchschauen konnte wie kein zweiter.

"Na ja… dann… ist es natürlich was anderes… Ich habe immer Zeit, einen Fan zu treffen…."

"Vielen Dank Kumpel, ich schulde dir was… Also, lass uns die Playstation anstöppseln, ich habe dich schon lange nicht mehr geschlagen."


Sie spielten die ganze Nacht, mit langen Gesprächen zwischendurch, über ihre Frauen, die Kinder, aber ohne das „hot" Thema zu berühren. Seth versuchte alles, um Ryan ein bisschen zu entspannen, seine Gedanken von den Problemen zu Hause abzulenken, und es schien zu funktionieren.

Als Ryan am nächsten Morgen erwachte, war es bereits 11.00 Uhr und Seth schnarchte immer noch lautstark in seinem Bett, seine verlassene Bettdecke auf dem Boden liegend. Der Architekt lächelte still für sich, zog sich Jeans und ein T-Shirt an, bevor er die Türe aufstiess und sich auf die Suche nach dem Speisesaal machte.

Es brauchte nicht lange, bis Seth laut gähnend zu seinem Bruder stiess.

"Gut geschlafen?" fragte er, während er sich gegenüber von Ryan hinsetzte.

"Ja, überraschend gut!" antwortete der Mann mit den dunkelblonden Haaren während er die Zeitung zusammenfaltete, die er gerade gelesen hatte.

"Und du?"

"Ich habe die halbe Nacht gefroren, ich glaube ich habe Summer neben mir vermisst" erklärte Seth, nahm sich einen Bagel und winkte der Serviertochter um einen Kaffe zu bestellen.

"Ich denke du hattest eher kalt, weil du die ganze Nacht deine Decke auf den Boden geworfen hast" grinste Ryan, bevor er einen Schluck Kaffee trank.

"Da hast du wahrscheinlich recht, Bruder" schmunzelte Seth, während er Ryan beobachtete, versuchte herauszufinden, wie es einem Bruder heute ging.

"Also..." sagte er schliesslich, seinen Blick senkend, als er bemerkte, dass er Ryan einige Sekunden lang angestarrt hatte.

"Du triffst dich also heute mit diesem Jungen – wie heisst er eigentlich? – um Mittag, richtig? Willst du, dass ich gleich mitkomme oder etwas später dazu stosse, als die grosse, unerwartete, ewig erhoffte Überraschung?"

"Sein Name ist Colin und ja, es wäre toll, wenn du später dazu stossen könntest, damit wir vorher etwas plaudern können."

"Cool, ich werde also noch kurz an den Strand gehen, die Wellen rufen, weißt du, ich habe schon viel zu lange nicht mehr gesurft" entgegnete Seth, seine Gedanken an den Tag zurückwandernd, als ihn sein Vater endlich überredet hatte, ihm das Surfen beizubringen.

Ryan schaute kurz auf seine Uhr, stand auf und sagte dann:

"Ok, ich bin dann weg, es wäre toll, wenn du uns so gegen 13.30 am Pier treffen könntest."

"Klar Kumpel, bis dann"

Ryan nickte und ging zu ihrem Hotelzimmer, griff nach seinem Portemonnaie, seiner Sonnenbrille und einen von Seth's Comics, bevor er ins wartende Taxi stieg.


Auf der Bank am Pier mit Blick über den Ozean, konnte es Ryan nicht verhindern, dass seine Gedanken abschweiften, er wieder darüber nachdenken musste, was nach diesem Wochenende passieren würde. Er wusste, dass sie Alyssa bald über den Gesundheitszustand ihrer Mutter informieren mussten, ein Moment, den er bereits jetzt hasste, nur schon der Gedanke daran erzeugte Brechreiz. Ryan liebte seine Tochter mehr als sich selbst. Er wusste, was es hiess, von seinen Eltern nicht geliebt und verlassen zu werden. An dem Tag, an dem Bernadette ihm mitteilte, dass sie schwanger war, schwor er sich, dass er seine Kinder niemals enttäuschen würde, dass sie niemals das durchmachen musste, was er durchgemacht hatte. Aber jetzt, da Bernadette sterben würde, fühlte sich Ryan verloren. Wie konnte er seinen Kindern jemals ihre Mutter ersetzen? Eine einzelne Träne lief seine Wange hinunter, als er darüber nachdachte, was Bernadette verpassen würde. Sie würde nie den Abschluss ihrer Tochter miterleben können, ihre Hochzeit, oder den Tag, an dem sie eigene Kinder auf die Welt setzen würde. Alyssa würde nie die Unterstützung ihrer Mutter haben, jetzt da sie in die Pubertät kam und ihre Mutter am meisten brauchte. Wie sollte er nur damit umgehen?

"Geht es dir gut?" unterbrach plötzlich eine junge Stimme seine Gedanken.

Ryan zuckte zusammen, wischte seine Tränen weg und drehte sich um, um zu sehen, wer hinter ihm stand.

"Oh, hallo Colin, mir geht's gut, keine Sorge" antwortete er dem Jungen, einen tiefen Atemzug nehmend im Versuch, wieder etwas Selbstkontrolle zu gewinnen.

Colin ging um die Bank herum und setzte sich neben dem Architekt nieder, seine Augen sofort Ryan's Augen suchend und er sagte:

"Ich mag keine Lügen..."

"Das war kein Lüge, Colin... Na ja, technisch gesehen vielleicht, aber... ich will dich nicht deprimieren" antwortete der Erwachsene ehrlich, sich zusammenreissend. Er wollte den Jungen nicht mit seinen Problemen belasten.

"Meine Mum sagt immer, geteiltes Leid ist halbes Leid."

"Das habe ich glaube ich schon mal gehört" antwortete Ryan und versuchte, zu lächeln. "Aber es ist persönlich und ich will dich nicht belasten."

"Ich habe dich bereits trinken gesehen, meinst du nicht, das macht mir mehr Angst, als den Grund dafür zu wissen?"

Ryan hob seine Hände, seine Niederlage eingestehend, dieser Junge war einfach zu schlau für ihn.

"Wahrscheinlich hast du recht...na ja...ich versuchte gerade zu entscheiden, wie ich meiner Tochter mitteilen soll, dass ihre Mum Krebs hat und sterben wird" enthüllte er schlussendlich.

"... das tut mir leid..." antwortete Colin, seine Stimme voller Schock und Sympathie. Keiner der beiden sprach für einige Minuten, bis der Junge fortfuhr: "Zeig ihr, dass du für sie da bist..."

"Aber wie? Wie kann ich jemals ihre Mutter ersetzen?" fragte Ryan verzweifelt und fühlte, wie wieder Tränen in seinen Augen aufstiegen.

„Das kannst du nicht... Genau so wie meine Mutter niemals versucht hat, meinen Vater zu ersetzen.- Aber sie hat mir gezeigt, dass sie immer für mich hier sein würde, was auch immer kommt."

Ryan nickte, wieder einmal erstaunt über die Erfahrung, die der Junge bereits besass. Er hatte das Gefühl, als könnte der Junge direkt durch ihn hindurch sehen, in seine Seele schauen und fühlen, was er fühlte.

"Wie kommt es, dass du so schlau bist?" fragte der Erwachsene scherzend, sich unbewusst die Tränen abwischend, während er einen tiefen Atemzug nahm, um sich zu beruhigen.

"Mum sagt, dass sei etwas, das ich von meinem Vater geerbt habe, ihre Seite der Familie sei egoistisch und streiten sich immerzu" entgegnete Colin lächelnd, sanft Ryan's Arm drückend.

"Und Familie ist alles was am Schluss zählt..." fügte der Junge hinzu, sein Blick über den Ozean schweifend, ein trauriger Unterton in seiner Stimme.

"Wie kommt es, dass du deinen Vater nicht kennst?" fragte Ryan und versuchte, sich nun voll auf die Probleme des Jungen neben ihm zu konzentrieren.

"Mum sagt es ist kompliziert..." antwortete Colin sarkastisch.

"Na ja, manchmal ist das Leben kompliziert, vielleicht versucht sie, dich zu beschützen?"

"Ich habe eher das Gefühl, dass sie versucht, sich selbst zu beschützen" sagte der Junge mit den blauen Augen bitter, tief seufzend.

"Na komm schon, so schlimm kann sie doch nicht sein. Und glaube mir, manchmal braucht man keinen biologischen Vater" entgegnete Ryan und legte seinen Arm um den Jungen, tröstend seinen Rücken streichelnd.

"Betrachtest du Mr. Cohen als Vater?" antwortete Colin neugierig.

"Auf jeden Fall… ich habe es ihm noch nie gesagt, aber ich denke praktisch nie mehr an meine biologischen Eltern…" erklärte der Erwachsene, während seine Augen sich beim Gedanken an Mr. And Mrs. Atwood verkniffen.

"Ich wünschte…. Ich wünschte ich würde von einem wirklich coolen Vater adoptiert werden…." Erzählte der Junge Ryan und fügte leise "so wie du" hinzu, aber der Architekt hörte es trotzdem.

"Vielleicht ist dein Vater gar nicht so schlimm. Ich würde nicht urteilen, bevor du ihn nicht kennen gelernt hast" sagte Ryan, im Versuch, das Thema, das er kommen sah, zu meiden.

"Falls ich ihn jemals treffen werde …." entgegnete Colin traurig.

"Ich könnte etwas nachforschen, weißt du? Natürlich nur, wenn du willst... ich habe ein paar Verbindungen… Was kannst du mir über deine Familie erzählen?"

"Na ja... mein Familiename ist…."

"Überraschung!"

Die zwei Gestalten auf der Bank sprangen beim Ertönen der Stimme erschrocken auf. Sie drehten sich gleichzeitig um und starrten Seth entgeistert an, der grinste wie ein Honigpferd.

"Seth... du bist früh" lächelte Ryan dann, stand auf und zog seinen Bruder in seine Arme, froh, ihn hier zu haben, nach dem emotionalen auf und ab der letzen Stunde.

Seth blinzelte überraschte, aber spürte, dass Ryan aufgewühlt war, ein sehr ungewöhnlicher Zustand für seinen Adoptivbruder, der normalerweise seine Gefühle total unter Kontrolle hatte. Also klopfte er ihm nur beruhigend auf die Schulter um ihm zu zeigen, dass jetzt Unterstützung hier war.

Colin war in der Zwischenzeit von der Bank gesprungen und stand vor den zwei Brüdern, sein Mund weit offen, Schock in den Augen.

"Du... du bist... Seth Cohen!" keuchte er schlussendlich und konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht mit dem Finger auf den Graphic Artist zu zeigen.

Ryan löste sich aus Seth's Umarmung und drehte sich um. Als er den Ausdruck auf Colin's Gesicht sah, musste er lächeln.

"Ja, Colin, das ist meine Überraschung für dich. Dies ist der einzigartige - Seth Cohen."

Der Erwachsene mit den schwarzen Locken grinste, trat auf den Jungen zu und inspizierte seinen grössten Fan von Kopf bis Fuss. Gerade als er etwas sagen wollte, traf es ihn wie ein Blitzschlag. Er sog tief die Luft ein, seine Augen geweitet vom Schock.

"Seth, das ist Colin... Ähm, wie war jetzt dein Familienname? Warum stellst du dich nicht selbst vor?" sagte Ryan im Versuch, die plötzliche Anspannung zwischen den beiden aufzuheben.

"Hallo Mr. Cohen, ich bin Colin - "

"COLIN, was für ein cooler Name!" rief Seth laut, Colin's Stimme völlig übertönend, während er den Jungen zu sich zog und auf die Schulter klopfte. Dann drehte er sich zu seinem Adoptivbruder um und plapperte nervös "Ryan Kumpel, könntest du uns nicht etwas zu trinken besorgen? Du weißt schon, Margaritas oder so – nein, keine gute Idee, Minderjährig und so... vielleicht einen Ice Tea oder eine Coke? Irgendetwas mit Kohlensäure? Ich bin so aus dem Häuschen und ich muss mich wirklich jetzt mit Colin zusammensetzen, damit wir etwas plaudern können über – mich, du weißt schon?"

"Was ist mit dir los?" fragte Ryan misstrauisch, vermutend, dass Seth jetzt total durchgedreht war.

"Mir geht's gut, uns geht's gut, alles ist total in Ordnung, nicht!" rief Seth, nervös von einem Bein aufs andere wechselnd. Er brauchte dringend einen guten Grund, damit Ryan sein komisches Benehmen glaubte. "Ich denke mir, dass ihr zwei seit Stunden am reden wart und deshalb durstig sein müsst! und ich werde immer so schnell durstig, wenn ich lange spreche – und niemand weiss besser als du – dass ich stundenlang über mich sprechen kann!"

Mit zusammengekniffenen Augen nickte Ryan, total verwirrt über Seth's plötzlichen Ausbruch, aber trotzdem befolgte er seinen Wunsch und machte sich auf die Suche nach etwas zu trinken.

Seth nahm einen tiefen Atemzug und drehte sich zu dem Jungen um, der ihn mit seinen blauen Augen und einem völlig verwirrten Gesichtsausdruck ansah.

"Also Colin, lass mich raten... dein Name ist Colin Cooper, richtig?" sagte der Erwachsene dann, während er sich neben Colin mit einem Seufzer auf die Bank setzte.

"Ja... das stimmt..." antwortet Colin, wenn möglich noch verwirrter als vorher.

"Woher wissen Sie das?"

"Colin, ich bin ein Genie... und ich bin total am Arsch" antwortete Seth geistig abwesend, mehr zu sich selber als zu dem Jungen sprechend.